Donnerstag, 26. Mai 1977

Iran - Von Deutschland verraten, vom Schah verfolgt




































stern, Hamburg
26. Mai 1977
von Reimar Oltmanns

Nirgendwo wurde mehr gefoltert als in Persien unter Schah Mohammed Resa Pahlewi (*1919+1980). Seine Kritiker ließ er verhaften und systematisch vernichten. Mitte der siebziger Jahre saßen etwa 100.000 Menschen in seinen Kerkern. Weltweit wurden die meisten Todesurteile (1972: über 300) vollstreckt. An die drei Millionen Agenten des Schah erstickten jede Kritik im Volk. Selbst im Ausland mussten iranische Studenten Schergen Resa Pahlewis fürchten. Und der bundesdeutsche Verfassungsschutz lieferte die Verfolgten durch gezielte Informationen über ihr oppositionelles Verhalten an die SAVAK auch noch ans Messer. Seit am 1. April 1979 ist aus dem Pfauenthron eine Islamische Republik, ein Gottesstaat geworden.

Die geheime Mitteilung kam per Kurier. Bristol an Kamisb, Ordernummer 193/330: "Unsere Propagan-dapolitik muss darauf abgezielt sein, dass immer der Vergleich gezogen werden kann zwischen Aktivitäten abtrünniger Iraner mit deutschen und europäischen Terroristen." - Absender war der persische Geheim-dienst SAVAK (Nationale Organisation für Sicherheit und Information) in Teheran, Empfänger das Kaiser-lich-Iranische Generalkonsulat in Genf, hinter dem sich die SAVAK-Schaltzentrale für Europa verbirgt.

Wenn "Bristol" (Teheran) einen Boten zu "Kamisb" (Genf) schickt, sind für die SAVAK-Agenten neue Einsatzpläne fällig. Wie immer speichert das Genfer Konsulat die verschlüsselten Geheimdirektiven aus Teheran und gibt sie austragsgemäß an ihre Außen-stellen in den jeweiligen europäischen Ländern weiter. Die Weisung 193/330 vom 1. August 1975 ging in die Bundesrepublik Deutschland.

AGENT ALS PRESSE-ATTACHÉ

Die bundesdeutsche Dependance der SAVAK ist die Kaiserlich-Iranische Botschaft in Bonn, Kölner Straße 133-137. Die Schlüsselfigur heißt Dr. Hossein Amir-Khalili, ein Geheimdienstler, der als Presseattaché firmiert. Er soll "deutsche Freunde" in Presse und Rundfunk für eine simple Sprachregelung gewinnen: Wann immer der persische Studentenverband CISNU (Conföderation Iranischer Studenten), ein Sammelbecken der Schah-Opposition in Europa und Amerika in den Medien auftauche, müsse der Öffentlichkeit die Parallele zu den deutschen Bombenlegern à la Baader und Ensslin bewusst gemacht werden.

"DRAHTZIEHER"

Und für Medien, die nicht in diesem Sinne mitziehen, gibt das Teheran-Telex Nummer 3/27/330 dem "Presse-attaché Amir Khalili folgende Verhaltensregeln: "... veranlassen Sie, dass alle Gerüchte und übertriebenen Berichte, die über den Iran in der ... Presse gedruckt werden und aus denen hervorgeht, dass Elemente und Hand-langer ausländischer Regierungen gegen die iranische Regierung hetzen ... mit der Übersetzung an die Zentrale geschickt werden, damit herausgefunden werden kann, wer die Drahtzieher sind."

An den so genannten "Drahtziehern" ist der Schah von Persien, Mohammad Rea Pahlewi, 57 ( letzter Herrscher auf dem Pfauenthron 1941-1979), brennend interessiert. Täglich erhalten seine SAVAK-Agenten in Europa gezielte Befehle aus Teheran, wie sie die Schah-Opposition im Ausland ausschalten soll. Wenn im Telex oder in der Kurier-Post von seiner Majestät die Rede ist, wird von "Mansur" (Sieger) oder "Niknam" (Der einen guten Namen Genießende) gesprochen. Die Geheim-polizei-Stationen der SAVAK heißen "Lubija" (Bohnen) und die Agenten "Tamispandsche" (Sauberfinger).

DOKUMENTE ERBEUTET


Doch die ganze Geheimhaltung nutzte nichts. Denn am 1. Juni 1976 drangen dreizehn junge Schah-Gegner am helllichten Tag in das Genfer Konsulat ein und erbeu-teten 2.800 zum Teil streng geheime Dokumente. Auf-grund der Veröffentlichung dieser Unterlagen verwies die Schweizer Regierung den persischen Diplomaten Malek Mahdavi des Landes. Er soll unter dem Deck-namen "Mahmudi" Chef der Genfer SAVAK-Außenstelle gewesen sein. Die Teheraner Regierung revanchierte sich und schickte den schweizerischen Botschafts-sekretär Walter Gyger nach Bern zurück. Und in einer Rundfunksendung empörte sich ein Sprecher über die Berner Politik. Die Schweizer Regierung sei von Anfang an davon unterrichtet gewesen, dass Mahdavi zur SAVAK gehöre. Was sich denn jetzt geändert habe, fragte Teheran verwundert.

Die gestohlenen Dossiers entlarvten Brutalität und Gerissenheit der SAVAK-Operationen im Ausland. Ihre Geheimdienst-Qualität steht außer Frage. Selbst "die Chefspione des Westens", so das amerikanische Nach-richtenmagazin "Newsweek", "geben den SAVAK-Agenten außergewöhnlich hohe Zensuren".

GEHEIMDIENST ALLGEGENWÄRTIG

Im Orientteppich-Handel von Hamburg und München, auf den Marine- und Heereslehrgängen der Bundes-wehr, auf den Fachhochschulen und Universitäten, in Krankenhäusern und Wartezimmern , überall, wo Iraner in Deutschland arbeiten oder sich ausbilden lassen - der SAVAK-Geheimdienst ist gegenwärtig. Denn, so hat es der Schah befohlen (Dossier Nr. 130/33o vom 23. Januar 1973), alle Iraner im Ausland müs-sen "zur Erfüllung der Informationsbedürfnisse" für den Geheimdienst arbeiten.

"VERKOMMENE IRANER"

Der Kaiser auf dem Pfauenthron kennt nämlich nur einen Staatsfeind, seine Kritiker. Wenn er 1971 zur 2.500-Jahr-Feier seines Reiches 25.000 Flaschen Château-Lafitte Rothschild (pro Stück 100 Dollar) aus Paris einfliegen lässt, dazu 165 Köche und Kellner aus der französischen Hauptstadt, und dafür von seinen im Ausland meist sehr bescheiden lebenden Studenten getadelt wird, dann sind sie für ihn "verkommene Iraner". Wer es wagt, ein Wort über seine Allmachts-vorstellungen zu verlieren "mein Volk", "mein Öl", "meine Bodenschätze," "meine petrochemische Produktion" -, ist für ihn ein "Kommunist".

In der Bundesrepublik führen die 1.200 iranische Studenten der CISNU ein unsichere Leben, obwohl der frühere Berliner Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz (1915-1993 ) und der Theologe Helmut Goll-witzer (1908-1993 ) das Protektorat für sie übernommen haben. Denn die in unserem Lande arbeitende schlag-kräftige SAVAK-Truppe erhielt aus Teheran Befehl (315/6826):

DIREKTIVEN AUS TEHERAN

"Bitte ordnen Sie an, ... dass sofortige Maßnahmen ergriffen werden:
Feststellung der Adresse von Gleichgesinnten, Freunden, Verwandten, mit denen ein Briefwechsel besteht;
Erkennung der Oppositionellen, ihre Familien-mitglieder in politischer und nicht-politischer Hinsicht;
Bestimmung ihrer Wohnanschrift, jener ihrer Freunde und ihrer Ersatzadressen;
Feststellung ihrer Charaktereigenschaften, ihrer Studienlage;
Feststellung ihres Autokennzeichens, ihrer Telefon-nummer, des Wohnsitzes und der Arbeitsstelle, Lage-plan der Wohnung;
Feststellung der Anschriften von nützlichen Infor-manten."

WOHNUNGS-EINBRÜCHE

Der iranische Schnüffelapparat schreckt auch nicht vor Wohnungseinbrüchen zurück. Am 1. August 1973 er-teilte die Teheraner SAVAK-Zentrale - Bristol 331 an Symin - ihren europäischen Agenten die Anwei-sung: "Dem geheimen Einbruch in die Häuser von Personen muss ein genauer Aktionsplan vorhergehen (genaue Informationen über den Betreffenden und seine Wohnstätte, wann er sein Haus verlässt und wann er zurückkehrt, die Fluchtwege im Falle des Eintretens unvorhergesehener Ereignisse). Auf jeden Fall bitten wir Sie zu veranlassen, falls in der Zukunft Einbrüche oder Diebstähle in Häusern von Personen geplant sind, muss zuerst der genaue Aktionsplan an die Zentrale geschickt werden, damit nach der Bewilligung die Durchführung freigegeben wird." Eingebrochen wurde nachweislich in die Wohnung oppositioneller Studenten in der Münchn-ner Heisloher- und Theresienstraße. Iranische Schreib-maschinen, Briefe und Ausweispapiere verschwanden.


