Samstag, 25. März 1972

Bildungs-Misere: Dauer-Thema in Deutschland - keine Besserung in Sicht "Didacta 72 - Utopia 72"






















Lehrmittel-Ausstellung in Hannover: Viel Show-Effekte, viel Effekt-Hascherei - für den Schulalltag wenig


------------------------
Frankfurter Rundschau
25. März 1972 /17. März 2009
von Reimar Oltmanns
-------------------------

Pädagogisches Inferno oder ein Paradies für Lehrer? Alles, aber auch alles, was irgendwie mit Vorschul-, Schul-, Hochschule-, Aus-, Fort- und Weiterbildung zu tun hat - präsentiert sich mittlerweile in 14 Hallen auf über 700 Messeständen; zur Schau gestellt für nahezu 70.000 Besucher. Gigantomanie pur, Monstershow im Großformat. Fernab von der Schul-Wirklichkeit dieser und künftiger Jahre demonstrieren Konzerne und Großverlage während der XI. Didacta in Hannover, was sie unter Fortschritt im Bildungswesen verstehen. Nur mit dem Schulalltag, mit den Unzulänglichkeiten, Engpässen, verpassten Chancen im deutschen Bildungssystem hat dieser Messe-Jahrmarkt namens Didacta reichlich wenig zu tun.
VERWIRRENDE BEGRIFFE
Begriffe wie "Tele-Didaktik", Worthülsen wie "Auditive Medien" oder "Algorithmus, gar ein "Single-Conzept-Film" deuten unmissverständlich darauf hin: die Industrie glaubt einen neuen - für sie äußerst profitablen, weithin ausbaufähigen Markt entdeckt zu haben. Zwar ist seit längeren offenkundig, dass Großunternehmen gigantische Summen in derartige Bildungs-Projekte investieren. Doch in welchem Ausmaß und mit welchen Marketing-Potenzial Lern- und Lehrprogramme entwickelt werden, darüber vermittelt die didacta einen breiten Flächen-Aufriss. Wer jahrein, jahraus durch die Messehallen wandert, kann kaum glauben, dass Deutschland in den europäischen Bildungs-Vergleichstests derart weit in den Keller abzurutschen vermochte.
SPITZEN-TECHNIK - LEHRER FEHLEN
Die Fernseh-GmbH, ein Unternehmen der Bosch-Gruppe, stellt beispielsweise ihre Vidikon-Farbkamera TV 140, in den Mittelpunkt ihrer Ausstellungs-Präsentation. Mit entsprechenden Zusatzgeräten vermag diese Linse unter anderem Objekte, die durch das Mikroskop betrachtet werden, auf den Bildschirm zu projizieren. Ferner kann sie Filme oder Dias direkt vom jeweiligen Projektionsgerät abnehmen und zu den Monitoren weiterleiten. Das Nonplusultra der Farbkamera TV 140 scheint für Bosch in der Live-Übertragung zu liegen. Das Nonplusultra des deutschen Bildungsalltags hingegen diktiert eine andere Schulwirklichkeit. Kaum Deutsch, kaum Physik, Mathematik eingeschränkt, Geschichte ab und zu - das ist nahezu überall die Wirklichkeit im westdeutschen Schulbetrieb geworden. Gespart wird vielerorts ohne Sinn und Verstand. Deutschland ein Bildungsland - ein Notstandsland.
DIDACTA - AN DER REALITÄT VORBEI
Wer jedoch beispielsweise nach den Preisen dieses Vidikon-Farbkamera-Zuges fragte, bemerkte schneller als es ihm recht sein konnte, dass ein solches Projekt mit der Realität der deutschen Schulen nichts zu tun hat; und das selbst unter den günstigsten Bildungs-Prognosen dieser Jahre. Zwar versicherten Firmenvertreter, das gesamte technische Instrumentarium sei pädagogisch erprobt, doch drängt sich unweigerlich die Frage auf, wer die finanziellen Belastungen auch nur halbwegs tragen kann.
BILDUNGSAUSGABEN GEKÜRZT
Allein die Farbkamera ohne Live-Übertragung kostet an die 30.000 Mark (Möglichkeiten: Mikroskop-, Film- und Dia-Überspielung). Der Preis für eine Farbkamera mit Live-Übertragung und den dazu erforderlichen Zusatz-Apparaten (Vidikon-Farbkamera-Zug) für alle Anwendungsbereiche beträgt etwa 180.000 Mark. Und das in einer Zeit, in der Wirtschafts- und Finanzminister Helmut Schmidt (1972-1974 ) Mitte der siebziger Jahre im Rahmen der mittelfristige Finanzplanung die Bildungsausgaben des Bundes von 58 auf 53 Milliarden Mark zusammenstrich. Und das ausgerechnet in einer Ära, in der etwa in der Universitätsstadt Bochum Lehrerinnen und Lehrer Lernmittel wie Lehrmittel für den Schulunterricht aus eigener Tasche zahlen. Zu kostspielig seien für das Bochumer Rathaus die Aufwendungen bis zu 500 Euro pro Jahr, unerlässliche Bücher, Lernprogramme, Lernmittel zu finanzieren. - Bildungs-Nation Deutschland.
"QUALITÄT KOSTET SEIN PREIS"
Der Philips-Konzern hält dagegen sein neuartiges PIP-System (Programmid individual Presentation) für geeignet, im Rahmen der inneren Differenzierung dem Unterricht neue Impulse zu vermitteln. Es handelt sich hierbei um ein Wiedergabegerät, das getrennt Schmalfilm- und Tonkassetten synchron ablaufen läßt. Dies ist deshalb möglich, weil in der Tonkassette Steuerimpulse für den Schmalfilm gespeichert sind. Der Vorteil dieses Systems liegt darin: ein und demselben Film können verschiedene Tonkassetten zugeordnet werden. Für die Unterrichtspraxis ergeben sich dadurch Differenzierungsmöglichkeiten nach dem Schwierigkeitsgrad der wörtlichen Information. Außerdem kann derselbe Film durch andere Tonkassetten unter anderen Aspekten betrachtet werden (Schwerpunktbildung). Nicht zuletzt wird das Gerät wohl auch für den Sprachunterricht interessant sein. Die kontinuierliche Regulierung der Film-Geschwindigkeit von Standbild bis zu 24 Bildern pro Sekunde beeinträchtigt zudem nicht die Bildqualität.
FÜR SCHULEN VON MORGEN: ZU TEUER
Trotz dieser technischen Vorteile kann der Philips-Konzern wohl kaum damit rechnen, sein PIP-System in absehbarer Zeit in deutschen Schulen einführen zu können. Ein Cassettescope LCH 2020, mit dem maximal zwei Schüler gleichzeitig über Kopfhörer arbeiten, kostet immerhin rund 1.500 Mark. Selbst bei einer Klassenfrequenz von 30 Schülern, von der die meisten Lehrer in der Bundesrepublik träumen, müssten mindestens 15 Cassettescopes für eine Klasse zur Verfügung stehen. Das wären je 22.500 Mark pro Klasse ausschließlich für besagte Apparatur. Die dazu notwendigen Programme kosten in der Produktion je nach Qualität nochmals zwischen 15.000 bis 20.000 Mark. Ein Philips-Vertreter abgeklärt: "Gewiss teuer, doch selbst die staatlichen Schulen von morgen werden diesen Preis nicht zahlen können oder auch wollen. Es bleibt allenfalls bei lauthalsigen Politiker-Versprechen. In Wirklichkeit bewegt sich in Sachen Bildung und Ausbildung nichts in Deutschland."
AUDIOVISION - ZUKUNFT HAT BEGONNEN
Bosch und Philips sind zwei markante Beispiele im Konzert der 107 in- und ausländischen Aussteller, die Audiovisionsgeräte und Zubehör anboten. Die Technik dominiert eindeutig, prägt das Denken. Nicht etwa Pädagogik, sondern Audiovision war der erstmals der zentrale Begriff, mit dem die Besucher konfrontiert wurden. Zeitwende. So erklärte der Vorsitzende des Fachausschusses Schulwesen des Verbandes für Arbeitsstudien Refa, Bernd Krommweh: "Ob Sprachlabor, Computer oder auch schulinternes Fernsehen - der auf der Didacta '72 gezeigte offenkundige Technisierungsgrad der Schule zeichnet ein völlig unrealistisches Bild des deutschen Bildungswesen auf." Der Pädagoge fragt sich: "Was nützen kostenaufwendige Sprachlabore, wenn geeignete Programme fehlen. Was nützen schul-interne Fernseh-Anlagen, wenn es wiederum den ohnehin hoch verschuldeten Bundesländer überlassen bleiben soll, die kostspielige Software zu bezahlen?" Fata Morgana.
ENTWICKLUNGSLAND: BUNDESREPUBLIK
Ähnlich äußerte sich auch der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft, Erziehung und Wissenschaft (GEW), Erich Frister (1968-1981; *1927+2005), wenn er davon sprach: "Die Diskrepanz zwischen dem, was Produzenten, Händler und Verlage auf den Lehrmittel-Ausstellungen zeigen und dem, das sich eine normale Schule leisten kann, entspricht etwa dem Gefälle zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern."
