Donnerstag, 27. April 1978

Sowjetunion - Staatspräsident in Prag ist geisteskrank (Teil 6)






















Mitte der siebziger Jahre war Ludvik Svoboda (*1895+1979) Staatspräsident der CSSR. Für viele seiner Landsleute war Svoboda eine Vaterfigur, der letzte Repräsentant des Prager Frühlings aus dem Jahre 1968. Den Sowjets war er deshalb seit langem ein Dorn im Auge. Im Auftrag des Geheimdienstes KGB reiste der Moskauer Chefpsychiater Georgij Morosow nach Prag, um dort Ludvik Svoboda auf seinen "Geisteszustand" zu untersuchen. Aufgrund dieses "Gutachtens" wurde Svoboda drei Jahre vor Ablauf seiner Amtszeit im Jahre 1975 zum Rücktritt gezwungen.

stern, Hamburg
27. April 1978

aufgezeichnet von
Erich Follath und
Reimar Oltmanns

Die Patienten fürchteten ihn, die jungen Ärzte erschreckte er mit seiner herrischen Art, und selbst die altgedienten Professoren wagten kaum, in seiner Gegenwart ihre Meinung zu sagen: Georgij Wassil-jewitsch Morosow, 57, Direktor des "Serbskij-Instituts", ist ein machtsüchtiger Mensch. Seit 1957 leitet er diese höchste gerichts-psychiatrische Instanz in der Sowjet-union ganz im Sinne des Geheimdienstes KGB.

Professor Morosow hat keine Freunde im "Serbskij", die meisten Kollegen haben sein Chefzimmer nie betreten. Weshalb Morosow ausgerechnet mich des öfteren ins Vertrauen zog, ist mir nie ganz klar geworden. Er machte mich 1975 zu seinem jüngsten Abteilungsleiter und sorgte dafür, dass ich zum Sekretär des mächtigen sowjetischen Psychiaterverbandes avancierte.

An einem Januarmorgen 1977 ließ er mich zu sich rufen. Wie immer tat Morosow auch diesmal ganz geheimnis-voll: "Wir stehen vor einem der wichtigsten Kongresse der nächsten Jahre. Du musst mir helfen. Wir müssen den Kollegen in unseren sozialistischen Bruder-ländern erklären, wie sie sich gegenüber dem Westen zu ver-halten haben. Bereite alles vor, morgen fahren wir nach Berlin."

MISSBRAUCH DER PSYCHIATRIE

Ich wusste sofort, wovon Morosow sprach. Westliche Ärzte und die Presse in den USA, England sowie in der Bundesrepublik hatten unsere psychiatrischen Methoden heftig angegriffen. Besonders beunruhigt war Morosow, als in England ein Buch über die sowjetische Psycho-Politik von Sidney Bloch und Peter Reddaway angekündigt wurde. ("Dissidenten oder geisteskrank? Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion". Piper-Verlag, München 1978).

Mein Chef befürchtete nicht zu Unrecht, dass die Sowjetunion auf dem Weltkongress für Psychiatrie im September 1977 in Honolulu wegen "Missbrauch der Psychiatrie für politische Zwecke" verurteilt werden würde.

Außerdem schien uns nicht einmal
sicher, ob wir uns in Honolulu auf die anderen Ostblock-Delegationen hundertprozentig verlassen könnten. Deshalb wollte Morosow, bevor es im Herbst in Honolulu losging, die Ostberliner Konferenz der führenden Ostblock-Psychiater dazu benutzen, seine Kollegen auf eine gemeinsame Linie festzulegen. Zwar stand die Tagung offiziell unter dem Generalthema "Vorbeugungsmaßnahmen gegen Alkoholismus und Drogenabhängigkeit". Doch intern war sie eine Generalprobe für Honolulu.

RICHTMIKROFONE UND WANZEN

Meine Aufgabe war es, tagsüber im Tagungshotel "Newa" und abends im Hotel "Stadt Berlin" am Alexanderplatz die Meinungen und Standpunkte der Konferenzteilnehmer unauffällig zu erkunden. Jeden Abend, so gegen 21. 30 Uhr, musste ich Morosow Bericht erstatten. Mein Chef bestand darauf, dass ich zum Rapport nie in seinem Zimmer oder in einem anderen Raum des Ostberliner Diplomaten-Hotels erschien. "Hier sind überall Wanzen und Richtmikrofone installiert", sagte Morosow. "Unsere Genossen aus der DDR sind so perfekt, die hören jeden ab."

Also trafen wir uns abends nach den Sitzungen vor dem Hotel, schlenderten durch die Ostberliner Innenstadt und diskutierten die Neuigkeiten. Die Situation war alles andere als erfreulich. Die rumänischen Delegierten waren gar nicht erst nach Ostberlin gekommen, obwohl sie ihre Teilnahme zugesagt haben. Und die Kollegen aus Polen und Ungarn machten in Gesprächen unter vier Augen keinen Hehl aus ihrer Kritik an unserem System der Zwangseinweisung in die psychiatrischen
Kliniken.

DER CHEFPSYCHIATER

Professor Morosow war außer sich. "Das wird persönliche Konsequenzen haben", sagte er und machte eine wegwerfende Handbewegung, so als wisse er schon ganz genau, wie die sozialistischen Bruderstaaten auf Vordermann zu bringen seien. Und in der Tat hatte Morosow die Mittel dazu, denn als "Serbskij"-Chef ist er einfluss-reicher als mancher ranghohe Politiker und Diplomat der UdSSR. Der Versuch in Ostberlin, untergeordnete Kollegen zu beeinflussen, gehörte zu den Ausnahmen. Gewöhnlich schwebt er nur in höheren Regionen. Eine Einladung, in der sowjetischen Botschaft in Ostberlin einen Vortrag zu halten, ließ er einfach unbeant-wortet. "Für wen halten die mich eigentlich? Wenn ich über Psychiatrie berichte, fange ich unter dem Zentralkomitee gar nicht erst an."

Professor Morosow hat exzellente Verbindungen zu den mächtigsten Männern der Sowjetunion. Beim KGB-Chef Jurij Andropow geht er ein und aus. So wusste er schon Monate im voraus, dass sein Freund Konstantin Rusa-kow Sekretär des Zen-tralkomitees der KPdSU werden würde. Auch hat Morosow ganz offenkundig das unein-geschränkte Vertrauen des Politbüros besessen. Denn er wird immer wieder für Auslandsaufträge mit der höchsten Geheimhaltungs-stufe herangezogen. In Ostberlin erzählte er mir, als wir wieder einmal abends unsere Runde machten, von einem besonders brisanten Auftrag.

"PROBLEMFALL" SVOBODA

Ende 1974 war Morosow auf Befehl des Politbüros nach Prag gefahren. Er sollte den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Ludvik Svoboda auf seinen Geisteszustand untersuchen. Svoboda, mit den höchsten sowjetischen Orden ausgezeichnet, war für die Prager Parteiführung und damit für Moskau zu einem Problemfall geworden. Der 79jährige Staatspräsident galt bei vielen Tschechen und Slowaken nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1968 in Prag als die letzte verbliebene Symbol-figur ihrer nationalen Souveränität und damit des Prager Frühlings.

Keine Frage, Morosows Gutachten fiel so aus, wie es die sowjetische Parteiführung erwartet hatte: "Stark fortschreitende Arteriosklerose mit Demenz-Erscheinungen"
(Demenz = ausgeprägter Abbau von Intelligenz bei Greisen). Auf Grund dieses Gutachtens wurde Ludvik Svoboda gezwungen zurückzutreten, obwohl seine Amtszeit erst im Jahre 1978 abgelaufen wäre. Ich war betroffen, mit welchem Zynismus Morosow mir diese Geschichte erzählte.

KRIEG GEWONNEN

Wenige Minuten später, so als sei nichts gewesen, plauderte mein Chef schon wieder wie ein Tourist über das ostdeutsche Wirtschaftswunder. Er war beeindruckt, wie viele Waren in den Schaufenstern auslagen. Zwei Mal zog ich mit ihm los, um zwanzig Zimmermannstifte für seinen Werkzeugkasten und fünf bunte Emaillen-töpfe einzukaufen. "So gut und billig bekomme ich diese Sachen in Moskau nicht, deshalb nehme ich gleich Vorrat mit", sagte er. Und etwas nachdenklich fügte er hinzu: "Den Krieg haben wir gewonnen, doch der Lebensstandard der Verlierer ist heute schon wieder viel höhe als bei uns. Na ja, wir Russen gewöhnen uns ja an alles."

Auf unseren Spaziergängen durch Ostberlin fiel mir auf, wie interessiert Morosow Westautos nachschaute. Ich fragte ihn, ob er sich nicht auch einmal einen schnellen, modernen Wagen anschaffen wolle. "Für unsere Straßen ist der robuste Wolga doch viel besser", antwortete er ein bisschen unwirsch. Meine Frage war ihm wohl zu direkt.

IN GEWOHNTER WEISE - DEVOT

Skeptisch waren wir nach Ostberlin gekommen, unzufrieden verließen wir die DDR-Hauptstadt. Denn nur die Bulgaren und die DDR-Vertreter hatten sich uns gegenüber in gewohnter Weise devot verhalten, keinen Widerspruch gewagt. So lieferte uns der DDR-Professor Kurt Seidel eine Handvoll Adressen von Psychiatern in der Schweiz und in Österreich, von denen er glaubte, Professor Morosow könne das Abstimmungsverhalten dieser westlichen Kollegen in Honolulu noch positiv beeinflussen.

Morosow wartete nicht lange und machte sich auf den Weg zu den Kollegen in Österreich und der Schweiz. Als er nach zehn Tagen heimkehrte, glaubte er gute Arbeit geleistet zu haben. "Für Honolulu ist alles noch offen", sagte er mir zuversichtlich. Er machte sich selber etwas vor, wie sich ein halbes Jahr später in Honolulu herausstellen sollte.

Mich beauftragte Morosow dann, ihm für den Weltkongress eine Expertise über die Psychiatrie in den westlichen Ländern zu erarbeiten. Besonderen Wert legte er auf Informationen über die Bestimmungen für Zwangseinweisungen und über die gesetzlichen Voraussetzungen für die Begutachtung von vermeintlich geistes-gestörten Patienten.

PSYCHIATER VERURTEILEN SOWJETUNION

Er hoffte, mit diesem Material bei den Diskussionen in Honolulu den Westen in die Defensive drängen zu können.

Aus der westlichen Presse habe ich dann erfahren - ich hatte mich zwei Monate vor dem Beginn des Kongresses in Honolulu in den Westen abgesetzt -, wie die sowjetische Delegation meine Materialien ins Plenum einbrachte, um die berechtigten Attacken zu neutralisieren. Delegationssprecher Dr. Eduard Babajan beklagte in leidenschaftlichen Statements das mangelhafte Niveau der psychia-trischen Versorgung in der westlichen Welt.

Doch Babajans Rhetorik brachte der sowjetischen Delegation nicht den erwünschten Erfolg. Der Weltkongress votierte für die amerikanische Resolution, in der "die missbräuchliche Anwendung psychiatrischen Wissens zum Zwecke der Unter- drückung abweichender Meinung" abgelehnt wird. Peinlicher war es für die Sowjetunion, dass dieser Antrag durchkam. Denn mit 90 zu 88 Stimmen prangerte die Generalversammlung den Missbrauch der Psychiatrie in einem bestimmten Land an - in der UdSSR. Zum ersten Mal wurde damit Moskau vor der Weltöffentlichkeit verurteilt, die Psychiatrie gegen die Interessen der Menschen einzusetzen.

Diese Grundsatzentscheidung hat im Westen viel zu wenig Beachtung gefunden. Die sowjetische Regierung nahm das Honolulu-Ergebnis immerhin so ernst, dass ihre großen Massenblätter nicht darüber berichten durften: lediglich einige medizinische Fachzeitschriften lobten, ohne auf die Ergebnisse einzugehen, die "sachliche Atmosphäre auf dem Weltkongress". Und sie machten ihren Lesern weis, die sowjetische Delegation hätte in Honolulu den Versuch einer Wiederbelebung des Kalten Krieges erfolgreich abgewehrt.

"BUNTE" PILLEN FÜR GESUNDE MENSCHEN

Natürlich werden die psychiatrischen Behandlungsmethoden und die sogenannten bunten Pillen (Psychopharmaka), wie sie in der Sowjetunion an der Tagesordnung sind, auch in den USA, der Bundesrepublik und allen anderen westlichen Ländern abgewandt und verabreicht. Nicht diese psychiatrischen Behandlungsmethoden sind verwerflich, sondern dass sie gegen gesunde Menschen angewandt werden, die den politischen Machthabern unbequem sind.

Schlimmer noch als die Behandlungsart empfinden viele Regimekritiker in den Kliniken der Sowjetunion, dass sie über ihre Situation im unklaren gelassen und damit systematisch verunsichert werden.

