Freitag, 21. Oktober 1977

Ostblock: Wo das Leben damals schwer und das Sterben leicht war















































































Alexander Dubcek (*27.11.1921+7.11.1992) Leitfigur des "Prager Frühlings" mit Vaclav Havel (*1936+2011) Präsident der CSSR 1989-1992 - Präsident der Tschechischen Republik 1993-2003 - auf einer Podiumsdiskussion im Jahre 1968


--------------------------------------------------------------------------------------
Panzer der Warschauer Pakt-Staaten zerschlugen 1968 den Prager Frühling. - Doch die Forderung nach Menschenrechten ist nicht tot zu kriegen. In der CSSR unterschrieben über 600 Bürger die Freiheitsdeklaration "Charta '77". Das Regime weiß nur eine Antwort: Verhaftung, Dauerverhöre, Studien- und Berufsverbote. In Polen geht die Polizei immer brutaler gegen Abweichler und Bürgerrechtler vor. Arbeiter wurden gefoltert, Studenten fanden auf mysteriöse Weise den Tod. In Rumänien sind die Behörden dem Beispiel der Sowjetunion gefolgt. Regimekritiker werden in vier psychiatrischen Kliniken eingeliefert.

---------------
stern-Buch, Hamburg
"Die Würde des Menschen"
21. Oktober 1977
von Reimar Oltmanns
----------------

Sie profitieren davon, dass es die Sowjetunion gibt und deren Vasallenstaat DDR. Wer an Jugoslawien oder Rumänien, an die Tschechoslowakei oder Polen die gleichen Maßstäbe legt wie an die DDR oder die Sowjetunion, wird die Zustände in diesen kommunistischen Randstaaten vergleichsweise erträglich finden. Und sie profitieren noch von einem anderen Bonus: Das "blockfreie" Jugoslawien, das 1948 mit Moskau brach und im letzten Jahrzehnt zum Traumziel von Millionen bundesdeutscher Touristen wurde, hat es verstanden, sich nach außen den Anstrich westlicher Lebensart zu geben. Rumäniens Staatspräsident Nicolae Ceausescu (1967-1989 - *1918+1989) täuscht über seine innenpolitische Unterdrückung mit Gesten außenpolitischer Elastizität hinweg, etwa indem er 1968 den Einmarsch der Sowjetunion in die CSSR verurteilte.

ERINNERUNG AN PRAGER FRÜHLING
Die Erinnerung an den Prager Frühling wiederum, das Wissen um die Existenz vieler prominenter, wenn auch entmachteter tschechoslowakischer Reformkommunisten trübt vielerorts den Blick für die heute herrschenden Missstände in der CSSR. Polen schließlich, dessen Unbotmäßigkeit gegenüber Russland geschichts-notorisch ist, entzog sich einer klaren Beurteilung seiner innenpolitischen Repression durch eine Wechselbad-Politik - auf die brutale Unterdrückung der Arbeitsunruhen in Radom, Plock und Ursus im Sommer 1976 folgte die stillschweigende Entlassung fast aller zum Teil zu langjährigen Haftstrafen verurteilten Demonstranten.

ROTE RELATIVITÄTS-THEORIE

Der Grad der Unterdrückung in diesen Randstaaten ist verschieden. Milovan Djilas (*1911+1995), nach dem Krieg als Vizepräsident in Jugoslawien engster Mitarbeiter von Marschall Josip Broz Tito (*1892+1980), inzwischen als Jugoslawiens bedeutender Oppositioneller, aus der Partei ausgestoßen und selbst für neun Jahre wegen seiner politischen Überzeugung eingekerkert, urteilt: "In Jugoslawien ist es schlechter als in Polen, es ist besser als in der Tschechoslowakei. Und noch ist es besser als in der Sowjetunion - aber nicht viel besser."- Rote Relativitäts-Theorie.

TITOS GEFANGENE
Milovan Djilas beziffert die Zahlen der in jugoslawischen Gefängnissen eingesperrten politischen Häftlingen mit "rund 600". Die Zahl ist umstritten. Belgrad selbst hat offiziell 500 politische Häftlinge zugegeben. Die Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international schätzt, dass 1000 bis 1500 politische Gefangene inhaftiert seien. Zwei jugoslawische Intellektuelle, die selbst einsaßen, Mirko Vidovic (*1940) und Bruno Busic (*1939+1978) - beide sind Kroaten - wissen von sogar 3000 politischen Gefangenen.

Die Frage ist wohl, wen man alles unter der Rubrik "politischer Gefangene" einordnet, ob dazu auch all jene zu kurzfristigen Haftstrafen Verurteilten gehören, denen "Verbreitung von beunruhigenden und unwahren Informationen" oder "Beleidigung von staatlichen Institutionen" zur Last gelegt wird. Und insbesondere; ob dazu im Viel-Völkerstaat Jugoslawien (1918/1929-2003/2006) auch jene zählen, deren Opposition gegen Tito nicht ideologischen Motiven entspringt, sondern nationalistische Wurzeln hat. Die Grenzen sind da fließend. Zudem sind viele politische Urteile als Kriminalurteile kaschiert.

TRENNLINIE: SPRACHE, RELIGION
Nach wie vor sieht Belgrad die Trennlinien der einzelnen Bundesstaaten, Sprachen und Religionen als die möglichen Bruchstellen, wenn es einmal die Denkmalsfigur des jetzt 85jährigen Josip Broz Tito nicht mehr gibt. Das gegenwärtige Jugoslawien umfasst die einstigen Untertanen der Habsburger Doppelmonarchie, Slowenen und Kroaten, die von Österreichern seit dem russisch-türkischen Krieg 1877/78 besetzt gehaltenen Gebiete Bosnien und Herzegowina, das einstige Königreich Serbien, Montenegro und schließlich das stets umkämpfte Mazedonien. Insbesondere Kroaten und Serben - die einen katholisch, die anderen Anhänger der orthodoxen Ostkirche - haben sich gegenseitig das Leben schwer - und das Sterben leicht gemacht. Die selbstbewussten Kroaten, die sich für Österreich-Ungarn über Jahrhunderte als Soldaten auf allen Schlachtfeldern Europas schlugen und in ihrem Selbstverständnis so etwas wie ein Vorposten des Abendlandes waren, konnten es 1918, beim Zerfall der Donau-Monarchie und der Gründung Jugoslawiens nicht verwinden im neuen Staat den groß-serbischen Zentralisten in Belgrad, die bis ins 19. Jahrhundert Untertanen des osmanischen Reiches waren, das Regieren überlassen zu müssen. Und sie lehnten sich dagegen auf.

TERROR-AKTE, MORDANSCHLÄGE
Die noch heute wegen verschiedener Terrorakte, Mordanschläge oder Flugzeugentführungen berühmt-berüchtigte kroatische Ustascha-Bewegung (1929-1945), eine extrem nationalistische, faschistische Verschwörer-Organisation, entstand schon zehn Jahre nach der Staatsgründung. Sie wurde 1929 ins Leben gerufen. - Ein Jahr vorher war der Begründer der gemäßigten "Kroatischen Bauernpartei" Stjepan Radic (*1871+1928) im Belgrader Parlament von einem montegrinischen Abgeordneten mit der Pistole erschossen worden.

STUNDE DER RACHE
Die Stunde der Rache kam für die Ustascha 1941, als Hitler und Mussolini Jugoslawien besetzten und die Macht in Kroatien dieser Terror-Organisation übertrugen. Die mit den Nazis verbündeten Ustascha verübten an den Serben ein bestialisches Massaker.

Als 1945 mit dem Sieg von Titos Partisanen ein neues, kommunistisches Jugoslawien entstand, ging das Schlachten und Foltern weiter. Diesmal waren die Kroaten die Opfer. Die Engländer lieferten den jugoslawischen Kommunisten rund 300.000 Kroaten aus - Soldaten und Zivilisten, die sich ihnen ergeben hatten. 200.000 von ihnen wurden ermordet. So war der Zweite Weltkrieg in Kroatien zugleich ein Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Ustascha, zwischen serbischen und kroatischen Nationalisten. Wobei der Kommunistenführer Tito selbst gebürtiger Kroate ist.

"ZAGREBER FRÜHLING"
Mit der Parole "Brüderlichkeit und Einheit" versuchte Marschall Tito nach 1945 einen Neubeginn im föderalistisch gegliederten Jugoslawien. Das ging bis Mitte der sechziger Jahre gut. Als dann in Jugoslawien ein Liberalisierungsprozess auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet einsetzte - so wurde der verhasste Geheimdienstchef Aleksandar Rankovic (*1909+1983) entlassen, der selbst Tito abhören liess - tauchten die alten Konflikte in neuem Gewand auf. Die kroatische KP-Führung in Zagreb forderte größere regionale Rechte und klagte den Belgrader Zentralismus an. In den Jahren 1970 und 1971 erreichten Versuche, sich von Belgrad zu lösen, ihren Höhepunkt. Kroatische Studenten forderten eine eigene kroatische Armee, eine eigene kroatische Vertretung in den Vereinten Nationen. Der "Zagreber Frühling" war jedoch rasch zu Ende. Tito setzte kurzerhand die Zagreber KP-Führung wegen "kroatischen Nationalismus" ab. Ihre exponierten Anhänger wanderten in Haftanstalten. Sie machen noch heute eine Vielzahl der politischen Gefangenen in Jugoslawien aus.

STAATSFEINDE
Zu jenen "Unruhestiftern" gesellen sich tatsächliche oder auch vermeintliche Staatsfeinde: pro-sowjetische Untergrundkämpfer und Alt-Stalinisten (die so genannten "Konformisten"), albanische Separatisten, Utascha-Terroristen, Priester, Professoren, unbequeme Literaten und schließlich der prominenteste jugoslawische politische Internierte, Mihajlo Mihajlov ( *1934+2010), Professor an der Philosophischen Fakultät in Zadar. Mihajlov gilt als ein unbestechlicher Analytiker, als Einzelgänger und Unbeugsamer zugleich. Dieser Schriftsteller, ein Jugoslawe russischer Abstammung, ist weitgehend ein Opfer des komplizierten russisch-jugoslawischen Verhältnisses geworden. Er sitzt über Jahre in dem von der Sowjetunion abgefallenen Jugoslawien im Zuchthaus, weil er in der ausländischen Presse Kritik an der inneren Verfassung - ausgerechnet der Sowjetunion übte.

GEHEIMPOLIZEI UdBa
Es gehört zu den jugoslawischen Besonderheiten, dass der Rechtsweg gegen politisch motiviertes Unrecht nicht immer aussichtslos ist, ungeachtet jener Maßregel, die Marschall Tito am 24. Dezember 1971 erliess: "Die Richter dürfen sich nicht wie der Blinde an seinem Stock an die Gesetze halten, sondern sie müssen das Problem auch politisch sehen." Dieser jugoslawischen Eigenart ist zu verdanken, dass in den Akten des Kreisgerichts von Zagreb festgehalten ist, wie die Geheimpolizei UdBa mit ihren Opfern umspringt. Der Jurist Vice Vukojvic (*1936) , 39 Jahre alt, schon als Schüler wegen "kroatischen Nationalismus" ausgeschlossen, als Student wegen Teilnahme an Demonstrationen verhaftet, reichte 1967 eine Klageschrift "Gegen die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawiens - Sozialistische Republik Kroatien" ein. Darin forderte er einen Schadenersatz von 67.000 neuen Dinar wegen Misshandlungen durch jugoslawische Geheimpolizisten. Seine einzelnen Behauptungen, mit deren er die Klage begründete, wurden in der Beweisaufnahme bestätigt. Vukojevic gewann den Prozess (als das Urteil 1972 gefällt wurde, saß er allerdings schon wieder im Gefängnis, diesmal - nach der Zerschlagung des "Kroatischen Frühlings" - wegen "feindlicher Propaganda").
VERHAFTET - GEKIDNAPPT

In seiner Klageschrift schildert Vukojevic zunächst seine Festnahme: Wie er auf dem Heimweg einer Kinoveranstaltung von drei Männern in einen Pkw gezerrt wurde; wie man ihn auf den Boden des Wagens warf und mit einer Decke zudeckte; wie auf seinen Protest gegen diese Verhaftung ihm offen geantwortet wurde, er sei nicht verhaftet, sondern "gekidnappt" worden. Später, in einem Gefängnis, sei er gefesselt und geschlagen worden, weil er seinen Peinigern nicht das gewünschte Geständnis über seine Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation liefern konnte. Dann, einige Tage später, kam es zur nächsten Stufe der Behandlung: "Mir wurden die Arme am Rücken gefesselt und ich wurde an der Decke aufgehängt. Ich hing so mehrere Stunden lang, während man mich mit einem nassen Handtuch würgte, am ganzen Körper schlug, an meinen Haaren zerrte."

Diese Art Behandlung wurde an mehreren Tagen fortgeführt. Mit gefühllosen Armen und eiternden Wunden an den Handgelenken, hervorgerufen durch die Fesseln, blieb Vukojevic schließlich am Boden liegen. Er formulierte später in seiner Klageschrift: "Meine Peiniger wiederholten damals, dass sie mich 'legalisieren' würden, falls ich ein Protokoll mit einem Geständnis unterschriebe. Wenn nicht, sollte ich liquidiert werden." Legalisiert werden bedeutete, in der Sprache der Geheimdienstler, dass ihr Opfer dann gesetzlich verhaftet und in eine geordnete Untersuchungshaft kommen würde. Für Vukojevic war es erst nach 30 Tagen soweit. Zeit-Brüche, Umbrüche alter, überlebter Gesellschafts-Ordnungen: Im Jahre 1999 avancierte Vice Vukojevic zum Richter des kroatischen Verfassungsgerichts.

ALBTRAUM: RUMÄNIEN
Die Aussagen des Juristen Vukojevic sind kein Einzelfall. Gleichwohl ist in Jugoslawien vor seinem Zerfall (2003/2006) die Folter nicht wie in vielen anderen Ländern ein systematisch angewandtes Mittel zur physischen oder psychischen Vernichtung politischer Gegner. In einem Report über die Situation in dem Tito-Staat kam der amerikanische Senat zu dem Schluss: "Es gibt dennoch Berichte, dass politische Häftlinge von der Polizei geschlagen werden. Insbesondere wird in dieser Senats-Expertise moniert, dass die jugoslawische Regierung bei politischen Prozessen auf die Rechtssprechung Einfluss nimmt.

Nicht immer müssen volle Gefängnisse der Maßstab für den Grad der Unterdrückung sein. Im Rumänien des siebziger Jahrzehnts im vergangenen Jahrhundert gabt es, so schätzten es westliche Diplomaten in Bukarest, höchstens rund 500 politische Gefangene. Als der amerikanische Senat gleichzeitig mit seinem Bericht über Jugoslawien auch an den Zuständen in Rumänien Kritik übte, erliess der rumänische Staatsrat eine Amnestie. Viele inhaftierte Politische bekamen ihre Freiheit zurück, unter ihnen der rumänische Schriftsteller Paul Goma (*1935), der führende Kopf einer rumänischen Bürgerrechts-Bewegung. Öffentlich hatte er die Bukarester Behörden beschuldigt, Oppositionelle nach dem Beispiel der Sowjetunion in psychiatrische Kliniken zu sperren. Paul Goma sagte, im Land gäbe es vier derartige Hospitäler, darunter in der Hauptstadt die Krankenhäuser Balancea und Coula. Um die Glaubwürdigkeit seiner Angaben zu unterstreichen, nannte Goma mehrere Namen von Oppositionellen, die als "Patienten" in diesen psychiatrischen Kliniken festgehalten würden.

"KÖNIGSPALAST": CEAUSESCU
Ehe Goma dann selber interniert wurde, hatte er noch in einem offenen Brief an den rumänischen Staatspräsidenten Nicolae Ceausescu (1967-1989 - *1918+1989) geschrieben, Rumanien respektiere weder die eigene Verfassung, noch die durch internationale Abkommen eingegangenen Verpflichtungen über die Gewährung der grundlegenden Menschenrechte. Wörtlich hieß es in dem an Cheausescu - als Adresse war "Königspalast" angegeben: "In diesem Land gibt es nur zwei Menschen, die die Geheimpolizei nicht fürchten: Sie und ich."