TARNKAPPE: TERROR-BEKÄMPFUNG

Unter dem Deckmantel der internationalen Terroris-musbekämpfung kommen die SAVAK-Geheimdienstler bei den deutschen Behörden immer besser ins Spiel. Mit präzisen "Tipps" präparieren die Schah-Gehilfen Bun-desgrenzschutz, Verfassungsschutz und Ausländer-Be-hörden. Doch die SAVAK-Beflissenheit hat mehr mit der politischen Verfolgung ihrer Landsleute als mit einer handfesten Fahndung nach gefährlichen Anarchisten zu tun.

Ein SAVAK-Hinweis beim Gießener Amt für öffentliche Ordnung reicht aus, um dem persischen Studenten Mamout Maschayekhi zu verbieten, das Stadtgebiet zu verlassen. Maschayekhis Vergehen: Er hatte mit einem anderen Studenten in Paris für kurze Zeit die Räume des Korrespondentenbüros der Iranischen Rundfunk- und Fernsehanstalt besetzt. Gewaltlos waren sie einge-drungen, friedlich gingen sie wieder, als die Polizei anrückte. Ein Pariser Amtsgericht verurteilte den Stu-denten zu einer symbolischen Geldstrafe von einem Franc. Dieser "Vorgang" erschien den Gießener Lokal-beamten so wichtig, dass sie schon "die Beziehung zwischen der Bundesrepublik und dem Iran gefährdet " sahen, obwohl Maschayekhi in Deutschland noch keinen Mucks von sich gegeben hatte.

AN DER GRENZE ABGEWIESEN

Zum CISNU-Studenten-Kongress in Frankfurt am Main wollten Anfang 1977 wohl sechszehn persische Studen-ten aus Nachbarländern in die Bundesrepublik ein-reisen. An den Grenzübergängen verweigerte ihnen der Bundesgrenzschutz ohne Begründung die Weiterfahrt. Die Abgewiesenen schalteten telefonisch Rechtsanwälte ein, die vor den Verwaltungsgerichten in Schleswig und Saarlouis klagten. Im Schnellverfahren hoben die Rich-ter die Rechtsbeugung des BGS auf. Ihr Befund: Die Zurückweisung sei unzulässig, weil es sich um keine ver-botene Veranstaltung handele. Ähnlich wie die Gießener Bürokraten, sorgte sich auch der Bundesgrenzschutz um die deutsche Außenpolitik. Nach dem Motto, wir können unsere Grenzer im Winter nicht frieren lassen, wenn der Schah den Ölhahn zudreht, rechtfertigte das BGS-Kom-mando Koblenz seine Entscheidung vor dem Verwal-tungsgericht: "In der Bundesrepublik durchgeführte Maßnahmen iranischer Staatsangehöriger gegen das Schah-Regime haben in der Vergangenheit zu schweren Belastungen unserer Beziehungen mit dem Schah geführt." In Wirklichkeit waren es wieder die SAVAK-Diplomaten, die dem Bundesinnenministerium recht-zeitig eine Namensliste von angeblichen Terroristen gesteckt hatten.

VON SPITZELN NICHTS BEKANNT

Die Bundesregierung hat die enge Zusammenarbeit zwischen deutschen Fahndern und Schah-Geheimdienst jahrelang empört von sich gewiesen. So versuchte noch FDP-Politiker Gerhart Rudolf Baum (1972-1978 parla-mentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Inneren, 1978-1982 Bundesinnenminister) im Juni 1976 vor dem Bundestag den Eindruck zu erwecken, als würden die deutschen Sicherheitsorgane de SAVAK-Agenten als ausländische Spione betrachten. Baum: "... es ist die Aufgabe (des Verfassungsschutzes), Unterlagen über sicherheits-gefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht im Bundesgebiet zu sammeln und auszuwerten." Von den SAVAK-Spitzeln unter denen auch Deutsche sein sollen, sei ihm nichts bekannt, beteuerte der Staatssekretär.

NACHHILFE VOM PFAUENTHRON

Nachhilfe-Unterricht bekamen deutsche Politiker im Januar 1977 aus Teheran. Außenminister Abbas Ali Chalatbari erklärte vor ausländischen Journalisten, seine Regierung beziehe vom westdeutschen Geheim-dienst Informationen über persische Studenten, die in der Bundesrepublik leben. Schnelle Dementis der Iraner konnten die unbedachte Enthüllung nicht mehr ent-kräften. Ihr Außenminister hatte zu viel geplaudert und die deutsche Regierung in eine peinliche Lage manö-vriert.

Der liberale und eigentlich auf transparente Rechts-staatlichkeit bedachte Innenminister Werner Maihofer (1974-1978) schickte seinen zweiten parlamentarischen Staatssekretär Andreas von Schoeler, 29, (1976-1982) vor den Bundestag. Der Regierungs-Benjamin musste unumwunden zugeben, dass SAVAK und Verfassungs-schützer seit 18 Jahren zusammenarbeiten.

50 DEUTSCHE TIPPS - LEBENSGEFAHR

Allein im Jahre 1976 registrierten die bundesdeutschen Staatsschützer über 50 "Ausgänge" an die SAVAK-Zentrale nach Teheran. Mit ihren Tipps bringen die deutschen Sicherheitsbehörden unschuldige Iraner in Lebensgefahr. Um ihre unliebsamen Studenten in Europa mundtot zu machen, praktiziert die SAVAK Sippenhaft. Ein falscher Ton über den Schah, und Familienmit-glieder werden im Iran verhaftet.

Wie die SAVAK arbeitet, deckte die Londoner "Sunday Times" auf, die im Mai 1974 folgende Affäre veröffent-lichte: "Donnerstag, der 2. Mai, zu Geschäftsschluss: Auf dem Trottoir vor dem Pub 'King's arms' in Chelsea wartet ein einzelner Mann, schwarz gekleidet, etwa 50, grau-meliertes Haar; er sieht häufig auf die Uhr und steift nervös die Asche von seiner Zigarette ab. Unter dem Arm trägt er das persische Magazin Khandaniha. Er dient ihm als Erkennungszeichen. Denn Abdul Ali Jahanbin, offiziell Erster Sekretär der persischen Botschaft in London, in Wirklichkeit aber Mitglied der persischen Geheimpolizei SAVAK, trifft sich mit einer neuen Kontaktperson. Es handelt sich um eine junge Frau, die ihm helfen könnte, eine Bewegung zu unter-wandern, deren regimefeindliche Haltung dem Schah besonderen Ärger bereiten: die Vereinigung persischer Studenten in London.

MONATELANGE BEOBACHTUNGEN

Um 17.35 Uhr erscheint eine junge Frau; sie ist groß und dunkel, trägt einen Schottenmantel und in der Hand eine Einkaufstasche. Mit einem schnellen Blick hat sie das Magazin, das der Diplomat unter dem Arm trägt, erkannt. Ohne ein Wort zu sagen, so als hätte sie ihn nicht einmal bemerkt, betritt sie das Lokal und setzt sich an einen Tisch. Ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, näher sich ihr der Mann in Schwarz: 'Dürfte ich mich zu Ihnen setzen?' Als sie die Frage bejaht, fährt er auf persisch fort: 'Ich heiße Ali. Ich weiß alles über Sie, über Ihre Freunde, Ihr Leben hier in London und Ihr Leben vorher in Teheran. Sie können es mir glauben: Bevor wir auf diese Weise mit jemanden, der uns inter-essiert, in Kontakt treten, beoachten wir ihn monate-lang, Denn Sie interessieren uns, werte Damen, Sie interessieren uns sehr.'

Eli Powey, von Geburt Perserin, hat 18 Monate zuvor auf Grund ihrer Heirat mit einem bekannten Mitglied des Exekutivkomitees des englischen Studentenver-bandes die britische Staatsangehörigkeit erworben. Diese Organisation unterhält enge Verbindungen zur Vereinigung der persischen Studenten. Besonders Terry Powey, Elis Mann, hegt große Sympathien für die Geg-ner des Teheraner Regimes, deren Versammlungen häufig in seiner Wohnung stattfinden.