WIDERSTANDSKRAFT GEBROCHEN

Mit widersprüchlichen Informationen, die der Psychiater seinem Patienten ständig vermittelt, wird allmählich jede psychische Widerstandskraft gebrochen. Außerdem wechseln besonders geschulte Psychiater im Serbskiij-Institut häufig ihre Taktik. Mal zeigen sie Verständnis für die Situation des Dissidenten und bieten ihm sogar freundlich eine Zigarette an, und im nächsten Moment drohen sie unvermittelt mit der Einweisung in eine psychiatrische Sonderklinik.

In der Wissenschaft gibt es für diese Interaktions-Technik einen Fachausdruck: double-bind, die sogenannte Zweigleisigkeit. Diese "double-bind" verhindert, dass der Patient Abwehrmechanismen entwickelt, die er braucht, um sich eine Überlebensstrategie aufzubauen. Er weiß einfach nicht mehr, wo er ist, wann er eingeliefert wurde, wann er Besuch bekommt und wie viel Mal er bereits dieselbe Frage beantwortet hat. Oft wissen die Patienten nicht einmal mehr, an welchen Tagen sie untersucht werden.

PSYCHO-FOLTER

Diese subtile Psychofolter ist genau so schrecklich wie die körperliche Miss-handlungen, zu denen es - wie häufig auch in westlichen Anstalten - immer wieder kommt.

All das geschieht unter Staatsaufsicht. Um in der UdSSR in eine psychiatrische An-stalt eingewiesen zu werden, genügt es schon, wenn Arbeitskollegen oder Nachbarn das Verhalten eines Bekannten ungewöhnlich vorkommt. Unter dem Vorwand einer sozialen Gefährdung der Gesellschaft kann jeder zur Untersuchung bestellt werden, der sich nicht "normgerecht" verhält - und "normgerecht" heißt, nicht aus der Reihe tanzen und keine andere Meinung zu haben als die Partei, obwohl die sowjetische Verfassung jedem Bürger formal Meinungs- und Religions-freiheit garantiert.

Der zweite Weg, jemanden für seine Überzeugung in eine Nervenheilanstalt einzu-liefern, führt direkt über das Gesetz. Wer Agitation und Propaganda gegen die Politik der KPdSU verbreitet, wird nach sowjetischem Recht (Artikel 70 bzw. 190/1) als Staatsfeind angeklagt und in vielen Fällen dann von Richtern oder Staatsanwälten zur Begutachtung seines Geisteszustandes den Psychiatern ausgeliefert.

Ähnliche Rechtspraktiken bestehen in allen Ländern des Ostblocks. So genügt bei-spielsweise in der DDR der bloße Verdacht auf geistige Erkrankung zur Zwangs-einweisung in eine Klinik. Lediglich in Ungarn und in Polen sind die Bürger rechtlich vor derartigen Übergriffen der Staatsorgane geschützt. Dort reicht die Denunziation von Nachbarn nicht aus, um unliebsame Bürger in einer Anstalt verschwinden zu lassen.

OPPOSITION - STAATSVERRECHEN

Der entscheidende Unterschied zwischen Ost und West bleibt, dass in der Sowjet-union jede oppositionelle Meinung ein Staatsverbrechen ist, und dass die Psychiatrie dazu missbraucht wird, den Widerstand politisch Andersdenkender zu brechen.

Ich halte es deshalb für besonders bedenklich, ja sogar für gefährlich, wenn sich in der Bundesrepublik die Meinung durchsetzen sollte, die Terroristen hierzulande seien "psychiatrische Fälle", und man sollte sie, wenn sie verhaftet werden, einfach in eine Nervenheilanstalt einweisen, anstatt ihnen ordnungsgemäß den Prozess zu machen. Käme es eines Tages dazu, würde sich die Bundesrepublik in ihrer rechts-staatlichen Praxis kaum noch von der Sowjetunion unterscheiden.

3.000 FACHÄRZTE FÜR MILLIONEN KRANKE

Doch ich kann mir im Ernst nicht vorstellen, dass sich meine deutschen Kollegen dafür hergeben würden. Die Probleme der Psychiatrie in der Bundesrepublik liegen auf einem ganz anderen Gebiet. Die medizinische Versorgung der etwa eine Million Menschen, die der psychiatrischen Behandlung bedürfen, hat viele Mängel. Für die ambulante Betreuung dieser Patienten stehen insgesamt nur elf psycho-therapeu-tische Polikliniken und nicht mehr als 3.000 Fachärzte für Psychiatrie zur Ver-fügung. Auch die stationäre Versorgung in den Krankenhäusern ist dürftig. Auf 1.000 Einwohner kommen laut Statistik 1,6 Betten für psychisch Kranke (Schweden 3,5; Niederlande 2,9; Schweiz 2.7; Dänemark 2,3; Frankreich 2,3 Betten).

Das sind wenig ermutigende Zahlen in einem technisch und sozial hoch entwickelten Land wie der Bundesrepublik. Doch von wirklich guten und engagierten Medizinern können diese schwierigen Zustände auch als eine Herausforderung empfunden werden. Ich jedenfalls bin froh, nach meiner Flucht hier in der Bundesrepublik eine neue Aufgabe als Arzt gefunden zu haben.




































































































Donnerstag, 20. April 1978

Sowjetunion - "Ich schäme mich, ein Psychiater zu sein" (Teil 5)



























stern, Hamburg
20. April 1978
aufgezeichnet von
Erich Follath und
Reimar Oltmanns

Für viele mag es wie eine Übertreibung klingen: Wo immer ich als Gerichtspsychiater hinkam, wo immer ich Patienten begutachtete, der KGB war schon da und wartete auf mich. Selbst am Ende der Welt.

Die Provinzstadt Lesnoje liegt im Norden der Sowjet-union, fast zwei Tagesreisen mit dem Zug von Moskau entfernt. Im Dezember 1976 schickte mich das Mos-kauer "Serbskij-Institut" für Gerichtspsychiatrie in diese abgelegene Gegend. Ich hatte den Auftrag, die gerichts-psychiatrische Versorgung in diesem Landstrich zu überprüfen.

SCHAFTSTIEFEL, STERNE, TELLERMÜTZE

Schon am ersten Abend in Lesnoje bekam ich uner-warteten Besuch im Hotel. Gegen 22 Uhr - ich hatte mich gerade ins Bett gelegt - klopfte es an meine Tür. Vor mir stand ein etwa 45jähriger Mann. er grüßte knapp und ging mit einer Selbstverständlichkeit in mein Zimmer, als seien wir verabredet. Ich hatte ihn nie gesehen. Aber mir war klar, warum er sich nicht auszuweisen brauchte: Schaftstiefel, weite graue Hose, drei Sterne am Revers, Tellermütze mit breitem blauen Band - er trug die Uniform eines KGB-Offiziers.

In der Mitte meines Hotelzimmers blieb er stehen, drehte sich abrupt zu mir um und sagte ohne Um-schweife: "Genosse Novikov, Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie! Sie kommen vom "Serbskij-Institut", und Sie können uns helfen, ein Problem zu lösen."

"PARANOIDE REFORM-IDEEN"

Ich erwiderte nichts und wartete ab. Der KGB-Offizier holte ein versilbertes Etui aus seiner Jackentasche, bot mir eine Zigarette an, nahm sich auch eine, zog den Rauch tief ein und kam dann zur Sache: "Unser Problem heißt Woronin. Der Mann wurde vor zwei Monaten wegen seiner paranoiden Reformideen in die psychiatrische Klinik von Lesnoje eingewiesen. Vom ersten Tag an hat er sich über alles beschwert und Patienten aufgehetzt. Sogar an das Zentralkomitee in Moskau hat er schon geschrieben. So einen gefähr-lichen Irren können wir hier nicht gebrauchen. Der darf nicht in einer normalen psychiatrischen Anstalt bleiben. Der muss in eine Sonderklinik eingewiesen werden. Dafür brauchen wir Ihr Gutachten."

Der KGB-Mann sah mich prüfend an. Ich schwieg. Eine Spur ungeduldiger fügte er hinzu: "Sie verstehen doch, was ich meine?" Ich nickte. Denn ich wusste, ich hatte keine andere Wahl. Der Rest war Routine. Der KGB-Offizier gab mir die Zimmer-nummer Woronins und nannte mir die Uhrzeit für die Exploration: Raum 308, Abteilung G, morgen zwölf Uhr.

KEIN KRANKER - EIN POLITISCHER FALL

Soviel ich auch überlegtem ich sah keine Möglichkeit, aus diesem Dilemma heraus-zukommen. Ich musste Igor Nikolaj Woronin untersuchen. Schon nach den ersten Minuten der Exploration war mir klar, dass dieser Mann kein Kranker war, sondern ein politischer Fall.

Der 36jährige Facharbeiter gehöre einer kleinen Bürgerrechtsbewegung an und hatte mit seinen Freunden Flugblätter gegen die "neue Ausbeuterklasse in der Sowjetunion" verteilt. Nach Artikel 190/1, der die "systematische Verbreitung antisowjetischer Hetzschriften" unter Androhung von Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr verbietet, war er verhaftet worden. In der Gerichtsverhandlung gegen ihn verlangten die Richter dann ein psychiatrisches Gutachten und schickten ihn wegen des Verdachts auf Schizophrenie in die psychiatrische Klinik.

Ich konnte Woronin nicht gesundschreiben, weil ich wusste, was der KGB von mir erwartete. Ich sah nur eine Chance, mich persönlich aus der Sache heraus-zuhalten. Ich erklärte, der Fall sei medizinisch so schwerwiegend, dass der Patient auf jeden Fall im "Serbskij-Institut" in Moskau stationär behandelt werden müsse. Als ich von der Dienstreise heimgekehrt war, fertigte ich im Institut ein Zwischengutachten über Woronin an und überließ den Rest der Bürokratie. Ich sah Woronin nicht mehr wieder.

AUSREDEN ÜBER AUSREDEN ... ...

Ganz wohl war mir bei dieser Sache nicht zumute, und ich mache mir auch keine Illusionen darüber, was mit dem politischen Gefangenen Woronin geschehen sein wird. Einer meiner Kollegen vom "Serbskij-Institut" wird ihn nachexploriert haben, zum selben Ergebnis gekommen sein wie ich - und dann dennoch dem KGB die Einlieferung des Mannes in eine psychiatrische Sonderklinik ermöglicht haben. Ich hatte Woronin nicht geholfen, sondern die Verantwortung nur weiter-geschoben.

Die Entscheidung von Lesnoje war nicht mein erster Gewissenskonflikt, Ausreden waren bald aus meinem Berufsleben nicht mehr wegzudenken. Oft schämte ich mich, ein Arzt zu sein. Denn meine Ohnmacht, auf den Inspektionsreisen selbst die banalsten Unzuläng-lichkeiten zu beheben, wurde mir von Tag zu Tag bewusster. Fast alle Krankenhäuser waren total überbelegt, Medikamente fehlten überall, frisches Gemüse oder Fleisch waren oft über Monate nicht zu bekommen. Als mich in Lesnoje bei einem Inspektions-gang ein Kranker um Medizin anbettelte, weil er offensichtlich wusste, dass ich aus Moskau kam, wimmelte ich ihn mit einer Lüge ab: "Ich kann nichts für Sie tun. Ich bin von der Baukommission."

ENDE DER LOHNSKALA

Manchmal wünschte ich mir tatsächlich, ein einfacher Arbeiter in einer Brigade Mörtel zu mischen. Denn die Genossen Arbeiter können sich im Sowjetsystem weit-gehend aus der Politik heraushalten, und außerdem werden sie wirtschaftlich enorm bevorzugt. Für die westliche Welt ist es kaum vorstellbar, dass der Arzt in der UdSSR am untersten Ende der Lohnskala rangiert. Das durchschnittliche Monatsein-kommen eines Mediziners beträgt 104,50 Rubel (313,50 Mark). Ein Bauarbeiter verdient dagegen 185 Rubel (555 Mark) und ein Seemann 226 Rubel (678 Mark).

ÄRZTE VERHÖHNT

Gesellschaftliches Ansehen hängt auch in der Sowjet-union vom Geld ab; dementsprechend niedrig ist das soziale Prestige des Mediziners. Ich habe es oft erlebt, wie Facharbeiter, die zu einer obligatorischen Routine-Untersuchung geschickt wurden, ihre Ärzte verhöhnten. Mit Händen in den Hosentaschen standen sie vorm Doktor. "Wratschischka (Doktörchen), was willst du denn von mir? Mach schnell, ich habe nicht viel Zeit."