HÖHENFLÜGE
Wer sich nach derlei fortwährenden Konzern-Höhenflügen wieder dem widerborstigen Schulalltag nähern wollte, der fand bei dem Verlag Westermann in der Zeitschrift Schul-Management Ausstattungsvorschläge und Kosten-Kalkulationen für eine vier-zügige Sekundarstufe (Klasse 7 bis 10). Die Ausstattungs-Alternativen, die als eine Minimalausrüstung verstanden werden, beziehen primär nur "traditionelle" Geräte ein (vier Tageslicht-Projektoren, zwei Episkope, ein 16mm-Tonprojektor, zwei Dia-Projektoren, ein Tonband-Gerät, einen Plattenspieler und ein Radio). Diese eher traditionelle Ausrüstung, die den Audiovisions-Experten nur ein gelangweiltes Lächeln abtrotzt, kostet etwa 11.000 Mark. Bemerkenswert ist jedoch, dass bei einem zusätzlich vorgeschlagenen Erweiterungsprogramm, das bis zu einem Gesamtpreis von 55.000 Mark geht, Video-Recorder und Fernsehkameras (schwarz-weiß) erst dann ihre Berücksichtigung finden, wenn jede Klasse mit ihrem eigenen Tageslicht-Projektor ausgestattet ist. - Chancengleichheit.
VERARMTE BILDUNG
Während für Westermann-Verlagsdirektor Schröder Tageslichtprojektoren "sich in den Schulen inzwischen etabliert haben", diktiert die Statistik eine andere Sprache. Danach besitzen insgesamt 62 Prozent aller westdeutschen Schulen noch nicht einmal einen einzigen Tageslicht-Projektor. Diese Zahl veröffentlichte Heribert Heinrichs (*1922+2004) Professor für Medienpädagogik an der Universität Hildesheim (1958-1987). Selbst von Westermanns Minimalprogramm ist die Schul-Wirklichkeit noch sehr weit entfernt. Die Untersuchungen, die Heribert Heinrichs in seinem Buch "Lehr- und Lernmittel" (1972) veröffentlichte, beweisen dies hinreichend. Demzufolge hatte ein deutscher Klassenlehrer im Jahre 1968 durchschnittlich nur 125 Mark als Jahresausgabe seines Schulträgers für die so genannte Erweiterung, Ergänzung oder auch Erneuerung seines didaktischen Reservoir (ohne Bücherei) zur Verfügung. Deutschland - ein Entwicklungsland. Zur Erinnerung: Im Etatjahr 1970 waren es sage und schreibe 140 Mark und im Jahr 1971 wieder nur 135 Mark. In einer niedersächsischen Großstadt beispielsweise wurden pro Schüler 6,50 Mark anno 1971 gewährt.
NIEDERSCHMETTERNDE PROGNOSEN
Wie das Institut für Bildungswesen in Frankfurt a/M in seiner Informatiosschrift über die Bildungsmedien mitteilte, sollen bei günstigen Voraussetzungen im Jahre 1975 jedem Schüler in der Bundesrepublik Lernmittel für durchschnittlich 51 Mark zukommen. Dies bedeutet zwar eine Verdoppelung gegenüber dem Jahr 1970, wo durchschnittlich 27 Mark für einen Schüler ausgegeben wurde; dennoch wird diese Verdoppelung nicht einmal ausreichen, den jetzigen Stand der Lernmittelversorgung in Nordrhein-Westfalen für die ganze Bundesrepublik zu erzielen. Dort stehen schon jetzt 56,40 Mark pro Schüler zur Verfügung. Trotz dieser niederschmetternden Zahlen über die Möglichkeit, Gelder für Lernmittelausgaben zur Verfügung zu stellen, glauben Firmen auf ihre Absätze, hoffen auf ihre Märkte.
SCHWEDISCHE VORBILDER
Von den Unternehmen wenig progagiert und von der Öffentlichkeit kaum betrachtet, haben seit der letzten Didacta 1970 in Basel nach schwedischem Vorbild Kooperationsprozesse stattgefunden, die in den so genannten System-Gemeinschaften ihren Niederschlag finden. Der Klett-Verlag kooperiert mit der Bosch-Gruppe Leibold-Heraeus, während Westermann mit der Firma Philips zusammenarbeitet. Der Klett-Verlag sagt dazu, es gehe den drei Partnern nicht darum, Medien um jeden Preis zu produzieren, sondern vernünftige, realisierbare didaktische Unterrichts-Materialien in Kombination anzubieten. Auch Westermann und Philips sehen die Rechtfertigung der System-Gemeinschaft darin, dass Informatiker und Pädagogen nicht länger aneinander vorbeireden sollen.
LEHR- UND LERNSYSTEMEN
Obwohl es inzwischen zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen Pädagogik und Informatik gekommen ist, stellt sich der kritischen Didacta die Frage, mit welcher Berechtigung die Firmen im gegenwärtigen Entwicklungs-Stadium der Kooperation "von perfekten audfiovisuellen Lehr- und Lernsystemen" sprechen. Derlei Anmaßungen finden ihren Höhepunkt im Angebot eines weiteren großen Elektrokonzerns, der die erst eben auf den Markt präsentierte Bildplatte als "Bildungs-Platte" bezeichnet, da "das Videosystem Bildplatte idealer Träger von Lehrprogrammen aller Art" sei.
WENIG INNOVATIONEN
Wenn man vom audiovisuellen Bereich einmal absieht, so hatte die didacta 1972 recht wenig an neuen Lehrmaterialien zu bieten. Das meiste, von einigen Bücher-Neuerscheinungen abgesehen, konnte auch schon 1970 in Basel besichtigt werden. Die am Sonderschultag der didacta anwesenden Pädagogen bekamen zwar einen Vortrag geboten, erhielten aber nur wenig neue Anregungen, die sich auf ihre Unterrichtspraxis beziehen. Es zeigte sich wieder einmal mehr, dass der Sonderschulbereich für die Industrie nicht attraktiv ist. Würde man nach den Ausstellungsständen gehen, könnte man spontan den Eindruck gewinnen, als sei die Sonderschulpädagogik mit der Vorschulerziehung identisch; Randerscheinungen auf der Messe allemal. Dasselbe gilt auch für den Bereich der Erwachsenenbildung.
AKTION: "KLEINE KLASSE"
Während Industrie und Verlage mit ihren audiovisuellen Programmen in höheren Regionen abheben, schweben und die Vorteile ihrer Konzeptionen den Messebesuchern zu erklären versuchen, haben etwa die Junglehrer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft auf der didacta -Gelände die Aktion "Kleine Klasse" gestartet. Durch Flugblätter weisen die Pädagogen auf einen Erlass des Jahres 1872 hin, in dem gefordert wurde: "Jede Klasse ihren Klassenlehrer; jede Klasse ihren Klassenraum: Verbesserung der Ausstattung mit zeitgemäßen Unterrichtsmaterial und keine Anfängerklasse mit mehr als 20 Schülern!" Diese Forderungen erschienen 100 Jahre später noch ebenso utopisch, wie folgende Zahlen verdeutlichen: Im Jahr 1958/59 kamen auf einen Grundschullehrer in der Bundesrepublik 36 Kinder; 1969/70 waren es "nur" 33 Kinder. In derselben Zeit verbesserte Frankreich seine Klassenfrequenz von 29 auf 25 Schüler.
DIDACTA - EINE PR-MESSE
Anstelle didacta 72 wäre die Bezeichnung utopia '72 angebracht gewesen. Seither läuft jährlich die größte Fachmesse für Bildungswirtschaft mit einem enormen public-relations-Aufwand ab. Nebelkerzen. Tatsächlich offenbart es sich als ein Festival von Verlags-Marketing, Kultus-Bürokraten mit ihren Lehrer-Funktionären. Jahr um Jahr gilt es im Wortschwall etwas zu würdigen, zu feiern; mal sollen die "neuen Medien immer wichtiger", mal soll ein "Höchstmaß an soziale Gerechtigkeit" werden; mal muss der Lehrer für seine "engagierte und gute Arbeit" belobigt werden; mal fordert Niedersachsen Kultusministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU): "Wir brauchen eine höhere Bildungsqualität." Auf der didacta herrscht seit ihres Bestehen herrscht stets Feiertagsstimmung mit theatralisch inszenierten Kalendersprüchen, die "den Eltern Mut machen" soll, weil "vieles auf einem guten Weg ist" (Bundesbildungs-Ministerin Annette Schavan, im Jahre 2009). - Nur am miserablen Zustand im deutschen Bildungswesen, an zu hohen Klassenfrequenzen, Lehrermangel, baufälligen Schulgebäuden, unzureichende Ganztagsschulen, mangelnde Unterrichts-Ausstattungen, fehlendes Lern- wie Lehrmaterial Lücken in der vorschulischen Betreuung - daran vermochte in den vergangenen Jahrzehnten niemand etwas auszurichten. Aber immerhin in einer Disziplin ist Deutschland Rekordhalter: Kein Land der Welt leistet sich 16 eigenverantwortliche Kultusministerien mit eigener Bürokratie, eigenen Schulplänen, eigenen Anordnungen und Erlassen.

