Donnerstag, 29. Februar 1996

Armut in Frankreich - freier Fall ins Elend


Die Konjunktur läuft, aber gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit. Menschen bleiben draußen vor der Tür. Über 2,5 Millionen Fran- zösinnen leben von Sozialhilfe, eine halbe Millionen ziehen obdachlos durchs Land - jeder vierte Jugendliche bleibt ohne Job. In ehemals reichen Bergarbeiterdörfer - wie hier in Le Chambon Feugerolles in der Loire - oder in vielen banlieues großer Metropolen prägt und bestimmt nur noch die halbwegs ver- steckte Not ihren Alltag. Schriller Überlebens- kampf. "Wir Frauen schämen uns hier in Frankreich noch, wenn uns die Armut er- wischt. Das ist nicht normal", sagt die 48-jährige Annie Bonnard (oberes Bild: Mitte). Hier trifft sie sich mit mittellosen Frauen zu Näharbeiten.



Neue Osnabrücker Zeitung
29. Februar 1996
von Reimar Oltmanns

Nur ein schmaler, gewundener Dienstbotenaufgang führt auf den Dachboden eines verwinkelten Apart- menthauses in der Rue Salengro im Loire-Städtchen Le Chambon Feugerolles in der Nähe von St. Etienne. Hinter einer antiken Holztür ohne Namensschild versteckt sich die Armut dieser Region - Frauen-Armut. Die 48jährige Annie Bonnard kommt seit neun Jahren nahezu täglich zum "Colletif Chômeurs", zur Bürger- initiative der Arbeitslosen in diesem ehemals reichen Bergarbeiter-Ort.

"Einfach deshalb", wie sie knapp bemerkt, "um die krankmachende Isolation zu durchbrechen und ein bisschen Not mit den kostenlosen Fresspaketen der "restaurants du coeur" zu lindern. Wir Frauen verstecken und schämen uns hier in Frankreich immer noch, wenn uns die Armut erwischt hat. Das ist doch nicht normal. Schließlich sind wir in der Mehrheit", fügt sie trotzig hinzu.

VERSTECKTE NOT

Immerhin können die Frauen vom "Collectif Chômeurs" sechs Nähmaschinen und drei Bügeleisen ihr eigen nennen. Geschneidert wird wochentags in drei Gruppen zur "Wiedereingliederung", wie es offiziell bedeutungs- voll heißt. Tatsächlich geht es den Frauen darum, für sich und ihre Kinder wenigstens halbwegs tragbare Kla- motten zu nähen. "Sonst bliebe uns ja nichts", murmelt Annie irgendwie rechtfertigend.

Annie Bonnard ist keineswegs verbittert. Aber viel über Einzelschicksale zu reden, eine sogenannte Betroffen- heits-Mimik wachzurütteln - das hat sie längst aufge- geben. Derlei Szenarien öden sie an. Madame Annie deutet kurz auf ihren leicht gespreizten Mittelfinger der rechten Hand. Jedenfalls will Annie das oft zerkratzte Innenleben jener in Not geratenen Frauen in der Öffent- lichkeit nicht breitgetreten wissen - nicht mehr.

Dabei läuft nichts mehr - so gar nichts mehr - in Le Chambon Feugerolles. An die 55 Prozent der Einwohner und jede zweite Frau lebt ohne Broterwerb. Viele hand- werkliche Kleinbetriebe haben geschlossen, die einst einträglichen Bergwerke liegen brach, Häuser des sozialen Wohnungsbaus stehen leer, Läden verfallen, etliche Bars und Hotels machten stickum dicht. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt durchschnittlich nur noch 4.150 Euro während es sich etwa im Ring um Lyon noch auf etwa 21.400 Euro beläuft. Und Steuern nimmt die Kommune lediglich ganze 280 Euro je Ein- wohner im Jahr ein. Minusrekorde der Republik, Armutszahlen.

KINDER DIESER STADT: ARM, BETTELARM


"Die Kinder dieser Stadt", flüstert die Sozialarbeiterin Véronique Rullière hinter vorgehaltener Hand, "lernen hier vieles kennen - Hunger, Alkohol, Cannabis, Prosti- tution, Schulden. Das alles spielt sich mehr oder weniger auf den hundert Metern zwischen Jugendhaus und Supermarkt ab, der Kleinstadt-Meile. Nur arbei- tende Eltern, die haben die Jugendlichen noch nie erleben dürfen." Dafür aber unisono ein nachhaltig prägendes Erwachsenen-Milieu, das der rechtsradikalen Front National mit über einem Drittel aller Wähler- stimmen in Le Chambon Feugerolles ihr Vertrauen gab.


An die 800.000 Schul- und Universitätsabgänger, beinahe 24 Prozent der Altersgruppe bis zu 25 Jahre, sind in Frankreich ohne Beschäftigung. Jeder vierte Jugendliche ist ohne Stelle - das sind drei Mal so viele wie in Deutschland. Und die Benachteiligung verdoppelt sich zudem noch für junge Mädchen und Frauen. Nicht nur, dass sie bei gleicher Qualifikation nach wie vor um ein Drittel weniger als Männer verdienen. Ihre Arbeits- losenquote macht immerhin über 14 Prozent aus - und das seit Jahren (Männer 12,2 Prozent).