Aus vielen Gesprächen mit Kollegen weiß ich, dass eine große Zahl von Ärzten über ihren gesellschaftlichen Satus verbittert ist. Viele kommen auch mit ihrem Geld nicht aus, Die gekränkte Eitelkeit der Ärzte und ihre finanziellen Probleme sind die Hauptgründe dafür, dass es dem Innenministerium - und dem KGB - leicht gelingt Psychiater für ihre Zwecke in den Sonderkliniken einzuspannen. In diesen zwölf Aufbewahrungsanstalten für psychisch Kranke werden hoffnungslose Fälle abgeschoben - auch die politischen.

"SONDER-PSYCHIATER"

Wer sich bereit erklärt, in diesen Kliniken, die dem Innenministerium unterstehen, zu arbeiten, verdient ein Drittel mehr als die anderen Kollegen, hat 60 Tage Urlaub im Jahr und darf kostenlos alle sowjetischen Verkehrsmittel benutzen. Außerdem müssen die "Sonder-Psychiater" längst nicht so viel arbeiten wie die "normalen" Psychiater. Ihre Patienten sollen ja nicht mehr behandelt, sondern nur noch "ruhig-gestellt" werden.

Der Preis für diese privilegierte Psychiater-Klasse: Die Ärzte in den Sonderkliniken müssen die Uniform des Innenministeriums tragen, und sie haben überhaupt keinen Entscheidungsspielraum mehr. Was im Innenministerium und im Hauptquartier des KGB beschlossen wird, muss von ihnen sofort vollstreckt werden, Mit diesem Zwei-Klassen-System wird jegliche Solidarität unter den Ärzten verhindert. Diskussionen über die Reformen werden im Keim erstickt.

EID GEBROCHEN

Obwohl mir in den letzten Jahren immer klarer wurde, dass auch ich als Arzt im "Serbskij-Institut" von Politikern missbraucht wurde, kam für mich eine Anstellung in einer Sonderklinik nicht in Frage. Diese Ärzte brechen meiner Meinung nach ihren Eid als Mediziner. Sie verraten ihren Beruf.

Ich habe mich oft gefragt, ob das nicht jeder Psychiater tut. Denn eines zeigt die Geschichte der Psychiatrie: Dieser Zweig der Medizin ließ sich immer besonders gut für die Zwecke der Machthaber einspannen. Und das gilt nicht nur für die Sowjetunion und nicht nur für Diktaturen, Bis vor wenigen Jahren wurden in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik Homosexuelle für krank erklärt und psychiatrisch behandelt. Die Theorie, dass Homosexualität eine Krankheit sei, wurde von Kirche und Gesellschaft auch im Westen zur Unterdrückung jener Menschen eingesetzt, deren Sexualität der gesellschaftlichen Norm nicht entspricht. In der UdSSR, wo die Strafbarkeit der Homosexualität nach der Oktoberrevolution abgeschafft wurde, griff die Partei 1934 auf die bürgerlichen Vorurteile von Moral und Sitte zurück - mit den strafrechtlichen Konsequenzen.

GRUNDWIDERSPRÜCHE

Überall in der Welt steht der Psychiater in einer außergewöhnlichen Konfliktsituation: Einerseits will er dem Patienten, der sich ihm anvertraut hat, helfen, andererseits wird er von einer Institution bezahlt, die bestimmte Ergebnisse erwartet - beispielsweise von einer Gesundheitsbehörde, einer Gefängnisverwaltung oder einer Armee. So muss ein Militärpsychiater die Kampfkraft der Truppe im Auge behalten und dabei jene Soldaten aussortierten, die den militärischen Anforderungen nicht genügen. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie dabei banale Disziplinarvergehen zu "seelischen Störungen" uminterpretiert werden können.

KAUM CHANCEN FÜR PATIENTEN

Dieser Grundwiderspruch hat in der Sowjetunion eine besondere Variante: Die Psychiatrie wird zum System der politischen Unterdrückung - zur Strafmedizin. Viele Ärzte machen es sich einfach. Weil sie wissen, welche Ergebnisse die Partei bei "politischen Fällen" von ihnen erwartet, machen sie die psychiatrische Untersuchung zum Verhör. Bei ihren Fangfragen hat der Patient keine Chance.

So schildert der Biologe Jewgenij Nikolajew in seinem heimlich angefertigten Gedächtnisprotokoll, wie er von meinem Kollegen Dr. Wladimir Dmitriewskij in der psychiatrischen Abteilung des Moskauer Kaschtschenko-Krankenhauses "behandelt" wurde. Auszüge aus der Vernehmung:

DIE VERNEHMUNG

Dmitriewskij: "Ich interessiere mich für Ihre Ansichten. Die Klinik, die Sie hier herschickte, hat mich von Ihren merkwürdigen Auffassungen über unsere Gesell-schaft informiert."

Nikolajew: "Was immer ich für Ansichten haben mag - das kann doch kein Grund für eine psychiatrische Untersuchung sein."

Dmitriewskij: "Wenn das so wäre, wären Síe nicht hier."

Nikolajew: "Sagen Sie mir doch einmal, wer mich überhaupt angezeigt hat. Sagen Sie mir, wem mein Verhalten unangenehm aufgefallen ist."

Dmitriewskij: "Es hat keine Klagen über Ihr Benehmen gegeben. Nicht Ihr Verhalten ist sozial gefährlich, es sind Ihre Ansichten."

Nikolajew: "Das kann ich nicht glauben. Was immer ich über diese Gesellschaft denke, sie wird sich nicht ändern. Wenn ich sie verdamme, wird sie nicht schlechter. Wenn ich sie lobe, wird sie nicht besser. Deshalb können meine Ansichten für diesen Staat gar nicht gefährlich sein."

Dmitriewskij: "Und das ziehen Sie vor - die Gesellschaft zu loben oder sie zu verdammen?"

Nikolajew: "Ich möchte gern bei meinem Prinzip bleiben, dass mich das nichts angeht."

Dmitriewskij: "Diese Haltung gegenüber der Gesellschaft stellt eine soziale Gefahr dar. Sie waren doch schon drei Mal über längere Zeit in psychiatrischen Anstalten. Sie sollten unsere Staatsmaschinerie kennen. Wir alle sind bestimmten Organen unterstellt. Und wenn wir eine Direktive erhalten, so sind wir verpflichtet, sie zu befolgen. Alexander Solschenizyn (Der Archipel Gulag, 1974) wurde wegen seiner politischen Auffassungen ausgewiesen. Doch Sie sind nicht so bekannt wie er. Sie wird man in eine psychiatrische Klinik sperren."

PERSONEN AUSTAUSCHBAR - METHODE BLEIBT

So geschah es. Nikolajew, dessen Gedächtnisprotokoll Freunde 1974 in den Westen schmuggelten, wurde in eine Sonderklinik eingeliefert. Keiner weiß, ob er noch lebt.

Die Personen sind austauschbar, die Methode bleibt dieselbe - auch wenn es um die Verfolgung von Christen geht. Der Fall des Gennadij Schimanow ist für mich ein Paradebeispiel, Der Moskauer Lehrer wurde in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, weil er seine Nachbarn von der Existenz Jesus überzeugen wollte und deshalb von einem Spitzel beim KGB angeschwärzt worden war.

Der Psychiater Dr. Schafran redete Schimanow bei der Exploration ins Gewissen: "Ein Mensch, der sich so fanatisch für seine Religion einsetzt wie Sie, muss krank sein. Vielleicht bleiben Sie dabei sogar innerhalb des gesetzlichen Rahmens, aber faktisch schaden Sie dem Staat, indem Sie verlorene Schafe in den Schoss der Kirche zurückführen wollen."

MÄRTYRER-KRONE

Als Schimanow sich auf die sowjetische Verfassung berief, die jedem Bürger aus-drücklich Religionsfreiheit zusichert, wurde der Psychiater noch deutlicher: "Begreifen Sie denn nicht, dass sich der KGB den Teufel um die Gesetze schert? Sie werden vernichtet, unweigerlich. Sie sind nicht der einzige, aber das wird Ihnen nur ein geringer Trost sein. Es betrübt mich mitanzusehen, wie Sie sich eine Märtyrer-Krone flechten."

Schimanow kam glimpflich davon. Sein Fall wurde in allen Einzelheiten im Ausland bekannt, und nach einem dreiwöchigen Hungerstreik setzte man ihn auf Grund internationaler Proteste wieder auf freien Fuß.

PRAKTIKEN NORMAL UND ALLTÄGLICH

Wie sehr sich im Westen die Öffentlichkeit über solche Praktiken der sowjetischen Psychiatrie auch erregen mag, für den, der in der UdSSR aufgewachsen ist, erscheint dies alles normal, geradezu alltäglich. Widerstand gegen die Staatsgewalt und Zweifel an der Staatsideologie ist in den Sowjetrepubliken so etwas Undenkbares, dass viele Bürger in der Tat glauben, einer müsse geistesgestört sein, der auf dem Roten Platz in Moskau Flugblätter verteilt oder in Leningrad für die Bürgerrechte demonstriert.

Zu tief sitzt obrigkeitsstaatliches Denken im Sowjetbürger. Es ist nicht nur die Angst vor dem Zugriff des KGB, der die Russen hindert, sich aufzulehnen, sondern viel häufiger ein durch ein durch Erziehung und durch Erfahrungen im Beruf geprägten Fatalismus, ja doch nichts ändern zu können.

Und dennoch gibt es immer Menschen, die sich über all diese "Vernunftsgründe" hinwegsetzen. Auch unter den sowjetischen Psychiatern sind einige couragierte Kollegen, die sich ohne Rücksicht auf ihre Person auflehnten und für ihre Über-zeugung hohe Gefängnisstrafen in Kauf nahmen. Einer von ihnen ist der Kiewer Psychiater Dr. Semjon Glusman, 32,

VERBANNUNG NACH SIBIRIEN

Seit über fünf Jahren sitzt Glusman im Straflager Nr. 35 nahe der Stadt Perm in den Bergen des Ural. Vor ihm liegen noch fast zwei Jahre Arbeitslager und weitere drei Jahre sibirische Verbannung. Ob er diese Jahre überstehen wird, ist mehr als zweifel-haft. Von Hungerstreiks geschwächt und von verschärften Haftbedingungen zer-mürbt, erlitt Glusman schon mehrere Herzattacken.

Dabei hatte Glusman eine außergewöhnliche Karriere als Psychiater vor sich. Mit 23 Jahren promovierte der Sohn eines jüdischen Medizin-Professors in Kiew. Auf den begabten Jungpsychiater wurde die Partei bald aufmerksam. Sie bot ihm eine Ver-trauensstellung als leitender Arzt in der Sonderklinik von Dnjepropetrowsk an. Doch Glusman lehnte ab. Er hatte gehört, dass gerade in dieser Klinik viele politische Fälle als "Geisteskranke" festgehalten werden. Die Partei reagierte repressiv: Glusman fand in der Ukraine keine Stellung als Psychiater mehr und jobbte schließlich als Notarzt in einer Unfallklinik in Kiew.

SOLSCHENYZINS "KREBSTATION"

Im März 1972 durchsuchten KGB-Beamte sein Haus und stellten oppositionelle Schriften sicher, darunter ein vervielfältigtes Rohmanuskript von Solschenyzins "Krebsstation". Zwei Monate später wurde Glusman verhaftet. In einem Prozess, zu dem die Öffentlichkeit nicht zugelassen war, verurteilte ihn ein Gericht in Kiew zu sieben Jahren Arbeitslager und weiteren drei Jahren Verbannung - ein selbst für sowjetische Verhältnisse ungewöhnlich hartes Urteil.

Der wahre Grund für die hohe Strafe war die Rache des KGB an dem Psychiater. Denn Glusman hatte es nicht nur gewagt, eine von der Partei angebotene Stelle abzulehnen, er hatte es sogar gewagt, ein dem KGB höchst wichtiges Gutachten des "Serbskij-Instituts" zu widerlegen. Semjon Glusman und zwei Psychiater, deren Namen er nie verriet, analysierten die widersprüchlichen Expertisen über den Geisteszustand des Sowjet-Generals und Dissidenten Pjotr Grigorenko.

PROTEST GEGEN DAS SYSTEM

Ärzte in Taschkent hatten Grigorenko für gesund erklärt, der "Serbskij"-Psychiater von der 4. Abteilung hingegen beharrten darauf, dass der Bürgerrechtler geistes-krank sei (siehe stern Nr. 1/1978). Glusman schrieb in seiner Kollegen-Kritik, die er im Untergrund verteilen ließ: "Wir betrachten unser Papier nicht nur als einen Ver-such, die Wahrheit im Fall Grigorenko wiederherzustellen, sondern auch als professionellen Protest gegen das System. Psychiatrie ist ein Zweig der Medizin und nicht ein Zweig des Strafgesetzes. Die Praxis, politische Dissidenten unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu verurteilen und sie in psychiatrische Kliniken zu stecken, darf nicht fortgesetzt werden. Die Ärzte, die wissentlich so unmenschlich handeln, sollten nach den Normen des internationalen und des sowjetischen Gesetzes verfolgt und bestraft werden."