Donnerstag, 9. März 1972

SPD-Vetternwirtschaft - ein bedenklicher Alleingang des Superministers















In der Ära Willy Brandts als Bundeskanzler (1969-1974) wollten alle mehr "Demokratie wagen": Das bedeutete für Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller (1966-1972; *1911+1994; seinem Schwager einen gut dotierten Präsidenten-Posten zuzuschieben
. Anerkannt und angefeindet: Geologie Professor Eberhard Machens



---------------------------
Frankfurter Rundschau
9. und 15. März 1972
von Reimar Oltmanns
---------------------------

Als vor etwa drei Wochen der parlamentarische Staats- sekretär im Finanzministerium Hans Hermsdorf (1971-1974; *1914+2001) Niedersachsens Wirtschaftminister Helmut Greulich (1970-1974: *1923+1993) beiläufig fragte: "Helmut, hast du was dagegen, wir wollen den Machens ernennen?" konnte Schiller-Gehilfe Hans Hermsdorf noch nicht ahnen, welch eine Nepotismus-Debatte, eine Empörungswelle er bundesweit um Ämter, Geschachere samt Patronage er lostreten würde.

SCHILLERS MACHENS-SCHAFTEN

Ohne Kenntnis der eigentlich zuständigen Beamten hatte Wirtschaftsminister Karl Schiller gemäß einer Kabinetts-Vorlage seinen Verwandten, den Mainzer Geologen Professor Dr. Eberhard Machens, zum neuen Präsidenten der Bundesanstalt für Bodenforschung mit Sitz in Hannover berufen. Eberhard Machens, dessen Frau Hilke mit der damaligen Schiller-Ehefrau verschwistert ist, sollte diesen Chefposten mit einer Vergütung von 6.000 Mark monatlich erhalten. Widerwillig unterschrieb Bundespräsident Gustav Heinemann die Ernennungsurkunde.

PROTESTE, VETTERN-WIRTSCHAFT

Der aus Altersgründen ausscheidende Präsident der Bundesanstalt für Bodenforschung, Professor Richter-Bernburg protestierte in Telegrammen an Bundespräsident Gustav Heinemann ( 1969-1974; *1899+1976 ) und Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974); *1913+1992) gegen die Berufung des umstrittenen Geologen. Er geißelte den "Berufungs-Skandal" und sprach von einer "unserem Staate unwürdigen Vetternwirtschaft". Zudem sei Eberhard Machens als Wissenschaftler nicht "besonders hervorgetreten"; allenfalls habe er sich in den letzten Jahren als Privatdozent und letztlich als außerplanmäßiger Professor an der Universität Mainz "vorlesen dürfen". Tatsächlich sei dieser Machens ein "kleiner Piesepampel", der die "ganze Fachwelt entsetze, nur weil's ein Schwager des Ministers ist, das sollte doch einfach nicht möglich sein". Diesen Protesten schlossen sich die Personalräte der Bundes- und Landesansralt in Hannover an. Mitbestimmungsgremien, die sich übergangen fühlten, sich als geprellt betrachteten. Einfach deshab, weil sie in einer Ära der Brandt'schen "Demokratie-Wagnisse" entgegen früherer Zusagen nicht einmal angehört wurden - von Mitsprache ganz zu schweigen.

HOHE ANFORDERUNGEN

Hohe Anforderungen, Führungs-Qualitäten eilten dem Stellenprofil des Präsidenten-Amtes voraus. Denn die Bodenforscher explorieren in Deutschland und im Ausland, sie beraten die deutsche Wirtschaft bei geowissenschaftlichen Projekten. Sie planen außerdem durch ihre Prognosen wie Expertisen die Versorgung des Landes mit seltenen Rohstoffen wie Titan und Bauxit, Mangan und Chrom. Folglich herrschte bislang unter allen Beteiligten ein unausgesprochenes Konsens-Verhalten: Auf den Präsidentenstuhl sollte nur ein erfahrener und ausgewiesener Geologe Platz nehmen, der gleichfalls über Manager-Qualitäten verfügen müsse.