Noch schärfer wurde Goma in einem Brief an den tschechoslowakischen Schriftsteller Pavel Kohout (*1928), einem der markanten Wortführer des Prager Frühlings, der im Jahre 1979 ausgebügert wurde und seit 1980 österreichischer Staatsbürger ist. Goma erklärte sich beizeiten solidarisch mit den Unterzeichnern der Prager Menschenrechts-Deklaration Charta 77. In diesem Brief schrieb Goma, in Rumänien gäbe es "20 Millionen politische Gefangene in Zivil", er sprach von der "rumänischen Besetzung Rumänien" und schloss seine Soldaritätsadresse: "Wir leben alle unter dem gleichen Druck. Der gleiche Verlust der elementaren Rechte, die gleiche Missachtung des Menschen, die gleichen Lügen. Überall Armut, wirtschaftliches Chaos, Demagogie, Unsicherheit, Terror."

MINDERHEIT: BANATER SCHWABEN
Zu denen, die am meisten unter den von Goma geschilderten Zustände zu leiden haben, zählt die 400.000 Personen umfassende deutsche Minderheit. Die Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen, die aus dem Gebiet zwischen Mosel, Maas und Niederrhein stammen und vor rund 800 Jahren das Land urbar gemacht und besiedelt haben, wollen in immer größerer Zahl dem innenpolitischen Repressionsklima den Rücken kehren. Erst recht, seit die Integrationspolitik der rumänischen Kommunistischen Partei bewusst eine Rumänisierung der "mitwohnenden" Deutschen und damit eine schleichende Demontage deutscher Einrichtungen in Rumänien betrieb, nehmen die Anträge auf Ausreise allmählich das Format einer Massenauswanderung an. 50.000 Deutschstämmige haben das Land bereits seit der kommunistischen Machtübernahme 1948 verlassen. Jetzt hat Ceausescu die Genehmigung zur Auswanderung zurückgeschraubt. Erhielten 1974 noch 8.400 Rumänen-Deutsche die Erlaubnis zum Umzug in die Bundesrepublik, so waren es 1975 nur noch 5.000, 1976 nur noch 3.500. "Conducator" (Führer) Ceaucescu begründete das lapidar: "In einem Jahr fliesst im Fluss weniger Wasser, im anderen Jahr wieder etwas mehr."

VERLUST DES ABREITSPLATZES
Mit der Drohung des Verlustes des Arbeitsplatzes werden die auswanderungswilligen Rumänien-Deutschen eingeschüchtert. So verloren Ende 1976 zum Beispiel mehr als 150 Lehrer und Lehrerinnen deutschsprachiger Schulen ihre Stellung, als sie einen Antrag auf Ausreise gestellt hatten. Die rumänischen Behörden begründeten die Entlassung damit, die Pädagogen hätten sich mit diesem Ausreiseantrag ideologisch für die Erziehung der Jugend diskreditiert.

Derartige Repressalien gehören auch zum Repertoire der kommunistischen Machthaber in der Tschechoslowakei. Oppositionelle werden mit Berufsverbot belegt, ihre Kinder werden daran gehindert, Gymnasien oder Hochschulen zu besuchen. Das war so nach der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968, als das von den Sowjets eingesetzte Husak-Regime die Kommunistische Partei von den Reform-Kommunisten "säuberte". (Gustav Husak [*1913+1991] war von 1975 bis 1998 Staatspräsident der Tschechoslowakei). Derlei Einschüchterungen griffen gleichsam 1977, als die Unterzeichner der Menschenrechts-"Charta 77" von den Prager Machthabern wegen "volksfeindlicher Handlungen" verfolgt wurden. Eine Zahl verdeutlicht das Ausmass dieser Drangsalierung. Das Mitglied im Präsidium der Kommunistischen Partei der CSSR, Vasil Bilak (*1917), gab in einem Interview bekannt, dass bei der Parteieinigung nach 1968 insgesamt 165.00o Männer und Frauen von ihrem Arbeitsplatz entfernt wurden.

WISSENSCHAFTLER ALS HILFSARBEITER
Einst weltbekannte Politiker oder international renommierte Wissenschaftler mussten als Hilfsarbeiter ihren Unterhalt verdienen oder sie fanden überhaupt keine Beschäftigung. Der ehemalige Parteichef Alexander Dubcek (*1921+1992) ist heute Gärtner in Bratislava. Der Historiker Dr. Jan Tesar fand noch nicht einmal eine Beschäftigung als Nachtwächter. Der bekannte Philosoph Mila Machovec, früher Ordinarius an der Karls-Universität zu Prag, brachte sich mit Nachhilfestunden und Orgelspiel in einer evangelischen Gemeinde durch. Und nur ein Beispiel zur Sippenhaft, das stellvertretend für Hunderte steht: Der Historiker und ehemalige Rektor der Parteihochschule in Prag, Dr. Milan Hübl (*1927+1989) , er wurde zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteit, beklagte in einem Brief an österreichische Freunde, dass seine Kinder weder das Gymnasium noch die Hochschule besuchen dürfen. (Inzwischen ist Hübl nach Österreich emigriert.) Gerade diese Methoden waren es auch, die in der Charta 77 angeprangert wurden. Darin hieß es:

o "Zehntausende von Bürgern werde es "nur deshalb unmöglich gemacht in ihrem Fach zu arbeiten, weil sie Ansichten vertreten, die sich von den offiziellen Ansichten unterscheiden";

o das "Recht", Informationen und Gedanken aller Art ohne Rücksicht auf Grenzen zu ermitteln, anzunehmen und zu verbreiten", werde nicht nur außergerichtlich, sondern auch gerichtlich verfolgt, häufig unter dem Deckmantel krimineller Beschuldigungen;

0 das Innenministerium kontrolliere die Bürger "durch Abhören von Telefonen und Wohnunge, durch Kontrolle der Post, durch persönliche Überwachung, durch Hausdurchsuchung, durch Aufbau eines Netzes von Informanten aus den Reihen der Bevölkerung";

0 zahllose junge Menschen würden "nur wegen ihrer Ansichten oder sogar wegen der Ansichten ihrer Eltern nicht zum Studium zugelassen".

POLIZEI-SOZIALISMUS

Über 600 Bürger der CSSR haben inzwischen dieses Dokument unterzeichnet. Die Berechtigung dieser Anklagen sollten sie daraufhin am eigenen Leibe erfahren. Schon als einige prominente Tschechen am 6. Januar die Charta 77 als Petition der Prager Nationalversammlung überreichen wollten, wurden sie auf dem Weg dorthin festgenommen, ihr Manuskript konfisziert. Inzwischen füllen sich bereits wieder die Gefängnisse der CSSR mit "Abweichlern", gerade nachdem im Dezember 1976 die letzten promininenten Reformkommunisten der Dubcek-Ära aus der Haft entlassen worden waren.

Der neue Prager Polizei-Sozialismus hat inzwischen auch sein erstes Todesopfer gefunden. Zu den verhafteten Bürgerrechtlern gehörte neben dem Dichter Vaclàv Havel (*1936 - 1993-2003 Präsident der Tschechischen Republik) und dem Journalisten Jéri Lederer (*1922+1983) auch der 69jährige Universitätsprofessor Jan Patocka (*1907+1977). Unmittelbar vor seiner Festnahme im März 1977 war der bedeutende Philosoph noch vom holländischen Außenminister Max van der Stoel , der sich in Prag aufhielt, empfangen worden. Jan Patocka überlebte die Haft nicht. Nach einem zehnstündigen Dauerverhör musste der 69jährige mit Blaulicht in ein Krankenhaus gefahren werden. Dort starb er an den Folgen einer Gehirnblutung.

ZIELSCHEIBE WELTWEITER PROTESTE
Seither ist Partei- und Staatschef Husak Zielscheibe weltweiter Proteste. Das "Internationale Komitee zur Überstützung der Charta 77, dem auch die deutschen Schriftsteller Heinrich Böll (*1917+1985) und Günter Grass (*1927) angehören, bezeichneten den Tod des 69jährigen Philosphie-Professors als "politischen Mord". Patocka sei während der Haft "ständig von der Polizei gequält worden". Im Chor der Stimmen, die das Prager Regime verurteilten - Willy Brandt (*1913+1992)und Österreichs Bundeskanzler Bruno Kreisky (*1911+1990), der Internationale Gewerkschaftsbund, die Außenminister Englands und Italiens - ist insbesondere die Stimme der französischen KP von Gewicht. In ihrer Zeitung Humanité schrieben die französischen Kommunisten: "Wir können keine Praktiken zulassen, zu denen es gehört, dass jede mit dem Sozialismus nicht im Einklang stehende Stimme zum Schweigen oder zur Unterdrückung verurteilt wird."

TERROR GEGEN ARBEITER-UNRUHEN
Immer brutaler und nachhaltiger wird der Polizeiterror gegen Abweichler wie Bürgerrechtler auch in Polen, jenem Land im sozialistischen Lager, das lange Jahre stolz darauf war, innenpolitische Kritiker nicht hinter Gittern mundtot zu machen. Ausgangspunkt der jene Unterdrückungswelle waren die Arbeiterunruhen im Sommer 1976 in Radom, Plock und Ursus. Zunächst nur ein lokal begrenzter Protest gegen neue, vom Parteichef Edward Gierek (*1913+2001) verkündete Preiserhöhungen, bekam der Konflikt bald eine politische Stossrichtung. Aus der Unzufriedenheit über ökonomische Missstände wurde ein Kampf um größere Freiheitsräume des Individuums, bei dem sich erstmals in Polen Arbeiter mit Studenten und Intellektuellen verbündeten. Allesamt trachteten beherzt danach, diese Art von polnischer "Diktatur des Proletariats" abzuschaffen. - Und um so härter schlug das kommunistische Regime zurück.

FOLTER-METHODEN DER MILIZ
Zahlreiche Zeugenaussagen und Dokumente belegen die Brutalität samt subtiler Foltermethoden der Miliz. In einem Brief an den Innenausschuss des Sejm, des Warschauer Parlaments, schrieb der Arbeiter Ireneusz Majewski aus Ursus, wie er und sein Bruder Marek eine Woche nach der Demonstration von Polizisten plötzlich aus ihrer Wohnung abgeholt wurden: "Wir wurden gefesselt und in Automobile verfrachtet. Als wir in dem Hof des Polizeikommandos in Ursus angelangt waren und das Auto verliessen, wurden uns die Fesseln gelöst. Dann befahl man uns, wir sollten uns in die Hofmitte begeben. Dort war ein Polizeispalier aufgestellt. Jeder Beamte trug einen Knüppel in der Hand. Ich sollte als erster losgehen. Mir war klar, was weiter geschehen würde. Ich wurde von unzähligen Knüppelschlägen getroffen und stolperte halb ohnmächtig in das Innere des Reviers. Meinem Bruder Marek widerfuhr dasselbe." Marek konnte nicht einmal um Gnade bitten. Ihm hatten während der Demonstrationen vor acht Tagen mit Gummiknüppeln bewaffnete "Zivilisten" den Kiefer zerschlagen, der nun in Halterungsschienen ruhte. Ireneusz, der durch die Schläge einen Herzinfarkt erlitt und ins Krankenhaus transportiert werden musste, forderte in seinem Brief an den Sejm - dem polnischen Parlament - die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission. Fehlanzeige.

SPIESSRUTENLAUFEN

Überdies - Menschenrechtsverletzungen hatten in Polen längst System. So schrieb der Arbeiter Stanislaw Adamski an den Generalprokurator der Volksrepublik Polen, dass er von Polizisten mit einem Taschenmesser kahl geschoren worden sei und dann ebenfalls über zwei Stunden auf der Treppe des Polizeigefängnisses von Radom Spießrutenlaufen musste: "Man sagte mir, das sei die 'Gesundheitsstraße', und dass sie mir 'helfen' wollten. Nach zwei Stunden haben sie mich bewusstlos in die Zelle geworfen."

ZU TODE GEPRÜGELT

Eines der erschütterndsten Dokumente dieser Ära ist der Beschwerdebrief, den die Witwe Janina Brozyna aus Radom an den Parlamentspräsidenten in Warschau richtete. Sie schreibt darin, wie ihr Mann, der 28jährige Arbeiter Jan Prozyn bei einer Racheaktion der Polizei zu Tode geprügelt wurde. Jan Prozyn war während der Unruhen nicht einmal in der Stadt gewesen, sondern hatte auswärts einen Urlaub verbracht. Als er von der Miliz abgeholt wurde und nicht mehr zurückkam, machte sich seine Frau auf die Suche. Niemand sagte ihr, was mit ihm geschehen war. Sie fand schließlich in einer Klinik von Radom seine Leiche, mit eingeschlagenem Schädel. Der Leichnam wurde dann in dem Dorf Jedlinsk in der Nähe von Radom begraben. Während der Beisetzung kontrollierte die Polizei von einem Hubschrauber aus die denkwürdige Beerdigungs-Zeremonie. Dann als der Sarg ins Grab gesenkt wurde, landete der Hubschrauber auf dem Friedhof, mehrere Zivilisten sprangen aus der Maschine und fotografierten die Trauergemeinde. Seitdem ist für Ortsfremde der Besuch des Friedhofs von Jedlinsk verboten.

Ihren Beschwerdebrief schliesst Janina Prozyn mit den Sätzen; "Man hat mich mit zwei kleinen Kinder von eineinhalb und fünf Jahren allein gelassen. Man hat meinen Mann auf grausame Weise umgebracht. Das war das Werk der Leute, die verpflichtet wären, sich um die Gerechtigkeit in der Volksrepublik zu kümmern."

KARDINAL WYSZYNSKI KLAGTE AN

Die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss wurde auch in einem Appell aufgegriffen, den 175 Intellektuelle im Januar 1977 an die Warschauer Parlaments-Abgeordneten schickten. In dem Schreiben hieß es, Arbeiter von Radom und Ursus hätten erschreckende Klagen über Schläge und Folterungen durch die Polizei geführt. "Es ist die bürgerliche und moralische Pflicht eines jeden ehrlichen Menschen, diese abscheulichen Praktiken zu brandmarken und ihnen mit allen möglichen Mitteln entgegenzuwirken. Folterung von Verhafteten darf nicht toleriert werden. In der Überzeugung, dass Ihr Handlungsspielraum, der sich aus Ihrer Kompetenz als Abgeordneter ergibt, wesentlich breiter ist, wenden wir uns an Sie mit dem Appell, sich im Sjem der Sache der geschlagenen und gefolterten Arbeiter anzunehmen."

Auch der Primas von Polen, Stefan Kardinal Wyszynski (*1901+1981) beschuldigte in einer Predigt in der Warschauer Kathedrale die Polizei der Brutaltät. Der Altkommunist und ehemalige Erziehungsminister Wladyslaw Bienkowski (+1906+1991) klagte in einem offenen Brief, dass Brutalitäten und Folter der Polizei die öffentliche Ordnung Polens bedroht.