EHEMANN BESPITZELN

'Wenn persische Studenten zu Ihnen kommen, so geschieht dies doch sicherlich nicht nur, um ein Glas Wodka zu trinken', beginnt Ali das Gespräch. Und er erklärt Mrs. Powey, was er von ihr erwartet: Es geht ganz einfach darum, ihren eigenen Mann zu bespitzeln und bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Vertrauen ihrer Gäste zu missbrauchen, indem sie Ali alles berich-tet, was sie über die Aktivitäten der persischen Studen-ten, über Ort, Zeit und Dauer ihrer Zusammenkünfte in Erfahrung bringen kann. Eli Powey stellt eine Frage: Was geschieht mit ihr, wenn sie dem Ansinnen der SAVAK nicht entspricht? - 'Nichts', erwidert Ali. 'Wenn Sie ablehnen, für uns zu arbeiten, muss ich Sie nur bitten, diese Unterredung zu vergessen.' Doch Mrs. Powey gibt nicht nach. Sie fragt, welche Gefahr ihrer in Persien zurückgebliebenen Familie drohen könnte. 'Man kann natürlich nichts ausschließen', wird ihr geant-wortet. 'Sie, ich Ihre Familie, wer weiß - wir alle können in Gefahr sein.' Mrs. Powey hat konkrete Gründe, beun-ruhigt zu sein. Im Dezember 1973 hatte ihr die Direktion der Persischen Erdölgesellschaft, für die sie in London arbeitet, mitge-teilt, dass sie nach Teheran reisen müsse. Zwei Tage nach ihrer Ankunft wurde sie durch einen mysteriösen Anruf in ein dem Äußeren nach einfaches Haus in der Scharivar-Straße Nummer 23 bestellt; der angebliche Grund hatte ganz offensichtlich nichts mit den Geschäften der Gesellschaft zu tun.

FAMILIEN-VERHÖRE

Es handelt sich um ein Verhör, in dem sie über sich selbst, ihre Familie und ihre politischen Ansichten ausgefragt wurde. Und der Mann, der sie verhörte, hatte ihr nicht verheimlicht, dass dies im Auftrag der SAVAK geschah, dass er wusste, wo ihre Eltern, ihre Onkels und Cousins wohnen, ja, er war sogar darüber im Bilde, dass sie ihre letzten Ferien zusammen mit ihrer Familie am Kaspischen Meer verbracht hatte. Hieraus erklärt sich, warum sie - ohne im geringsten Lust zu haben, ihren Mann zu bespitzeln eingewilligt hat, einige Monate später in London mit Ali zusammenzutreffen.

Um 18.05 Uhr ist die Unterredung beendet. Mrs. Powey hat um Bedenkzeit gebeten. Mr. Ali verläßt sie, ohne ihr auch nur die Hand zu geben, und steigt in einen blauen Mercedes mit dem Nummernschild YMI 260 H (diplo-matisches Corps). Die nächste Unterredung zwischen ihm und Mrs. Powey wird ganz offiziell auf dem Kon-sulat stattfinden. Doch Mr. Ali weiß eines nicht: Mrs. Poweys Einkauftasche enthielt ein Tonbandgerät, mit dem die 30 Minuten andauernde Besprechung festge-halten wurde. Außerdem wurde er mehrfach fotogra-fiert - beim Warten auf dem Trottoir, beim Betreten des Lokals, bei seiner Verabschiedung am Ende des Ge-sprächs und bei seiner Ankunft im persischen Konsulat, 50 Kensington Court. Nach Veröffentlichung des Artikels in "Sunday Times" wird das Telefon von Abdul Ali Jahanbin, Deckname Mr. Ali, nicht mehr abgenom-men. Der SAVAK-Mitarbeiter war für niemanden mehr erreichbar.

DENUNZIATIONEN

Der Fall des iranischen Studenten M. Kh. Tehrani. Ein Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Verfassungs-schutz und der SAVAK. Am 15. Januar 1977 durchsuchte die Frankfurter Polizei seine Wohnung. Sie nahmen unter anderem Tehranis Sauna-Mitgliedskarte Nr. 230053 mit. Am 22. Januar berichtete die Teheraner Tageszeitung "Keyhan": "Diese Person (M. Kh. Tehrani) wurde am 6.10. 1975 Mitglied des westdeutschen Nack-tenklubs. Seine Mitgliedskarte ist unter der Nummer 230053 ausgestellt worden. Tehrani, der sich augen-scheinlich als so genanner Revolutionär versteht, hat seit Jahren ein Wohlstandsleben in Europa geführt."

Beschlagnahmte persische Schriftstücke werden erst gar nicht dem Übersetzungsdienst des Auswärtigen Amtes zur Verfügung vorgelegt. Sie gehen als "Amtshilfe" gleich nach Teheran. Ob beim Hungerstreik persischer Studenten in Bonn oder auf dem CISNU-Kongress in Frankfurt: Es finden sich immer Leute, die dem Schah helfen. Im Frankfurter "Haus der Jugend" schnüffelte die deutsche Polit-Polizei nach sämtlichen Namen und Adressen der Studenten. Jugendleiter Gottfried Mohs, 41, der die persönlichen Daten herausrücken sollte, wei-gerte sich jedoch. Ihm war noch ein Münchner Beispiel präsent. Nach einer Demonstration und Besetzung des iranischen Konsulats in der bayerischen Landeshaupt-stadt verhaftete die Polizei 66 persische Studenten. Ihre Namen, behauptet amnesty international, habe die Poli-zei der SAVAK zugespielt. Denn ihre persönlichen Daten wurden in der Tageszeitung "Keyhan" veröffentlicht, und dabei ist den Agenten ein kleiner, aber folgen-schwerer Fehler unterlaufen: Die Reihenfolge der Namen wurde nach dem deutschen und nicht, wie sonst üblich, nach dem persischen Alphabet aufgezählt.

SAVAK-ZENTRALE - EIN PRIVATCLUB

Die Teheraner SAVAK-Zentrale an der neugebauten Ausfallstraße nach Chemiran, ein moderner Gebäude-komplex, von Antennenwäldern überragt, wirkt nach außen wie ein Privatclub. Die Telefonanschlüsse 77 65 55 oder 77 60 20 sind bis 14 Uhr Ortszeit für die euro-päischen Agenten anzuwählen. Dossier Nr. 704/315 vom 7. Oktober 1971 bestimmt, dass die SAVAK-Spitzel "jede kleinste Nachricht" sofort durchzugeben haben. Auf Grund dieser Spitzel-Meldungen, meist über in Europa studierende politisch engagierte Söhne und Töchter, durchkämen Geheimpolizisten Häuserblocks und Wohnungen, verhaften Eltern, Verwandte und Freunde. In Teheran herrscht Angst, die sich zur Neurose steigert. SAVAK-Agenten lauern überall. In angemieteten Wohnungen und Villen, in Schulen und Universitäten, in ausländischen Vertretungen und Gesellschaften, in Betrieben und Ämtern. Selbst in den Schlafsälen der Studentenheime oder in den Automaten-Restaurants. Und natürlich in den Nobelhotels "Intercontinental" und im "Royal Teheran Hilton" am Vanak Parkway im Norden der Stadt. Dort, wo das Geschäftsleben pulsiert und sich die obere Gesellschaftsschicht gern sehen lässt, sind Richtmikrofone, Mikros und Kameras installiert.

IM HILTON-HOTEL

Der französische Publizist Gérard de Villiers berichtet in seinem Buch "Der Schah" über ein SAVAK-Missge-schick, das den Agenten nachts im Hilton-Hotel pas-sierte. "Ein Geschäftsmann hört eines Nachts, wie jemand an seine Tür klopft. Er öffnet und erblickt vor sich eine bezaubernde junge Dame, die sich sogleich entgegenkommend zeigt, ihm erklärt, dass sie auf demselben Flur wohne, dass er ihr im Speisesaal auf-gefallen sei und dass sie sich etwas langweile. Dem Mann aber erscheint die Sache verdächtig; er kompli-mentiert die Dame hinaus und legt sich wieder ins Bett. Kurze Zeit später wird seine Tür plötzlich mit einem Nachschlüssel geöffnet, jemand stürzt herein, und der Geschäftsmann wird in seinem Bett vom Blitzlicht eines Fotoapparates geblendet."

GRÖSSTER GEHEIMDIENST DER WELT

Die SAVAK (Kurzform von Sazeman-e Ettela'at va Amniat-e Keshar) ist der größte Geheimdienst der Welt. Über 60.000 Mitarbeiter stehen bei ihr fest im Brot. Drei Millionen Iraner , so das amerikanische Maga-zin "Newsweek" verdingen sich gelegentlich und geben Tipps und Denunziationen. Auf jeden elften Iraner kommt ein Spitzel, an den Universitäten sogar auf jeden dritten. Wer heute zur SAVAK einen Vergleich sucht, muss schon in die Historie zurückgehen. Stalins (*1878+1953) )allmächtiger NKWD wird dem Repres-sionsapparat Schah Resa Pahlewi am ehesten gerecht.