DAS "PSYCHIATRISCHE HANDBUCH"

Im Arbeitslager von Perm traf Semjon Glusman auf den Regimekritiker Wladimir Bukowski, der inzwischen in den Westen abgeschoben worden ist. Mich hat zutiefst beeindruckt, was Bukowski zusammen mit Glusman im Lager zustande brachte. Nachts, wenn die Wärter ihren letzten Rundgang beendet hatten, schrieben sie im Schein einer Gaslaterne auf Zeitungsschnipseln einen der seltsamsten Führer der Weltgeschichte: das "Psychiatrische Handbuch für den Dissidenten". In dieser Schrift, die bald darauf in den Westen gelangte, gaben Glusman und Bukowski Verhaltenstipps an all diejenigen, die in die gleiche Lage kommen wie sie selbst - die vor Psychiaterkommissionen Rede und Antwort stehen müssen.

EINKREISEN, EINSCHÜCHTERN

These 1: "Denken Sie daran, der Psychiater wird versuchen Sie einzukreisen, Sie einzuschüchtern, Aussagen von Ihnen zu erpressen und bei der Zusammenstellung Ihres Dossiers die Untersuchungs-vorschriften gegen Sie auszuspielen. Besonders gefährlich ist dabei der Psychiater vom kleinbürgerlichen Typ. Seine Anpassungs-fähigkeit ist extrem ausgeprägt. Wenn Sie über surrealistische Kunst sprechen, wird er Sie fragen: 'Können Pferde denn wirklich fliegen?' Bei der modernen Poesie wird er die Reime vermissen. Wir raten Ihnen, mit einem solchen Psychiater nicht über abstrakte Dinge wie Philosophie zu diskutieren. Versuchen Sie, sich seinem Niveau anzupassen. Bedenken Sie: Er hält Sie wirklich für geistesgestört, denn sein wichtigstes Argument ist: 'Sie hatten doch eine Wohnung, eine Familie, einen Beruf. Warum zum Teufel haben Sie das getan?' "

These 2: "Denken Sie daran, Sie sind niemals in der Lage, der Kommission zu beweisen, dass Sie Opfer von Tricks und Provokationen geworden sind. Wenn Sie darauf bestehen, werden die Psychiater ihrer Diagnose noch hinzufügen: 'Leidet an Verfolgungswahn!' Versuchen Sie nicht, entsprechend Ihrer persönlichen Erfahrung zu argumentieren, sondern berufen Sie sich auf anerkannte Autoritäten und literarische Quellen. So vermeiden Sie, dass in Ihrem Gutachten der Begriff 'Über-schätzung der eigenen Ideen' auftaucht."

These 3: "Denken Sie daran, alles in Ihrem Leben war normal. Die Schwangerschaft Ihrer Mutter und Ihre Geburt sind planmäßig verlaufen. Sie haben rechtzeitig gelernt, sich aufzusetzen, zu gehen und Mama zu sagen. Sie haben niemals gern allein gespielt, waren nie Schlafwandler und sind so gern oder ungern zur Schule gegangen wie jeder andere. Sie haben sich für das andere Geschlecht in der Pubertät zu interessieren begonnen, und Ihre Sexualität hat auch später nicht den Rahmen des Anständigen gesprengt. Je normaler Ihr Leben und Ihre Herkunft erscheinen, desto schwieriger wird es Ihrem Psychiater fallen, Ihnen anormales Verhalten und frühzeitige Anzeichen von Geisteskrankheit zu unterstellen."

These 4: "Denken Sie daran, Sie müssen die wahren Motive für Ihr oppositionelles Verhalten verschweigen. Am besten ist, Sie sagen: 'Ich wollte einfach berühmt werden.' - 'Ich habe nicht an so schwerwiegende Folgen gedacht.' - 'Ich habe nicht mitgekriegt, dass ich zu weit gegangen bin.' Diese Argumentation mag Ihnen unwürdig vorkommen, und sie ist sicher unerfreulich. Tatsache ist: Sie wird Sie bei Ihrem Psychiater ins beste Licht rücken."

Ich habe noch nirgendwo eine so präzise und zutreffende Darstellung über die Denk- und Verhaltensweise der im Auftrage des KGB arbeitenden Psychiater gelesen wie in diesem "Handbuch". So nützlich diese Ratschläge auch sind. Bukowski und Grigorenko dämpften übertriebene Erwartungen: "Von dem Gewissen der Ärzte ist leider wenig zu erhoffen."













Donnerstag, 13. April 1978

Sowjetunion - Der Leidensweg des Generalmajors Pjotr Grigorenko (4)




stern
, Hamburg
13. April 1978
aufgezeichnet von
Erich Follath und
Reimar Oltmanns


Dr. Jouri Novikov ist der führ
ende Psychiater der Sowjetunion, dem die Flucht in den Westen gelang. Er erlebte jahrelang, wie seine Kollegen im Auftrage des KGB Bürgerrechtler in Irrenhäuser verbannten. Besonders infam behandelten KGB-Psychiater den früheren Generalmajor Pjotr Grigorenko (*1908+1987).