BESSERE KANDIDATEN

In diesem Zusammenhang um das "Ämter-Geschachere" wurden die Namen hochqualifizierte Wissenschaftler wie Eugen Seibold , Franz Goerlich und der derzeitige Vize-Präsident Gerhard Lüttig genannt; ausgewiesene Experten in ihrem Metier, die über jeden Zweifel erhaben sein dürften. Doch die vehementen Einwände kamen exakt einen Tag zu spät. Bezeichnenderweise stimmte das Bundeskabinett der Machens Ernennung zum Präsidenten der Bundesanstalt für Bodenforschung zu berufen, am 1. März 1972 zu - ohne Diskussion. Freilich wussten die wenigsten in der Runde, dass es sich um den Schwager des Superminister Karl Schiller handelt. Eberhard Machens kontert die gegen ihn vorgebrachten Attacken: "Ich kann doch nichts dafür, dass Herr Schiller die Schwester meiner Frau geheiratet hat". Was Machens allerdings übersieht: Auch wenn seine wissenschaftliche Qualifikation unanfechtbar wäre, hätte seine Präsidenten-Ambitionen an der Verwandtschaft zu seinem Dienstherrn, dem Superminister dieser Jahre, scheitern müssen.

ZUSAMMENARBEIT AUFGEKÜNDIGT

Wer nun glaubte, damit sie der Streit um die Bewerber ad acta gelegt worden, sah sich getäuscht. In weiteren Schreiben an die Spitzen des Staates, Willy Brandt, Gustav Heinemann , Karl Schiller und an den niedersächsischen Ministerpräsidenten Alfred Kubel (1970-1976; *1909+1999) haben inzwischen 162 der 168 in Hannover tätigen Wissenschaftler der Bundes- und Landesanstalt ihren Widerwillen artikuliert. Sie kamen zu dem Schluss, dass mit dem neuen Präsidenten Eberhard Machens keine Basis für eine sachgerechte Zusammenarbeit möglich wäre und zu befürchten sei, dass durch diese Berufungs-Praxis der Reputation der im In- und Ausland angesehenen Institution erheblichen Schaden zugefügt werde. - Flächenbrand.

TREIBJAGD

Ginge es in diesem Scharmützel nur um die fachliche Qualifikation Eberhard Machens, die anderenorts nicht umstritten ist, würde die Berufung dieses Außenseiters nicht derartig scharfzüngige Prostete hervorrufen. Nach Auffassung von Professor Schönenberg vom Geologischen Instituts der Universität Tübingen, ist Eberhard Machens ein "hochqualifizierter Fachgenosse". Schönenberg entrüstet sich: "Ich bin über diese Treibjagd und wissenschaftliche Rufschädigung aufs äußerste empört. Damit stehe ich nicht allein. Viele Kollegen in der Bundesrepublik teilen mit mir diese Empörung - aber in dieser Zeit des lauten Geschreis hört man in Hannover und in der Öffentlichkeit nicht gern auf die leiseren Stimmen der Vernunft."

FALL MACHENS - EIN FALL SCHILLER

Bei näherer Betrachtung lässt sich unschwer erkennen, dass mangelhafte Verfahrensweisen des Bundeswirtschaftsministers aus dem vordergründigen Fall Machens längst ein Politikum - einen Fall des selbstherrlich agierenden Karl Schiller gemacht haben. Zur Erinnerung: Vor zwei Jahren hatte es Wirtschaftsminister Helmut Greulich abgelehnt, auf Anregung des Bundes, Eberhard Machens zum Vize-Präsidenten der Bundesanstalt zu küren. Der Vize-Präsident ist Beamter des Landes Niedersachsen, der Präsident Bundesbeamter - Föderalismus und seine verwirrenden Folgen. Diese absonderliche Konstruktion ergibt sich darauf, dass Bundes- und Landesanstalt faktisch eine Behörde sind. Bei der Berufung des Präsidenten hat sich das Bundeswirtschaftsministerium mit dem Land Niedersachsen "ins Benehmen zu setzen". Wird ein neuer Vize-Präsident ernannt, ist es umgekehrt der Fall. So sieht es jedenfalls das 1958 zwischen dem Bund und dem Land Niedersachsen vereinbarte Verwaltungsabkommen vor.

NEU ERNANNT - SCHON ABGEBRANNT

Der Hausmeister hatte gerade noch rechtzeitig ein neues Namensschild am Präsidentenzimmer anbringen können. Wenige Minuten später ging die Nachricht "Machens ist da" wie ein Lauffeuer durch die Bundesanstalt für Bodenforschung. Unangemeldet und unerwartet ließ sich der neue Präsident mit einem Taxi ohne viel Aufhebens zur Bundesanstalt chauffieren, um, wie er sagte, "mit der Arbeit zu beginnen". Auf den Fluren der Behörde stimmten Mitarbeiter ihr bereits eingeübtes Liedchen an: "Hoch auf dem gelben Wagen, saß ich beim Schwager vorn ...". Professor Machens, schlank und hochgewachsen, von der Sonne Afrikas gebräunt, wo er gerade im westlich gelegenen Niger forschte, dieser arg ramponierte neue Präsident wirkt bescheiden, unaufdringlich, in sich ruhend, bisweilen freundlich. Es ist ihm kaum anzumerken, welchem seelischen Druck , welch einem Prestige-Verlust sein Schwager ihn ausgesetzt haben mochte.

BEAMTEN-PROTESTE - OHNE BEISPIEL

Spontan legten sämtliche 800 Bediensteten der Bundesbehörde ihre Arbeit nieder, erhoben sich von ihren Schreibtischen und trafen sich spontan zu einer Protestversammlung . Welche Atmosphäre unter den Beamten und Angestellten vorherrschte, darauf deutete der auf der Zufahrtsstraße der Anstalt in meterhohen Buchstaben gepinselte Satz: "Machens ist hier unerwünscht." Was sich da in der behäbig wirkenden Bundesanstalt für Bodenforschung ereignet hat, ist in Deutschland ohne Beispiel. Beamte, von denen man annehmen möchte, sie neigen eher zum staatstragenden, konservativen Denken, sie zeigten Courage, Zivilcourage - fernab vom auf Gehorsam verordneten Beamtenrecht.

ERSCHÜTTERUNG DER DEMOKRATIE

Überall knallte dem frisch ernannten Präsidenten Empörung, eine aufgeladene Stimmung entgegen. Tumulte auf den Personalversammlungen und immer wieder Sprechchöre mit Ausbrüchen, die da lauteten: "Unser Vertrauen in Sie und die Demokratie ist zutiefst erschüttert." - "Ich lehne Sie ab, wir werden nicht mit Ihnen zusammenarbeiten", war auf der anderen Seite des Saals zu vernehmen. Den überaus harten , menschlich verletzenden Wortgefechten folgten gellende Pfiffe, als Eberhard Machens unmissverständlich erklärte: "Ich trete nicht zurück. Ein Verzicht auf die Amtsübernahme würde der gegenwärtigen Bundesregierung schaden. Ich will aber versuchen, dieses Haus arbeitsfähig zu halten." - Wunschdenken.