NATION KRIECHT ZU FÜSSEN

Der Ölreichtum hat den Schah für die Realität blind gemacht. In jedem Verwaltungs-zimmer und in den Betrieben posiert er auf einem Foto als "Mann der Vor-sehung, als ein Heiliger", so sein Hofminister Assadollah Alam. Die ganze Nation kriecht zu Füßen, ausländische Diplomaten und Geschäftsleute schließen sich devot an. Mohammad Resa Pahlevi liebt die neoklassizistischen Paläste, die sich die deutschen Könige im verflossenen Jahrhundert bauen ließen. Er ist felsenfest davon über-zeugt, dass nicht er den Göttern, sondern Gott ihm ein Denkmal setzen werde. Deshalb sagt er auch ohne Ironie. "Gott ist mein einziger Freund."

KATER "SCHAH" GENANNT - RAUSSCHMISS

Je mehr Öl-Dollars ins Land fließen, desto ehrgeiziger werden seine Projekte. doch desto dünnhäutiger und intoleranter wird er. Ein englische Ingenieur beispiels-weise musste innerhalb von 24 Stunden das Land ver-lassen. Er hatte auf der Straße einen Kater aufgelesen und ihn aus Jux "Schah" genannt. - Die SAVAK-Ohren waren dabei.

SCHLIMMSTE TORTUREN

Weniger zimperlich geht der Geheimdienst mit den eigenen Landsleuten um. In den Gefängnissen Ghezel Ghalee (Rote Festung), Zendane Moraghat (Provi-sorisches Gefängnis), Ghaser Prison (Palast-Gefängnis). Ghezel Akhtar Prison (Gefängnis Roter Stern), im Eshart-Abad-Gefängnis und im Folterhaus Ewin fügen die SAVAK- Schergen unschuldigen Menschen die schlimmsten Schmerzen zu. Schläge, Ausreißen von Fingernägeln, Hineinstoßen von Flaschen in den Mast-darm, Elektroschocks, die nackten Körper der Opfer werden auf eine glühende heiße Eisenplatte, den "Toaster" gelegt.

Die iranische Studentin Ashraf Deghani, die in den Folterkammern des SAVAK-Hauptquartiers und im Gefängnis von Ewin litt, berichtet im Dezember 1975 im "Iran-Report", einer Publikation persischer Studen-ten in Deutschland: "Mein Folterer hieß Leutnant Nik-tab. Seine Unteroffiziere halfen ihm, mich zu quälen. Die Peitsche ging von Hand zu Hand, sie schlugen auf meine Fußsohlen. Anschließend misshandelten sie meinen Körper mit einer Zange, um mir die Fingernägel auszureißen. Doch sie zerquetschten sie nur. Eine Frau kam herein und verband mir die Hand. - Wieder ver-hörte mich Niktab: 'Sag uns die Adresse des Hauses. Wir wollen euch doch nur rehabilitieren. Je schneller deine Genossen gefasst werden, desto weniger Ver-brechen können sie begehen ...'.

BRACHIALE FOLTER-GESTÄNDNISSE

Ich hatte Angst, weitere Schmerzen nicht mehr durch-stehen zu können. Ich sagte einfach, der Stadtteil hieße Khanie Abad, obwohl ich mir darüber im klaren war, dass es nicht stimmte. Auf einmal wurden diese Schur-ken freundlich. Sie schlugen mich nicht mehr und be-fahlen mir, auf und ab zu gehen. Ich hatte seltsame Empfindungen, ein Gefühl, als ob man mir tausend Nadeln in den Körper gejagt hätte. Sie brachten mich in eine Zelle, wo ich etwas zu essen bekam.

VERGEWALTIGUNG UND PEITSCHE

... ... Nach zwei oder drei Stunden wurde ich wieder in den Folterraum geführt. Ich ahnte es, Niktab und seinen Gehilfen war mitgeteilt worden, dass meine Ortsangabe eine Lüge war. Sie rissen mir die Kleider vom Körper. Niktabs Gesichtsausdruck war gemein und niederträch-tig. Er fesselte mich bäuchlings an eine Bank, zog seine Hose aus und warf sich vor den Augen seiner Unter-gebenen auf mich. Ich ließ mir nichts anmerken. Er sollte spüren, wie wenig ich mir aus ihnen allen machte. Was ist schon der Unterschied zwischen Vergewaltigung und Peitsche? Beides ist Folter.

Es wurde Nacht. Niktab und die anderen Folterknechte zerrten mich in einen Gefangenentransporter. Ich sollte verlegt werden. Vom Hauptquartier des Sicherheits-dienstes ins Ewin-Gefängnis. Im Ewin warf man mich auf ein Bett. Ich fragte, wo ich sei und wer die Leute sind, die mich umzingelten. Einer antwortete: 'Das sind alles meine Diener. Dem habe ich ein Ohr, dem da die Zunge abgeschnitten.' Er setzte sich auf mein Bett, schüttelte mich und sagte lüsternd: 'Schau mir in die Augen, meine Liebe.' Ich wandte den Kopf ab. Er wurde wütend, schüttelte mich weiter und wiederholte: 'Schau mir in die Augen, schau mich an!'

Was bezweckte er? Wie, glaubte er, würde ich rea-gieren? Wieder redete er auf mich ein: 'Kennst du mich? Ich bin Hosseinzadeh. Wir sind in Ewin, und ich bin Dein Folterexperte.' Sie banden mich ans Bett und brachten einen langen Holzstock. Und Hosseinzadeh sagte: 'Der wird Dich in Form bringen. Du weißt noch nicht, welche Folter auf dich wartet.' Sie rissen mir die Schlafanzugjacke, die ich schon im SAVAK-Haupt-quartier anziehen musste, herunter und stießen mir den Stock in den Leib. Nach kurzer Zeit hörten sie mit der Stocktortur auf, abermals wurde ich ausgepeitscht. Der Schmerz schnürte mir die Kehle zu ... Nach einigen Minuten ließen sie von mir ab. Hosseinzadeh ging aus dem Raum. Als ich allein war, wunderte ich mich, das alles ertragen zu haben."

ABGERICHTET, ABGESCHLACHTET

Die Studentin Asharf Dehghani überlebte die Folter im Ewin-Gefängnis, ihr Bruder Behrouis, der ebenfalls verhaftet worden war, nicht. Asharf Dehghani wurde ohne Prozess freigelassen und lebt heute als Mitglied der "Feddayan des Volkes", einer revolutionären Orga-nisation im Untergrund von Teheran. Persische Stu-denten schmuggelten ihren Bericht nach Europa.

Der persische Universitätsdozent Resa Bahareni schildert seine Erlebnisse im Comité-Gefängnis: "Am ersten Tag wurde mir der kleine Finger gebrochen. Der Cheffolterer sagte zu mir, wenn ich nicht reden würde, käme jeden Tag ein weiterer Finger dran. Man hielt mir eine Pistole an meine Schläfe und drohte abzudrücken. Als ich einen Schuss hörte, wurde ich bewusstlos."

102 TAGE IM COMITÉ-GEFÄNGNIS

Bahareini, Autor von 26 Büchern, saß 102 Tage im Comité-Gefängnis, weil er im Ausland den kulturellen Verfall des Iran kritisiert hatte. Seine Entlassung und seine Ausreisegenehmigung verdankt der Wissenschaft-ler allein dem internationalen Druck, besonders dem Protest zahlreicher Schriftsteller und Dichter in den Vereinigten Staaten. Bahreni, der heute in den USA lebt, gab zu Protokoll:

"Ich war in einer dunkeln Einzelzelle von 1,20 x 2,40 Meter untergebracht. Die Innenausstattung bestand aus einer alten und schmutzigen Decke. Das war alles. Es fehlte sogar eine Pritsche zum Schlafen. An manchen Tagen wurden sieben Gefangene in diese Zelle hinein-gestoßen. Wir mussten uns daran gewöhnen, im Stehen zu schlafen. Einige hatten aus Angst oder wegen der schlechten Verpflegung Durchfall. Andere konnten sich wegen der Wunden an den Füßen, wegen ihres verseng-ten Rückens überhaupt nicht aufrecht halten. Wir atmeten uns gegenseitig ins Gesicht. Wir waren alle ohne Haftbefehl von der SAVAK gekidnappt worden.

... In der Ecke des Folterraums befanden sich zwei Doppelstockbetten. Sie wurden, wie ich später erfuhr, benutzt, wenn es darum ging, das Gesäß des Opfers zu versengen. Man wird an das Oberbett gefesselt, und dann wird der Rücken der Hitze einer Fackel oder eines kleinen Ofens so lange ausgesetzt, bis der Gefangene redet. Manchmal wird auch das Rückenmark versengt, was zwangsläufig zur Lähmung führt."