KAUM ARBEITENDE ELTERN


Ob allein stehende ältere Frauen, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben, ob kinderreiche Mütter oder auch junge Mädchen, die von zu Hause fortgegangen sind - ihre Endstation heißt Arbeitslosigkeit, ohne An- spruch auf Unterstützung oder gar Hoffnung auf Ein- stellung irgendwann und irgendwo bei irgendwem. Wenigstens in dieser Sparte sind die Französinnen überproportional präsent - und das durchgängig mit etwa 60 Prozent. Denn mit Sozialhilfe können erst jene kinderlosen Frauen rechnen , so das Gesetz, die das 25. Lebensjahr vollendet haben.

Bis an die 300.000 Jugendliche, so schätzt der Re- gierungsbeauftragte für gesellschaftliche Wiederein- gliederung, Roland Morceau, vagabundieren durch die Republik, ziehen verarmt und hungernd der Sonne und dem Festspielkalender hinterher. Karitative Vereini- gungen veranschlagen die Zahl der Zugvögel, die in ihrer Gesellschaft keine Perspektive finden, auf das Dreifache.

Im Wahlkampf erklärte Präsidenten-Kandidat Jacques Chirac ( 1995-2007)samt seinem Gefolge als gaulli- stische Erneuerer der Nation zumindest rhetorisch der Arbeitslosigkeit und dem gesellschaftlichen Aus- schluss "den Krieg". Erst wenige Monate an der Macht, verhängten sie über südfranzösische Touristen-Metro- polen ein "Bettelverbot". Seither werden nicht nur die Lebensmittelabteilungen der Supermärkte durch Video-Kameras rund um die Uhr wie Banken überwacht. Auf den Parkplätzen spüren Ordnungsdienste mit abgerich- teten scharfen Maulkorb-Wachhunden auf Bordsteinen kauernde Habenichtse auf.

FEINDLICHE STIMMUNGEN


"Armut", empörte sich die Pariser Liga für Menschen- rechte, "ist unter Chirac öffentlich zur Schande erklärt worden". Die Tageszeitung "Le Monde" machte gar landesweit "eine armenfeindliche Stimmung" aus, die gar im "Schatten des Rassismus noch verschlimmert" werde.

KOMIKER COLUCHE

An diesem Nachmittag bei den mittellosen Frauen von Le Chambon Feugerolles schaut Annie mit ihrer Kollegin Céline verstohlen stundenlang aus dem Fenster im ersten Stock der Vorratskammer ihrer Bürger- initiative. Als Armen-Auffangsbecken fühlen sich die etwa zwanzig Frauen um Annie gleichsam für die vom französischen Komiker Coluche im Jahre 1985 gegrün- dete Wohlfahrtsorganisation "resto du coeur" (Armen-Essen) verantwortlich.


EINE MILLIONEN ESSEN - KOSTENLOS

Allein in ihrem Loire-Städtchen konnten sie im vergangenen Winter 918.460 Essen kostenlos - insge- samt 292 Tonnen Lebensmittel - ausgeben. Und das in einem Örtchen, aus dem ein Drittel der Bewohner irgendwie schon weggelaufen ist. Mit anderen Worten: Etwa 16.000 Bürger durften sich im Winter durch- schnittlich zwei Monate lang einmal wöchentlich bei den "Resto-Frauen" satt essen. Madame Annie strahlt, zeichnet sie doch eingegangene Spenden ab. Hinter den Frauen stehen auf dem Tisch Lebensmittel-Kisten voller Camembert-Käse, Hamburger, Kaffee, Marmelade, ganz 658 Liter Speiseöl und sogar sechs Dutzende Sardinen-Dosen, die Verwalterin Annie schon in den Herbsttagen in verschließbare Regale oder Kühl- truhen einzuräumen hat - als "stille Reserve" für hun- gernde Mitbürger in harten Wintertagen sozusagen.

An diesem Nachmittag verlieren sich die Blicke der beiden immer wieder im Weitwinkel-Panorama der gegenüberliegenden Straßenseite. - Dort, wo Wohnungs- lose, Bettler und neuerdings auffallend häufiger Frauen in Kellerabgängen oder auf schmutzüberzogenen Rinn-steinen dösend auf irgendeine x-beliebige 2-Euro-Brot-happen samt Rotwein-Schlückchen warten.

WHISKAS KAUFEN

Die Ausgeschlossenen von Le Chambon Feugerolles sitzen unfreiwillig Kulisse für eine bizarre, schon Kino reife Wirklichkeit, die so manche überzeichneten Kari- katuren längst zu übertreffen vermag. Sie hocken vor einem wandhohen Katzen-Plakat. "Können die Katzen wählen, so würden sie Whiskas kaufen" (Si les chats pouvaient choisir, ils achèteraient Whiskas), lautet jene großflächtige Werbebotschaft an diesem bebilderten Plakatgemäuer auf dem Boulevard de Gaulle. Und Annie Bonnard fragt: "Nur Katzen, nur für die? - Nein, ich habe es erlebt. So manche alte Frau ernährt sich heimlich von Kitekat. Schon Whiskas ist zu teuer."