MUT BEWIESEN - NICHTS GEÄNDERT

Eberhard Machens stellte sich den 800 Bediensteten in einer Personal- Vollversammlung der Diskussion. Nur seine Argumente konnten die zwiespältigen Bonner Geschehnisse um Wirtschaftsminister Karl Schiller kaum entschärfen. Im Gegenteil. Die Fronten erhärteten zu Betonblöcken, dass es beiden Parteien ohne Prestigeverlust kaum möglich ist, einen Rückzug anzutreten. Schon weigerten sich die Abteilungsleiter der Bundesanstalt zur offiziellen Amtseinführung des neuen Präsidenten Eberhard Machens durch Staatssekretär Johann Baptist Schöllhorn (1967-1972) nach Bonn zu fahren. Der Personalrat der Bundesanstalt war bereits zurückgetreten. Der Personalvertretung der Landesanstalt will noch die Entscheidung der Landesregierung in Hannover abwarten, ob Eberhard Machens tatsächlich zur selben Zeit auch nochdie Bestallungsurkunde als Präsident des Landesamts für Bodenforschung erhält. - Ämterhäufung. Normalerweise liegt die Führung beider Funktionen in einer Hand.

DIENST NACH VORSCHRIFT

Drei Tage des gezielten Protestes haben freilich ihre Wirkung nicht verfehlt. Überraschend empfing Superminister Karl Schiller urplötzlich in den Mittagsstunden ein vierköpfiges Aktionskomitee der Belegschaft. Ein aufgestauter Ärger, der da ausbrach und seine Bahnen fand, wäre ihm erspart geblieben, wenn er oder seine Staatssekretäre dieses Gespräch schon vor der Berufung Eberhard Machens' gesucht hätten. Scherben gilt es einzusammeln - mehr nicht. Ein selbstherrlicher Minister hat mit seinem Trotz dem Ruf seines Schwagers und auch der Glaubwürdigkeit der sozialliberalen Bundesregierung mehr als geschadet. Der Ruch der Vetternwirtschaft dürfte an Karl Schiller haften bleiben.

REGIERUNG BEIM WORT GENOMMEN

Die achthundert Bediensteten der Bundesanstalt nahmen dabei lediglich die sozialliberale Regierung der Republik beim Wort. Sie hatte versprochen, "mehr Demokratrie wagen" zu wollen. Dies galt es für sie einzuklagen. Nur so ist auch zu verstehen, dass SPD-Bundesgeschäftsführer Holger Börner (1972-1976; *1931+2006) ungefragt beschwichtigte: Die Vorkommnisse um die Berufung Eberhard Machens seien ein Problem des Ministers Karl Schiller und nicht etwa der Sozialdemokratie. Bliebe allenfalls hinzuzufügen, dass die SPD daran gemessen wird, was ihre Minister an sozialdemokratischer Regierungspolitik verwirklichen und an SPD-Lebensidealen vorgelebt haben.

Kaum vierzehn Tage im Amt, nahm Professor Eberhard Machens auf unbestimmte Zeit Urlaub. An seinen Arbeitsplatz dürfte er wohl kaum zurückkehren wollen.

Donnerstag, 2. März 1972

Der "Rote Punkt" ist gescheitert - auf den Straßen von Hannover bleibt die Situation hoffnungslos
























---------------------------
Vorwärts, Bonn
2. März 1972
von Reimar Oltmanns
--------------------------

Der Rote Punkt wurde in den Aufbruch-Jahren 1969 bis 1973 zu einem Symbol - zu einem Wahrzeichen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in ihrem Protest gegen unbotmäßige Fahrpreiserhöhungen in Straßenbahn, Bussen, Nahverkehrszügen ; angeordnet von den Hannoverschen Verkehrsbetrieben. 50.000 Rote Punkte klebten an den Windschutzscheiben - die Bewegung erreichte breite Bevölkerung-Schichten. Der rote Punkt, einst legendär und gefürchtet, er bekam Volksfest-Charakter. Jedes zweite Auto fuhr im Großraum Hannover mit dem roten Punkt. Der Protest dauerte 1972 elf Tage. Die Preiserhöhung wurde wieder zurückgenommen und durch ein Einheits-Ticket von 50 Pfennig ersetzt.
PREISE FÜR GEWINNE ERHÖHT
Es begann damit, dass die Verkehrs-Knotenpunkte bis hin zum Stadtrand kurzerhand blockiert wurden . Der Grund: Wieder einmal, quasi Jahr für Jahr, wurden die Fahrpreise erhöht; dabei stiegen sattsam Gewinnausschüttungen der Verkehrsbetriebe an ihre Aktionäre.
EINE BESETZTE STADT
Drei Tage glich die Innenstadt von Hannover einer besetzten Stadt. Mit 16 Polizeihundertschaften, elf Wasserwerfern, die zeitweilig Tränengas aussprühten, und immer wieder spontan auftretenden Reiter-Staffeln der Polizei trat die Hannoversche Sozialdemokratie Tausenden Demonstranten entgegen, die sich unter der Aktion Roter Punkt gegen die Fahrpreis-Erhöhungen der Verkehrsbetriebe formiert hatten. Immerhin schmückte sich der gut dotierte Aufsichtsrat der ÜSTRA AG zu einem Drittel mit örtlichen SPD-Funktionären. - Nebenverdienste.
KNÜPPEL UM KNÜPPEL
Nach den täglichen Kundgebungen folgten Protest-Märsche durch die Innenstadt; dort kam es regelmäßig zu regelrechten Straßenschlachten. Mit Steinen, Farbbeuteln und Knallkörpern versuchten Demonstranten den Straßenbahnverkehr lahmzulegen. Uniformierte Formationen schlugen zurück - hart zurück: Einkesselung, Tränengas-Granaten, Verhaftung von über Hundert Blockierern, Schlagstöcke , Verletzte, überfüllte Krankenhäuser. Bürgerkrieg an der Leine. Unter diesem Eindruck der Staats-Konfrontation trat die Aktion Roter Punkt den Rückzug an und erklärte die Demonstrationen für 1972 als beendet.
AUSBEUTER-GESELLSCHAFT