GIEREK-REGIME

Indes: von den etwa 2500 in Radom und Ursus verhafteten Arbeitern sind inzwischen nur noch eine knappe Handvoll im Gefängnis. Parteichef Edward Gierek (1970-1980) hatte durch eine Amnestie die Freilassung der meisten Inhaftierten erwirkt. Nur diese Art von Amnestie war kein Signal eines ersehnten Kurswechsels, sondern lediglich eine kalkulierte Entlastungsaktion des bedrängten Gierek-Regimes. Das zeigt sich bald in neuen Schlägen gegen Oppositionelle. Eine neue Dimension der Gewalt. Nach dem Bekanntwerden der Lynchjustiz in Radom und Ursus hatten prominente Schauspieler, Schriftsteller, Grafiker und Priester ein "Komitee zur Verteidigung der Arbeiter" gegründet, das zunächst nur Geld für die mittellos lebenden Familien der damals inhaftierten Demonstranten organisierte (der im Kampf für Menschenrechte unermüdliche Literaturpreisträger Heinrich Böll spendete einen großen Teil seiner in Polen angelaufenen Tantiemen). Inzwischen ist das Komitee der Kristallisationspunkt einer polnischen Bürgerrechtsbewegung geworden. Mitte Mai 1977 wurden vier Mitglieder dieses Komitees festgenommen und unter Anklage gestellt. Sie wurden beschuldigt, Studenten aufzuwiegeln und "Verbindungen mit einer ausländischen Organisation zu haben, deren Ziel die Verletzung der politischen Interessen der Volksrepublik Polen ist".
VERHAFTUNG VOR DER BEERDIGUNG

Die Angeklagten - sie müssen mit Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren rechnen , wurden festgenommen, als sie gerade von Warschau aus nach Krakau zu einer Beerdigung fahren wollten. In Krakau wurde nämlich der 23jährige Philosophie-Student Stanislaw Pyjas (*1953+1977) zu Grabe getragen. Er hatte an der Krakauer Universität Unterschriften gesammelt, mit der Forderung des "Komitees zur Verteidigung der Arbeiter" nach einer parlamentarischen Untersuchung der Vorgänge von Radom und Ursus. Mitte April 1977 teilte Stanislaw Pyjas dem Krakauer Staatsanwalt mit, er sei in anonymen Briefen mit dem Tod bedroht worden. In einem der Briefe hätte es geheißen: "Die Vertilgung solcher Leute auf jede mögliche Art ist zur Zeit die wichtigste Aufgabe." Achselzucken der Strafverfolger.

Zwei Wochen später war Stanislaw Pyjas tot. In einem Treppenhaus in der Krakauer Altstadt wurde er mit schweren Kopfverletzungen gefunden. Die Parteipresse stellte den plötzlichen Tod des Studenten als Unfall eines Betrunkenen dar: "Der junge Mann hatte 2,6 Promille Alkohol im Blut." Der amtliche Obduktionsbericht wurde zur Geheimsache erklärt. Es gibt Augenzeugen, die den Toten gesehen haben. Er hatte Verletzungen unter den Augen und einen zertrümmerten Kiefer - nach Ansicht von Ärzten typische Merkmale von schwersten Schlägen.







Donnerstag, 22. September 1977

Terrorismus - zerrissene Gestalten oder bleierne Zeiten im Herbst



























Der Mord an dem deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer im Oktober 1977 in der Nähe vom französischen Mulhouse durch die Terror-organisation RAF war der Höhepunkt der wohl schwerwiegendste Krise in der Nachkriegsgeschichte. Bedrückenden Ereignisse jener als "Deutscher Herbst" bezeichneten Monate, rückten zweifelhafte Rechtsanwälte in den Mittelpunkt. Rechtsvertreter, die daran erkennbar zerbrochen sind; zerrissene Gestalten. Der umstrittene RAF-Schleyer-Vermittler Advokat Denis Payot aus Genf verlor wegen zu hoher Honorar-forderungen an die Bonner Regierung sein Amt als Präsident der Schweizerischen Liga für Menschen-rechte; weitgehend seine Reputation. Sein deutscher Kollege Claus Croissant blieb nicht nur RAF-Sympathisant und RAF-Unterstützer, sondern war zudem Jahre später auch noch Agent des Ministeriums für Staatssicherheit (IM Thaler) tätig. In Frankreich, wo Croissant "politisches Asyl als Verfolgter" beantragt hatte, wurde er im November 1977 in deutsche Haft-anstalten abgeschoben. Es begannen Croissant-Jahre mit Gefängnissen, Geldstrafen, Berufsverbot. Den Kontakt zu seinen einstigen Freunden hatte er längst verloren. Er starb im 2002 in Berlin. - Momente aus dem Deutschen Herbst mit seinen Neben-Schauplätzen in Genf und Paris. - Wirre Zeiten in einer vom Terror entgeisterten Angst-Epoche.



stern, Hamburg
22. September 1977 / 02. Oktober 1977
von Reimar Oltmanns
und Michael Seufert

Als Klaus Croissant die Geschichte vom "verlorenen Sohn" erzählte, wusste er noch nicht, dass es vorerst sein letzter Auftritt war. Verfolgt von der bundes-deutschen "Barbaren-Polizei" , so tönte der Anwalt, sei er heimgekehrt nach Frankreich, in das Land seiner Väter. So wie die Burgunder und Hugenotten vor den Greifern des Sonnenkönigs Ludwig XIV. (1638-1717) hätten flüchten müssen, ergehe es nun ihm im 20. Jahrhundert. Nur: Der Unterdrücker sei heute nicht mehr der König, sondern der Kanzler am Rhein. Und die Gehilfen des Helmut Schmidt (1974-1982) seien die alten NS-Blockwarte, die schon "fünf Jahre nach dem Krieg die Köpfe erhoben und ihre Plätze wieder einnahmen". Das Deutschland der "Nazi-Väter", so Croissant, habe ihm keine "Freiheits-Garantien" mehr geben können. Deshalb könne er nur von Frankreich aus der Bonner Regierung den Kampf ansagen und den Verfolgten zur Seite stehen.

Croissants Gesprächspartner, der Pariser Journalist Charles Blanchard von der sozialistischen Tages-zeitung "Le Matin", war "tief beeindruckt", als er das Versteck des flüchtigen Anwalts in der Avenue Général Leclerc verließ. Blanchard konzedierte: "Er war mir sehr sympathisch. Wir hatten ein warmherziges Gespräch." Das war am vergangenen Freitag 16. September 1977 um 14 Uhr.

FESTNAHME IN PARIS

Bereits um 15.28 Uhr riegelten 80 Polizisten der 6. Territorial-Brigade den Häuserblock im 14. Pariser Stadtbezirk hermetisch ab. Scharfschützen postierten sich auf Dächern und in Hausfluren. Robert Cotté, seit 22 Jahren Hausmeister des Blocks 110, berichtet: "Ein Stoßtrupp eilte auf den Hinterhof. Einer sagte mir, ich solle schnell im Haus verschwinden, damit mir nichts passiert."

Die Polizisten pirschten sich vor bis an die letzte Tür auf dem Hinterhof. Mit entsicherten Pistolen stießen zwei Beamte dann die Tür auf. Auf dem düsteren Wohnungs-flur kam ihnen Klaus Croissant bereits entgegen. Er trug einen dunkelblauen Rollkragenpullover und eine hellblaue Hose. Mit den Worten "wir haben einen Haftbefehl gegen Sie", legten die Beamten ihm die Handschellen an.

LENIN UND CROISSANT IMSELBEN HAUS

Als Croissant über den Hinterhof abgeführt wurde, sah Hausmeister Cotté seinen Untermieter, den er bislang nur aus der Zeitung kannte, zum ersten Mal. Cotté: "Ich sitze fast den ganzen Tag am Fenster. Doch ich habe dort niemanden kommen oder gehen sehen." Er mag sich damit trösten, dass seine Vorgänger in der Concierge-Loge auch nicht scharfsichtiger waren. Denn kein Geringerer als Wladimir Iljitsch Lenin hatte 1912 hier im selben Haus in der jetzigen Avenue Général Leclerc heimlich und unerkannt seine Pamphlete gedruckt.

Im Santé-Gefängnis, das mit seinen 15 Meter hohen Mauern einer mittelalterlichen Trutzburg ähnelt, verlas Staatsanwalt Moyal dem "heimgekehrten Sohn" den internationalen Haftbefehl und das Auslieferungs-gesuchen der Bundesrepublik. Begründung: Komplizen-schaft mit einer kriminellen Vereinigung. Croissant, obwohl perfekt Französisch sprechend, hüllte sich in Schweigen.

POLITISCHES ASYL

Dafür soll jetzt sein Rechtsanwalt Roland Dumas (späterer Außenminister in den Jahren 1984-1986 und 1988-1993) die französische Linke mobilisieren. Dumas, ein Intimfreund des Sozialistenchef François Mitterrand (1916-1996) und seinerzeit als Justiz-minister einer Volksfront-Regierung im Gespräch, hatte bereits am 11. Juli 1977 erfolglos einen Asyl-Antrag seines Mandanten bei den Pariser Behörden gestellt. Roland Dumas: "Ich finde es völlig unstatthaft, einen ausländischen Rechtsanwalt festzunehmen, der um politisches Asyl in unserem Land gebeten hat."

Doch zu einer großen Polit-Affäre dürfte der Fall Croissant kaum ausreichen. Denn bevor die Linke sich formieren kann, wollen die französischen Behörden den verhafteten Advokaten schon in die Bundesrepublik abgeschoben haben.

EXKLUSIV-STORY IM UNTERGRUND

Dass die Pariser Polizei ihn überhaupt fand, verdankt sie dem Journalisten Charles Blanchard. Er wurde seit längerem beschattet. Als er jetzt die Exklusiv-Story im Untergrund suchte und Croissant die Selbstdarstellung in Sachen "Nazi Deutsch-land", legte Blanchard unfreiwillig die Spur. Hätte Croissant den Rat seines Vor-Vor-Mieters Lenin beherzigt, wäre ihm die Festnahme vielleicht noch für einige Zeit erspart geblieben. Lenin hatte im Exil formuliert: "Ein Revolu-tionär, der sich nicht anpassen kann. ist kein Revolu-tionär, sondern ein Schwätzer."

Aber ein Freund großer Worte war Klaus Croissant schon immer. In zahllosen Agitprop-Aktionen profilierte er sich zu einer Art PR-Manager der "Rote Armee Fraktion" (RAF). Für die Staatsanwaltschaft in Stuttgart gilt er zugleich als der Zuchtmeister aller Banden-mitglieder und Werber für den Terroristen-Nachwuchs. Und als ein Mann, der gefügig folgt, wenn RAF-Chef Andreas Baader (1943-1977) befiehlt.

JUNGGESELLE MIT GUTEN MANIEREN

Dabei begann dieser Dr. Klaus Croissant (1931-2002) seine Karriere genauso bürgerlich wie viele seiner Anarcho-Klienten. Sein nobles Büro im WMF-Haus an der Königstraße im Zentrum der Schwaben-Metropole war beliebter Treffpunkt der Stuttgarter Schickeria und vor allem trennungswilliger Damen. "Er macht so saubere Scheidungen, so ganz ohne schmutzige Wäsche", hieß es lobend. Ein braver Mann also, ein Junggeselle mit guten Manieren und Kunstverstand, ein gerngesehener Partygast und Feinschmecker.

Geboren wurde er am 24. Mai 1931 in der schwäbischen Provinz. Am Fuße der Schwäbischen Alb, in Kirch-heim / Teck bei Esslingen, besaß sein Vater Hermann eine Drogerie. Als der Vater 1954 starb, führte die Mutter das Geschäft weiter. Der brave Sohn Klaus machte 1951 sein Abitur an der "Oberschule für Jungen" in Kirchheim und studierte bis Ende 1955 Jura in Tübingen und Heidelberg.

DUBIOSE LEITFIGUREN

1961 - inzwischen 30 Jahre alt - ließ er sich in Stuttgart als Anwalt nieder; Croissant, der spätere Links-Anwalt", zählte damals noch Industrielle zu seinen Klienten. Er galt als Sympathisant der Freien Demokraten. Und nach dem Schwaben-Motto "Schaffe, schaffe, Häusle baue" kaufte er sich zwei Eigentumswohnungen in Stuttgart.

Zwei Kollegen brachten den eher theoretisierenden und zaudernden Schwaben vom Pfad der bürgerlichen Tugenden ab und auf die Seite jener, die den "revolu-tionären Kampf" auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Das eine große Vorbild war der Berliner Rechtsanwalt Horst Mahler (1970 Gründungsmitglied der RAF, rechtskräftig verurteilter Rechtsextremist und Antisemit) - ein Mann, der als Staranwalt der APO zum Schrecken konservativer Richter wurde. Die zweite Leitfigur war sein Kollege Jörg Lang. Er überzeugte Croissant davon, dass in der Bundesrepublik der "blanke Faschismus" herrsche und der Kampf dagegen jedes Mittel rechtfertige. Später, als Sozius in der Stuttgarter Anwaltskanzlei organisierte Lang bundesweit die "Komitees gegen Folter", ehe er schließlich selbst in den Untergrund ging.

NACHRICHTENZENTRALE FÜR TERRORISTEN

Klaus Croissant hatte inzwischen seine Kanzlei von der Nobeladresse in eine Seitenstraße verlegt. Dieses Büro unterm Dach des Hauses Lange Straße 3 wurde nach Ansicht der Staatsschützer zur Schaltstelle und Nachrichtenzentrale für Terroristen. Von hier aus kurbelte Croissant auf Anweisung von Andreas Baader und Ulrike Meinhof (1934-1976) die Kampagnen gegen die "Isolationsfolter", "Gehirnwäsche" und "Mord an Holger Meins" an. Im April 1974, noch ehe der große BM-Prozess in Stuttgart-Stammheim überhaupt begonnen hatte, wurde Croissant wegen des Verdachts der "Unterstützung einer kriminellen Vereinigung" die Verteidigung für Andreas Baader entzogen.

Der Anwalt nahm daraufhin zwei neue Kollegen in seine Kanzlei auf - Arndt Müller und Armin Newerla. Doch auch sie gerieten schnell ins Visier der Staatsschützer. Newerla wurde im August 1977 verhaftet, Arndt Müller folgte einen Monat später in die Untersuchungshaft. Auch ihnen wirft die Staatsanwaltschaft vor, eine kriminelle Vereinigung unterstützt zu haben.

DER "REISE-ANWALT"

Arndt Müller, 1942 in Leipzig geboren und seit 1975 Sozius von Croissant, gilt bei der Justiz als "Reise-Anwalt". Als ein Mann, der die RAF-Gefangenen nicht anwaltlich berät, sondern ausgestattet mit zahlreichen Untervollmachten die Häftlinge von Hamburg bis Stammheim besucht, mit Informationen versorgt und Befehle übermittelt. Vom Oktober 1975 bis zum Juni 1977 registrierten die Justizbehörden 517 Müller-Besuche bei RAF-Häftlingen. Seinen Rekord stellte er im Januar 1976 auf: 39 Besuche in 31 Tagen.

Argwöhnisch vermerkten die Fahnder vom Bundes-kriminalamt auch, dass Müller von Dezember 1976 bis April 1977 mindestens 15mal lange, unbe-wachte Gespräche in Stuttgart-Stammheim mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe führte. Zur gleichen Zeit besuchte er auch Siegfried Haag und Sabine Schmitz in ihren Gefängniszellen, die - so das BKA - die Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback (1920-1977) und andere Terror-aktionen geplant und vorbereitet haben.

Einer anderen Reise Arndt Müllers maßen die Ermittler erst später Bedeutung bei - einer Fahrt via Saarbrücken nach Frankreich am 10. Januar 1977. Auf dem Bei-fahrersitz registrierten die Bundesgrenzschützer damals die 28jährige Brigitte Mohnhaupt. Inzwischen, nach dem Polizisten-Mord von Utrecht, ist sie die meist-gesuchte Frau in Holland. (1982 verhaftet, wegen neunfachen Mordes zu fünfmal lebenslänglich und 15 Jahren verurteilt. Nach 24 Jahren auf Bewährung im Jahre 2007 vorzeitig aus der Haft entlassen).

Sorgsam notierte des BKA auch die Verbindung steckbrieflich gesuchte Terroristen zur Croissant-Kanzlei. So betätigte sich Willy Peter Stoll, der als Helfer des mutmaßlichen Buback-Attentäters Günter Sonnenberg ( 1978 zu zwei Mal lebens-länglich verurteilt, 1992 vorzeitig auf Bewährung aus der Haft entlassen) auf der Fahndungsliste steht im Februar 1975 als Briefträger für Croissant. In der Haft-anstalt Stammheim lieferte er einen Brief an Andreas Baader ab.