Ein Mullah, der heute im Exil in Amsterdam lebt, erzählte: "Beim Verhör, das den ganzen Tag dauerte, schlugen die SAVAK-Agenten mir immer ihren Pisto-lenknauf auf den Schädel. Sie sagten mir, sie würden mich schon 'weich' kriegen. Mit Elektroschocks haben sie es auch geschafft."

Der 37jährige Mullah, der seinen Namen aus Angst vor der SAVAK der Öffentlichkeit nicht preisgeben will, weil seine Frau mit fünf Kindern noch in Persien lebt, war zwei Monate im Ewin-Gefängnis eingesperrt. Der Grund: Während seines Studiums in Österreich (1970) hat er sich der iranischen Exil-Opposition ange-schlossen. Als er 1972 den Schlagbaum Bazarka an der türkisch-iranischen Grenze passierte, wurde er von den Schah-Agenten verrhaftet. Die Geheimdienstler hatte Listen aller Abtrünnigen erstellt, die an allen Grenz-stationen auslagen.

STAATSFEINDE SUCHEN

Erst nachdem der islamische Geistliche ein umfassendes Geständnis unterschrieben hatte, setzten ihn die Schergen ohne Gerichtsverhandlung auf freien Fuß. Er hatte der SAVAK nämlich versprochen, künftig für sie Staatsfeinde ausfindig zu machen. Der Mullah er-zählte: "Ich habe eine Telefonnummer bekommen, die ich jeden Tag anzurufen hatte. Ich sollte berichten über alles, was sich in meinem Haus, an der Universität und beim Kaufmann ereignete: Namen der Besucher, Auto-kennzeichen, ihre Äußerungen, möglichst viele Bekannte und Verwandte. In der Universität sollte ich vor allem den politischen Standort der Studenten ausfindig machen und von wem sie ihr Geld beziehen. Zwei Mal in der Woche wurde ich von SAVAK-Spitzeln im Auto abgeholt. Wir fuhren dann ein paar Stunden durch Teheran, vor allem ins Universitätsgebiet. Ich musste ihnen abtrünnige Studenten zeigen, die ich ausgespäht hatte. Da ich jedoch meinen Auftrag nicht erfüllt habe, drohten sie meine Frau zu vergewaltigen. Nach fünf Monaten hielt ich es nicht mehr aus. Ich besprach alles mit meiner Frau. Wir waren uns einig, dass es für mich nur noch eine Möglichkeit gab: die Flucht ins Ausland. Ich schlug mich nach Südpersien durch und traf dort Schmuggler, die mich über die Grenze brachten."

POLITISCHE GEFANGENE IMMERFORT

Für oppositionelle Iraner ist es heute schwieriger denn je, ihr Land zu verlassen. Der Staatsapparat will ihre Kritik in seinen Gefängnissen ersticken, um sich die Jagd nach Regimegegnern im Ausland zu ersparen. Auf dem schwarzen Markt in Teheran werden deshalb besonders Ausweispapiere und Reisevisa teuer ge-handelt. Der Deutsche Gerhard Klysch, der in Teheran in einem Straßenbau-Unternehmen arbeitete, saß zwei Jahre im Gefängnis zu Ewin. Er hatte mit falschen Papieren in Bedrängnis geratenen Iranern zur Ausreise verholfen.

HÖCHSTE HINRICHTUNGSQUOTE

Die Zahl der politischen Gefangenen im Iran kann nur geschätzt werden, weil niemand über präzise Zahlen verfügt. Seit dem Jahre 1972 lehnt es das Schah-Regime strikt ab, neutrale Beobachten zu den Prozessen zuzu-lassen. Nach Meinung der amnesty-international-Beobachter sollen im Iran etwa 100.000 politische Gefangene eingekerkert sein. Ein einsamer Weltrekord, der nur durch einen anderen überboten wird: Der Iran hat die höchste Hinrichtungsquote. Seit 1972 wurden über 300 Menschen von Militärgerichten zum Tode verurteilt und exekutiert. Und immer geschieht das nach der gleichen Methode: Die SAVAK foltert die "Geständ-nisse" heraus, die Richter sprechen ihr "Recht". Beweis-anträge der Verteidigung und Folternarben lassen Per-siens Richter unbeeindruckt. Iraner, die eine "kollek-tivistische Ideologie haben" oder "sich gegen die Monarchie stellen", müssen nach Artikel 1-7 des Strafgesetzbuches mit der Todesstrafe rechnen.

EIN GENERAL NAMENS NASSIRI

Nachdem die Erschießungskommandos ihr Geschäft erledigt haben, informiert die SAVAK-Zentrale ihre europäischen Außenstellen. Dossier 331/1152 vom 24. Mai 1973: " ... zwei Offiziere wurden zur Hinrichtung, die restlichen fünf zu Gefängnisstrafen zwischen 18 Monaten und 15 Jahren verurteilt. Es muss dafür gesorgt werden, dass diese Information nicht an die Öffentlichkeit und Presse gelangt." Der SAVAK-Chef heißt General Nematollah Nassiri (1965-1978; *1911+1979). "Kargoscha", so sein Deckname, ist ein 70jähriger mittelgroßer Mann mit einem dicken, runden, pockennarbigen Gesicht und gelbbraunen Augen. Der General ist ein alter Gefolgsmann des Schah, mit dem er gemeinsam die Militärakademie besuchte und auch heute noch mit ihm im Palast Karten spielt. Nassiri, der sich kaum in der Öffentlichkeit zeigt und lieber im Hintergrund wirkt, ist dem Schah direkt unterstellt und braucht sich sonst vor niemanden zu verantworten. Selbst die Minister sind vor ihm nicht sicher. Es gibt nichts im Lande, seien es Bettgeschichten, Korruptions-affären oder politische Abweichungen, was Nassiri nicht in seinen Akten mit Beweismaterial aufgearbeitet hat; für den Schah jederzeit abrufbar.

AMOUREN DES SCHAH

Nassiri ist der dritte SAVAK-Chef. Als die SAVAK im Jahre 1957 gegründet wurde, war die Weltöffentlichkeit mit den Amouren des Schah beschäftigt. Seine Holly-wood-Tänze mit Judy Garland (*1922+1969) und Yvonne de Carlo (*1922+2007), seine Liebesspiele mit "Dokki", Safieh, Elga Andersen (*1935+1994) und Maria Gabriella von Savoyen, seine nächtlichen Eskapaden in Teherans Colby-Bar oder an der Cote d'Azur, seine plötzliche Visite beim Papst in Rom - dies alles hielt das Publikum in Atem, während es Mitleid mit seiner zweiten Ehefrau Soraya Esfandiary Bakhtiari (*1932+2001) ) empfand. Mohammed Resa war der prominenteste Playboy der fünfziger Jahre - während in seinen Kellern grausam und bestalisch gefoltert wurde.

PUTSCH FÜR ERDÖL

Im Jahre 1953 hatte der amerikanische Geheimdienst CIA im Iran erfolgreich einen Putsch gegen den Minister-präsidenten Mossadegh (*1892+1967; Premierminister 1951-1953) inszeniert (Kosten: 400.000 Dollar). Der Grund: Die amerikanische und englische Industrie wollte sich den Zugriff aufs verstaatlichte Erdöl sichern. Der Schah war zu jener Zeit lediglich eine Marionette und spielte im fernen Rom den Zaungast. Während sich CIA-Monarchisten und Sozialisten in Teherans Straßen-schlachten lieferten, saß er mit seiner Soraya im Hotel "Excelsior". Das "Herrscherpaar"hatte gerade Krabbencocktail und kaltes Huhn serviert bekommen, als ihm ein Reporter der amerikanischen Nachrichten-agentur "Associated Press" die Mitteilung überreichte, es dürfe wieder die "Macht" übernehmen.

HERRSCHER UND GEHILFEN

Resa Pahlewi dankte es den Amerikanern. Der CIA-Agent Kim Roosevelt (*1916+2000) der Hauptakteur, lief noch über Jahrzehnte mit dem Kaiser in St. Moritz Ski. Der Iraner Chabaham Bimor, ein notorischer Totschläger, der mit seinen 400 Leuten für den Schah auf die Sozialisten eindrosch, was ihm den Spitz-namen "Mann ohne Gehirn" eintrug, durfte die ersten Sicherheitstruppen mit aufbauen helfen, die natürlich unter CIA-Regie standen. Heute ist der CIA mit einer eigenen Abteilung und die US-Armee in Persien gut im Geschäft. Über 3.500 Militärberater bilden iranische Truppen aus. Und Amerikas Botschaft in Teheran war Richard Helms (*1913+2002), einst CIA-Chef in Washington. Der amerikanische Journalist Jack Anderson (*1922+2005) , ein Mitenthüller des Water-gate-Skandals (1972-1974), nannte die Beziehung zwischen den Schah, Nixon und Helms so eng, dass der Schah über Mexiko mehrere Millionen Mark für die Wiederwahl-Kampagne Richard Nixons (*1913+1994 , US-Präsident 1969-1974) ausgegeben habe.