Nur studentische Revolutionäre dieses APO-Aufbruchs und DKP-Marxisten-Leninisten marschierten unverdrossen weiter durch die Innenstadt. Ihnen schien es offenbar weniger um den öffentlichen Nahverkehr als vielmehr um die "kapitalistische Ausbeuter-Gesellschaft" zu gehen; so wurde ein spontaner, erfolgreicher Bürger-Protest zu einer in Randgruppen bedeutungsvollen "Systemfrage" stilisiert, abgewürgt. Jedenfalls war die Renaissance des Roten Punkt gescheitert. Damals - im Jahr 1969 - kam es zwischen Studenten und Bevölkerung unvorhersehbar zu einer breiten Solidarität in der Sache. Ein Bündnis, das so durchsetzungsstark all seine Forderungen durchzusetzen vermochte. Nur drei Jahre später blieb die erhoffte Sympathie weiter Bevölkerungskreise aus.
DILEMMA DER KOMMUNEN
Dabei waren die Städte längst nicht mehr in der Lage, den öffentlichen Nahverkehr zu finanzieren. Die beinahe jährlich wiederkehrende Konfrontation zwischen Staatsgewalt und Demonstranten-Protest verdeutlicht, wie ausweglos gegenwärtig das Dilemma der Kommunen ist. Was im Jahr 1969 als ein hoffnungsvoller Schritt in die viel zitierte Zukunft galt, könnte sich schon Ende 1972 als ein Schritt der Zahlungsunfähigkeit, des Konkurses herausstellen. Damals wurde ein Verkehrsverbund für den Großraum Hannover geschaffen, der der Zersplitterung des öffentlichen Nahverkehrs und den Konkurrenz-Kämpfen der einzelnen Verkehrsbetriebe ein Ende bereitete.
KAUM VERLUSTE AUFFANGEN
Die Hannoverschen Verkehrsbetriebe - ÜSTRA AG - wurde zum Kaufpreis von 82 Millionen Mark kommunalisiert. Heute aber sind weder der Großraumverband noch die Stadt Hannover in der Lage, die eingetretene Kostenexplosion mit ihren Defiziten aufzufangen oder abzudecken. Bereits 1972 wird der Verband ein Haushaltsloch von 15,3 Millionen Mark aufweisen: 1975 sind es 46,8 Millionen. Verkehrsverbund und Einheitstarif, in einem Ballungsraum von mehr als einer Millionen Menschen, sind ohne finanzielle Beteiligung des Bundes und in diesem Fall des Landes Niedersachsen in den kommenden Jahrzehnten nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die Konsequenz für Hannover wäre folgenschwer: Rat und Verwaltung müssten dort wieder anfangen, wo sie nach der Roten-Punkt-Demonstrationen 1969 aufgehört haben:
ZONENTARIF, ZERSPLITTERUNG
Zonentarif, Zersplitterung und Konkurrenz der jeweiligen Verkehrsbetriebe, Steigerung des Individualverkehrs. Wer den Kreislauf, in dem sich die Städte befinden, seit Jahren beobachtet, fragt sich, wo eine mögliche Alternative zu der unbefriedigenden Situation zu finden ist. Zahlreiche Großstädte treten zwar schon seit Jahren mit Vehemenz für eine verstärkte Förderung des öffentlichen Nahverkehrs ein. Doch sie sind bisher nicht in der Lage, ihre Forderungen in die Praxis umzusetzen. Geldmangel, Haushaltslöcher, Netto-Kreditaufnahmen, Schulden, Geldmangel begleiten ihr Finanzgebaren.
NEUE KONZEPTION MUSS HER
Auf dem SPD-Parteitag in Hannover im November 1971 prallen zwar die Meinungen hart aufeinander, aber eine Alternative zu den Fahrpreiserhöhungen um immerhin 25 Prozent sah freilich niemand. Während ausgerechnet der FDP-Fraktionschef im Rathaus an der Leine, Walter Heinemann, an die Genossen appellierte, die Verkehrsbetriebe vor dem Konkursrichter zu bewahren, kritisierten Delegierten Konzeptions- wie Visionslosigkeit bundesdeutscher Verkehrspolitik. Für Gewerkschaften und dem linken SPD-Flügel sind mit unentwegten Fahrpreiserhöhungen verfehlte politische Strukturgaben nicht zu lösen. Es gehe auch nicht an, sich Jahr um Jahr mit erhöhten Ticket-Gebühren an den Kunden "gesundzustoßen".
AUTOABGASE IN METROPOLEN
Für den SPD-Landtagsabgeordneten Wolfgang Pennigsdorf ist der öffentliche Nahverkehr nicht nur eine kommunale Aufgabe, sondern ein zentrale gesellschaftspolitisches Problem; eine Aufgabenstellung, die den Bund ebenso verpflichtet. Nach seiner Ansicht dürfe Hannover nicht dem Beispiel der Bundesregierung folgen, die den Nahverkehr, die den Nahverkehr nach privat-wirtschaftlichen Grundsätzen behandeln wolle. Es käme vielmehr darauf an, dass endlich im Bundesverkehrsministerium eine Konzeption erarbeitet werde, die den durch Autoabgase erstickenden Großstädten eine neue Perspektive eröffne. Es gehe nicht an, so meint Wolfgang Pennigsdorf, dass Verkehrsminister Georg Leber (1966-1972 )bis 1985 insgesamt 175 Milliarden Mark für den Ausbau des Straßennetzes ausgeben wolle - aber für den öffentlichen Nahverkehr so gut wie kein Geld zur Verfügung stünde. - Fehlentwicklungen.
EINFRIEREN DER FAHRPREISE
"Mit dem Einfrieren des Fahrpreises und den daraus entstehenden Konsequenzen hätte Bundes-Bonn sich nicht mehr aus der Affäre ziehen können. Jetzt, wo die Unzulänglichkeiten wieder auf kommunaler Ebene gelöst wurden, sind wir in der Grundsatz-Auseinandersetzung kein Stück vorangekommen." Verschoben auf Sanktnimmerleinstag. In Anspielung auf Georg Lebers Ideallösung, "der autogerechten Straßen" erklärt Wolfgang Penningsdorf: "Die Förderung des Indiviualverkehrs ist die Fortsetzung der Eigenheimpolitik der CDU in den sechziger Jahren."