Andere rissen sich darum, mir waren sie ein Gräuel: die Überlandfahrten in die Provinz. Aber diese Inspektions-reisen zur Kontrolle psychiatrischer Kliniken gehörten zu meinen Pflichten als Abteilungsleiter im "Serbskij"-Institut, der obersten Instanz für Gerichtspsychiatrie in der Sowjetunion. Meine Stippvisiten liefen fast immer nach demselben Schema ab. Begrüßung durch das örtliche Partei-Komitee am Bahnhof. Abendessen mit dem Anstaltsleiter im Hotel, meist floss der Wodka reichlich. Am nächsten Morgen Rundgang durch die Anstalt - altvertraute Bilder, immer dieselben Klagen: Zu viele Patienten, zu wenig Betten, fehlende Medika-mente. Für die Inspektion des "Kollegen aus Moskau", wie sie mich nannten, war nicht einmal der Flur geschrubbt, geschweige die Toilette gereinigt worden.
MISERE ANGEPRANGERT - OHNE BESSERUNG
Ich schrieb seitenlange Berichte, prangerte die Miss-stände an, machte konkrete Vorschläge für das Ge-sundheitsministerium. Professor Georgij Wassil-jewitsch Morosow, Direktor des "Serbskij"-Instituts, sprach mich einmal auf diese Berichte an: "Jouri, du kannst ruhig ein paar Seiten weglassen. Die Russen gewöhnen sich an alles. Die da draußen an ihren Notstand, die im Ministerium an die Beschwerden." Auch ich stumpft ab. Ich musste es als unumstößliche Tatsache hinnehmen: Je weiter die Klinik von Moskau entfernt war, desto katastrophaler war die medizinische Versorgen. Daran änderten auch die Fünf-Jahres-Pläne des Ministerrats nichts, die der Medizin Vorrang ein-räumten und die Bettenzahl in allen psychiatrischen Krankenhäusern in den letzten fünfzehn Jahren von 220.000 auf das Doppelte erhöhen sollten.
GELD VERSICKERTE
Das Geld aus Moskau versickerte auf dem Weg in die Provinz. Für die örtlichen Parteikomitees gab es immer etwas, was noch dringender war. Auf der Strecke blieben die Krankenhaus-Neubauten. So zum Beispiel in der Provinzstadt Karkaralinsk in Kasachstan, wo in einer feierlichen Zeremonie 1975 zwar der Grundstein gelegt wurde, wo aber bis heute noch nicht einmal die Außenmauern hochgezogen worden sind. Bei psychia-trischen Sonderkliniken allerdings gibt es keine Neubau-probleme. Diese Aufbewahrungsanstalten, von denen es zwölf in der Sowjetunion gibt, sind fast ausnahmslos in alten Gefängnissen untergebracht. Hinter Stacheldraht und dicken Mauern sitzen Patienten, die auch nach westlichen Maßstäben geisteskrank sind und die man nicht mehr frei herumlaufen lassen kann. Es werden in diesen Sonderkliniken aber auch politische Dissidenten als "Geisteskranke" interniert, obwohl sie geistig gesund sind.
FÜR PSYCHIATER ZUTRITT VERWEHRT
Die Psychiater des "Serbskij"-Instituts dürfen den Gerichten zwar die Einweisung von Patienten in die Sonderkliniken empfehlen, ihnen selbst ist der Zutritt zu den Anstalten jedoch verwehrt. Diese Psycho-Sonder-kliniken sind die geheimnisvollsten Krankenhäuser der Sowjetunion. Sie sind auch die einzigen, die nicht dem Gesundheitsministerium, sondern den mächtigen Bonzen vom Innenministerium unterstehen. Und die sind Spezialisten, wenn es darum geht, Leute aus dem Verkehr zu ziehen und von der Umwelt zu isolieren.
SCHAUPLATZ MINSK
Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum gerade mir die Gelegenheit gegeben wurde, die psychiatrische Sonderklinik in Minsk besuchen zu dürfen. Jedenfalls rief mich während einer Inspektionsreise durch Weißrussland eines Abends der Direktor der Minsker Sonderklinik an und lud mich für den nächsten Morgen ein. Es war im November 1973. Morgens gegen 10 Uhr holte mich ein schwarzer Moskwitsch vom Hotel ab, ein Chauffeur brachte mich in die Stadtmitte zum Unter-suchungsgefängnis, auf dessen Gelände sich die Sonder-klinik befindet. Der Lagerkomplex war unüberschaubar. Eine vier Meter hohe Backsteinmauer, zwischen zwei Wachtürmen ein Tor. Über der Einfahrt, für jeden unübersehbar, stand in riesigen Lettern der Glaubens-satz der Klinik geschrieben: "Obratno na swobodu s tschistoi sowestju" - Zurück in die Freiheit nur mit reinem Gewissen.
KALASCHNIKOWS, SCHÄFERHUNDE
Ausweiskontrolle am schweren Stahlschiebetor. Zwei Soldaten, Kalaschnikows auf dem Rücken. Scharfe Schäferhund, die an ihrer Laufleine zerrten. Wagen-durchsuchung, Leibesvisitation. Der Moskwitsch hielt auf einem lehmigen Vorhof. Am Haupteingang wartete schon ein Direktor, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere. Er war ein älterer Arzt, 60 Jahre etwa, mit einem rötlich-runden Gesicht. Er leitete die Sonder-klinik seit zwei Jahren - ohne vorher psychiatrische Erfahrung gesammelt zu haben. Er war Hautarzt, hatte sich frühzeitig um die Partei verdient gemacht und durfte sich hier am Ende seiner Laufbahn als Direktor noch seine Pension aufbessern.
KRANKENZIMMER - VERROTTETE LÖCHER
Auf dem ersten Flur, den wir passieren, hing ein gerahmter Spruch an der grauen Kalkwand: "Trud - uniwersalnoje sredstwon narodnogo wospitanija" - Arbeit ist ein universelles Mittel zur Erziehung des Volkes. - Das erste Krankenzimmer, das ich zu sehen kriegte, war ein ziemlich verrottetes Loch. In dem 16 Quadratmeter kleinen Raum waren acht Betten zusammengepfercht, je zwei übereinander. Aber nicht jeder Kranke hatte seine eigene Liege. Einige kauerten auf den Ritzen zwischen den Bettkanten. Die meisten lagen völlig phlegmatisch da, vollgepumpt mit Psycho-pharmaka, die Gesichter leer und ausdrucklos. Ein Jugendlicher, dessen bekleckerter Anstaltspyjama keine Knöpfe mehr hatte, machte sich gleich an den Wärter ran. "Ich hab' noch Tabak", flüsterte er. "Du kannst ihn haben, wenn du mich aufs Klo lässt." Der Wärter schlug wortlos die Tür zu.
AUFS KLO GEHEN ZU DÜRFEN ... ...
Vom Direktor erfuhr ich später, dass es in der psychia-trischen Sonderklinik Minsk ein Privileg ist, aufs Klo gehen zu dürfen. Denn nur zwei Mal am Tag, um 10 Uhr morgens und um 18 Uhr abends, sieht die Anstalts-ordnung einen "Gang zur Verrichtung der Notdurft" vor. Ziffer 3 dieser Verordnung stellt es ins eigene Ermessen der Wärter, weitere Toilettengänge zu gestatten. Diese Vergünstigung lassen sie sich honorieren: mit Tabak, Süßigkeiten, Obst - Mitbringsel von Angehörigen, die einmal im Monat die Patienten besuchen dürfen. Der Gang zur Toilette ist ein Stück Freiheit, nach der jeder Kranke sich sehnt. Dieser Ort - ein kreisrundes Loch, mit zwei Wasserhähnen in der Wand - ist die einzige private Zuflucht in der Klinik. Drei Minuten erlauben die Wärter, die selbst gedrehte Zigarette oder die gestopfte Pfeife zu rauchen. Sonst, und das wird strikt einge-halten, darf nirgends im Hospital gepafft werden.
AUFSTIEG - VOM "SEKI" ZUM WÄRTER
Nach dem Rundgang saß ich beim Chef im Zimmer und trank Tee. Dann erzählte er mir, wer die Wärter sind. Ihre Vergangenheit haben die meisten nicht auf den Sanitätsschulen, sondern als "Seki" (Kriminelle Häft-linge) gemeistert. Ihre Delikte waren Mord, Verge-waltigung, schwerer Raub. Als Internierte in den Arbeitslagern begannen sie eine neue Laufbahn, im Auftrag der Verwaltung und des KGB bespitzelten und denunzierten sie andere Lagerinsassen, vor allem politische und religiöse Häftlinge. Dafür wurden sie belohnt. In Psycho-Kliniken, wie hier in Minsk, ge-nießen sie als Krankenwärter im weißen Kittel nun ihren "gesellschaftlichen Aufstieg". Sie beuten die Kranken aus - auch sexuell.
SEXUELLE AUSBEUTUNG
Wer keinen Besuch bekommt und infolgedessen keine Zigaretten als Tauschobjekt anbieten kann, hat nur eine Chance, sich bei den Wärtern beliebt zu machen: Er muss sich prostituieren. Je nach Lust und Laune holen sich manche Krankenwärter vor allem jüngere Männer aus den Zimmern heraus und treiben es mit ihnen in ihren Diensträumen. Wie viele Menschen in der Sonder-klinik von Minsk schon in die Intensivstation gekommen sind, wollte der Direktor mir nicht sagen. Er gab jedoch zu, die Verpflegung sei so schlecht, dass die Wider-standskräfte der Patienten sich im Laufe der Zeit auf ein Minimum reduzierten. Die Hauptmahlzeit besteht meist aus einem Teller Kohlsuppe. Morgens und abends gibt es einen Löffel Hafergrütze, ab und zu eine kleine Kar-toffel mit Gemüse. Die einseitige und mangelhafte Ernährung erreicht niemals die vorgeschriebenen 1.300 Kalorien am Tag. Patienten, die sich beschweren wollen, bekommen weder Kugelschreiber noch Papier. Denn schon diese Dinge werden in den staatlichen Aufbe-wahrungsanstalten wie Minsk als Sicherheitsrisiko betrachtet.
DOPPELTES KONTROLL-SYSTEM
Das Innenministerium hat für Psycho-Sonderkliniken eine doppelte Hierarchie, ein doppelte Kontrollsystem aufgebaut. Da sind einmal der Chefarzt, die Abteilungs-leiter, die behandelnden Psychiater - alles vom Innen-ministerium ausgesuchte Mediziner. Und da sind auf der anderen Seite die Funktionäre des Innenmini-steriums in Uniform: der Oberverwalter der Klinik, gleichberechtigt mit dem Chef-arzt, der Hausverwalter, die Aufseher. Auf der untersten Stufe der Leiter steht der Wärter. Seine Vorgesetzten sind die Aufseher, die keiner-lei medizinische Kenntnisse haben. Auf diese Weise wird das Misstrauen geschürt, einer bespitzelt den anderen.
KEIN MUT - NUR MISSMUT
Als ich mich vom Direktor der Sonder-klinik in Minsk verabschiedet hatte, fragte ich mich, warum er mit trotz seines Missmutes so viel erzählte. Vielleicht, um meine Reaktion zu testen. Vielleicht hatten sie mich in Moskau schon für eine höhere Aufgabe in einer Sonder-klinik vorgesehen. Vielleicht sollte ich sogar Nachfolger des Direktors in Minsk werden. Albträume plagten mich in dieser Nacht. Ich hatte noch nicht einmal den Mut gehabt, den Direktor nach "politischen Fällen" zu fragen. Nach meinen Erfahrungswerten kann man annehmen, dass jeder zehnte Patient in einer Sonderklinik wegen "paranoider Reformideen", wegen "mangelnder Anpassungsfähigkeit an seine soziale Umgebung", wegen "Überschätzung seiner Person" eingewiesen wird. Für Minsk heißt das: etwa 30 politische Gefangene, für die Sowjet-union insgesamt 350. Die Mehrzahl der politischen Häftlinge, wohl an die 10.000 sind in Arbeitslagern interniert.
TÄUSCHUNG WESTLICHER PSYCHIATER
Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, dass KP-Chef Leonid Breschnew (1964-1982) in der Außenpolitik für Entspannung sorgte und in der Innenpolitik die Re-pression verschärfte. Mein politischer Verstand wurde erst richtig geweckt, als ich 1973 selbst eine wichtige Rolle bei der bewussten Täuschung westlicher Psychiater und Journalisten spielen sollte. - Am 14. Oktober 1973 gegen zwei Uhr nachmittags rief mich mein Chef, Professor Morosow, zu sich ins Büro. Er war seltsam nervös. "Ich habe gerade einen Anruf aus dem Ministerium bekommen. Morgen müssen wir deutsche Journalisten im "Serbskij"-Institut herumführen, und wenn die danach fragen, müssen wir ihnen sogar einige Krankenakten zeigen. Ich brauche dich als Übersetzer."
SINNESWANDEL
Ich fragte mich, was dieser Sinneswandel im Mini-sterium zu bedeuten habe. Schon einen Tag vorher waren der englische Psychiater Dr. Denis Leigh und sein schwedischer Kollege Dr. Carlo Perres in unserem Institut und hatten anschließend die psychiatrische Klinik in Troizkoje besichtigt. Das hatte es noch nicht gegeben, dass westliche Ärzte eine unserer Psycho-Kliniken be-suchen durften. Diese neue KGB-Politik konnte nur einen Grund haben: der zunehmenden westlichen Kritik an der russischen Psychiatrie offensiv entgegen zu wirken. Und nun auch noch westdeutsche Journalisten! Am nächsten Morgen lernte ich die stern-Journalisten Robert Lebeck und Klaus Lempke kennen. Sie waren schon bei Morosow im Zimmer, als ich dazukam. Die Atmosphäre war gelockert, es gab Kaffee, Konfekt und Kekse. Das Chefzimmer, sonst chaotisch-unordentlich, war aufgeräumt wie selten. Morosow spielte souverän seine Rolle.
WESTDEUTSCHE JOURNALISTEN
Ich übersetzte: "Kein Bürger der Sowjetunion darf verurteilt werden, wenn er geisteskrank ist ... Der Patient hat das Recht, einen Gutachter abzulehnen ... Berichte über Zwangseinweisungen angeblicher poli-tischer Dissidenten muss ich schlicht als Verleumdung bezeichnen ...". - Doch die westdeutschen Journalisten begnügten sich nicht mit solchen Glaubensbekennt-nisse. Sie wollten General Pjotr Grigorenko sehen, den das "Serbskij"-Institut mehrmals für unzurechnungs-fähig erklärt hatte. Auf diese Bitte, das merkte ich Morosow an, hatte er schon gewartet. Er war keinesfalls verblüfft und sagte: "Wir werden Sie anrufen." - Am nächsten Morgen ließ er die Journalisten wieder ins "Serbskij"-Institut kommen und begrüßte sie mit der Bemerkung: "Ich habe mir überlegt, wenn ich Ihre Zweifel ausräumen will, muss ich Ihnen Handfestes bieten." Mit diesen Worten überreichte er den beiden be-deutungsvoll eine Handvoll vergilbter Blätter: die Kran-kengeschichte des ehemaligen damals siebzigjährigen Generalmajors Pjotr Grigorenko.
EINE FÄLSCHUNG
Mit war klar: Das kann nur eine Fälschung sein. Denn nicht einmal ich als Oberarzt, geschweige denn andere Professoren des Instituts, hatten bis dahin eine Krank-heitsgeschichte aus der vierten Abteilung ge-sehen, in der Grigorenko untersucht worden war. Als der Foto-graf die Blätter ablichtete, und ich den Text übersetzte, bestätigte sich meine Vermutung: Grigorenkos Krankengeschichte mit all ihren Symptomen war teilweise wörtlich aus dem "Handbuch der Psychiatrie" abgeschrieben und mit persönlichen Lebensdaten des Generals vermengt. Die Erklärung seiner Wahnvorstellung kennt jeder Student aus-wendig. Über diese Manipulation konnten auch die vergilbten Formulare nicht hinwegtäuschen, die nicht einmal aus dem "Serbskij"-Institut stammten. Die stern-Reporter, die als erste westliche Journalisten in unserem Institut waren, hatten nicht den Hauch einer Chance, die KGB-Fälschung zu durchschauen. Zumindest ist ihnen eines geglückt: Am nächsten Tag konnten Robert Lebeck für einen Augenblick Grigorenko in seiner Zelle in der psychiatrischen Klinik in Troikoje sehen, die 62 Kilo-meter von Moskau entfernt ist.
AUS DER SOWJETUNION FLIEHEN
Ich habe selber Jahre gebraucht, ehe ich begriff, wie die sowjetische Psychiatrie zu politischen Zwecken miss-braucht wird. Der Besuch der westdeutschen Jour-nalisten war für mich ein Schlüsselerlebnis, aus dem ich die Konsequenzen zog: Seit Oktober 1973 stand mein Entschluss fest, bei der ersten Gelegenheit aus der Sowjetunion zu fliehen. Ich bemühte mich, so viel wie möglich über das Schicksal der Dissidenten zu erfahren, die in psychiatrischen Kliniken festgehalten wurden.
GESETZE GEBROCHEN, LÜGEN AUFGETISCHT
Am Schicksal des Generals Pjotr Grigorenko lässt sich am besten verdeutlichen, wie der KGB Gesetze bricht, wie Zeugen in Gerichtsverfahren zu Lügen gezwungen werden, und wie gesunde Menschen mit Hilfe von Medi-kamenten gequält werden. Meine Recherchen in der Sowjetunion und die Materialien, die ich im Westen vor-fand, ergeben zusammen ein lückenloses Bild. Hier der Fall des Pjotr Grigorenko:
KARRIERE DES PJOTR GRIGORENKO
General Grigorenko war ein Held der Sowjetunion. Mit 32 Jahren wurde der Sohn armer ukrainischer Bauern Offizier. Er kämpfte an der Westfront gegen die Deut-schen und wurde zwei Mal verwundet. Anschließend nahm er an dem Krieg gegen Japan teil. Grigorenko wurde zwei Mal verwundet, erhielt den Lenin-Orden, die zwei Orden des Roten Banners und den Roten Stern. 1959 avancierte er zum General. Gleichzeitig übernahm Grigorenko einen Lehrstuhl an der Frunse-Militär-akademie in Moskau. Er veröffentlichte 67 wissen-schaftliche Arbeiten.
TIEFER FALL
Grigorenkos Karriere endete abrupt, als er auf einer Parteikonferenz im September 1961 in Moskau den damaligen KP-Chef Chruschtschow scharf angriff. Er warf ihm vor, dass noch immer nicht, wie Chrusch-tschow es auf dem XX. Parteitag 1956 versprochen hatte, die stalinistischen Funktionäre ihrer Ämter ent-hoben worden waren, und er forderte außer-dem, die hohen Gehälter der Parteisekretäre zu reduzieren und Schluss zu machen mit den Repressalien gegen reform-freudige Kommunisten. Grigorenko, selbst ein über-zeugter Kommunist, glaubte, mit legalen Mitteln eine Demokratisierung der Partei und Gesellschaft erreichen zu können. Sein Auftreten auf der Partei-konferenz hatte schwerwiegende Folgen. Auf Betreiben Chruschtschows wurde der General aus dem Militär-dienst entlassen und verlor seinen Lehrstuhl.
WARUM GIBT'S NICHT GENÜGEND BROT ?
Vorerst blieb Pjotr Grigorenko noch ungebrochen. Im Herbst 1963 organisierte er einen Freundeskreis und gründete eine politische Arbeitsgemeinschaft mit dem Namen "Kampfbund für die Wiederherstellung des Leninismus". Auf dem Vorplatz des Kasaner Bahnhofs in Moskau verteilte er Flugblätter mit der provozierenden Frage: "Warum gibt es bei uns nicht genügend Brot?" Damit war Grigorenkos Weg in die psychiatrische Klinik vorgezeichnet. Am 1. Februar 1964 verhaftete der KGB Grigorenko und seine Freunde. Grundlage war Artikel 70 des sowjetischen Strafgesetzbuches: "Wer Agitation oder Propaganda betreibt, um den sowjetischen Staat zu schwächen oder zu unterwandern oder, in besonderem, gefährliche Verbrechen gegen diesen Staat zu begehen, wer zu demselben Zweck gefälschte Nachrichten in Umlauf bringt, anfertigt oder für sich behält, oder Schriften dieses Inhalts besitzt, soll mit einer Freiheits-strafe zwischen sechs Monaten und sieben Jahren belegt werden."
GRIGORENKO: GEISTESKRANK
Nur einige Wochen verbrachte Grigorenko im Moskauer Lubjanka-Gefängnis. Am 12. März 1964 verlegte ihn die Staatsanwaltschaft ins "Serbskij"-Institut, um ihn auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen. Die Kommission unter Leistung des Klinikchefs Professor G.W. Morosow kam zu dem Ergebnis, der ehemalige General sei für seine Taten nicht verantwortlich und benötige eine Behandlung in einer psychiatrischen Sonderklinik. In dem "Serbskij"-Gutachten heißt es: "Grigorenkos psychologische Situation charak-terisieren seine reformistischen Ideen, insbesondere seine Vorstellungen von der Neu-Organi-sation des Staatsapparates. Diese Ideen sind verbunden mit einer Überschätzung seiner Person, die messianische Aus-maße angenommen hat. Er berichtete von seinen Erfahrungen mit ausgeprägten Emotionen und war unerschütterlich von seinen Handlungen überzeugt." Das Gericht hielt sich an Morosows Maxime: "Warum sollen wir uns mit politischen Prozessen plagen, wo wir doch psychiatrische Sonderkliniken haben!" Und schickte Grigorenko in die Leningrader Sonderklinik für Geisteskranke.
GRIGORENKO: DEGRADIERT
Um Grigorenko zum Schweigen zu bringen, brachen Richter, Staatsanwälte und die Partei das sowjetische Recht. Kein Rechtsanwalt durfte den Generalmajor vertei-digen, er selbst durfte am Prozess nicht teil-nehmen, und nicht einmal das Urteil durfte er lesen. Zwei Wochen nach seiner Klinik-Einweisung warf ihn das Zentral-komitee der KPdSU aus der Partei, stufte ihn rechtswidrig vom General zum ein-fachen Soldaten zurück und strich ihm rechtswidrig seine Pension. Nach dem Gesetz stehen einem Militärangehörigen, der geisteskrank wird, die vollen Pensionsbezüge seines letzten Dienstgrades zu. Im März 1965 musste sich Grigorenko noch einmal untersuchen lassen. Die Ärzte in Leningrad bestätigten die "Serbskij"-Diagnose, hielten aber eine stationäre Behandlung nicht mehr länger für nötig. Grigorenko kam unter der Auflage frei, sich in regelmäßigen Abständen in der psychiatrischen Klinik in Leningrad zu melden.
GEGEN EINMÄRSCHE DER SOWJETS
Grigorenko bewies bald, dass er alles anders als geistes-krank war. Unerschrocken wie eh und je engagierte er sich noch stärker und wurde einer der führenden Bürgerrechtler in der Sowjetunion. Am Grab des Schriftstellers Alexej Kosterin, der sich vor allem für die nationalen Minderheiten eingesetzt hatte, hielt Grigorenko eine leiden-schaftliche Rede für die "wahre leninistische Demokratie und für die Entlarvung des Totalitarismus, der sich hinter der Maske der soge-nannten Sowjet-Demokratie verbirgt". Mit Flug-blättern demonstrierte er gegen den Einmarsch der Sowjets in der CSSR. Als Grigorenko im Mai 1969 in Taschkent, wohin er von Moskau fuhr, vor Gericht für die unter-drückten Krimtataren starkmachen wollte, wurde er abermals verhaftet.
PERSÖNLICHE ÜBERZEUGUNGEN
Der KGB beauftragte Professor Fjodor Detengow, den Chefpsychiater der Usbe-kischen Republik, ein Gut-achten anzufertigen. Doch das fiel ganz anders aus, als es der Geheimdienst erwartet hatte: "Grigorenkos Handlungen basieren auf seinen persönlichen Über-zeugungen und haben keine krankhaften und hyste-rischen Züge. Seine intellektuellen Fähigkeiten sind ausgeprägt, er hat sich in seiner Umgebung als Führer und Erzieher etabliert. Es gibt keinen Zweifel an Grigorenkos geistiger Normalität. Eine Behandlung in einer Klinik hätte schwerwiegende negative Folgen für den Patienten und würde seinen körperlichen Gesund-heitszustand ver-schlechtern."
GESCHLAGEN, GEWÜRGT
Mit dieser positiven Diagnose wollte sich der KGB nicht abfinden. Wieder musste das "Serbksij"-Institut ran. Zwei Wochen nach der Taschkenter Begutachtung flog der KGB den U-Häftling nach Moskau zurück. Die Gutachter-Kommission unter Leitung von Morosow und des Chefs der politischen Abteilung vier, Lunz, ent-täuschten ihre Abtraggeber nicht. Sie formulierte, was von ihr erwartet wurde: "Die Reformideen Grigorenkos haben einen widerspenstigen Charakter angenommen und beherrschen sein Denken vollständig. Eine paranoide Entwicklung seiner Persönlichkeit hat stattgefunden. Deshalb kann sich die Kommission der Empfehlung des Taschkenter Gutachtens nicht an-schließen und rät dringend , den Patienten in eine psychia-trische Sonderklinik einzuweisen." - Zwischen dem Gutachten der Psychiater von Tschkent und dem der Psychiater des "Serbskij"-Instituts lagen nur vier Wochen.
DREI JAHRE SONDERKLINIK
Natürlich setzte sich das "Serbskij"-Institut mit seinem Gutachten durch. Pjotr Grigorenko wurde im Februar 1970 in Taschkent von einem Gericht für unzu-rechnungsfähig erklärt und in die psychiatrische Sonderklinik Tschernjachowsk eingeliefert. Über drei Jahre blieb er dort. Grigorenko musste sich die Zelle mit einem Mörder teilen. In seinem Tagebuch schildert der die Methoden seiner Wärter: "Sie zwingen mir Essen auf, sie schlagen mich, sie würgen mich. Sie drehen mir den Arm um, prügeln absichtlich auf mein verletztes Bein ... ... Dann stecken sie mich in eine Zwangsjacke. Ich wehre mich, so lange die Kräfte reichen. Sehr oft breche ich unter furchtbaren Herzschmerzen zu-sammen. Die Wärter versprachen, mich nicht weiter zu quälen, wenn ich meine Reformideen widerriefe. Ich sagte ihnen: Über-zeugungen sind nicht wie Hand-schuhe. Man kann sie nicht jeden Tag wechseln."
EIN GEBROCHENER MANN
Man braucht nicht im "Serbskij"-Institut gearbeitet zu haben, man braucht nicht einmal Psychiater zu sein, um zu ermessen, dass Grigorenko trotz aller Standhaftig-keit nach drei Jahren Sonderklinik ein gebrochener Mann war. Erst als der KGB glaubte, der Ex-General sei für die Sowjetunion keine Gefahr mehr, und als der internationale Druck für seine Freilassung immer stärker wurde, verlegte man Grigorenko in eine normale psychiatrische Klinik - nach Troizkoje. Dort durften ihn 1973 dann auch die ersten westlichen Psychiater, der Engländer Leigh und der Schwede Perres, besuchen. Grigorenko sagte ihnen, es ginge ihm jetzt besser. Die Ärzte konnten ihn jedoch nicht untersuchen, weil sie nur eine zehnminütige Ge-sprächserlaubnis hatten. Leigh und Perres weigerten sich deshalb, über Grigorenkos Gesundheitszustand ein Urteil abzugeben. Doch in Moskau wurde das Schweigen der westlichen Ärzte als Zustimmung gewertet. Die Nachrichtenagentur Tass schrieb: "Die Professoren bezeugen, dass der frühere General Grigorenko tatsächlich krank ist, und sie bestätigen damit die Diagnose ihrer sowjetischen Kollegen."
GESCHENK IN SACHEN MENSCHENRECHTE
Am 24. Juni 1974 wurde Pjotr Gigorenko überraschend entlassen. Das geschah zwei Tage vor dem Staatsbesuch des US-Präsidenten Richard Nixon (1969-1974); ge-wissermaßen ein Gastgeschenk in Sachen Menschen-rechte. Anfang Dezember 1977 - ich lebte bereits ein halbes Jahr in der Bundesrepulblik, las ich erstaunt in der Zeitung, dass Grigorenko eine auf sechs Monate befristete Ausreisegenehmigung in die USA erhalten hat. Mit seiner Frau Sinaida flog er nach New York, um seinen Stiefsohn zu besuchen und sich einer Prostata-Operation zu unterziehen. Wie ich inzwischen hörte, hat er sie gut überstanden.
EIN PÄCKCHEN HEIMAT-ERDE
Als Grigorenkos Freunde den General und seine Frau im Dezember auf dem Moskauer Flughafen verabschiedeten, haben sie ihm ein kleines Päckchen Heimaterde in die Hand gedrückt. Sie befürchteten, dass Pjotr Grigorenko sowjetischen Boden nicht wieder betreten darf.
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Nachtrag - Pjotr Grigorenko ist im Alter von 79 Jahren 1987 in seinem New Yorker Exil gestorben. Die sowjetische Staatsbürgerschaft ist dem früheren Generalmajor der Roten Armee und russischen Bürgerrechtler bereits im Jahre 1979 aberkannt worden. Die Urkaine - seine Heimat - hat er nicht mehr wieder gesehen.