RÜSTUNGSGESCHÄFTE

Doch die Spendierfreudigkeit des Schah hatte auch einen realen Hintergrund. Mit seinen Erdöl-Milliarden kaufte er sich mit 6.9 Milliarden Dollar bei der amerika-nischen Rüstungsindustrie ein, die ihm fast alle mo-dernen Waffensysteme unterhalb der atomaren Schwelle sichert. Bis ins Jahr 1980 werden im Iran mehr Jagdbomber stehen als in irgendeinem anderen NATO-Land außer der USA.

LEO I + LEO II

Auch die Bundesrepublik Deutschland ist im Iran stark engagiert. Bislang schult die Bundeswehr iranische Soldaten auf ihren Akademien. Und 600 deutsche Ingenieure wie Techniker helfen den Persern Munition und Handfeuerwaffen herzustellen. Doch damit will sich die deutsche Rüstungsindustrie langfristig nicht zufriedengeben; neue Märkte werden gesucht, Absatz-märkte für eine Todesindustrie. Nachdem der Schah beim Waffenproduzenten Krupp Aktien gekauft hat und das Volkswagenwerk im Iran Autos bauen soll, will die Rüstungsbranche nun auch ihre modernsten Panzer Leo I und Leo II verkaufen.

MACHBAR UND NICHT MORALISCH

Falls die Arbeitslosigkeit sich in Deutschland nicht spürbar reduzieren lässt, wird Kanzler Helmut Schmidt (1974-1982) nicht das Machbare dem Moralischen unterwerfen. Die strengen Exportbedingungen für Kriegsgeräte außerhalb der NATO-Länder sollen dann gelockert werden. Helmut Schmidt: "Es ist denkbar, es ist im Einzelfall schon geschehen."

ARM UND ANAPHABETHEN

Trotz des Ölreichtums und des raschen wirtschaftlichen Aufbaus können sechzig Prozent der Bevölkerung weder lesen noch schreiben. Trotz der vom Schah als bei-spielslos dargestellten "Weißen Revolution", die mehr sozialen Gerechtigkeit verwirklicht haben soll, sind sechzig Prozent der Landfamilien ohne Acker. Dafür verfügen von den 16 Millionen anbaufähigen Hektar 65 Prozent der privaten Großgrundbesitzer als Eigentum. Ein Art kommt auf 22.000, ein Zahnarzt auf 150.000 Menschen. Zehn Prozent der Iraner leben in der Haupt-stadt Teheran. Jeder vierte Einwohner dieser Stadt ist ohne Stromversorgung und fließendes Wasser. Ob in den städtischen Slums oder in den ländlichen Gebieten, an einem Drittel des 34-Millionen-Volkes ist das iranische Wirtschaftswunder bisher spurlos vorübergegangen.

"STABILSTES LAND DER FREIEN WELT"

Die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und dem Iran, die die sozial-liberale Koalition (1969-1982) begrüßt, wurde von Krupp-Chef Bertold Beitz aufgegriffen. Beitz: "Wir werden verstärkt junge Leute aus dem Iran ausbilden und unseren jungen Leute in den Iran schicken." Und der hessische CDU-Landesvorsitzende Alfred Dregger (*1920+2002) hält den Iran für "eines der stabilsten Länder der freien Welt". Die Politik von Schah Resa Pahlewi sei "so überzeugend, dass er diese Politik offensiv vertreten sollte".

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Postscriptum. - Seit der Islamischen Revolution des Ayatollah Khomeini (+1902+1989) ) im Jahre 1979 - der Gründung des Gottesstaates - geht uneingeschränkte Macht - vom Obersten Rechtsgelehrten ("Revolu-tionsführer") aus. Er ernennt die obersten Richter und ist zugleich Oberkommandierender der Streitkräfte. Er wird vom sogenannten Expertenrat auf Lebenszeit gewählt. Dieser Expertenrat wird alle acht Jahre in einer geheimen Wahl bestimmt, wobei allerdings der Wächterrat die jeweiligen Kandidaten genehmigen muss. Der Regierungschef des Iran fungiert zugleich als Präsident des Landes. Ihm obliegt es, Minister zu ernennen, er bestimmt die Arbeit der Exekutive. Er wird für eine vierjährige Legislaturperiode gewählt. Seine Machtbefugnisse sind jedoch beschränkt. Alle zu wählenden Kandidaten, alle Regierungsprojekte oder Gesetzesmaßgaben bedürfen der Zustimmung des Wächterrates - der obersten Kontrollinstanz - der islamischen Republik. So ist der Wächterrat befugt, jedes Gesetzes, jeden unliebsamen Kandidaten - auch rückwirkend - für unwirksam zu erklären oder auch auszuschließen. Er setzt sich aus sechs Geistlichen und sechs weltliche Rechtswissenschaftlern zusammen. Sollte im Wächterrat bei einer Abstimmung keine Mehr-heit zustande kommen, entscheidet der Revolutions-führer.

Der Geheimdienst SAVAK wurde nach dem Macht-antritt Ayatollah Khomeinis ( Führer der Islamischen Revolution 1978 und 1979 ) aufgelöst und durch einen neuen Nachrichtendienst VEVAK ersetzt. Praktisch konnte der neue islamische Kundschafter-Behörde, sämtliche Infrastrukturen, Agenten und auch inlän-dische Nachrichtendienst-Ringe intakt übernehmen und noch ausbauen. Lediglich die SAVAK-Spitze mit ihren 23 Generälen und 30 Offizieren wurde sofort hinge-richtet.

Hoffnungen, auf eine Verbesserung der Menschen-rechtsverletzungen im Iran, erfüllten sich nicht. Im Gegenteil. amnesty international berichtet im Jahre 2005 von 94 Exekutionen, darunter acht Minder-jährige. Zudem wurde nach einem Urteil eine Frau zu Tode gesteinigt. Todesurteile werden in den islamischen Staaten traditionell durch teils öffentliche Enthaup-tung am Morgen bei aufgehender Sonne ausgeführt. Zudem zählen Steinigungen, Erhängen oder öffentliches Auspeitschen zum Unterdrückungs-Repertoire. Bei drei öffentlichen Kundgebungen im Jahre 2005 sorgten die Sicherheitskräfte für Friedhofs-ruhe mit 73 Toten und mehreren Hundert Verletzten. amnesty international schrieb in ihrem Jahresbericht 2007: " ... mindestens 177 Menschen wurden hinge-richtet, drei von ihnen waren zum Zeitpunkt der mut-maßlichen Tat und ein weiterer am Tag der Tötung noch nicht 18 Jahre alt. Ein Mann und eine Frau wurden Berichten zufolge zu Tode gesteinigt. Gerichte ver-hängten nach wie vor grausame Strafen wie die Ampu-tation von Gliedmaßen, die Prügelstrafe und das Ausstechen der Augen."

- Ob Schah - Khomeini oder Khatami - in zentralen Punkten des Völkerrechts - der Menschenrechte - aus Teheran nichts Neues, Besserung nicht in Sicht - das seit Jahrzehnten.






















































































































Mittwoch, 18. Mai 1977

Russland: Der Weg zum Wahnsinn - Arbeitslager, Irrenhäuser, Gefängnisse




In sowjetischen Arbeitslagern und Gefängnissen erleiden mehr als 10.000 politische Gefangene furchtbare Qualen, nur weil sie eine andere Meinung haben. Die hartnäckigsten Regimekritiker verschwinden in Irrenhäusern, wo sie in finsteren Zellen und vergitterten Krankenzimmern mit Psychopharmaka "behandelt" werden und willenlos dahindämmern

Frauen-Zwangsarbeit in den Wäldern der Mordwinischen Republik. Die Psychiatrische Klinik für Regimekritiker in Kaschtschenko


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stern, Hamburg
18. Mai 1977
von Reimar Oltmanns
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In sowjetischen Arbeitslagern und Gefängnissen erleiden mehr als 10.000 politische Gefangene furchtbare Qualen, nur weil sie eine andere Meinung als die Partei haben. Die hartnäckigsten Regimekritiker verschwinden in Irrenhäusern, wo sie in finsteren Zellen und vergitterten Krankenzimmern mit Psychopharmaka "behandelt" werden und willenlos dahindämmern


Vor dem Militärtribunal in der westukrainischen Stadt Luzk musste sich Igor Golz, Leutnant der sowjetischen Armee verantworten; angeklagt wegen "Verbreitung von wissentlich falschen Behauptungen, die die sowjetische öffentliche und staatliche Ordnung verleumden". Sein Vergehen: Der 26jährige Offizier hatte in einem Kasino-Trinkspruch die israelische Armee hochleben lassen. Das Urteil: drei Jahre Arbeitslager mit verschärfter Haft.