Vielleicht deshalb weiß Annie Bonnard als betroffene Zeitchronistin der Ausgeschlossenen ("Les exclus") dieser Epoche aus Le Chambon Feugerolles zu be- richten: "Wer wie ich lange genug aus dem Fenster starrt, auf der Suche nach Gesichtern und Gestalten, die ich seit Jahren beobachtet habe, der ist unweigerlich ein Zeuge des Übergangs dieser Stadt zum Armenhaus der reichen französischen Republik. Und wir Frauen werden die Verliererinnen sein. Dieses Land hat seine Balance verloren. Eindeutig."


Seit zehn Jahren ist Madame Annie ohne feste An- stellung. Als Näherin hatte sie sich in einer Textilfabrik ihren Lebensunterhalt verdient. Das Unternehmen machte pleite. Ihr Mann Jacques ließ sie mit drei Töchtern allein zurück. Erst gab es für sie den Allein- erziehenden-Zuschuss des Staates in Höhe von 840 Euro monatlich - und das zehn Jahre lang.

POST-SPARBUCH FÜR ARBEITLOSE


Seit 1989 lebt Annie mit ihren Töchtern von der Sozial-hilfe, in Frankreich kurz RMI - Revenu minimun d'insertion - genannt. Ganze 670 Euro bekommt sie monatlich für vier Personen. Pro Tag sind es etwa 22 Euro - ein Baguette kostet nahezu ein Euro, manchmal auch ein bisschen weniger.

Wie Annie richteten sich in Frankreich nach einer Untersuchung des Pariser Centre d'hébergement et de réadaption (Zentrum für Wiedereingliederung) insge- samt 2.5 Millionen Frauen auf ein Leben mit dem staatlich genehmigten Existenzminimum ein - derzeit 380 Euro.

FILMPALÄSTE DES BÜRGERTUMS


Immerhin: Zwölf Millionen der insgesamt 57 Millionen Französinnen und Franzosen hängen in irgendeiner Form von staatlichen Überlebenszuschüssen (Mindest- rente, Mindesteinkommen, Arbeitslosengeld- und hilfe, Sozialhilfe) ab. Fünf Millionen müssen weniger als mit dem Existenzminimum von derzeit 380 Euro aus- kommen. Vom Arbeitsplatzverlust bis zur letzten Existenzsicherung - der Sozialhilfe - dauert es im Durchschnitt kaum länger als zwei Jahre. Über 3,3 Millionen Menschen sind auf der Suche nach dauer- haften Jobs. Über 2,4 Millionen Arbeitsplätze sub- ventioniert der französische Staat aus seinem Budget. Über eine halbe Millionen Frauen ziehen in ihrer Eigenschaft als SDF "Sans domicile fixe" (ohne festen Wohnsitz) von Flussbrücke zu Flussbrücke; etwa von der Seine, über die Saône und Rhône bis zur Loire. Die einst kulissenreife Clochard-Romantik wird in Frankreich zwar immer noch weinbeseelt besungen - allerdings längst nicht mehr an den sperrigen Schau- plätzen, sondern, nostalgisch verklärt an den Kino-Bars der Filmpaläste des Bürgertums.


S
TROMSPERRE
- RAUSSCHMISS

Der Überlebenskampf vieler Familien findet seit eh und je unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Region Rhône-Alpes, Hauptstadt Lyon, Boulevard des Brot- teaux. Auf dem Schreibtisch der 48jährigen Madame Noelle Boyer-Zeller von der Fédération syndicale des familles monoparentales (Interessenverband allein- erziehender Frauen) liegen die neuesten statistischen Erhebungen. Allein im vergangenen Jahr sind die Stromsperrungen wegen Nichtbezahlung um fünf Prozent, die Kündigung allein erziehender Frauen um neun Prozent gestiegen. Und ein Drittel der in den achtziger Jahren geschlossenen Ehen sind schon wieder getrennt. Über zwei Millionen Jugendliche unter 25 Jahren - jeder zehnte - lebt in Frankreich nur noch bei einem Elternteil, zu über 80 Prozent bei den allein erziehenden Müttern.

HOCHKONJUNKTUR ... ...

Was soviel heißt: Jahrelange Hochkonjunktur für die umsichtige Madame Noelle und ihren Verband. "Ja, ja", sagt sie, "es stimmt schon, dass die wirtschaftliche Maschine wieder läuft. Nur wer einmal durchs Raster gefallen ist, der bleibt chancenlos draußen. Und das sind zuerst Frauen mit Kindern." Düster schaut Madame in die Zukunft. Nach einem Bericht der Genfer Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wird in Frankreich die Arbeitslosenquote im Jahr 2000 auf 14 Prozent steigen (1995: 12,2 Prozent). "Aber immerhin", sagt Madame. "hat unsere Post im vergangenen Jahr schon en Sparbuch für Obdachlose geschaffen. Das ist doch auch schon was."