Donnerstag, 6. April 1978

Sowjetunion: Das Mysterium der Vierten Abteilung für Wladimir Bukowski (Teil 3)



















stern, Hamburg
6. April 1978
aufgezeichnet von
Erich Follath und
Reimar Oltmanns

Dr. Jouri Novikov ist der erste führende Psychiater der Sowjetunion, dem die Flucht in den Westen gelang. Er war dabei , als seine Kollegen auf Befehl des Geheimdienstes unbe-queme Bürgerrechtler in die Irrenhäuser schickten. Diagnose: "Schizophrenie" - eine sowjetische Variante der Bewusstseins-spaltung.


Am 24. April 1974 hatte ich es geschafft. Meine Dok-torarbeit bei Professor Oskar Jewgenijewitsch Freierow über das Thema wurde von der Gelehrtenkommission des Moskauer "Serbskij"-Instituts einstimmig angenommen, was so viel wie "sehr gut" heißt. Dieses Ereignis wollte ich mit meinen Kollegen begießen. Für 300 Rubel, das waren damals etwa zwei Monatsgehälter für mich, lud ich sie alle in ein Lokal ein, spendierte ein Abendessen und einen teuren armenischen Kognak. Es war in den drei Jahren, in denen ich schon am "Serbskij"-Institut arbeitete, das erste und einzige Fest, das ich mit meinen Leuten feierte. Und es war eine Enttäuschung.

ALS ALKOHOLIKER VERSCHRIEN

Nicht einmal in privater Umgebung gingen meine Arbeitskollegen aus sich heraus. Sie saßen an der Tafel steif und teilnahmslos herum und würgten ihr Filet Stroganoff herunter, als seien sie zu einem Leichen-schmaus geladen. Selbst von den aufgefahrenen Wodka-flaschen blieb die Hälfte ungeöffnet stehen. Schon um zehn Uhr verabschiedeten sich die ersten, und eine Stunde später stand ich allein im Restaurant.

Ich konnte den Kollegen ihre Zurückhaltung nicht übernehmen, denn ich merkte ja selbst, wie ich mich beim Trinken kontrollierte. Schnell war man im Institut als Alkoholiker verschrien und galt als nicht zuverlässig. Sich vor den anderen kleine Blöße geben, nur keine eigenen Vorstellungen äußern - das was das oberste Ge-bot. Und ich verstand es, mich nahtlos anzupassen. Die Korsettstangen der Selbstkontrolle waren bei jedem so fest eingezogen, dass er es vermied, durch Individua-lität aus der Rollen zu fallen: Eine Abweichung von den gängigen und offiziellen Ideen könnte ja die Vorstufe zur eigenen Abnormität sein. Kein Psychiater wollte ein Fall für die Kollegen werden.

VOLLENDETE KONFORMITÄT

Diese zwanghafte Adaption bis hin zur Selbstverleug-nung ist ein klassisches Symptom der Sowjet-Gesell-schaft. Während der Westen, so scheint mir, wenigstens teilweise Individualität und persönlichen Einfallsreich-tum honoriert, strebt in der Sowjetunion jeder danach, für vollendete Konformität belohnt zu werden.