Und auch die vier Frauen, die im Zusammenhang mit der Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto (1923-1977) in Oberursel /Taunus gesucht werden, waren vorher Helfer des Anwalts Croissant. - Angelika Speitel, Silke Maier-Witt, Sigrid Sternebeck und Susanne Albrecht tippten Briefe in der Stuttgarter Kanzlei, schnitten im Düssel-dorfer "Stockholm-Prozess" die Verhandlung auf Tonband mit oder trugen dem Chef im Gericht die Robe nach.

BEKENNER-BRIEF

Als ein weiteres Indiz für die Verstrickungen Croissants mit der Terroristenszene werten die Ermittler die Tat-sache, dass bei einer Durchsuchung der Kanzlei in der Langen Straße 3 im Juli 1977 der Original-Bekenner-brief der Buback-Mörder gefunden worden war.

Wenn Klaus Croissant von Frankreich nach Deutschland abgeschoben wird, erwartet ihn in Stuttgart eine 263 Seiten starke Anklageschrift wegen Unterstützung der RAF. So ganz neu ist diese Akte allerdings nicht. Ein Jahr lang hatte sie auf dem Tisch der 12. Großen Strafkammer des Stuttgarter Land-gerichts geschmort, ohne dass die Hauptverhandlung begann. Erst die spektakuläre Flucht des Angeklagten und die bestürzte Reaktion der Öffentlichkeit trieben die Richter zur Eile an.

ANSPRUCH AUF ACHTUNG

Dass Revolutionäre in Deutschland auf wenig Sympathie stoßen, hatte Croissant schon 1972 in einem Fernsehinterview beklagt: "Ich würde die Entscheidung desjenigen, der völlig mit dieser Gesellschaft gebrochen hat und sich zu einem bewaffneten Kampf entschlossen hat, anerkennen. Ich meine, dass auch derjenige, der sich als Revolutionär versteht, Anspruch auf Achtung hat. Und ich meine, dass es gerade daran in unserem Staat fehlt."

Wenn die Stuttgarter Richter ihm die Achtung versagen, erwartet Croissant eine Strafe bis zu fünf Jahren Haft.

NACHTS, WENN DER ANWALT VERSCHWINDET

Deutschland im Herbst des Jahres 1977.- Szenenwechsel, Ortswechsel, Milieusprünge, vom mondänen Paris ins streng calvinistisch geprägte Genf zum Schweizer Anwalt Denis Payot, dem Mittler zwischen Bonn und den RAF-Entführern des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer (1915-1977).

Mit der Hand streicht sich der 35jährige Denis Payot über die stacheligen Wangen: "Entschuldigen Sie bitte die Barstoppeln", sagt er eitel lächelnd, "aber ich bin sehr lange unterwegs gewesen." Die blonden Stoppeln des Denis Payot sind der sichtbare Nachweis seiner Aktivitäten und seines Einflusses im Entführungsfall Hanns-Martin Schleyer. Und mit dem Stoppeln wächst der Ruhm, den er sichtlich genießt.

SCHLÜSSELWORTE FÜR SCHLÜSSELFIGUREN

Über Nacht wurde der noch recht junge Anwalt, Präsident der Schweizer Liga für Menschenrechte, Sohn eines protestantischen Theologen aus der Genfer Oberschicht, zur Schlüsselfigur zwischen Bonner Krisenstab und den Schleyer-Entführern.

Wenn Payot frühmorgens in seiner geheimnisvollen Mission von irgendwoher - vermutlich Frankreich - nach Genf zurückkehrt, haben seine Mitarbeiter die internationale Presse schon durchforstet. Nach Ländern gegliedert, liegen die Artikel mit seinem Namen auf dem stumpfen Parkettboden: Payot und nochmals Payot. Sein Name ist nicht zu übersehen. Mit grünem Filzstift unterstrichen, hebt er sich bedeutungsvoll vom sonstigen Krisengerangel ab.

EITEL, KOKETT, WELTBERÜHMT

Als sei ihm das Zeitungsgequatsche egal, schlendert der Jungadvokat an der stattlichen Kollektion vorbei und macht vor einem englischen Spiegel halt. Nach dem Motto, "Spieglein, Spieglein an der Wand, was gibt es Neues im Land", riskiert einen Blick auf den übernächtigten jungen Rechtsanwalt, der auf so dramatische Art plötzlich weltberühmt wurde.

LÄCHERLICHKEITEN IM KRISENSTAB

Dabei fühlt sich Denis Payot nicht bloß als einfacher "Kontaktmann zwischen der deutschen Regierung und den Entführern." Ein "Vermittler in eigener Regie und Verantwortung" will er sein. Den Terroristen will er verdeutlicht haben, dass er die "Entführung missbilligt". Was Payot von der Rechtsordnung der Bundesrepublik hält, präzisiert er: "Dort würde ich zum Sympathisanten gezählt und von der Verteidigung der Terroristen ausgeschlossen, obwohl das eine völlig falsche Einstufung wäre." Mit der Bundesrepublik hat er sowieso nicht viel im Sinn: "Da herrscht ein schreckliches Klima", und über den Bonner Krisenstab im Kanzleramt könne er zu gegebener Zeit "einige Lächerlichkeiten publik machen, die die Blamage perfekt machten."

EINEN NAMEN MACHEN

Publizität ist das Schlüsselwort für die Schlüsselfigur Payot. Auch Bonn hat seinen Selbstdarstellungsdrang erkannt. Regierungssprecher Grünewald will ihn noch ein bisschen bei Ruhe halten, "so sehr er auch bestrebt ist, die Aufmerksamkeit auf sich zu richten". Das wird den Bonnern kaum gelingen. Denn Denis Payot - erst seit 18 Monaten Anwalt - will sich jetzt in Sachen Humanität einen internationalen Namen machen. Da nützt es wenig, wenn das Bundeskriminalamt ihn bittet, die Mit-teilungen geheim zu halten. Payot lässt alle Details an Schweizer Redaktionen durch-telefonieren. Ein Schweizer lasse sich nun mal nicht das Maul verbieten.

POSE EINES UNO-DIPLOMATEN

Als er an diesem Nachmittag seine Kanzlei am Boulevard Georges Favon betritt, hängt sich eine Traube von Journalisten an den kraushaarigen Juristen. In der Pose eines UNO-Diplomaten wimmelt er alle Fragen ab. Auf "Monsieur Payot" reagiert er erst gar nicht. Auf "Maître Payot" (Maître ist in französischsprachigen Ländern die respektvolle Anrede für Anwälte) ließ er einen Korrespondenten wissen, er werde um 19 Uhr eine "wichtige Erklärung" abgeben. Die Journalisten rasen zum Presse-zentrum der UNO zurück, telefonieren mit ihren Redaktionen. Denn zur selben Stunde tagt am Rhein der Große Krisenstab und ein neues Ultimatum läuft um 24 Uhr ab. Kurz vor 19 Uhr scharen sich 50 Korrespondenten vorm Fernschreiber. Erwartungsvoll wird die Meldung vom Ticker gerissen. "Maître Payot teilt mit, 'er werde weiter zur Verfügung stehen und dankt den Journalisten für ihre Arbeit' ".

MEISTER PAYOT DRÄNGT'S

Am nächsten Tag drängt es den Meister wiederum, in der Presse zu stehen. Gleich zwei Erklärungen sind geplant. Um 15 Uhr verurteilt er auf einer Pressekonferenz die Folter in Israel. "Maître Payot" habe sich zwar nicht vor Ort informieren können, sei aber von der Richtigkeit der Dokumente überzeugt. Um 17. 15 Uhr teilt er der Öffentlichkeit nichts Neues im Fall Schleyer mit. Die Meldung des nächsten Tages: "Vorwürfe Payots gegen Israel." - Payot bestätigt, Botschaften erhalten zu haben."

EIN LEBEN FÜR DIE ÖFFENTLICHKEIT

Eine Zeitung, die auf seinem Schreibtisch liegt, ist ihm besonders ans Herz gewachsen. Das Schweizer Boulevard-Blatt "Tat" berichtete in großen Lettern: "Schmidt schnauzt Anwalt Payot an." Daneben zwei Fotos, die den Kanzler und den Jungjuristen mit einem Telefonhörer zeigen. Helmut Schmidt schaut ernst drein, Payot lächelt staatsmännisch. Danach gefragt, ob er mit dem Kanzler telefoniert und ob der ihm präzise sein Mandat erklärt habe, will Denis Payot nichts sagen. Sein Schweigen ist verständlich. Sonst könnte gar in der Schweiz der Eindruck entstehen, er sei für den Regierungschef der sozial-liberalen Koalition noch eine Nummer zu klein. So bleibt ihm die Schlagzeile.

FURCHT VOR FALSCHEN EINDRÜCKEN

Vor falschen Eindrücken hat sich der Manager für Menschenrechte schon immer gefürchtet. Vor allem dann, wenn ihm Kontakte zum Terroristenanwalt Klaus Croissant nachgesagt werden. Er kenne ihn persönlich gar nicht, bemerkte Payot lapidar. Dass Payot jedoch im Juli 1976 in Amsterdam eine von Croissant initiierte Erklärung zur "Abschaffung der Folter" in bundesdeutschen Gefängnissen unter-schrieben hat, verschweigt er geflissentlich. Dass Pfarrer Ensslin im April 1977 mit ihm zusammentraf, um die Anerkennung seiner Tochter als politische Gefangene zu erreichen, daran erinnert er sich heute nur noch dunkel. Dass Croissant in diesen Jahr bereits drei Mal bei ihm in Genf gewesen sein soll, ist ihm völlig neu.

Seine Deutschkenntnisse enden beim Begriff "Berufsverbot", den er allersdings so einwandfrei ausspricht, als stehe er wöchentlich vor einem deutschen Verwaltungs-gericht. Ihm, dem Denis Payot, gehe es bei der Schleyer-Entführung nur um den Menschen. "Mein Ziel ist es. das Leben von Hanns-Martin Schleyer unter allen Umständen zu retten. Auch wenn die Bundesrepublik in Bonn hart bleiben sollte."

Uns interessiert nicht, was Bonner Politiker für Staatsräson halten und ob sich in der Bundesrepublik die Krise zuspitzt", sagt Payots engster Berater, der Rechtsanwalt Philippe Preti. "Wenn die Deutschen das Problem mit Gewalt lösen wollen, werden wir wichtig Informationen durchsickern lassen. Die deutschen Behörden wüssten dann nicht mehr, was sie tun sollten."

------------------------------------------

Nachtrag - Sechzehn Tage später - am 18. Oktober 1977 - wurde Hanns-Martin Schleyer durch drei Kopfschüsse ermordet und am darauffolgenden Tag im französischen Mulhouse im Kofferraum eines Audi 100 tot aufgefunden. Die Identität des Mörders wird von den Akteuren der Entführung bis dato unter Verschluss gehalten. Lediglich im "Spiegel" offenbarte Ex-RAF-Mitglied Peter-Jürgen Broock im September 2007, dass Rolf Heißler und Stefan Wisniewski die Täter seien.







































































































































































































































































































































































































































Donnerstag, 25. August 1977


Argentinien: "Detenido - deparecido - verhaftet - verschwunden"












































































stern, Hamburg
25. August 1977
von Peter Koch, Perry Kretz
und Reimar Oltmanns


In den sieben Jahren der argentinischen Militärdiktator von 1976 bis 1983 sind 30.000 Menschen verschwunden, entführt, gefoltert und ermordet worden - darunter 100 Deutsche oder Kinder deutscher Eltern. Während es anderen Regierungen gelang, ihre gefangenen Bürger zu befreien, vermochte es die deutsche Regierung nicht, auch nur ein einziges Leben zu retten. Oberste Priorität hatten für die Regierung Schmidt/Genscher im Jahre 1977 Rüstungsexporte: U-Boot-Verkäufe, Fregatten-Verkäufe, Panzer-Verkäufe, Kanonen-Verkäufe und Automobil-Verkäufe in Militär-Regime. Derlei lukrative Geschäfte sollten nicht durch sozial engagierte und links orientierte Entwicklungshelferinnen wie etwa Elisabeth Käsemann (*1947+1977) gefährdet werden. Sie wurden voreilig, vorschnell und ungeprüft dem Terroristen-Verdacht ausgesetzt - ihrem Schicksal in Folterkammer bis zum grausamen Tod überlassen. "Detenideo - desparecido - verhaftet - verschwunden." Spurensuche.

Die Augen spiegeln Angst und Anklage, Schmerz und Sehnen, Resignation und Revolte. Es sind Emigranten-Augen. José Ramon Morales und seine Frau Graciella Luisa leben erst seit wenigen Wochen in Mexico-City. Freunde hatten sie mit Dokumenten versorgt und von ihrem Heimatland Argentinien über mehrere Grenzen bis nach Mexiko geschleust. Arbeit haben die Morales noch nicht gefunden. Sie leben vom Geld der Freunde, die selbst nicht viel haben. Und sie leben mit ihren Erinnerungen.
Die Morales sind jung (siehe Bild oben). Er ist 28, sie ist 27. Beim Erzählen wechseln sich José Ramon und Graciella Luisa ab, sie fallen sich ins Wort, korrigieren sich gegenseitig wie Ehepaar das überall in der Welt tun. Nur das, was sie erzählen, ist mit nichts zu vergleichen.
GEBUNDENE HÄNDE - VERBUNDENE AUGEN
Ihre Erzählung beginnt mit dem 2. November 1976. Am Nachmittag jenes Tages kam Graciella Luisa nichts-ahnend nach Hause, einem Haus in der Vorstadt Ramo Mejia im Westen von Buenos Aires. Sie war mit ihren beiden Töchtern, der vierjährigen Mariana und der zweijährigen Gloria im Krankenhaus gewesen. Als die Frau zu Hause ankam, wie üblich trat sie durch die offene Hintertür in das Gebäude, sah sie ihre Schwieger-mutter im Sessel sitzen - mit gebundenen Händen und verbundenen Augen. - Möbel waren umgestürzt. Schub- laden herausgerissen, Gläser zersplittert, das ganze Haus in Unordnung. Fremde Männer in Zivilkleidung, angeführt von einem Uniformierten mit Helm und Stiefel, sprangen auf sie zu, nahmen ihr die Kinder weg und schlossen sie in einem Nebenraum ein.
FAMILIE DER REIHE NACH GEQUÄLT
Graciella Luisa: "Sie überfallen mich mit Fragen, wollen wissen, wo mein Mann ist. Sie sagen mir, dass mein Schwager und meine Schwägerin verhaftet sind, dass auch mein Schwiegervater verhaftet worden ist, und dass sie ihn gefoltert haben, weil er nicht den Aufent- haltsort meines Mannes verraten wollte. Sie schleppen mich ins Badezimmer, lassen die Wanne voll Wasser laufen und drohen mich zu ertränken, wenn ich jetzt nicht reden würde. Sie sagen, dass sie Waffen im Haus gefunden hätten. Sie zeigen mir die Gewehre, es sind sehr moderne Waffen. Ich bestreite, dass diese Waffen vorher in unserem Haus waren."
FOLTERPLATZ - GARAGE
Graciella Luisa wird an den Haaren in die Garage des Hauses gezerrt. Dort steht das Auto des Kommandos,ein weißer Wagen. Graciella muss sich auf den Hintersitz setzen. Auf dem Sitz liegt ein Koffer mit Silbersachen, die der Familie Morales gehören. Auch der Schwieger- vater - José Morales - wird ins Auto gestoßen, bekleidet nur mit Unterwäsche. Er hat eine Kapuze über dem Kopf. Der Schwiegervater und Graciella müssen sich auf den Boden des Wagens legen. Das Auto fährt ab, rund 20 Minuten dauert die Fahrt durch Argentiniens Hauptstadt. Dann ist der Wagen am Zielort angekommen. Der Fahrer hupt, die beiden Verschleppten hören, wie sich ein Rollladen öffnet. Sie fahren in eine große Garage, eine frühere Autowerkstatt. Dann werden die zwei Opfer aus dem Wagen gezerrt und eine Treppe hinaufgestoßen. Die Beschreibung des Hauses, in dem die Morales Dinge erleben werden, die sie für ihr Leben prägen, deckt sich mit der Schilderung des Enrique Rodriguez Larretta über jenen Ort, in dem er und seine gekidnappten uruguayischen Mitbürger in Buenos Aires gefangen gehalten wurden. Offensichtlich ist die Garage in Buenos Aires ein viel genutztes Folterzentrum.
KÖRPER UNTER STROM
Graciella Luisa wird im ersten Stock in einen Raum gezerrt. Die Männer reißen ihr die Kleider vom Leib, dann wird sie mit den Händen an eine Kette geknebelt und so weit hochgezogen, dass ihre Füße nicht mehr den Boden berühren. Auf den Boden wird grobes Salz geschüttet, wie bei den Uruguayern. Sie erinnert sich: "Die Männer setzten meinen Körper unter Strom, zuerst den Kopf, dann die Geschlechtsorgane und auch das Herz. Sie beschimpfen mich sagen, ich solle über die Ver- bindung meines Mannes zu den Linken reden. Nach einer Weile fange ich an Blut zu spucken und bekomme eine Scheidenblutung. Sie halten jetzt an, geben mir Watte. Ich darf mich anziehen und mich hinsetzen. Ich werde gefesselt. Nun beginnt wieder das Verhör. Jetzt sagen sie plötzlich, dass sie mich freilassen wollten, wenn ich rede. Ich sollte solle mir auch keine Sorgen über die Kinder machen. Die hätten sie bei meiner Schwiegermutter zu Hause gelassen."
SCHREIE ... NUR SCHREIE
Das Verhör wird unterbrochen, als unten ein neues Auto ankommt. Ein Haufen Männer stapft die Treppe hoch. Sie schreien durcheinander und gestikulieren wild. Graciella Luisa: "Sie bringen meinen Mann. Auch er muss sich ausziehen. Ich ahne, dass sie ihn nun foltern werden und bitte, mich wegzubringen, da ich nicht dabei sein möchte. Ich komme ich ein anderes Zimmer. Dort treffe ich meinen Schwager und meine Schwä-gerin. Bald höre ich die fürchterlichen Schreie , nur Schreie meines Mannes."