RADIO BESCHLAGNAHMT

Dem Mathematiker Wassilij Tschernyschew wurde zunächst gar kein Prozess gemacht. Agenten des sowjetischen Geheimdienstes KGB holten den Leningrader Wissenschaftler im Winter 1970 frühmorgens aus dem Bett, verhörten ihn, weil er als Freizeitdichter Kritisches über den Antisemitismus in der UdSSR gereimt hatte, und lieferten ihn dann einfach in der psychiatrischen Spezialklinik an der Arsenalnaja-Straße ab.

Die psychiatrische Untersuchung dauerte nur 30 Minuten, die Ärzte stellten prompt fest: "Der Patient leidet unter einer chronischen Schizophrenie." Als Indiz für die "dauernde Bewusstseinsspaltung" werteten die Mediziner den vorzeitigen Abbruch einer Universitätkarriere sowie einen Selbstmordversuch, den der Mathematiker bereits vor sieben Jahren aus Liebeskummer unternommen hatte. Den Richtern, die am Schreibtisch über Tschernyschews Einweisung ins Irrenhaus entscheiden mussten, reichte diese Schnellexpertise, um ihn als Geisteskranken abzustempeln. Drei Jahre verbrachte der Regimekritiker in der Arsenalnaja-Anstalt in Leningrad (seit 1991 Petersburg). Dann wurde er in die 1600 Kilometer entfernte "Sonderklinik" von Dnjepropetrowsk im Süden der Sowjetunion verlegt.

NEO-STALINISMUS

Der Fall des Mathematikers Tschernyschew kennt viele Parallelen, wie aus dem umfangreichen Dokumentationsmaterial hervorgeht, das seit Jahren in den Westen geschmuggelt wird. Auch der Mathematiker Leonid Pljuschtsch, 37, war in der Psychiatrie von Dnjepropetrowsk interniert. Er hatte gegen den sowjetischen Einmarsch in der CSSR (1968) und gegen den zunehmenden Neo-Stalinismus rebelliert. Auch ihm bescheinigten die Ärzte "chronische Schizophrenie".

Dennoch sind die beiden Namen nicht austauschbar. Pljuschtsch , im Westen von Freunden als Regime-Kritiker populär gemacht, wurde Anfang 1976 nach Österreich abgeschoben. Tschernyschew, ein Unbekannter, sitzt heute noch in einer der berüchtigten Zellen der "Sonderklinik" von Dnjepropetrowsk - im siebten Jahr.

ZWEI-MANN-ZELLEN

Die Zwei-Mann-Zellen für politische Gefangene in der ukrainischen Industriestadt Dnjepropetrowsk haben schwere, mit Eisenplatten verkleidete Holztüren. Ein Guckloch, eine Klappe für die Essensausgabe. Es gibt kein Klo, kein Waschbecken, nur ein vergittertes Fenster - einen Meter mal sechzig Zentimeter. Die Pritschen sind aus Eisen, die Matratzen aus gepresster Wolle. Ein Holzstuhl, ein kleiner Spind, eine nackte Birne, die von der Decke baumelt und unentwegt brennt. Kein Bild schmückt die graue Betonwand, keine private Habseligkeit ziert den Raum. Die Zellen sind kalt, nass und schmutzig. In manchen gibt es ein kleines Abflussloch, das den Gestank der Kanalisation hochtreibt.

WISSENSCHAFTLICHER FORTSCHRITT

Russlands neun psychiatrische Sonderanstalten, die angeblich "an der Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts" stehen (sowjetische Ärzte auf dem internationalen Psychiatrie-Kongress 1971 in Mexico-City), sind Monumentalbauten aus dem vergangenen Jahrhundert. Die Leningrader "Arsenalnaja-Anstalt" war bis zur Oktoberrevolution 1917 ein Frauengefängnis, die Spezialklinik in Orel einst ein berüchtigter Knast im zaristischen Russland, die Sonderanstalt Tschernjachowsk (Insterburg) diente schon den Deutschen als Gefängnis, und die Psychiatrische Kolonie in Sytschjowka bei Smolensk feierte ihr Richtfest bereits im 18. Jahrhundert.

SEKI - SPÜRHUNDE

Ein Meter dicke Betonmauern mit aufgesetzten Stacheldrahtrollen und Wachsoldaten mit Spürhunden schirmen die "Geisteskranken" gegen die Außenwelt ab. Auf den Fluren der Kliniken geben so genannte Krankenwärter den Ton an. Die meisten von ihnen haben keine Sanitätsschule besucht, sondern waren kriminelle Häftlinge (Seki) . Als Internierte in den Arbeitslagern begannen sie eine neue Laufbahn, im Auftrag des KGB bespitzelten und denunzierten sie andere Lagerinsassen und wurden dafür belohnt. In Psycho-Kliniken - als Krankenwärter im weißen Kittel - genießen sie nun ihren "gesellschaftlichen Aufstieg".

REGIMEKRITIKER: BUKOWSKIJ

Der Regimekritiker Wladimir Bukowskij, 34, der unlängst gegen den in Chile eingesperrten KP-Chef Luis Corvalán (*1916+2010) ausgetauscht wurde, hat über ein Jahrzehnt in Arbeitslagern und Irrenhäusern zugebracht: "Jeden Tag schlagen Wärter auf die Insassen ein, fesseln sie, treten ihnen in den Magen. Manchmal werden sie auch in Isolierzellen gesteckt, in denen sie bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt werden. Ich weiß, dass mehrere Männer daran gestorben sind."

Ein Aufseher, der degradiert und wieder eingesperrt wurde, erzählte seinen Mitgefangenen im Arbeitslager Sytschjowka: "Es ist gut, im Irrenaus zu arbeiten. Da gibt's immer was zu essen und immer einen Grund, jemanden auf das Maul zu schlagen." - "Aber warum diese Leute schlagen?" fragte einer. Er antwortete: "Ich sag' dir, warum. Du stehst in der Mitte vom Gang. Ein Irrer kommt vorbei, schleicht an der Wand entlang. Du langweilst dich. Du gibst ihm einfach einen Schlag in die Schnauze, und schon geht's dir besser."

MIT HIEBEN THERAPIE BETREIBEN

Wo "Krankenwärter" mit Hieben Therapie betreiben, können auch sachfremde Ärzte herumdoktern. Die Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international berichtet, dass 1970 der Chirug Baryschnikow die Psychiatrische Sonderanstalt in Orel leitete. Zu seinem Team zählten praktische Ärzte, Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten, Augen- und Zahnmediziner. Sie alle fühlten sich berufen, ihre geistesgestörten Patienten psychiatrisch zu behandeln.

In der Sonderklinik von Dnjepropetrowsk war der politische Gefangene Leonid Pljuschtsch drei Jahre - meist in Gruppenzellen - eingesperrt: "Dort gab es vor allem Geisteskranke, aber auch Mörder, Diebe und Gammler. Wir waren ungefähr 60 politische Häftlinge. ... ... Ich bekam einen Platz in der Mitte zwischen zwei Betten. Auf ihnen quälten sich die Patienten vor Schmerzen. Einem hing die Zunge raus, ein anderer hatte herausquellende Augen, ein dritter ging auf und ab, gebückt in spastischer Haltung. Die meisten waren bettlägrig und hatten zu Grimassen verzerrte Gesichter vor Schmerzen. Sie sagten mir, dass sie wegen ihres schlechten Benehmens bestraft worden seien. Alle Patienten waren in knopflose Nachthemden gesteckt worden. Neben der Tür bettelten Kranke die Aufseher an, auf die Toilette gehen zu dürfen ..."

SOWJETISCHE METHODEN

" ... Eine Woche später wurde ich auf eine andere Etage verlegt. Dort war die Behandlung menschlicher. Niemand krümmte sich vor Schmerzen. Wieder wurde ich auf ein Brett zwischen zwei Betten gelegt. Einer meiner Nachbarn hatte kein menschliches Gesicht mehr. Er war aufgeschwollen, völlig unmitteilsam und onanierte ständig. Wenige Tage später wurde er sterbend in ein Hospital gebracht. Das ist eine bekannte sowjetische Methode, um die Zahl der Todesfälle in den psychiatrischen Kliniken gering zu halten. Ein Schwerkranker, den wir 'Mister' nannten, schrie unaufhörlich antisowjetische Sprüche und bat mich, seine völlig verworrenen Briefe an die Behörden zu korrigieren. Die Wärter versprachen ihm, seine Briefe heraus zu schmuggeln und nahmen ihm dafür seine ganze Nahrung ab. Zwei Monate später war er tot. Zweimal am Tage durfte man rauchen und sechsmal zur Toilette gehen. Die meisten Kranken rauchten soviel sie konnten, um erbrechen zu können. Das erleichterte ihre Behandlung."