Nur wenn es darum ging, gegen Kollegen zu intrigieren, wurden die Gespräche offen, Dann zogen die Profes-soren übereinander her. Die Hauptkonkurrenten im "Serbsbkij"-Institut waren die dienstältesten Profes-soren: Oskar J. Freierow, Leiter der sechsten Abteilung, in der ich arbeitete, und Daniil R. Lunz, Chef der Ab-teilung Vier und verantwortlich für die politischen Fälle. Freierow und Lunz gingen sich aus dem Weg, wo sie nur konnten. Und wenn sie sich doch einmal auf dem Flur trafen, grüßten sie sich nicht. Aus Gesprächen mit ihnen erfuhr ich, was sie von einander hielten. Der 66jährige Lunz über den ein Jahr jüngeren Freierow: "Dass Sie ausgerechnet bei dem promovieren mussten! Von Psy-chiatrie versteht der nichts. Der ist doch schon krank und senil."

AKTEN NACHGEWORFEN - WUTANFÄLLE

Bei einer anderen Doktorarbeit wurde er fast handgreif-lich. Swjetlana Manakowa kam eines Morgens heulend zu mir und erzählte völlig aufgelöst, Lunz habe sie ruppig aus dem Chefzimmer herausgeworfen und geschrien: "Was für einen Schwachsinn Sie zusammen-schreiben! Ich will Sie hier in den nächsten vier Wochen nicht mehr sehen! Und wagen Sie sich ja nicht zu mir, wenn Sie Ihre Arbeit nicht völlig neu geschrieben haben!" In seinem Wutanfall habe er ihr Manuskript zerrissen und einen Aktenordner hinter ihr hergeworfen.

BEEINDRUCKENDE PERSÖNLICHKEIT

Trotz seiner unberechenbaren Ausbrüche war Lunz eine beeindruckende Persön-lichkeit. Nur 1,60 Meter groß, kräftig gebaut, graues schütteres Haar. Er ließ jeden seine Arroganz und Überlegenheit spüren. Es machte ihm Spaß, deutsche und französische Sprachfetzen in die Unterhaltung einzustreuen. Er beherrschte diese Sprachen perfekt, obwohl er nie im Ausland war.

Wer zu Lunz aufblickte, den behandelte er manchmal sehr freundlich. Als ich den Professor freundlich bat, mir für einen wissenschaftlichen Aufsatz das bundes-deutsche "Handbuch für Psychiatrie" zu beschaffen, überraschte er mich mit einer Einladung zu sich nach Hause: "Ich würde Ihnen das Buch gerne leihen, aber ich gebe es grundsätzlich nicht aus der Hand, weil ich es nur mühsam über Beziehungen bekommen habe."

ZERSTREUTER PROFESSOR - HANDLANGER DES KGB

Ich war überrascht, wie anspruchslos Professor Lunz mit seiner Frau lebte. Zwei winzige Räume von etwa zehn und zwölf Quadratmeter, ein kleiner Flur, eine Kochnische und ein Duschbad waren alles, was seine Privatsphäre ausmachte. Die Wohnung im zwölften Stock eines Hochhauses in der Moskauer Innenstadt, er-innerte mich an die Hinterzimmer einer Buchhandlung. Der Parkettfußboden war kaum zu sehen, so sehr sta-pelten sich die Bücher kreuz und quer. Randvolle Bücherregale reichten bis zur Decke - für Bilder war kein Platz.

Lunz war ein bescheidener Mann, der nur an seine Wissenschaft dachte, wie ich später erfuhr, hatte er keine Datscha, noch nicht einmal einen Wagen, den sich andere Professoren als Statussymbol leisteten. Als er mir einen Stuhl anbot und lange nach dem deutschen Buch kramte, wirkte er hilflos und zerstreut - genau wie die Professoren in der Karikatur.

Dabei war Lunz alles andere als ein weltfremder Wissen-schaftler. Hinter einer intellektuellen Fassade verbarg sich der skrupelloseste Handlanger des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Er war der Mann, der die Regime-kritiker Sinjawski und Jessenen-Wolpin (1949 und wieder 1968), Frau Gorbanewskaja (1963), Fainberg (1965), Bukowski (1963 und 1967) und Griogrenko (1969) als Irre in psychiatrische Kliniken hatte abschie-ben lassen - und das sind nur die bekanntesten Opfer. Ich schätze, Lunz hat jährlich vierzig politisch Anders-denkende als unheilbar krank in Sonderhospitäler eingewiesen.

ALS PSYCHIATER GEFÜRCHTET

Als Psychiater war er unter den Dissidenten so ge-fürchtet, dass die Brüder Roy und Schores Medwedjew ihn als Gutachter ablehnten ( der Historiker Roy schrieb ein Buch über die Gräueltaten während der Stalin-Ära; der Biologe Schores über die Behinderung sowjetischer Wissenschaftler). Dieses Recht hat zwar jeder Patient, doch in der Praxis ändert es nichts: Der Staat hat genügend willfährige Mediziner, die ein-springen.

AUFSTIEG ZUM SEKRETÄR

Ich erhielt ziemlich genaue Kenntnisse und Informa-tionen über geheime Vorgänge in der sowjetischen Psychiatrie, als ich im Jahre 1976 zum Sekretär der höchsten psychiatrischen Vereinigung der Sowjet-republiken gewählt wurde. In diesem Allunionsverband saß ich neben Danill R. Lunz, Georgij Wassiljewitsch Morosow, Andrej W. Snjeschnewskij und anderen Größen aus der Psychiatrie und Neurologie.

Natürlich diskutierten wir auf den Sitzungen über politisch brisante Fälle und die damit verbundenen westlichen Angriffe. Was mich allerdings von Lunz unterschied: Ich wurde einstimmig von der Vollver-sammlung ins Präsidium gewählt. Lunz dagegen kassierte siebzehn Gegenstimmen - ein in der Sowjet-union außergewöhnliches Misstrauensvotum.

"SCHLEICHENDE SCHIZOPHRENIE"

Professor Lunz hatte sich wie kaum ein anderer mit der Definition der "schleichenden Schizophrenie" ausein-andergesetzt. Für ihn begann Bewusstseinsspaltung schon dort, wo medizinisch "keine klaren Symptome vorhanden waren, wie Wahnvorstellungen und Hallu-zinationen". Der Kranke konnte, so Lunz, "für seine Umwelt absolut normal erscheinen" und dabei tief geistesgestört sein.

Ich selbst hörte Professor Lunz 1973 in einem Vertrag in Moskau drei Beispiele von Leuten nennen, die seiner Meinung nach unter verschiedenen Stadien der Schizo-phrenie litten - und alle drei waren politischen Fälle.

Fall 1: Eine Person, die das sowjetische System kritisierte.

Fall 2: Eine Person, die Staatsgewalt grundsätzlich ablehnte.

Fall 3: Eine Person, die mit Gewalt gegen hohe Politiker vorgehen wollte.

Lunz' Vorteil war: Er glaubte, was er sagte. Er wirkte vor Kollegen vor den Kollegen so überzeugend, dass er den eklatanten Missbrauch sowjetischer Psychiatrie als ein Stück Normalität darstellen konnte. Erst viel zu spät merkte er, dass sein Name im Ausland zum Inbegriff einer fehlgeleiteten Wissenschaft wurde.

"ARZT DES TEUFELS" - NUR EINE NUMMER

Als Lunz 1973 vom Westen erstmals scharf angegriffen und "Arzt des Teufels" genannt wurde, reagierte er ziem-lich fassungslos. "Das sind doch Scheißkerle", sagte er zu mir. "Die Antipropaganda der Amerikaner und Engländer gegen unser Land geht sogar schon so weit, dass sie die Mediziner einspannen." Wäre es nach Lunz gegangen, die UdSSR hätte sich längst aus dem Welt-verband der Psychiater zurückgezogen.

Doch in diesem Fall konnte Lunz nicht abschätzen, welchen Einfluss die westliche Kritik auf die sowjetische Dissidenten-Politik hatte. Immer mehr Regimekritiker wurden nach der Konferenz für Sicherheit und Zu-sammenarbeit in Europa (KSZE), die im August 1975 in Helsinki stattfand, abgeschoben. Lunz hat nie ver-standen, warum ausgerechnet "kranke Menschen" in den Westen ausreisen durften. In den letzten Monaten, die ich ihn im Institut sah, war er verbittert und kränk-lich.

KAMPF UM TODESANZEIGE - KEINE TRAUERFEIER

Daniil R. Lunz ist am 1. März 1977 im Alter von 66 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Der große Mann der sowjetischen Psychiatrie war dem "Serbskij"-Institut nicht einmal eine Trauerfeier wert.

Ich erfuhr die Nachricht nur beiläufig, "Serbskij"-Direktor G.W. Morsow, seit Jahrzehnten sein Wegge-fährte, ließ mir durch seine Sekretärin mitteilen, ich solle mich um eine Todes-anzeige in der Parteizeitung kümmern. Ich müsse dazu allerdings noch die Genehmi-gung des Kreiskomitees der Partei einholen. Das war einfacher gesagt als getan. Denn die Genossen im Kreis-komitee wollten die Todesanzeige in den nächsten zwei Ausgaben für den Druck nicht freigeben. Ihre Be-gründung: Auch andere verdiente Genossen stünden längere Zeit auf der Warteliste.

Ich rief Professor Morosow an. Der wollte die Todes-anzeige aus Prestigegründen unbedingt vor dem 5. März, dem Tag der Beerdigung, groß gedruckt sehen. Morosow , als Organisationstalent bekannt, hatte eine Idee. Er schickte mich mit einem Schreiben direkt zu einem Redakteur einer Moskauer Abendzeitung, dessen Mutter mehrere Jahre als Krankenschwester in der Lunz-Abteilung im "Serbskij"-Institut gearbeitet hatte. Auf diese Weise haben wir es doch noch geschafft, die Todesnachricht, zwar nicht großformatig, dafür aber pünktlich in die Zeitung zu rücken.

ALIBIS FÜR ÜBERGRIFFE

Daniil R. Lunz lieferte zweifellos die medizinischen Alibis für die politischen Übergriffe des KGB. Doch für den Geheimdienst war er nicht mehr als eine Nummer, ein nützliches Werkzeug, abhängig und austauschbar. Doch für den Geheimdienst war er nicht mehr als eine Nummer, ein nützliches Werkzeug, abhängig und aus-tauschbar.

ZAREN-ZEIT

Denn Lunz hatte mit seiner Arbeit nur eine russische Tradition fortgesetzt, deren Vorbilder und Wurzeln bis in die Zarenzeit zurückgehen. Der Mann, der als erster Ärzte zu Erfüllungshilfen seiner unrühmlichen Politik machte, war Nikolaus I. (1796-1855), ein Schreckens-herrscher, dessen Spitzel vor allem Intellektuelle denun-zierten. Eines der vielen Opfer war der Philosoph Pjotr Jakowlewitsch Tschaadajew (1794-1856). Er kam 1836 von einer längeren Reise durch mehrere europäische Länder nach Russland zurück und war entsetzt über die Rückständigkeit und Tyrannei des Zarenreichs. Tschaadajew veröffentlichte deshalb heftige Attacken gegen Nikolaus I., der ihn von seiner Geheimpolizei festnehmen und von Ärzten öffentlich für verrückt erklären ließ.

ALTE BULLETINS HOCHAKTUELL

Das Bulletin aus dem Jahre 1836 könnte auch 1978 in der Parteizeitung "Prawda" stehen. "Der Aufsatz von Tschaadajew hat in jedem anständigen Russen Wut und Widerwillen erregt. Doch das Entsetzen verwan-delte sich schnell in Mitgefühl, als die Bevölkerung erfuhr, dass ihr unglücklicher Landsmann an Geistes-zerrüttung und Wahnsinn leidet. In ihrer väterlichen Fürsorge stellt die Regierung ihm einen Spezialarzt zur Seite und verordnet Hausarrest." - Tschaadajew blieb eine prominente Ausnahme. Normalerweise machte sich der Zar nicht die Mühe, seine Gegner "nur" für geistes-krank zu erklären und sie einzusperren. Er ließ sie gleich umbringen.

LENINS OKTOBER-REVOLUTION

An dieser Praxis änderte sich auch nach Lenins Oktober-Revolution wenig. Schon im Dezember 1917 wurde die "Tscheka", eine außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Sabotage und Konterrevolution, ge-gründet. Nur wer weiß, wie die "Tscheka" damals ar-beitete und welche politischen Aufträge sie ausführte, kann be-greifen, welche Rolle der KGB (aus der Tscheka gingen 1922 die GPU, 1924 der NKWD und 1954 der KGB hervor) heute in allen gesellschaftlichen Bereichen spielt - insbesondere in der Psychiatrie.

STALINS STRAFLAGER

Die "Tscheka", die erste Geheimpolizei der Sowjet-union, wurde ermächtigt, "Staatsfeinde" nach eigenen Ermessen und ohne die Einschaltung von Gerichten zu verur-teilen und hinzurichten. Das taten die Geheim-polizisten unter Josef Stalin (1878-1953) millionenfach. Wer in die Straflager verbannt wurde, hatte fast keine Chance, lebend herauszukommen - und das war Ab-sicht. Die Sklavenarbeit und die miserable Verpflegung sollten die Häftlinge physisch vernichten.