MÖBEL, FERNSEHER MITGEHEN LASSEN

José Roman Morales war etwas verspätet nach Hause gekommen. Nach der Arbeit - José Ramon arbeitet im Laden seiner Vaters, einem kleinen Unternehmen für den An- und Verkauf von Metallwaren - war er noch zu einer Werkstatt gegangen, wo er sein Motorrad zur Reparatur abgestellt hatte. Als José Ramon nach Hause kam, wurde er von fünf Männern umringt. Sie fragten ihn, wer er sei. Als er sich zu erkennen gab, zerrten sie ihn in die Küche und schlugen auf ihn ein. Wenn ihm sein Leben lieb sei, sagten sie zu ihm, solle er reden, über seine Verbindung zu den Gewerkschaften und über seine Verbindung zu Untergrundorganisationen. José Ramon durfte noch kurz seine Mutter sehen, sie saß in einem Zimmer des Hauses mit seinen beiden Kindern und weinte. Die Männer stießen ihn dann in einen Lieferwagen. Der Wagen war schon voller Sachen aus dem Haushalt der Morales: Kleidungsstücke, Fernsehgerät, Möbel. Einer der Schergen hatte sich alle Oberhemden von José Ramon übereinander gezogen. Mit Sirenengeheul ging die Fahrt zu der Garage.

STERBEN ODER TÖTEN
Am Ende der Treppe, die zu den Folterzimmern im ersten Stock führt, sieht José Ramon zwei mit Blumen verzierte Kacheln, auf denen steht: "Wer hier hinein- geht, ist bereit zu sterben oder zu töten."

GESICHTER ZERSCHLAGEN

José Ramon setzt jetzt den Bericht seiner Frau fort: "Oben treffe ich meine Familienangehörigen wieder. Das Gesicht meines Vaters ist zerschlagen und voller blauer Flecke. Auch mein Bruder ist da, Luis Alberto und seine Frau. Die beiden sehen noch verhältnismäßig gut aus, sie sind weniger geschlagen worden. Wieder werde ich verhört, ich soll reden. Über mein Verbindungen zu den revolutionären Kräften, über subversive Bücher, wie sie es nennen, über versteckte Waffen. Sie wollen wissen, ganz allgemein, welche Politiker ich kenne.

Als meine Antworten sie unbefriedigt lassen, ziehen sie meinen Vater hoch und setzen ihn unter Strom. Zum Schluss ist er ohnmächtig und stöhnt nur noch. Ich muss das alles ansehen. Dann komme ich an die Reihe. Sie ziehen mich aus. legen mich auf eine Stahlmatratze. Damit ich nicht so laut schreien kann, während sie mich unter Strom setzen, pressen sie mir ein Kissen auf das Gesicht. Als sie die Stromkabel in der Höhe meines Herzens ansetzen, verliere ich das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir komme, machen sie sich über mich lustig. Einen Mann, der bei der Folterung dabei war, offensicht- lich ein Arzt, fordern sie auf, mich zu behandeln, damit ich nicht wegsterbe. Dann stecken sie mir die Kabel in den Mund. Es ist grauenvoll."

VOR DEM ABENDESSEN - STROMSTÖSSE
Übergangslos wird die Folterei abgebrochen. Die Schergen lassen José Ramon liegen und ziehen sich in einen andern Teil des Raumes zurück. Dort wird ihnen ihr Abendessen aufgefahren. - Nach dem Essen geht die Quälerei weiter. Schreie und Fragen, Strom und Schläge - in der Erinnerung ist es für José Ramon wie ein wirk- licher Albtraum. Doch die Narben an seinem Körper zeugen davon, dass es nicht ein böser Traum war. Spät in der Nacht wurden die Folterer müde. Schon längst ist ihnen gleichgültig, ob ihnen auf ihre Fragen geantwortet wird oder nicht. Sie quälen aus Routine. José Ramon: "Einer schlug mir mit einem Stock auf die Kniegelenke und sagte mir, dass er an meinen Aussagen gar nicht interessiert sei, sondern, dass es ihm einfach Spaß mache."

Dann gehen die Folterer nach unten zum Schlafen. Ihre Opfer finden vor Schmerzen keinen Schlaf. Graciella Luisa gelingt es, die Nylonschnur, mit der ihre Hände gefesselt sind, zu lockern und abzustreifen. Mit einiger Kraftanstrengung kann sie auch die Streifen aus Bett- leinen lösen, mit denen ihre Füße zusammengebunden sind. Sie schleicht in ein Nebenzimmer. Dort sieht sie zwei Mann am Boden liegen. Sie schubst den ersten an und sagt ihm, wer sie sei. Er antwortet nicht. Sie geht zu dem zweiten. Es ist ihr Mann. Es ist schwierig, ihn zu befreien. Er trägt Handschellen. Der Schlüsselbund hängt an einem Haken an der Tür. Nach etlichen Ver- suchen klappt es schließlich, einer der Schlüssel paßt.

FLUCHT


Die beiden Morales schleichen auf den Flur. Dort steht an der Wand ein Maschinengewehr. Sie greifen es. Jetzt suchen sie noch den Vater. Sie finden ihn in seiner Zelle vollkommen nackt. Er will nicht mitkommen. Sein Sohn José Ramon: "Er sagte, ich sollte still sein, es gebe keine Fluchtmöglichkeit." Der Vater, 54 Jahre alt, war fertig, gebrochen. José Ramon und seine Frau Graciella Luisa geben noch nicht auf, sie schleichen die Treppe her- unter. Ehe sie den Ausgang erreichen, entdeckt sie einer der Schergen. Eine wilde Schießerei beginnt. Graciella erhält einen Brustdurchschuss, José Ramon einen Streif- schuss am Bein. Mit dem Maschinengewehr schießt José Ramon sich und seiner Frau den Weg nach draußen frei.

Draußen ist es noch dunkel. Auf der Straße geht die Schießerei weiter. Die beiden verletzten Flüchtlinge schleppen sich über eine Bahnlinie, die dicht am Haus vorbeiführt, erreichen eine Straße, wo ein Lastwagen mit laufendem Motor steht. Mit vorgehaltener Waffe zwingen sie den Fahrer zum Aussteigen, setzen die Flucht mit dem Lkw fort. Sie geraten mit dem schweren Lkw in eine enge Einbahnstraße. Als ein Personen- wagen entgegenkommt, ist die Fahrt zu Ende. José Ramon springt heraus, zerrt seine Frau mit und zwingt nun mit vorgehaltener Waffe den Fahrer des Personen- wagens zum Aussteigen. José Ramon wendet den Per- sonenwagen, mit dem schnelleren Fahrzeug rasen er und seine Frau durch Buenos Aires. Sie kennen Freunde, Deck-Adresse.

REVOLUCIONARIO POPULAR
Später im Exil, draußen in Mexiko, will José Ramon nicht sagen, welcher Organisation er angehörte, mit welchen Widerstands-Gruppen er Verbindung hatte. Er fürchtet offensichtlich, die Anklage, die in der Schil- derung seines persönlichen Schicksals liegt, könne an Wirkung verlieren, wenn er sich zu einer der bewaff- neten Untergrundgruppen bekennt, seien es nun die peronistischen Montoneros oder die ERP, die Ejército Revolucionario Popular, die revolutionäre Volksarmee. Nur soviel berichtet José Ramon noch: dass ein Arzt seiner Frau die Wunde verband; dass Freunde bei der Mutter die Kinder holten; dass die Grenze kein Problem war, "weil es Leute gibt, die uns an der Grenze halfen". Und schließlich noch: dass er von seinem Vater, seinem Bruder und seiner Schwägerin nie mehr etwas gehört hat, dass Verwandte vergeblich Eingaben machten, um etwas über deren Schicksal zu erfahren. José Ramon: "Ich hoffe noch immer, dass sie leben."

MILITÄR-AREAL CAMPO DE MAYODie Tragödie der Morales ist argentinischer Alltag, seit dem 24. März 1976, seit dem Militärputsch, der General Jorge Rafael Videla an die Macht brachte. Wie die Morales-Familie in der Autowerkstatt in einem Vorort von Buenos Aires werden seither überall in Argentinien Tausende gefoltert. Im Militärareal Campo de Mayo oder der Villa Devoto in Buenos Aires, im Armee- gefängnis Campo de la Rivera in der Stadt Córdoba.

FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT

Die willkürlichen Verhaftungen auf Grund irgend- welcher obskurer Angaben, die meist unter Folter erpresst wurden, der Einsatz von nicht identifizierbaren Zivilpersonen, die aber doch über Fahrzeuge und Waffen der Armee verfügen, das Ausrauben der Wohnungen von Verhafteten, das bestialische Foltern, das schon längst nicht mehr darauf gerichtet ist, Informationen zu erhalten, sondern mögliche Oppositionelle physisch zu zerstören, all das ist Bestandteil des General-Regimes. Willkür und Brutalität nehmen ständig zu. Denn im Jahr 1978 will Argentinien die Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten und sein regierender General Videla hat versprochen, dass es bis dahin im Land "Frieden" herrschen werde - Friedhofsruhe.

STAATS-TERRORISMUS

Als "Staatsterrorismus" hat die argentinische Menschen- rechtskommission "Comission Argentina pro los De- rechos Humanos" in einem Bericht an die Menschen- rechtskommission der Vereinten Nationen in Genf die Regierungsform bezeichnet, mit der Videla über das 25-Millionen-Volk herrscht. Der englische Lord Eric Reginald Lubbock Aveburg, langjähriges Mitglied des britischen "House of Lords" und der Menschenrechts- kommission des Parlaments, stellte in einem Bericht für die Gefangenenhilfs-Organisation amnesty inter- national fest, dass heute in Argentinien ein Bürger schon dann unter den Verdacht kommen könne. subversiven Ideen anzuhängen, wenn er ein Buch des Dichters und Nobelpreisträgers Pablo Neruda (*1904+1973) besitze. "Wird dieser Mann dann aufgegriffen und unter Arrest gestellt, dann bedeutet dies in der Regel, dass er schwer gefoltert wird, ehe die Untersuchungen über seine politische Harmlosigkeit abgeschlossen sind." Im heutigen Argentinien genüge schon der bloße Verdacht auf Subversion, um Personen sogar zu töten. Es gäbe keine Rechte gegen willkürliche Festnahmen, und wer ausnahmsweise wegen erwiesener Unschuld freigelassen werde, habe keinen Anspruch auf irgendeine Art von Wiedergutmachung.


DEUTSCHE KREDITE FÜR DIKTATOREN

General Videla hatte im März 1976 die Regierung übernommen mit dem Versprechen: "... die Freiheit nicht zu zertreten, sondern sie zu retten. Wir wollen das Recht nicht beugen, sondern seine Anwendung durch- setzen." Auch als der Widerspruch zwischen Worten und Taten immer evidenter wurde - inzwischen ver- schwinden in Argentinien Tag für Tag 40 Menschen spurlos, die Gesamtzahl dieser "Desaparecidos" betrug schon ein Jahr nach dem Putsch rund 20.000, die Zahl der politischen Gefangenen, wird nach UN-Offiziellen auf nochmals rund 25.000 geschätzt - verstand es Videla, dem Ausland gegenüber als ein Mann zu er- scheinen, den die Umstände zum harten Durchgreifen zwangen und der selber besorgt ist über die täglichen Morde. Im Vergleich zu Chiles Präsident General Augosto Pinochet (*1915+2006), der sich offen zu Ver- folgung und Folter bekannte, versteht sich Videla auf diplomatische Tarnung. Videlas Propaganda-Trick hat auch in der Bundesrepublik Deutschland Erfolg.

Unter Federführung der gewerkschaftseigenen Bank BfG wurde dem Videla-Regime ein 90-Millionen-Dollar-Kredit gegeben. Der Deutsche Gewerkschaftsbund pro- testierte bei der Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) gegen diese Hilfsaktion für die Militärdiktatur. Die BFG recht- fertigte in einem Antwortbrief das Darlehensgeschäft mit dem Argument, "dass man leider in Lateinamerika nur selten Maßstäbe anwenden kann, die in westlichen Demokratien als selbstverständlich gelten."