Mittwoch, 1. März 1972

Deutschland deine Nazis - Bei belastenden Fragen Vergangenheit schwieg der Baron






















Otto Freiherr von Fircks (*14. September 1912 in Pedswahlen in Lettand+17. November 1989 in Hannover) war Landwirt, SS-Obersturmführer in Litzmann- stadt (SS-Nr. 357261), Mitglied der CDU/CSU Fraktion im Deutschen Bundestag 1969-1976
-----------------------------------------------
Geschichts-Aufarbeitung nach drei Jahrzehnten der Nazi-Barbarei: Die Mörder sind unter uns, auch wenn sie nicht getötet haben. Ein KZ-Aufseher in Dachau wurde Bürgermeister in diesem Landkreis. Eine "Bürokraft des SS-Dienststellenleiters in Paris wurde Bürgermeister von Bürgstadt. Der Kommandeur der Sicherheitspolizei im französischen Angers, im Range eines SS-Hauptsturmführers, trat über zwanzig Jahre als "Herr Rechtsanwalt Ernst" vor dem Oberlandesgericht in Oldenburg in schwarzer Robe auf. - Deutsche Karrieren. Sie waren sicherlich keine "Nazi-Größen". Aber sie haben eine unverdächtig erscheinende Kontinuität - eine deutsche Mentalität bewahrt.
80.000 NAZIS STRAFFREI
Der Holocaust hatte schätzungsweise 150.000 Täter, Organisatoren, Vollstrecker. Auf deutschem Boden sind aber nach dem Kriege nur 88.587 staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Ohne Strafe an "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" blieben 80.000 Täter. Sie sind straffrei ausgegangen. Der Anspruch der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse, die Ehre und Würde der Verletzten wiederherzustellen und das verletzte Recht wieder einzusetzen - ist nicht erfüllt worden.
JUNGE GENERATIONEN
Nur ein präzise Erinnern für jüngere Generationen lässt die schon damals festgefahrenen restaurativen Abläufe in ihrer bedrückenden Gesamtheit des Verdrängens und der Lügen erkennen. Ein Prozess, der seit Ende der achtziger Jahre durch die rechtsextreme NPD oder auch durch die Nationale Sammlung eine scheinbar ungeahnte, fortwährende Aktualität gewinnt. Momentaufnahmen aus einem typischen Nazi-Verfahren jener Jahre.
-------------------------------
Frankfurter Rundschau
01. März 1972 und
02. März 2009
von Reimar Oltmanns
-------------------------------
Vor der 6. Kleinen Strafkammer des Landgerichts Hildesheim bot sich den etwa 300 Zuschauern an zwei Verhandlungstagen ein seltenes, zeitweilig arg zweifelhaftes Bild. Auf der Anklagebank saß der 40jährige Volksschullehrer Artur Sahm, ehedem bis 1969 niedersächischer Landesvorsitzender der Deutschen Friedens-Union (DFU) aus Burgdorf bei Hannover. Nach dem KPD-Verbot von 1956 war die DFU 1960 gegründet mit dem Ziel gegründet worden, sozialistische und kommunistische Kräfte zu bündeln. Artur Sahm, von untersetzter Figur mit Nickelbrille und Halbglatze, hinterließ vor Gericht so ganz den Eindruck vom Dorfschulmeisterlein, dem es nichts anderes als um die Wahrheit geht". Dabei hatte er sich wegen übler Nachrede und Verleumdung in einer Berufungsverhandlung zu verantworten. - Verquere Welten.
"NAZISTISCHE UNTATEN"
In einem Flugblatt, das Artur Sahm kurz vor der Bundestagswahl 1969 in der 18.000 Einwohner zählenden Kreisstadt verteilte, warf er dem damaligen CDU-Kreisvorsitzenden und Bundestagsabgeordneten Otto Freiherr von Fircks vor, sich "an den nazistischen Untaten wegen der Besetzung Polens" beteiligt zu haben. Wörtlich hatte Arthur Sahm formuliert: Otto Freiherr von Fircks "war tätig beim SS-Aussiedlungsstab in Litzmannstadt (Lodz) der sog. 'Umwanderungszentralstelle, der UMZ, von der die Zwangsauswanderung der unerwünschten Juden und Polen gelenkt worden ist. Heute jedoch will von Fircks nichts mit der 'Aussiedlung', der Vertreibung von über einer Millionen Polen aus Siedlungsgebieten zu tun gehabt haben", schrieb der Pädagoge.
POLEN MIT WANZEN VERGLICHEN
Und er holte noch weiter aus. Weiter heißt es seinem DIN-A4-Papier, dass von Fircks die Polen mit Wanzen verglichen habe. Und dass der Reichsführer SS, Heinrich Himmler (*1900+1945; hauptverantwortlich für Holocaust an europäische Juden, Sinti und Roma) ihm, dem Freiherrn von Fircks, in Anerkennung seiner Verdienste den Rang eines SS-Obersturmbandführers verliehen hatte. Das vier eng beschriebene Schreibmaschinenseiten umfassende Flugblatt berichtete zudem detailliert darüber, was damals sonst noch so alles in Polen geschah. Zitat: "Fast in allen größeren Orten fanden durch die erwähnen Organisationen (SS und Polizei) öffentliche Erschießungen statt. Die Auswahl war dabei völlig verschieden und oft unverständlich, die Ausführung vielfach unwürdig. Verhaftungen waren fast immer von Plünderungen begleitet".
IM NAMEN DER SS + POLIZEI
Auf dem Handzettel stand auch vermerkt: "Durch die Tätigkeit der SS-Einsatzgruppen waren bis zum Februar 1940 schon etwa 300.000 Polen "umgesiedelt" worden. Allein aus dem Warthegau wurden 120.000 polnische Landbesitzer deportiert. Auf ihre verlassenen Höfe wurden u.a. auch die bäuerlichen Landleute des Freiherrn von Fircks delegiert. In den Statistiken der SS stieg die Zahl der liquidierten oder - wie es hieß - der "sonderbehandelten" Polen und Juden auf "einige Zehntausend". Bei der "außerordentlichen Befriedungsaktionen" im Frühjahr 1940 wurden 3.500 Polen reihenweise umgebracht.
GEBOT GOTTES - DEUTSCHEN DIENEN
Zur Erinnerung, wider das Vergessen. - Mit vorbereiteten Listen trieben die SS-Häscher polnische Lehrer, Ärzte, Beamte, Geistliche, Gutsbesitzer und Kaufleute in die Umsiedlungs- oder Auffanglager, die sich nicht selten als Liquidierungsstätten erwiesen. Die "rassisch Wertvollen" wurden herausgesucht, die polnische Elite wurde vernichtet. Der Rest sollte verkümmern und als Arbeitsvolk den Deutschen dienen. Der polnischen Jugend wurde beigebracht, dass es ein Gebot Gottes sei, den Deutschen gehorsam zu sein, ehrlich, fleißig und brav.
FREISPRUCH IN ERSTER INSTANZ
Arthur Sahm warf dem CDU-Bundestagskandidaten von Fircks letztendlich vor, "sich an den nazistischen Untaten wegen der Besetzung Polens" beteiligt zu haben. Das Amtsgericht Burgdorf hatte den Lehrer in erster Instanz freigesprochen; doch Otto Freiherr von Fircks ging in die Berufung. Er wollte es nicht auf sich sitzenlassen, dass er sich 1940 als Leiter eines SS-Einsatzstabes im Landkreis Gnesen an von Hitler gefohlenen Verbrechen in Polen beteiligt, in Nacht-und-Nebel-Aktionen polnische Bauern vertriebe habe, um deutschen Siedlern Platz zu machen - zu guter Letzt die Polen gar mit "Wanzen" verglichen habe.
"IM KERN WAHR"
Das Amtsgericht in Burgdorf war nach siebenstündiger Verhandlung im Mai 1971 zu dem Schluss gekommen, dass die Vorwürfe Sahms "im Kern wahr" seien.Ein Urteil, das der CDU-Politiker nicht hinnehmen wollte. Berufung. So saßen sich nunmehr der linke Volksschullehrer Arthur Sahm und Freiherr Otto von Fircks (in der Rolle des Nebenklägers) erneut gegenüber. Doch diese sonderbare Rollenverteilung wurde zu keiner Minute dem tatsächlichen Prozess-Ablauf gerecht. Die "Braunschweiger Zeitung" beobachtete richterliche Berührungsphobien der Herren in schwarzer Robe, wenn es um die unerlässliche Aufarbeitung deutscher Vergangenheit geht. Sie kommentierte: "In diesem Prozess ist alles ganz anders. Der Angeklagte (Arthur Sahm) ist in Wahrheit der Angreifer, und der Nebenkläger (Freiherr von Fircks) muss sich verteidigen. Der gerichtliche Verteidiger Heinrich Hannover aus Bremen wirkt mit der Technik eines Staatsanwalts, während der Anklage-Vertreter gewissermaßen in der neutralen Ecke steht. Die Vertreter der Nebenkläger möchten diesen gern in eben dieser Ecke haben und versuchen, aus Formalität Palisaden zu bauen. Es wäre zum Schmunzeln, wenn es nicht so traurig wäre." - Deutsche Vergangenheits-Bewältigung.