So aberwitzig es heute klingt, in jenen Jahren waren die Psychiater oft Lebensretter für die verhassten Regime-kritiker, wenn sie ihnen Schwachsinn attestierten und sie in ein Irrenhaus sperren ließen. In Asan, der einzigen psychiatrischen Sonderklinik, 600 Kilometer östlich von Moskau, waren die Abweichler sicher vor den Schergen des Geheimdienstes.

BÜRGERLICHES SANATORIUM

Über die Einweisung von Kranken entschieden wie heute die "Serbskij"-Psychiater. Das Institut wurde 1921 gegründet, um "die Rechte von geistesgestörten Per-sonen zu schützen, die unfreiwillig Handlungen be-gehen könnten, die für die Gesellschaft gefährlich sind". Das Institut trägt den Namen von Professor Wladimir Serbskij, einem der ersten und fortschrittlichen Psychiater in Russland. Er war einer der Wegbereiter der Oktober-Revolution. Unerschrocken geißelte er die soziale Rückständigkeit im Zarenreich, und er gab auch nicht auf, als ihm die Regierung daraufhin die Aus-übung des Arztberufes verbot. Nach 1917 arbeitete Professor Serbskij als Begründer der "Forensischen Psychiatrie" in Moskau, hauptsächlich widmete er sich der Nationalen Gesellschaft der Psychiater.

In Archiven fand ich die Beschreibung des Dichters Naum Korschawin , der 1948 einige Monate als Patient im "Serbskij"-Institut war. Korschawin schilderte - ich traute meinen Augen nicht - das Institut als repres-sionsfreie Idylle. Er konnte lesen, was er wollte, kein Mensch interessierte sich für die Gedichte, die er schrieb, und die Ärzte verhielten sich so unauffällig, dass er sie kaum wahrnahm.

GEHORSAMER ARZT

Doch noch im selben Jahr kam eine Wende. Übereifrige Geheimdienstler machten die Partei "auf das Wider-standsnest in der Kropotkin-Gasse" aufmerksam. Eine eiligst eingesetzte Kommission unter Führung des Parteifunktionärs R. S. Zemgatschka inspizierte das Institut. Ihr Urteil: "Aus dem 'Serbskij'-Institut, das einst die Hoffnung unserer Partei war, ist ein bürger-liches Sanatorium geworden." Ihr Vorschlag: "Die Schrauben müssen wieder angezogen werden. Ein linientreuer Arzt muss die Verhältnisse in Ordnung bringen und der Partei regelmäßig Bericht erstatten."

PARTEITREUE SÄUBERUNGEN

Der Mann, den die KPdSU für diese Aufgabe auswählte, hieß Daniil R. Lunz. Der ehrgeizige Jungpsychiater hatte mit seiner Familie gebrochen, weil er mit Hilfe der Partei Karriere machen wollte, der er schon zu dieser Zeit ergeben diente. Sein Vater, ein angesehener Kinder-arzt, und seine Mutter, Professorin am Moskauer Konservatorium, waren Juden. Sie konnten nicht be-greifen, warum ihr Sohn es mit den Bolschewiki hielt.

Daniil R. Lunz hatte ein ausgeprägtes Gespür für brisante politische Entwicklungen. 1951 setzte die erste antisemitische Säuberungswelle an Universitäten, Schulen und Krankenhäusern ein. Nur wenige Juden überstanden diese Kampagne unbeschadet. Einer von ihnen war Daniil R. Lunz.

UNABHÄNGIGE ÄRZTE NACH SIBIRIEN VERBANNT

Nach Stalins Tod 1953 waren Professor Lunz und seine Psychiater von der Abteilung gefragter denn je. Nikita Chruschtschow (1894-1971) hat zwar den Massen-morden ein Ende gesetzt , aber auch er konnte sich keine politische Opposition erlauben. Gesucht wurde ele-gantere Lösungen, die keinen Spektakel verursachten, geheim ge-halten werden konnten und nach außen glaubwürdig erschienen. Damals wurde, meiner Mei-nung nach, die Verbannung politisch Anders-denkender in Irrenanstalten systematisch zur Perfektion entwickelt.

Die wissenschaftliche Vorarbeit für diese Praxis hatte der Professor Andrej W. Snjeschnweskij, zu jener Zeit Direktor des "Serbskij"-Instituts geleistet. Er machte radikal und unerbittlich gegen jeden Front, der sich seiner Meinung nicht anschloss, Anfang der fünfziger Jahre brach bereits ein Grabenkrieg zwischen den sowjetischen Psychiatern aus. Wer eine andere Auf-fassung hatte und sich der Snjeschnweskij-Schule nicht unterwerfen wollte, wurde fristlos entlassen. So prominente und bei Kollegen im Westen geschätzte Ärzte wie Gurewitsch, Epstein, Schamarjant und Gorlant verbannte die Partei über Nacht nach Sibirien.

ANREGEGUNGEN VON NAZI-ÄRZTEN

Professor Snjeschnewskij wurde berühmt durch die Definition der "schleichenden Schizophrenie", für die sich später Professor Lunz so stark engagierte. Deutsche Ärzte aus der Nazi-Zeit wie Rainer Rüdiger und Her-mann Paul Nietzsche hatten wichtige Anregungen für diese Theorie geliefert. Die schleichende Schizophrenie, so die Theorie von Professor Snjeschnewskij, ist bereits zu attestieren, bei "unrealistischen Ideen, den Sozia-lismus zu reformieren" oder bei "der Überschätzung der eigenen Bedeutung" - "Für die Umwelt kann der Patient dabei völlig gesund erscheinen", bemerkte Snjesch-newskij zynisch.


Denn die Diagnose "schleichende Bewusstseins-spaltung " verzichtet auf die Feststellung klassischer Symptome wie Halluzination und Wahnvorstellungen.

ABSURDE THESE - 1,9 MILLIONEN RUSSEN GEISTESKRANK

Nach marxistischer Lehre sind Verbrechen in einem sozialistischen System undenk-bar, weil es keine sozialen Gründe für kriminelle Handlungen gibt. Sie sind daher nur auf erbliche Anlagen zurückzuführen. Das heißt für sowjetische Psychiater im Klar-text: Auch bei Trunksucht, Renitenz, Diebstahl und Mord werden von vornherein Erbfehler unterstellt und infolgedessen eine unheilbare Geisteskrankheit konstatiert. - Eine Gummiband-Interpretation, die viele Regimekritikern zum Verhängnis wurde und wird.

Was Snjeschnewskijs Theorie in der Praxis für den Dissidenten, also den politisch Andersdenkenden, bedeutet, habe ich an der Universität und in meinen ersten Berufsjahren nicht begriffen. Seine Lehrmeinung erschien allen Studenten wissenschaftlich fundiert nd auf dem neuesten Stand der Entwicklung. Kein Mensch dachte daran, sie anzuzweifeln. Erst ein Aufsatz in einer britischen Fachzeitschrift stimmte mich nachdenklich.

DOPPELT SO VIELE FÄLLE WIE IN ENGLAND

Wo der Begriff der Schizophrenie derart weit gefasst wird, kann es kein Wunder sein, dass der Londoner Psychiater J.K. Wing in der Zeitschrift "Britisch Medical Journal" feststellte: In der Sowjetunion gebe es prozen-tual doppelt so viele Geisteskranke wie in Eng-land. Nach Snjeschnewskijs Definition müssten 1,9 Millionen Sowjetbürger unter Bewusstseinsspaltung leiden - das sind mehr, als etwa Hamburg Einwohner hat.

BILDERBUCH-KARRIERE

Eine absurde These. Doch sie war die Grundlage für Snjeschnewskijs Karriere Der "Serbskij"-Direktor wurde in kurzen Abständen alles, was er werden wollte: Leiter der Abteilung für klinische Medizin an der Moskauer Akademie der medizinischen Wissenschaften, dann Direktor des Forschungsinstituts der Akademie. Als Akade-miemitglied vertrat er die Sowjetunion in inter-nationalen Gremien. Er wurde Ehrenmitglied der Psychiatrischen Weltvereinigung sowie des amerika-nischen und des britischen Psychiaterverbandes.

War Andrej W. Snjeschneswkij in der Sowjetunion rigoros und kompromisslos, bei Internationalen Konferenzen zeigte er sich flexibel. Als vor dem Weltkongress der Psychiatrie 1971 in Mexiko City die westliche Kritik an den psychiatrischen Miss-ständen in der UdSSR immer heftiger wurde, setzt er sich per-sönlich im Kreml dafür ein, den Dissidenten Schores Medwedjew aus dem Irrenhaus in Kaluga zu entlassen und ihm die Ausreise nach England zu ge-statten. Die Taktik zahlte sich zunächst aus. Die westlichen Kollegen beruhigten sich wieder, der Weltverband verzichtete auf eine öffentliche Rüge.

ANGST, DEN RUF ZU VERLIEREN

"So eine Diagnose wie bei Medwedjew darf nicht noch einmal vorkommen", sagte Professor Snjeschneswkij bei einer internen Beratung im "Serbskij"-Institut, an der auch ich teilnahm. "Das war ein glatter Kunstfehler." Was er plötzlich als Kunstfehler bezeichnete, entsprach in Wirklichkeit der von ihm eingeübten Praxis im Um-gang mit Dissidenten. Was für eine vordergründige Dialektik, dachte ich. Der hat doch nur Angst, seinen internationalen Ruf zu verlieren.

Zu dieser Zeit existierten in der UdSSR bereits zwölf Sonderkliniken für politische Fälle: Kasan, das erste derartige Hospital, war schon in den dreißiger Jahren entstanden. Sytschjowka bei Smolensk, ein Kranken-haus aus dem 18 Jahrhundert, wurde Ende der vierziger Jahre für psychiatrische Fälle eingerichtet. Die Arsenal-naja-Klinik in Leningrad bis zur Oktober-revolution ein Frauengefängnis, kam Anfang 1950 dazu.

KLINIKEN ÜBER KLINIKEN

Mehr als ein Jahrzehnt später billigte das Politbüro der KPdSU sechs weitere psychiatrische Sonderkliniken: 1965 das Krankenhaus in Tschernjachowsk (Inster-burg), früher ein deutsches Gefängnis, 1966 Minsk in Weiß-russland, 1968 Dnejpropetrowsk in der Ukraine, 1971 die Anstalt Orel, südwestlich von Moskau, 1972 Blagowjeschtschensk am Amurfluss sowie Orda in Kasachstan. Die neuesten Sonderkliniken sind 1973 und 1974 in Taschkent, Alma-Ata und Perm eingerichtet worden.

Obwohl er selbst den Ausbau der psychiatrischen Kliniken überwachte, behauptete Snjeschneskij un-geniert: "In den 50 Jahren meiner Tätigkeit im sowje-tischen Ge-sundheitswesen ist mir kein Fall be-kannt geworden, dass ein gesunder Mensch in einer psychiatrischen Anstalt interniert wurde." Und die KP-Chefs Chruschtschow und Breschnew behaupteten, politische Gefangene gebe es in der Sowjetunion nicht. Kein Mensch werde in der UdSSR wegen seiner Reli-gionszugehörigkeit , wegen seines Bekenntnisses zu der nationalen Zugehörigkeit oder wegen seiner politischen Einstellung verfolgt. Und immer wieder beteuerten sie, der KGB habe nichts mit der Medizin, nichts mit der Psychiatrie zu tun.

Die KP-Chefs wussten, dass sie logen. Ich kann es beweisen. Allein in der berüchtigten sogenannten vierten Abteilung des "Serbskij"-Instituts, also der Sektion für die "Politischen", gibt es mindestens drei Ärzte, die KGB-Verbindungen haben: Frau Dr. Margarita F. Taltse, die seit dem Tod von Professor Lunz die Abteilung vier leitet, ist seit 20 Jahren mit einem hohen KGB-Offizier verheiratet. Ihr Stellver-treter, Dr. Jakow I. Landau, ist fast so häufig in der Moskauer KGB-Zentrale am Dserschinskij-Platz, wo er ein eigenes Zimmer hat, wie im "Serkskij"-Institut. Oberarzt Genadij N. Miljochin, Sohn eines hoch-dekorierten KGB-Funktionärs, arbeitet auch für den Geheimdienst - derzeit als Generalmajor.

"ERFOLGSBILANZ"

Wer sich die "Erfolgsbilanz" der vierten Abteilung ansieht, die Bukowski, Pljuschtsch, Grigorenko, Fainberg und all die anderen in den Kliniken ohne Wiederkehr, auf die Friedhöfe des verlorenen Verstandes, geschickt hat, muss zugegeben: Die Ärzte haben für ihre Auftraggeber ganze Arbeit geleistet.