MONTONEROS FÜR MENSCHENRECHTE
Videlas propagandistisches Geschick zeigt sich auch darin, dass er die Montoneros (peronistische Bewegung, in den siebziger Jahren bekannteste Stadtguerillas Lateinamerikas) gegenüber dem Ausland als Ter- roristen darstellen konnte, die sich jedes Rechtsan- spruchs begeben haben. Tatsächlich aber haben diese argentinischen Untergrundkämpfer nichts mit den anarchistischen Morden etwa der deutschen Baader-Meinhof-Gruppe gemeinsam. In Anbetracht der be- sonderen argentinischen Verhältnisse - der ununter- brochenen Abfolge korrupter und gewalttätiger Regierungen - können die Montoneros viel eher als Kämpfer für größere Menschenrechte gelten.
Sie stellten dies einmal mehr unter Beweis, als sie der Regierung Videla Anfang 1977 ihre Mindestforderungen für die Aufgabe des Widerstands anboten: Freilassung all jener Häftlinge, die ohne Urteil eingekerkert sind und Wiederzulassung der unter dem Ausnahmezustand verbotenen politischen Organisationen.
GANGSTER-BANDE
Doch statt für die Montoneros engagierten sich europäische Sozialisten wie Bruno Kreisky (*1911+1996, österreichischer Bundeskanzler 1970-1983) oder Olof Palme (*1927+1986, schwedischer Ministerpräsident 1969-1976 und 1982-1986) allenfalls für eingelochte argentinische Gewerkschaftsbosse. Tatsache aber ist, dass viele - nicht alle - dieser Gewerkschafter einmal eine Gangsterbande waren, die jetzt zu Recht hinter Schloss und Riegel gebracht wurde (wobei die Videla-Regierung allerdings als letzte legitimiert wäre, irgend jemand in Haft zu setzen). Nur wer die komplizierte argentinische Vergangenheit kennt, ist in der Lage, die verwickelte Gegenwart, die durch Videlas Propaganda zusätzlich eingenebelt wurde, zu durchschauen.
AUGENBLICKE - ANGST - ARGENTINIEN

Wir sitzen im 21. Stockwerk des Clubs Alemán en Buenos Aires im Goethe-Instituts im Frühjahr des Jahres 1977. Casino-Atmosphäre. Abendliche Schummer-Stimmung. Vivaldi-Klänge vom alten Plattenspieler. Cocktails-Zeit. Traumhafte Kulisse. Erhabenheit. Tags zuvor hatten wir nach langen Flug von Sao Paulo in Brasilien mit scharfen Soldaten-Kontrollen halbwegs unbeschadet hinter uns gebracht. Vielleicht deshalb suchten wir zunächst in Buenos Aires ein wenig Ruhe, ein wenig Beschaulichkeit, Besinnung - in diesen gefürchteten Folter-Jahren Südamerikas.

Wir fuhren auf einem Boot im riesigen Delta des Rio de la Plata. Wir passierten unzählige Inseln mit alten Hotels, schwedischen Häusern, Villen, Hubschrauber-Landeplätzen auf den so genannten Partyinseln, auch Privat-Inseln der Super-Reichen. Hier lagen bild-hübsche Mädchen auf den Booten und harrten da aus in ihrer gemeinsam erlebten Langeweile . Überall an den Stränden des Rio de la Plata Heerscharen graziöser, leicht bekleideter Frauen - vorzeitige Insignien eines sich zaghaft andeutenden weltweiten Sex-Tourismus. Im sanften Bogen das weiße Sandufer der Playa Ramirez mit langen Wellen dünt der Rio de la Plata den Strand hinauf. Im Sand tanzten, sangen, tranken und knut-schten lebenslustige Menschen scheinbar unbesorgt fortwährend in den langen Tag hinein - mit Geld natürlich. Ansichtskarten-Idylle. Verkitschte europäische Wehmut vielleicht. Atempause ganz gewiss.

DEUTSCHER KLUB

Nunmehr am Frühabend im Deutschen Klub gleiten meine Blicke hinaus aus der klimatisierten Abge- schiedenheit auf Buenos Aires. Die Stadt besteht aus Hunderten quadratischer Blöcke; schnörkellos, unnah- bar. Überall Soldaten, Panzer, Gewehre, Reiterstaffeln, Hunde, Hundertschaften, Folterstätten irgendwo ver-steckt hinter angegrauten Gemäuer. Vor einem Jahr - 1976 - hatten sich die Militärs an die Macht geputscht. Da war nichts von Romantik pur, da fiel auch keinem von uns die melancholische Melodie "Don't Cry for me Argentina" ein. Da dachte jeder von uns ganz leise, aber spürbar an sein Leben, ans Überleben. Angst hatten wir, richtige Furcht. Irgendwie war in solch einem unbe- rührten Augenblick Argentinien ein Ort, ein Schau-platz, an dem die authentisch miterlebte, verdichtete Vernichtung der Menschheit auf wenige Quadrat- kilometer ihre Fortsetzung fand.

Perry Kretz, der Fotograf, sprach nicht von ungefähr in diesem Moment von seinen eingegerbten, schon irgend- wie traumatisch sitzenden Vietnam-Erlebnissen, My Ly, Da Nang und so fort. Mir schossen Bilder von ent- geisterten, blutrünstigen Armee-Patrouillen in Uganda durch den Kopf. Und Peter Koch wollte sogleich seinen alten Bekannten Klaus Oertel aus früheren Bonner Tagen kontaktieren, der es als Chef von Mercedes Benz in Argentinien "ganz schön nach oben gebracht hat"; folglich sehr einflussreich war. Einfach deshalb weil, Daimler und Co. als "verlässlicher Partner der Militär-Junta unter besonderem Schutz steht und damit auch sehr gute Geschäfte, Profite macht".

STAATSMINISTER IN DER HEIMAT

Tagsüber hatte ich noch mit Klaus von Dohnanyi, seinerzeit SPD-Staatsminister im Auswärtigen Amt (1976-1981) in Bonn telefoniert. Wir benötigten seine Hilfe, um unser Recherchenmaterial - Tonbandauf-nahmen, Filme, Dokumente - aus der Militärdiktatur Brasilien (1964-1985), wo wir vorher waren, mit der geschützten Diplomatenpost außer Landes zu be- kommen. Bildungsbürger Klaus von Dohnanyi hat uns in Sachen Brasilien "noch einmal geholfen. Aber in Argentinien ist das ausgeschlossen. Das wäre genauso, wenn wir Terroristen wie Baader/Meinhof in Deutsch- land noch Lagepläne für ihre Bomben lieferten", sagte er und legte auf.

Montoneros
und Baader-Meinhof weltweit alles in einen Pott werfen? Geht das überhaupt ? Na denn, Herr Staatsminister.


ZU TODE GEFOLTERT - ELISABETH


Mir ging an diesem denkwürdigen Tag unzulässiger Verallgemeinerungen aus Bonn am Rhein der Name der deutschen Soziologiestudentin und Entwicklungs- helferin Elisabeth Käsemann aus Tübingen nicht mehr aus dem Sinn. Aus der Redaktion in Hamburg kam die Nachricht: Autos ohne Kennzeichen hatten vor ihrer Wohnung in Buenos Aires gestoppt. Kreischende Bremsen. Türen wurden aufgerissen. Männer sprangen heraus. Sie drangen in ein Haus ein und fielen über sie her. Handschellen, Kapuze übern Kopf, Spray in die Augen. Elisabeth Käsemann wurde von Soldaten abge- führt, in eines der Auto gezerrt. Türen schlugen zu. Motoren heulten auf. Die Autos rasten davon. Die junge Frau, die Argentiniens Schergen abholen, wird in der Öffentlichkeit nicht mehr lebend gesehen. Es ist, als hätte die Erde sie verschluckt. Anschuldigungen, Ge- rüchte lauteten seinerzeit, sie hätte mal zu jemandem aus dem linken Montonero-Umfeld - Stadt-Guerilla - Kontakte gehabt, gefälschte Papiere zur Ausreise besorgt. Nur Belege, Beweise, die gab es nicht. Fehlanzeige. Vermutungen, Verdächtigungen - mehr nicht.


So oder ähnlich muss es in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1977 geschehen sein, als die deutsche Staats-bürgerin Elisabeth Käsemann in Buenos Aires von ihren Folterern abgeholt, geraubt, gekidnappt worden ist. Ausgerechnet an diesem Tag trafen wir aus Sao Paulo kommend in Buenos Aires ein - auf der Suche nach dem Verbleib weiterer hundert Deutscher oder auch Deutschstämmiger, die während 1976 bis 1983 spurlos in Argentinien wie vom Erdboden verschluckt worden sind. - "Detenido - desaparecido - verhaftet - verschwunden"; über 30.ooo Menschen in dieser verdunkelten Epoche.


PARALLELEN, ÄHNLICHKEITEN

In Elisabeths Alter und Leben, ihrem Werdegang, ihren Wahrnehmungen als auch gesellschaftspolitischen Absichten konnte ich Ähnlichkeiten zu meiner Biografie entdecken. Parallelen, die mich aufwühlten. Nur mit dem folgenschweren Unterschied, dass mich mein Veränderungswille in den Journalismus - als Intrument der Aufklärung - trieb. Elisabeth hingegen setzte sich auf die andere Seite des Tisches - zu den Armen, Entrechteten, Farbigen, Ausgestoßenen oder zu den Verdammten dieser Erde, um mit Frantz Fanon (
*1925+1961) zu sprechen - dem Vordenker der Entkolonialisierung.
WARTE NICHT AUF BESSERE ZEITEN


Rückblick auf eine Biografie. - Elisabeth, Tochter des Tübinger Theologie-Professors Ernst Käsemann (*1906+1998) , studiert um 1968 Soziologie an der Freien Universität in West-Berlin. Sie diskutierte immer und immer wieder mit dem SDS-Vordenker und Gesellschafts-Architekten Rudi Dutschke (*1940+1979 ). APO-Jahre, Rebellen-Jahre. Jahre der Träumen, der Entwürfe von Skizzen oder auch Utopien nach einer gerechteren Welt, einer neue deutschen Republik. Elisabeth wollte nicht warten auf bessere Zeiten, nur in Studenten-Milieus diskutieren, theoretisieren und dort in solch einem akademischen Umfeld kleben bleiben. Sie wollte raus in die Welt, dort anpacken, zupacken, wo die alltägliche Not grassierte - etwa in den vielerorts stinkenden, erbärmlichen Slums von Buenos
Aires. Dort arbeitete sie für eine christliche Mission in der Villas Miserias. Hier glaubte Elisabeth, ihre Lebensaufgabe gefunden zu haben. - Hoffnung.


ELEND - NICHTS ALS BITTERE ARMUT


Ihren täglichen Unterhalt verdiente sie sich mit Über- setzungen und Deutsch-Unterricht. Den besorgten Eltern im fernen Tübingen schrieb Elisabeth: "Diese Entscheidung, hier in Buenos Aires zu bleiben, und nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren, fällte ich nicht aus persönlichen Gründen, sondern aus ideellen. Sie entspringt meiner Verantwortung als Mensch. Ich werde arm sein, ich werde manchmal, mich zurücksehnen nach allem, was ich zu Hause hatte."


PERONISTEN, JUDEN, KOMMUNISTEN ... ...

In ihren nahezu 300 Folterzentren verschleppten die argentinischen Militärs politische Gefangene aller Schattierungen: Peronisten, Kommunisten und Bürgerliche, Christen, Juden und Atheisten - eben Menschen, den der vorauseilende Gehorsam fremd ge- blieben ist. Es gab Zeugenaussagen, die beweisen, dass Elisabeth Käsemann als "Mitglied einer politischen oppositionellen Gruppe" im Folterzentrum "El Vesubio" interniert und zugerichtet worden war - bis Todesschüsse in den Rücken und ins Genick aus nächster Nähe sie am 24. Mai 1977 hinrichteten.

GEFLEHT, GEWINSELT, GEKROCHEN

Es gab Zeugenaussagen, die zweifelsfrei belegen, wie Elisabeth um ihr Leben flehte, auf Knien kroch, winselte und immer wieder auf Spanisch mit ihrem harten deutschen Akzent beteuerte: "Das ist die Wahrheit, das ist die Wahrheit ... ". Sie lag angekettet am Boden, untergebracht in Verschlägen, die an Hundehütten rinnerten. Nichts half - niemand half. Eine englische Freundin, die ebenfalls interniert, gefoltert worden war, diese Weggefährtin kam nach gezielt-massiver Intervention Englands wieder frei. England.

BOTSCHAFTER MIT SCHRÄGEM GRINSEN

Nicht so Elisabeth Käsemann. Es ist ein Frauen-Schicksal, das mich auch nach Jahrzehnte danach zornig, bitter und verächtlich werden lässt - unvergeßlich bleibt. Wie der deutsche Botschafter Jörg Kastl (1977-1980 ) mit schrägem, feistem Grinsen im fernen Buenos Aires beim Hummer-Menü im Gespräch mit mir zynisch daher schwadroniert. "Wer in einem - äh - Spannungsfeld in die Schuss - äh - linie gerät, der ist in Gefahr."

ULRIKE MEINHOF SÜDAMERIKAS

Dabei hatte das Auswärtige Amt genaue Hinweise, wo Elisabeth Käsemann gefangen gehalten wurde. Aber die Diplomaten unternahmen nachweislich nichts um das Leben dieser deutschen Staatsbürgerin zu retten. Mittlerweile gilt es als verbrieft, dass weder die Botschaft in Buenos Aires, noch das Auswärtige Amt mit Hans-Dietrich Genscher (FDP) an der Spitze noch Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) sich
jemals nachhaltig bemühten, intervenierten - das Leben einer gefolterten deutschen Studentin aus kirchlichem Haus zu retten. Die englische Regierung tat das mit Erfolg, die deutsche lehnte solch ein Ansinnen kategorisch ab. Die Moral der Geschicht': Eine verkaufte Mercedes-Karosse wiegt eben mehr als ein Atem. - Schubladen auf und Schublade wieder zu. Argentiniens Propaganda-Trick über eine vermeintliche Terroristin, der Ulrike Meinhof (*1934+1976) Südamerikas die in Wirklichkeit eine friedfertige Sozialarbeiterin war, zeitigte Wirkung.

SS-MASSENMÖRDER ADOLF EICHMANN

Bemerkenswert an dieser Vertretung der Deutschen in Buenos Aires war, wem sie da sonst so ihre Fürsorgepflicht angedeihen ließ. Vornehmlich dann, wenn es in dieser Nachkriegs-Epoche um Alt-Nazis ging, waren bundesdeutsche Diplomaten stets hilfsbereit zur Stelle. Belegt ist, dass der SS-Massenmörders namens Adolf
Eichmann (*1906+1962, für die Ermordung von sechs Millionen Juden zentral mitverantwortlich ) , vor seiner Entdeckung im Jahre 1962 in Argentinien in der deutschen Botschaft zu Buenos Aires Schutz, Obhut, Ge- spräche und gefälschte Ausweispapiere suchte. Den deutschen Diplomaten zu Südamerika waren über Jahre offenkundig flüchtende Nazis wichtiger, als etwa Verbindungen zu einer angereisten Soziologie-Stu- dentin - mit kesser Lippe ohnehin eine "linke Spinnerin" sondergleichen. Bei Eichmann und Co. stimmte zumindest eines einvernehmlich: Herkunft, Gedanken-Nähe, Karriere-Muster - unverwechselbar der Stallgeruch.

KARRIERE-MUSTER MIT STALLGERUCH

Es galt in Deutschlands Diplomaten-Kreise zu Bonn und anderswo Ende der sechziger, bis Mitte der siebziger Jahre hinein als ein "offenes Geheimnis", wer und auch wo Alt-Nazis in Sachen Deutschland noch unterwegs waren, ihre Kanäle fingierten.. Jeder wusste es, keiner sprach darüber. - Als junger Reporter, in vielen Länder unterwegs, habe ich es zunächst nicht glauben wollen - aber dann notgedrungen erleben, zur Kenntnis nehmen müssen, wie viele Braunröcke aus der Nazi-Zeit unter dem Schutz der "Corps diploma- tique" unbehelligt überwinterten. - Schon-Zeiten. Verquere Zeiten.

KAMPFPANZER AUS DEUTSCHLAND

Folgerichtig gab Außenamts-Staatssekretär Günther van Well (FDP *1922+1993) nach einem Treffen mit General Videla im Jahre 1978 in Buenos Aires freimütig zu, dass das Thema der verschwundenen, gefolterten, ermordeten Deutschen in Argentinien überhaupt nicht angesprochen worden sei. Leisetreterei hieß das hinter vorgehaltener Hand - ausschließlich standen deutsche Exportlieferungen im Werte von drei Milliarden Mark im Mittelpunkt - Waffen und nochmals Waffen, Kampf-Panzer und nochmals U-Boote, Maschinenpistolen vornehmlich für den Straßenkampf - Made in Germany.