KEINE ERINNERUNG MEHR
Immer dann, wenn Heinrich Hannover durch geschickte Fragen den baltischen Baron schwer zu belasten drohte, konnte sich der frühere niedersächsische Vertriebenenfunktionär, der er auch einmal war, "an nichts mehr erinnern". Er schwieg und überließ seinen Anwälten das prozessuale Terrain. Laut wurden die Anwälte, sehr laut - als wollten sie durch ihre penetrante Brüllerei geschehenes Unrecht vergessen machen.
DOKUMENTE AUS WARSCHAU
Den geschickten Fragen der Verteidigung lagen mehr als 300 Dokumente zugrunde, die Arthur Sahm während eines einwöchigen Warschau-Besuchs in Archiven fand. Dass Otto Freiherr von Fircks Leiter des Sozialarbeitsstabs in Gnesen war, zudem im Mai 1940 von Heinrich Himmler ehrenhalber zum SS-Obersturmführer ernannt wurde, das gab von Fircks notgedrungenerweise zu. An die "Merkpunkte" für jene Arbeitsstäbe, mit dem Stempel "geheim" versehen, konnte er sich freilich nicht mehr erinnern. Aus ihnen ging zweifelsfrei hervor, dass Aus- und Ansiedlung von Polen und Deutschen nahezu nahtlos ineinander übergingen, wie es auch der Staatsanwalt in seinem Plädoyer hervorhob. So heißt es unter anderem in dem sechs Seiten umfassenden Dokument: "Erst wenn die evakuierte polnische Familie außer Sicht ist, erfolgt die Einweisung der Ansiedler." Oder: "Nur der beste polnische Besitz ist zu erfassen."
KRUZIFIXE VERBRANNT
CDU-Bundestagsabgeordneter von Fircks hingegen behauptet mit einer beinahe immer wiederkehrenden Stereotypie, Aus- und Ansiedlung von Polen, Wolhynien- und Galiziendeutschen haben miteinander absolut nichts zu tun gehabt. Was sich allerdings in jenen düsteren Tagen deutsche Geschichte offenbar abspielte, schilderte Sahms Kronzeuge, der Polendeutsche Eberhard Jagemann. Er war zu dieser Zeit dem Arbeitsstab als Dolmetscher zugeordnet: In den frühen Morgenstunden wurden die Dörfer umstellt, an den Ausgängen Maschengewehre postiert. Die Polen mussten in aller Kürze ihre Höfe verlassen und wurden zum Abtransport gebracht. Während die Aktion reibungslos ablief, blieb ein Teil des Polizeikommandos im Dorf, um aus den Häusern die Kruzifixe und Heiligenbilder zu entfernen. Sie wurden dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Wenige Stunden später erreichten die Trecks mit Balkan-Deutschen die Dörfer.
NICHTS IST VERBORGEN GEBLIEBEN
Zwar bestätigte Eberhard Jagemann ausdrücklich, von Fircks bei derartigen Aussiedlungsaktionen nie beoachtet zu haben. Doch er fügte sogleich hinzu: "Es kann ihm aber nicht verborgen geblieben sein." Selbst der von dem Freiherrn benannte Zeuge, namens Paulich, sagte aus, dass der Arbeitsstab Aus- und Ansiedlung zu verantworten hatte. - Und Leiter dieses Arbeitsstabs war nun einmal der baltische Baron Freiherr Otto von Fircks.
UNANGENEHME WAHRHEITEN
Die Aussagen Eberhard Jagemanns mussten von Fircks mehr als unangenehm sein; denn der Kronzeuge bestätigte dem Gericht auch, dass von Fircks während einer Dienstbesprechung zu Unnachsichtigkeiten und Härte gegenüber den Polen aufgefordert habe und sie immer wieder mit Wanzen verglichen habe.
EIN KOMMUNIST - DER KRONZEUGE
Nebenkläger von Fircks, mittlerweile in die Rolle des Verteidigers, trachtete immer eindringlicher danach, den Kronzeugen Jagemann als einen "unglaubwürdigen und zwielichtigen Kommunisten" vorzuführen. Der Kalte Krieg dieser Jahre. Der Freiherr unterstellte ihm, Jagemann sei schon deshalb "unglaubwürdig", weil er nach dem Kriege "stille Mitgied der KPD" gewesen sei. Er veranstalte hier eine "Hexenjagd" gegen unbescholtene CDU-Politiker der Bundesrepublik.
KPD-LEUTE AUF ANKLAGE-BANK
Als noch junger Prozess-Beachter für die Frankfurter Rundschau zum Landgericht gereist, fragte ich mich bei diesem Hass erfüllten Verhandlungsablauf, wer hier eigentlich zu Gericht saß - ein SS-Scherge oder durch Nazis verfolgte Kommunisten. Verquere Zeiten, in denen ein einstige SS-Obersturmführer mit der Immunität eines Bundestagsabgeordneten ausgestattet, unversehens aus ehedem Verfolgten zu unnachgiebigen Verfolger abstempelt. So sagten zwei weitere KPD-Funktionäre, die von Eberhard Jagemanns stille KPD-Mitgliedschaft hätten wissen müssen, unter Eid aus, dass es eine so genannte stille Mitgliedschaft überhaupt nicht gegeben habe.
"DREI SÄULEN" GLAUBWÜRDIGKEIT
Der Staatsanwalt indes zog die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen Eberhard Jagemanns nicht in Zweifel. Er sprach von "drei Säulen" (Dokumente, Aussage-Jagemann und die nahtlose Aus- und Ansiedlung), die beweiskräftig genug wären, um den Vorwurf glaubwürdig zu machen, von Fircks habe sich an nazistischen Untaten beteiligt. Heinrich Hannover bemühte in seinem Plädoyer ein Stück der Zeitgeshichte: " Niemand hätte sich um die Vergangenheit des Freiherrn von Fircks gekümmert, wenn er sich in eine stille Ecke zurückgezogen hätte, doch dieser Herr von Fircks ist Bundestagsabgeordneter der CDU, der durch die Ostpolitik Willy Brandts (1966-1974) ganz Europa geschädigt sieht."
UNRECHT NICHT EINGESEHEN
Dass damals bitteres Unrecht an den Polen im Namen der Deutschen geschehen ist, vermag Otto von Fircks nicht einzusehen. Wenn er überhaupt etwas vor den Richtern von sich gibt, dann wehrte er sich mit Vehemenz dagegen, die Vertreibung polnischer Bauern als "Untat" zu bezeichnen. Schließlich habe er ja auch keine Tötung begangen, der Freiherr. Zwei Tage warteten Prozess-Beobachter auf Worte des CDU-Politikers, die da etwa lauten würden: heute weiß ich, dass damals Unrecht geschehen ist. Heute bedaure ich das zutiefst. Fehlanzeige. Keine Reue, kein Bedauern. Zur Urteilskündung war von Fircks erst gar nicht mehr erschienen.
SS-MANN DER SIEGER
Im Gegenteil: Das Landgericht Hildesheim unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Günter Weber, 45, verurteilte Artur Sahm zu einer Geldstrafe von 2.000 Mark und zur Veröffentlichung des Urteils in mehreren überregionalen Zeitungen. Richter Weber befand, Sahm sei in seinem Flugblatt "weit über das Ziel hinausgeschossen". Obwohl er einen Teil der gegen von Fircks erhobenen Vorwürfe habe beweisen können, müsse das Flugblatt im Gesamtzusammenhang gesehen werden. In diesem so zitierten, so genannten "Gesamtzusammenhang" sei auch von Greueltaten die Rede, die von Fircks nicht beweiskräftig zu unterstellen seien.
AUS ANKLÄGER WIRD DER BEKLAGTE
Indes: Für den Lehrer Artur Sahm und seinen Rechtsanwalt Heinrich Hannover geht der Rechtsstreit weiter. Sahm hat sich jetzt vor einer Disziplinarkammer zu verantworten. Anklagepunkt ist abermals sein Flugblatt. Er habe sich , in dem er polnische Dokumente der Zeitgeschichte zitierte, nicht der beamtengemäßen Zurückhaltung bei politischen Äußerungen auferlegt, lautet der Vorwurf, den das niedersächsiche Kultusministerium gegen ihn erhob. Aus dem Fall von Fircks ist längst unversehen Fall Sahm geworden. Eine rund 100 Seiten umfassende Dokumentation eines Disziplinarverfahrens, das mittlerweile vier Jahre alt ist, sprach bereits eine neue Sprache in dem Land der Dichter und Denker - die Sprache des exakt in diesem Jahr - 1972 - erstmals in Hannover ausgeübten Berufsverbots. - Aus Täter werden Opfer, aus Verfolger werden Verfolgte. "Wir wollen mehr Demokratie wagen" - das sagte Willy Brandt (1969-1974) als Bundeskanzler in jener Epoche des Aufbruchs. - Deutsche Zeit-Geschichte.