22.ooo DOLLAR FÜR RÜCKFLUG - IM SARG

Am 10. Juni 1977 kehrte die Leiche Elisabeth Käse- manns im Frachtraum einer Lufthansa-Maschine nach Deutschland zurück, wurde sie in ihrer Heimatstadt Tübingen beerdigt. Die Eltern hatten über Mittels- männer den Leichnam der Tochter für 22.000 Dollar freikaufen können. Vater Ernst Käsemann musste nach Argentinien reisen, um den Leichnam seiner Tochter ausgehändigt zu bekommen. Die Leiche hatte weder Haare noch Augen. Gerichtsmediziner in Tübingen konstatierten: dass Elisabeth von hinten durch vier Schüsse getötet wurde, was auf eine typische Exekution hinweist.

BEERDIGUNG

Elisabeth Käsemann
wurde am 16. Juni 1977 auf dem Lustnauer Friedhof zu Tübingen beigesetzt. An diesem Tag erklärten ihre Eltern: "Wir haben heute unsere Tochter Elisabeth auf dem Lustnauer Friedhof bestattet. Am 11. Mai 1947 geboren, am 24. Mai 1977 von Organen der Militärdiktatur in Buenos Aires ermordet, gab sie ihr Leben für Freiheit und mehr Gerechtigkeit in einem von ihr geliebten Lande. Ungebrochen im Wollen mit ihr einig, tragen wir unsern Schmerz aus der Kraft Christi und vergessen nicht durch sie empfundene Güte und Freude."

HAFTBEFEHLE

Finale eines Verbrechens - Im Auftrag der Koalition gegen die Straflosigkeit vieler Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Argentinien während der Militär- diktatur erstattete am 25. März 1999 Rechtsanwalt Roland Deckert Strafanzeige im Fall Käsemann. Das Amtsgericht Nürnberg erließ am 11. Juli 2001 Haft- befehl gegen den früheren argentinischen General Carlos Guillermo Suárez Mason . Er stand unter konkretem Verdacht, die Ermordung Elisabeth Käsemanns befehligt zu haben.

FOLTERER - "EL OLIMPO"

Ihr Scherge, Carlos Guillermo Suárez Mason (*1924-+2005), der in Argentinien den Beinamen "der Schläch- ter des El Olimpo" trug, wurde für die Entführung von 254 Personen und der illegalen Adoption von Kindern verschwundener Kritiker verurteilt. Im Jahre 1979 sagte er angeblich gegenüber einem Vertreter der US-Bot- schaft, dass er jeden Tag zwischen 50 und 100 Todes- urteile unterzeichne. Italien, Deutschland und Spanien hatten seine Auslieferung beantragt. - Abgelehnt.

FREIHEIT - STRAFFREIHEIT

Im November 2003 wurden Auslieferungsanträge gegen die Beschuldigten Jorge Rafael Videla, ehemaliger Präsident der Militärjunta, und gegen Ex-Admiral Emilio Eduardo Massera (*1925+2010) erlassen. - Die Anträge aus Deutschland wurden am 17. April 2007 vom
Obersten Gerichtshof Argentiniens abgewiesen - die Akte Elisabeth Käsemann endgültig geschlossen.

FOLTERZENTRUM ALS PARTY-KELLER

Nur wenige der geheimen Gefangenenlager oder Folterzentren sind nach den Jahren der Miltiärdikatur (1976-1983) als Gedenkstätten erhalten geblieben. Die Gebäude von "El Vesubio", in der Elisabeth Käsemann ihr Leben ließ, wurden abgerissen. Ein früheres Folter- zentrum im Stadtteil Belgrano von Buenos Aires war in den 90er Jahren der Partykeller - ein ehemaliges Junta-Mitglied hatte es gemietet, um dort die Hochzeit seiner Tochter zu feiern.


POLITISCHE ZERFALL

Wie in allen lateinamerikanischen Ländern liegt auch in Argentinien die tiefere Ursache für den politischen Zer- fall in wirtschaftlichen Problemen. Die Staaten Süd-amerikas sind in erster Linie Exporteure von Rohstoffen und Agrarprodukten. Seit dem Koreakrieg ( 1950-1953) sind die Preise für diese Produkte - abgesehen von kleinen Schwankungen und einem Zwischenhoch kurz nach der Ölkrise im Jahre 1973 - kontinuierlich gefallen. Die "Terms of Trade" entwickelten sich immer zum Nachteil dieser Länder. Deren Kassen wurden leerer, die schon vorhandenen krassen sozialen Gegensätze ver- schärften sich weiter. In vielen dieser Länder kam es vorübergehend zu linksreformerischen oder links- revolutionären Systemen, die versuchten, mit einem nationalistisch-sozialistischen Rezept diesen Tendenzen Einhalt zu gebieten. Dazu gehörten das Zurückdrängen der multinationalen Unternehmen mit ihrer Kontrolle über die wichtigsten Produkte, die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und die staatliche Kontrolle des Außenhandels. Mit diesem Programm traten in Latein- amerika ganz unterschiedliche linke Strömungen an; Salvador Allende (*1908+1973; chilenischer Präsident 1970-1973), General Juan José Torres González (1921-1976), die reformerischen Generäle in Peru und in Argentinien der Peronismus.

PERONISMUS

Juan Domingo Perón (*1895+1974) regierte Argentinien zwei Mal. Seine Amtszeit dauerte von 1946 bis 1955, seine zweite währte von 1973 bis zu seinem Tod am 1. Juli 1974. Auch Perón war ein klassischer Diktator, ein wesentlicher Zug aber unterschied ihn von Amtskollegen à la Alfredo Stroessner (*1912+2006; Präsident und Diktator von Paraguay 1954-1989) in Paraguay. Das waren Peróns sozialreformerischen Ideen. Er setzte sich für eine Steigerung der Arbeitereinkommen ein, für einen Ausbau des Gewerkschaftssystems. Seine erste Frau Evita (*1919+1952) wird noch heute in Argentinien verehrt als die "Königin der Armen".

GEWERKSCHAFT - GANGSTERSYNDIKAT

Es war allerdings ein sehr spezielles Gewerkschafts- system, das der argentinische Präsident aufbaute, keine klassische, demokratische Arbeiterbewegung wie in Europa, sondern ein Gewerkschaftstum von Peróns Gnaden. Die Gewerkschaftsbosse waren seine Statt-halter auf dem Arbeitersektor und brauchten von dem Moment an, wo sie sein Wohlwollen hatten, nicht mehr zu befürchten, dass sie abgewählt werden könnten. Wer Peróns Stimme hatte, der blieb.

So entwickelten sich an der Spitze vieler Gewerkschaften klassische Mafiosi, die ihre Gewerkschaft wie ein Gangstersyndikat regierten. Typische Beispiele dafür waren die Metallarbeiter-Bosse. Augusto Vandort, er starb bei einem Attentat, und Lorenzo Miguel, der heute hinter Gittern sitzt. Standen bei den Metallern Gewerk-schaftswahlen an, und es wagte jemand, eine Gegenliste zu machen, war der so gut wie tot. Vandort und später Miguel schickten ihre Bodyguards los, die den Oppo- nenten empfahlen, sich schleunigst zu verziehen und denjenigen, der nicht gehorchte, einfach umnagelten.

Der Sieg bei der Gewerkschaftswahl war dann so gut wie sicher. Hinzu kam: die Wahlbeteiligung betrug im Durchschnitt nur drei Prozent, und bei dieser Wahl- beteiligung konnten die Bosse zum großen Teil schon mit den Leuten, die sie in die Gewerkschaft geschleust hatten, ihre Mehrheit sichern. Dazu gehörten die Bodyguards und die mit Verwaltungsjobs belohnten Anhänger bis hinunter zum Portier oder zum Fahrer. Die meisten Leute hatten mit dem Metallarbeitersektor nicht das geringste zu tun.

Einer der größten Gauner im argentinischen Gewerkschaftswesen hieß Coria, er war Anführer der Bauarbeiter-Gewerkschaft, zugleich aber auch einer der größten Bauunternehmer Argentiniens. Auch er starb bei einem Anschlag der Linken. Ein anderes Pracht-exemplar argentinischer Gewerkschaftsbewegung war der Anführer der Handelsgewerkschaft March, der eines Tages eine eigene Bank gründete. Er steckte so viel Einlagegelder als Nettogewinn weg, dass selbst die Bankaufsicht in Argentinien nicht mitmachen wollte. Der Mann wanderte hinter Gitter, für ein Jahr aller- dings nur, und in eine Luxuszelle mit Fernsehen.

GAUCHOS

Wie verrottet auch immer die peronistischen Gewerkschaften sich entwickelten, zu einem hatte es politisch geführt: Ein großer Teil der Linken wurde in Argentinien aufgezogen durch die peronistische Bewegung. Nach seiner ersten Amtszeit (1946-1955) wurde Perón gezwungen, ins Exil zu gehen. In Argen- tinien wechselten sich dann in rascher Folge Militär- regierung und Zivilregierungen ab. Keiner aber ist es gelungen, die peronistische Bewegung aufzusaugen. Perón und erst recht seine Frau Evita, die 1952 an Krebs starb, waren längst zu einem übergroßen Mythos in Argentinien geworden.


"HERRLICHSTE JUGEND MIT DER WAFFE"

Vom Exil aus bestärkte Perón die nachwachsende junge Generation, die sich in Anlehnung an die gegen die englischen Kolonialherren rebellierende Gauchos des 19. Jahrhunderts Montoneros nannten, in ihrem Engage- ment für einen nationalen Sozialismus und in ihrer Opposition gegen die jeweils herrschende Regierung. Perón feierte sie als "herrlichste Jugend", die mit der Waffe in der Hand gegen militärische Diktatur kämpft und bereit ist, ihr Leben fürs Vaterland und soziale Gerechtigkeit zu geben".

Als Perón 1973 zurückkam, fand er so eine breite Masse enthusiastischer jugendlicher Peronisten vor, die ihn persönlich gar nicht kannten. Es waren Linke unter- schiedlichster Couleur, Trotzkisten, Kommunisten. Als Perón dann wieder an der Macht war, wollte er nichts länger von ihnen wissen. Öffentlich höhnte er: "Mit den Linken kann man kämpfen, aber nicht regieren." - Regieren wollte Perón lieber - wie früher - mit der alten Gewerkschaftsclique. Immerhin, Perón hatte noch das Prestige, den totalen Bruch zwischen diesem linken Flügel und seiner Bewegung zu vermeiden.

ISABEL - NACHTCLUB-TÄNZERIN

Als Perón allerdings am 1. Juli 1974 starb und seine dritte Frau, die völlig unbedarfte Isabel, eine ehemalige Nachtclub-Tänzerin, an die Macht kam (1974-1976), hielt diese Arrangement nicht mehr. Isabel regierte mit einer Gauner-Clique, allen voran der ehemalige Jahr- markts-Astrologe und Zauberkünstler José Lopez Rega (1916+1989) , von Interpol weltweit wegen Unter-schlagung gesucht. Ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, Geldbetrag um Geldbetrag die Staatskasse Argentiniens zu plündern - Millionensummen. Was zum Beispiel aus Wohlfahrtsfonds hereinkam, buchten sie auf persönliche Konten ab. In zweieinhalb Jahren, in denen Rega an der Macht war, konnte er allein sich rund 120 Millionen Dollar zusammengaunern. Gegen diese korrupte Clique machte eine breite Schicht der eigenen Bewegung Front, am rabiatesten die linken Gruppierungen, die sich schnell und sehr effektiv als Guerilla organisierten. So kam es, dass Argentinien zum Zeitpunkt der Amtsausübung von Isabel eine pero- nistische Regierung hatte und eine personistische Guerilla, die sich beide bis aufs Messer bekämpften.

GUERILLA MIT 120.000 SYMPATHISANTEN

Neben den Montoneros hatten sich seit 1970 noch eine andere Guerilla-Organisation gebildet, die ERP, der bewaffnete Flügel der trotzkistischen Revolutionären Arbeiterpartei. Das Operationsfeld der ERP war vor- nehmlich die Gegend um Córdoba. Zeitweise gelang es der ERP, ein Areal im Norden des Landes etwa von der Größe des Saarlandes unter Kontrolle zu bringen und als "befreite Zone" auszurufen.

Als am 24. März 1976 General Videla an die Macht kam, hatte Argentinien die stärkste Guerilla auf dem latein- amerikanischen Kontinent. Ihr Sympathisantenkreis wird heute noch auf 120.000 Personen geschätzt, trotz aller Verhaftungen und Morde noch eine riesige poten- zielle Untergrundarmee. Die Kriegskasse der Guerilla-Kämpfer wird auf zwei Drittel des argentinischen Militärbudgets taxiert. Allein durch das Kidnappen der Gebrüder Born, Inhaber eines riesigen Getreide- konzerns, kassierten die Untergrundkämpfer 60 Millionen Dollar.
Bei einer Reihe Aktionen zeigte die Guerilla ihre Stärke. Am 19. Juni 1976 töteten die Untergrundkämpfer den Polizeichef von Argentinien, General Cardozo. Eine Widerstandskämpferin, die 18 Jahre alte Ana Maria Gonzales, hatte sich mit der Tochter des Generals befreundet und dann eine Bombe unter das Bett von Cardozo platziert.
Am 19. August 1976 wurde General Omar Carlos Actis, Vorsitzender des staatlichen Komitees für die Fußball- weltmeisterschaft 1978, ermordet. Am 2. Oktober 1976 explodierte im streng bewachten und abgeriegelten Militärareal Campo de Mayo eine gewaltige Bombe in einer Militärbaracke, in der sich noch wenige Minuten zuvor der argentinische Präsident General Videla aufge- halten hatte. Mit knapper Not entging Videla auch im März 1977 einem Anschlag. Zentnerschwerer Spreng- stoff riss ein neun Meter tiefes Loch in die Landebahn des Stadtflughafens von Buenos Aires, kurz nachdem die Privatmaschine von General Videla abgehoben hatte.
121 PUTSCHE IN SÜDAMERIKA
Staatsstreiche, also der gewaltsame Umsturz be- stehender politischer Machtverhältnisse, sind in Süd- amerika nichts Außergewöhnliches. Sie gehören lange Jahre sozusagen zur Folklore. Seit 1930 gab es insge- samt 121 erfolgreiche Putsche auf dem amerikanischen Subkontinent. In den früheren Jahren floss meist nicht viel Blut. Der "golpe de teléfono", der Staatsstreich per Telefon, bei dem die Armee des Landes dem regierenden Präsidenten das Ende seiner Amtszeit mitteilte, besorgte den Übergang auf neue Machtträger in relativer Harm-losigkeit. Die Armee begnügte sich mit einer Hinter-grundrolle im Sinne des "corriger la fortune". Sie sorgte dafür, dass ungeachtet irgendwelcher Wahlergebnisse oder Koalitionsabsprachen ihr genehme Potentaten das Staatsruder in der Hand hielten. In den letzten Jahren aber wurde der "golpe de teléfono" abgelöst durch den "auto golpe".
Der Herrschaftsanspruch des Militärs hatte sich geändert, es wollte jetzt selbst regieren. Brasilien machte 1964 den Anfang, das zweite Land war Chile 1973, es folgte am 24. März 1976 Argentinien.
TERROR-REGIME
Und wie schon in Brasilien und Chile wurde auch in Argentinien ein Beispiel dafür, dass mit der neuen Form des Staatsstreichs eine Eskalation der Gewalt einher- ging. Die angewandten Mittel stellten den Zweck des Unternehmens, nämlich Ordnung zu schaffen, in Frage. Unter dem Vorwand, dem Land Sicherheit zu zurückzu- geben, errichtete Argentiniens General Videla ein Terror- regime. Um illegaler Gewalt zu begegnen, wurden die Schutzrechte des einzelnen außer Kraft gesetzt und gewalttätige Illegalität geduldet. Das Recht wurde auf zweifache Weise gebrochen: Zum ersten wurden Gesetze geschaffen, die der argentinischen Verfassung wider-sprachen; zum zweiten missachteten Armee und Polizei selbst diese Gesetze. Unterdrückungsinstrumentarien der argentinischen Junta umfasst im wesentlichen folgende Gesetze und Verordnungen:
o Die Aufrufung des Ausnahmezustands, der die Verhaftung jedes Oppositionellen ermöglicht. Dabei wurde ausdrücklich jener Artikel 23 der National- versammlung außer Kraft gesetzt, der bisher den unter Ausnahmerecht Festgenommenen die Möglichkeit gab, das Land zu verlassen;
o festgenomme Zivilisten werden Militärgerichten überantwortet, was Artikel 95 der argentinischen Nationalverfassung ausdrücklich verbietet;
o den vor einen Militärgerichtshof gestellten zivilen Angeklagten ist ausdrücklich untersagt, einen zivilen Anwalt zu nehmen. Sie müssen ihre Verteidigung einem Offizier übertragen;
o Parteien wurden verboten, jegliche politische Betätigung wurde untersagt. Selbst das Schreiben einer Parteiparole wird verfolgt;
o sämtliche kollektiven Rechte der Arbeiter wurden außer Kraft gesetzt: das Streikrecht, das Versamm- lungsrecht, das Recht auf Abschluss von Kollektiv- verträgen;
o die Todesstrafe wurde eingeführt. Sie ist ab 16 Jahren vollstreckbar;
o Geständnisse während eines Verhörs erübrigen fortan die Beweisaufnahme vor Gericht; es sei denn, ein Angeklagter kann beweisen, dass er sein Geständnis unter Folter abgegeben hat. Die Beweislast liegt dann bei hm. Bisher hat noch kein Zeuge geladenerer Folterer sein Handeln zugegeben.
Begleitende Maßnahmen sind Strafzumessungen außerhald jeder Relation: Der Besitz einer Pistole etwa kann eine 15jährige Gefängnisstrafe nach sich ziehen. Eine totale Pressezensur wurde verfügt. Zeitungen und Rundfunk wurde am 22. April 1976 durch Regierungs- dekret sogar verboten, über den Tod von "Subversiven" oder das Auffinden von Leichen zu berichten, wenn dies nicht von offizieller Seite bekanntgegeben war. Dazu kommt der nackte Terror:
AAA - ALIANZA ARGENTINA ANTICIMUNISTA
Lord Avebury zählte in seinem Bericht für amnesty international nach der Befragung argentinischer Gefangener als gängigste Methoden auf; Schläge, Elektroschocks, U-Boot (das Eintauchen in Wasser bis kurz vor dem Erstickungstod), das Verbrennen mit Zigaretten, das Überschütten von Gefangenen mit Wasser bei Minus-temperaturen, das Aufhängen von Opfern an den Handgelenken, der Entzug von Nahrung, Getränken und Schlaf, Vergewaltigung. Die argen- tinische Menschenrechts-Kommission nennt in ihrem Bericht unter Berufung auf Zeugenaussagen noch weitere Ungeheuerlichkeiten: das Absägen von Händen oder Füßen, Verstümmelung durch reißende Hunde, die auf die Opfer gehetzt werden.
Die schmutzigste Arbeit überlassen die Militärs der Alianza Argentina Anticomunista. Diese Todes- kommandos, zusammengesetzt aus rechts-extremi- stischen Soldaten , die einen Feierabendjob brauchen sowie Militärs und Polizisten, die dienstfrei haben, verhaften, verschleppen, plündern, foltern und töten mit Billigung der amtlichen Stellen. In keinem einzigen Fall wurde versucht, eine Untersuchung der Aktionen der AAA vorzunehmen, im Gegenteil: die AAA-Kommandos sind ausgerüstet mit den Ford-Falcons der Sicherheits- kräfte. Rufen tatsächlich einmal Augenzeugen einer AAA-Aktion die Polizei, dann lassen die Polizisten diese Kommandos ungestört weiter agieren.
USA STÜTZT MILITÄRJUNTA
Im August 1976 erklärte der argentinische Außen- minister Admiral César Guzetti (*1925+1988) nach einer Rede vor den Vereinten Nationen in New York: "Meine Vorstellung von Subversion oder Terror ist das Auftreten von linken Terrororganisationen. Sub- version oder Terror auf der Rechten ist nicht dasselbe. Wenn der soziale Körper eines Landes infiziert ist, bildet er Anti-Körper. Diese Anti-Körper kann man nicht in gleicher Weise beurteilen wie die Bakterien. Sie sind nur eine natürliche Reaktion auf eine Krankheit." Während seiner Amtszeit traf sich César Guzetti mit seinem amerikanischen Amtskollegen Henry Kissinger (1973-1977). Er sicherte der Militärjunta seine Unterstützung zu.
Nach dem Mord an dem General Omar Actis, dem Organisator der Fußball-Weltmeisterschaft 1978, wurden am nächsten Tag in einer Vorstadt von Buenos Aires 30 Leichen gefunden, von Schüssen und Dynamit zerrissen. Keiner dieser Toten hatte Schlipse, Gürtel oder Schuhbänder - sichere Indizien dafür, dass es sich um Gefangene handelte. Das gleiche passierte nach dem Anschlag auf den Polizeichef Cardozo. Noch am selben Tag wurde das Elternhaus der Attentäterin in die Luft gesprengt, in der darauffolgenden Nacht wurde auf einem Parkplatz im Zentrum von Buenos Aires die verstümmelten Leichen von acht jungen Männern und Frauen gefunden.
FRIEDHÖFE, MASSENGRÄBER
Zwar ist die Todesstrafe offiziell wieder eingeführt, aber die Militärs haben entdeckt, dass die Ermordung unliebsamer politischer Gegner bequemer ist als eine legale Erschießung, bei der es zu Protesten aus dem Ausland kommen kann. Am 6. Oktober 1976 wurden auf hartnäckige Gesuche von Verwandten hin 34 Leichen auf dem Moreno-Friedhof südlich von Buenos Aires exhumiert. Bei allen Leichen waren die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Sie konnten als die Opfer einer Anti-Guerillia-Aktion identifiziert werden, die am 14. April 1976 in diesem Vorort von Buenos Aires abge- laufen war. Auf dem zentralen Friedhof in Córdoba hoben Militärs am 10. Oktober 1976 ein Massengrab mit Baggern aus, mindestens 60 Leichen wurden hinein- geworfen. Die Stelle wurde anschließend zubetoniert. Dazu amnesty international: "Es ist offensichtlich, dass in Argentinien eine große Zahl von Leuten, die spurlos verschwanden, inoffiziell exekutiert worden sind." Häufig allerdings geben die Militärs auch nach solchen Erschießungen ein Kommuniqué heraus. Darin heißt es in nahezu immer wortgleichen Formulierungen: "Die Gefangenen wurden beim Fluchtversuch erschossen." Oder: "Die Sicherheitskräfte konnten mehrere subversive Personen aufspüren. Als sie sich weigerten, einem Haftbefehl zu folgen, kam es zum Schusswechsel, bei dem mehrere sub- versive Verbrecher den Tod fanden."
ASYL INS JENSEITS
Der Terror des Videla-Regimes richtet sich nicht nur gegen die eigenen Landsleute, sondern auch gegen die rund 12.000 Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten, die in den letzten Jahren in Argentinien Asyl gefunden hatten. Im Büro des Hohen Kommissars für das Flüchtlings- wesen der Vereinten Nationen in Buenoes Aires - es ist im 8. Stock der Einkaufsstraße SuiPacha 280 unter- gebracht - hängt ein Plakat mit dem englischen Satz: "It doesn't take much to become a refugee - your race or belief can be enough" ("Es ist nicht schwer, ein Flücht- ling zu werden, deine Rasse oder dein Glauben können genügen").
Seit dem Amtsantritt Videla ist es in Argentinien nicht schwer, als Flüchtling eine Leiche zu werden. Am 2. April 1976 trug die staatliche Einwanderungsbehörde allen in Argentinien lebenden Flüchtlingen auf, ihren Wohnort anzugeben und sich anschließend alle 30 Tage bei der Polizei zu melden. Als Strafe wurde der Entzug des Asylrechts angedroht. Diese auf den ersten Blick harmlos administrative Maßnahme hatte für viele tödliche Folgen.
So wurden wenige Tage später in einem Hotel im Zentrum von Buenos Aires der ehemalige uruguayische Senator Zelmar Michelini und der ehemalige Parla-mentspräsident von Uruguay Hector Ruiz verhaftet und kurz darauf von Kugeln durchsiebt an einer Straße gefunden.
OPERACIÓN CONDOR
Am 26. Mai 1976 wurde der ehemalige Präsident von Bolivien, General Juan Jose Torres (*1920+1976, Präsident von Bolivien 1970/1971). aus seiner Asyl- wohnung in Buenos Aires entführt und einen Tag später 80 Kilometer außerhalb der Hauptstadt ermordet aufge- funden. Torres wurde im Rahmen der Operación Cóndor erschossen. Unter diesem Codenamen ope- rierten in den 70er und 80er Jahren Sicherheitsdienste von sechs lateinamerikanischen Ländern mit dem erklärten Absicht, linke politische und oppositionelle Kräfte weltweit zu verfolgen und auszuschalten. Nach den bisherigen Ermittlungen - Jahr 2008 - sowie der Auswertung von Dokumenten fielen mindestens 200 Personen der Operación Condor zum Opfer. Menschen-rechtsorganisation wie amnesty international (ai) gehen jedoch von einer weitaus höheren Anzahl Ermorderter aus. ai befürchtet, dass unter den lateinamerikanischen Regimen bis zu 50.o00 Menschen ihr Leben ließen, weitere 35.000 noch immer vermisst werden.
Nach nunmehr ausgewerteten amerikanischen Dokumenten war es insbesondere US-Sicherheitsberater Henry Kissinger während der Präsidentschaft von Richard Nixon (1969-1974), der die Operación Condor aktiv unterstützte. Er befürchtete eine marxistische Revolution in Lateinamerika. Demzufolge betrachtete Friedensnobelpreisträger Kissinger (1973 ) die Militär- diktatoren als Verbündete der USA. Bemerkenswert ist zudem, dass Frankreich Veteranen aus dem Algerien- krieg (1954-1962 ) den lateinamerikanischen Militärs zwecks Erfahrungsaustausch einschließlich Sonder- trainingsprogramme zur Verfügung stellte. Thema: Effektivität der Foltermethoden
Zwei markante Schicksale - stellvertretend für viele, sehr viele. Anders als in Brasilien oder in Chile hat sich die katholische Kirche in Argentinien noch nicht zu einer eindeutigen Opposition gegen das Willkür-Regime der Generäle durchringen können. Eher im Gegenteil. Der Militärbischof Victorio Bonamin verkündet in seinen von Funk und Fernsehen übertragenden Predigten: "Der Kampf gegen die Subversion ist ein Kampf zur Verteidi- gung der Moral, der Menschenwürde und der Religion. Es ist ein Kampf zur Verteidigung von Gott. Der Feind hat es selbst so gewollt." Oder: "Wir befinden uns am Vorabend eines reinen und heiligen Argentiniens." Obgleich auch zahlreiche Priester von den Militärs wegen angeblicher Zusammenarbeit mit den Linken ermordet wurden, hat das katholische Episkopat in einem Dokument über die Menschenrechte sich bislang nur zu so verhaltener Kritik aufraffen können wie: "Im Eifer, die Sicherheit zu erlangen, die wir alle so sehr wünschen, könnten Fehler begangen werden: willkür- liche Verhaftungen, unverständlich lange Festnahmen, Unwissenheit über den Verbleib von Verhafteten, Isolation von fraglicher Dauer, Verweigerung geistlichen Beistands."
Die Militärs in Argentinien haben so praktisch über- haupt keine legale Institution zu fürchten, die ihnen wirksam Opposition bieten könnte. Angesichts dieser Situation kommt der britische Lord Avebury in seinem Bericht für amnesty international zu dem Schluss: "Die Missachtung der Menschenrechte in Argentinien ist an sich schon alarmierend genug. Was sie noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass ein Ende dieses Miss- standes nicht erkennbar ist."
------------------------------------------------------
Postscriptum . - Es bedurfte nur wenige Jahre der Millitärs an der Macht, um ihre Politik dem Ausver- kauf Argentiniens gleich zu setzen. Das Land war dem wirtschaftichen Ruin nahe, sank die Industrieproduk- tion um 4o Prozent, stieg die Staatsverschuldung auf ungeahnte Rekordhöhen. Mit den 1982 gegen England geführten und verlorenen Waffengang um die Zugehörigkeit der Falkland-Inseln suchten die Militärs letztmalig, die ihrer Meinung nach zentrale nationale Idee zu mobilisieren. Vergeblich. Wirtschaftliche Panik um Betriebe und Arbeitsplätze, um den Wohlstand schlechthin, sind seither weitaus größer. Die gescheiterten Generale zogen sich in ihre Kasernen zurück. Im Jahre 1983 votierten die Argen- tinier und Argentinierinnen nach fortwährenden Massenprotesten gegen den ökonomischen Verfall Raúl Alfonsin 1983-1989) zum ersten frei gewählten Präsidenten nach der Soldaten-Herrschaft. Seit 1977 verlangten die "Madres de Plaza de Mayo" in ihren fortwährenden Demonstrationen und Kundgebungen Aufklärung über den Verbleib, Mord, Freiheits- beraubung und Torturen an ihren Söhnen. Im Jahre 2006 wird der ehemalige Chefermittler Miguel Etchecolatz wegen Erschießung, Verstümmelung von politischen Gegner zu lebenslanger Haft verurteilt. In der Urteilsbegründung wurde erstmals von einem argentinischen Gericht der Begriff Völkermord ver- wendet. Einer der Hauptverursacher, General Rafael Videla, musste sich 1985 wegen Menschenrechts- verletzungen (Mord, Folter, Entführung, Freiheits- beraubung) vor Gericht verantworten und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Fünf Jahre später widerfuhr ihm durch das sogenannte Schlusspunkt-gesetz - die Begnadigung. Aufgrund seiner Verant- wortung für Kinderraub musste er sich 1998 erneut inhaftieren lassen. Er hatte im Amt die Adoption von Kleinkindern inhaftierter Oppositioneller verfügt; im selben Jahr wurde Videla unter Hausarrest gestellt; 2001 abermals verhaftet. Nun beschuldigte man ihn, Drahtzieher einer Verschörung gegen Oppositionelle gewesen zu sein.
Imselben Jahr wurde er unter Hausarrest gestellt. Im Jahre 2001 erneut verhaftet: man beschuldigte ihn zusätzlich, während seiner Diktatur Drahtzieher einer Verschwörung gegen Oppositionelle gewesen zu sein. Mittlerweile kehrte Videla in seine Wohnung im Stadtteil Belgrano von Buenos Aires zurück - praktisch als freier Mann. Im Juni 2010 - 27 Jahre nach Ende der Militärdiktatur - wurden die Schlächter jener Jahre erneut vor Gericht gestellt; darunter auch Videla und der einstige General Luciano Benjamin Menéndez. Am 22. Dezember 2010 wurde Videla gemeinsam mit Menéndez und weiteren 14 Tätern zu abermalig lebenslanger Haft verurteilt - einen Freiheitsentzug, den Videla in einem gewöhnlichen Gefängnis zu verbüßen hat.
Letztendlich im Jahre 2011 - 34 Jahre nach dem Mord an der Tübinger Studentin Elisabeth Käsemann in einem Folterlager der argentinischen Militärjunta sind mehrere Verantwortliche abermals vor Gericht gestellt und abgeurteilt worden. Zwei Ex-Militärs wurden in Buenos Aires wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit lebenslang hinter Gitter geschickt. Gegen weitere fünf Angeklagte verhängte das Gericht zwischen 18 und 22 Jahren und sechs Monate. Sie wurden für Morde, Folter und Misshandlungen in dem berüchtigen Folterzentrum "El Vesubio" der Militärjunta zur Rechenschaft gezogen. Lernprozess in späten Jahren: Die Bundesrepublik Deutschland trat vor Gericht in Buenos Aires als Nebenklägerin auf.