CHRONOLOGIE

6. November 1973 - zweiter Besuch von Tatjana: "Leonid sagte mir, er könne keine Bücher mehr lesen."

4. März 1974 - dritter Besuch: "Er hat starke ödemartige Schwellungen, kann sich nur mit Mühe bewegen, seine Augen sind völlig leblos."

13. November 1875 - vierter Besuch: "Pljuschtsch schiebt seiner Frau einen Zettel zu: "Ich kann keine Briefe mehr beantworten. Vielleicht bin ich ja wirklich krank."

PSYCHO-PHARMAKA

Krankgemacht worden - muss man wohl hinzufügen. Der Körper von Leonid Pljutschtsch war mit dem Psycho-Pharmaka Haloperidol, Insulin und Triftasin vollgepumpt worden. Andere Insassen bekamen Sulphasin oder Aminasin gespritzt. Diese Medikamente werden teilweise auch in westlichen Ländern angewandt, aber nur in bestimmten schweren Fällen von Schizophrnie und progressive Paralyse. In den Sonderkliniken der Sowjetunion missbrauchen Ärzte die gefährlichen Pharmaka als Folter gegen unbequeme Systemkritiker. Dr. Ljamin, Psychiater im Irrenhaus von Sytschjowka, sagte zu mehrere politischen Gefangenen frei heraus: "Wir behandeln Sie nicht wegen einer Krankheit, sondern wegen Ihrer Ansichten."

Die Folgen sind verheerend. Viktor Feinberg, einst ein "Geisteskranker" in der UdSSR, heute Schriftsteller in London, berichtet: "Nach Sulphasin-Spritzen geht die Körpertemperatur bis auf 40 Grad hoch. Drei Tage krümmt sich der Kranke vor Schmerzen. Man kann sich vorstellen, wohin das führt, wenn ein Patient jeden zweiten Tag eine Injektion erhält." Oder wenn der Körper mit Haloperidol, Aminasin und Triftasin absichtlich verseucht wird. Die Resultate: Leberentzündungen, Druck in den Augäpfeln, Schüttelfrost, Magenkrämpfe, Blutdruckschwankungen, Trockenheit im Mund, tagelange Depressionen.

AUS DEN URZEITEN

Eine weitere Methode der Psychiater ist das so genannte "Einrollen"; eine raue Behandlungsart aus den Urzeiten der Medizin, die in den russischen Sonderkliniken als Folter angewandt wird: Die "Krankenpfleger" wickeln die Opfer von Kopf bis Fuss so fest in lange, nasse Tücher, dass sie kaum noch atmen können.

Wenn die Laken trockener werden, spannen sie sich noch enger um den Körper. Das Opfer schwankt zwischen Todesangst und Bewusstlosigkeit. Erst kurz vor dem Kreislaufkollaps werden die Tücher gelockert.

SCHALTZENTRALE: SERBSKIJ-INSTITUT

Die Schaltzentrale, die die Systemabweichler auf die neun Sonderkliniken in der UdSSR verteilt, ist das Moskauer Serbskij-Institut für Gerichtsmedizin. Es wurde 1922 gegründet, um "die Rechte von geistesgestörten Personen zu schützen, die nicht in böser Absicht, sondern unfreiwillig Handlungen begehen können, die für die Gesellschaft gefährlich sind", hieß es damals.

Heute ist das Serbskij-Institut quasi eine Außenstelle des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Andersdenkende, die in diesem Institut von dem leitenden Professoren Danil Luntz und G.W. Morosow behandelt werden, können sicher sein, dass sich unter dem weißen Kittel der Ärzte die Oberst-Uniform des KGB verbirgt.

ARMEE-GENERAL: GRIGORENKO

Ex-Armeegeneral Pjotr Grigorenko (*1907+1987), der in der Geheimdienst-Psychiatrie zur Staatsräson gebracht werden sollte und nach qualvollen Jahren als gebrochener Mann entlassen wurde, erklärte: "Ich habe nicht nur Professor Luntz, sondern auch andere Ärzte in KGB-Uniformen zur Arbeit kommen sehen."

Selbst der Partei war die Arbeit ihrer Psychiater einmal nicht ganz geheuer. Nach der Stalin-Ära (1922-1953) beauftragte das Zentralkomitee eine Sonderkommission, um die "repressiven Missbräuche" in den Kliniken aufzuklären. Der Genossse S.P. Pisarew berichtete 1956, im Jahr der Entstalinisierung, den Spitzenfunktionären der KPdSU: "Jahr für Jahr ist die Psychiatrie als Instrument zur Einkerkerung geistig gesunder Menschen benutzt worden."

ROTBANNER-ORDEN

Doch trotz dieses Berichts - geändert hat sich nichts. In den fünfziger Jahren war Psychiater Danil Luntz Dozent am Serbskij-Institut. Als die Abteilung im November 1971 von der Sowjet-Regierung für "ausgezeichnete Arbeit" mit dem Rotbanner-Ordnen geehrt wurde, durfte er sich schon Professor nennen. Heute ist er die graue Eminenz im Direktorium des Instituts, das mit Schnellgutachten den Vorwand liefert, unbequeme Widersacher des Regimes "bis zur Genesung" in die Irrenhäuser zu verbannen.

Professsor Luntz: "Wenn ich sage, jemand ist schizophren, dann ist er schizophren - und wenn ich sage, ein Aschenbecher ist schizophren, dann ist auch er schizophren." Luntz-Kollege G. W. Morosow scheut sich nicht, politischen "Patienten" gelegentlich die Wahrheit zu sagen: "Warum sollen wir uns mit politischen Prozessen plagen, wo wir psychiatrische Kliniken haben!"

KEIN GESETZ SCHÜTZT PATIENTEN

Für die Arbeiten in den Sonderkliniken ist nicht die Gesundheitsbehörde verantwortlich. Die Oberaufsicht führt das mächtige Innenministerum, das mit dem KGB gemeinsam den Willkür-Apparat des stalinistischen Volkskommissariats des Inneren (NKWD) geerbt hat Kein Gesetz schützt Patienten vor heimtückischen Übergriffen, kein Beschwerderecht, keinen Verteidigerkontakt.

Junge Psychiater, die sich der politischen Säuberung widersetzen, gefährden sich selbst. Der Fall des 31jährigen Dr. Semjon Glusman aus Kiew: In einem Alternativ-Gutachten zur geistigen Verfassung von Pjotr Grigorenko hatte Glusman dem früheren Armee-General ein normales Verhalten bescheinigt. Die Serbskij-Diagnose hingegen sah in Grigorenkos "Reformideen und in der Überschätzung seiner eigenen Person deutliche Anzeichen einer pathologischen Persönlichkeits-Entwicklung, die nur in einer Anstalt mit dem höchsten Sicherheitsgrad behandelt werden könne.

NACH GUTACHTEN VERHAFTET

1971 schloss Glusman seine Grigorenko-Expertise ab. Im Mai 1972 wurde er verhaftet. Der Grund war das Alternativ-Gutachten. Fünf Monate später wurde der junge Psychiater in Kiew zu sieben Jahren Arbeitslager mit anschließende dreijähriger Verbannung verurteilt.

Augenzeugenberichte und Dokumente sowie Protokolle und Tonbandaufzeichnungen, die in den Westen geschmuggelt wurden, belegen zweifelsfrei, dass seit 1969 mehr als 130 Sowjetbürger aus politischen oder religiösen Gründen in den Sonderkliniken verschwanden. Und wie das genau gemacht wird, dafür drei Bespiele in diesen Dokumenten:

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Der Moskauer Psychiater Dr Hermann Schafran zu seinem "Patienten" Gennadij Schimanow, einem orthodoxen Christen: " ... Was Sie erzählt haben, bestätigt uns, dass die Krankheit die Grundlage Ihrer 'Bekehrung' darstellt ... Sie können uns glauben, wir sind darin Spezialisten ... Wären Sie in einer religiösen Gemeinschaft oder im Westen aufgewachsen, könnten wir Ihre Religiosität noch begreifen. Aber Sie wurden in einer sowjetischen Schule und in einer atheistischen Familie erzogen . Dass Sie jedoch so plötzlich, wie von ungefähr, die Religion befällt, nehme ich ihnen nicht ab. Wir glauben, dass sich in Ihrer Jugend anormale Prozesse abgespielt haben ..."

0 Der Moskauer Psychiater Dr. W. D. Dmitrijewskij zu seinem "Patienten" Jewgenij Nikolajew, einem sozialkritischen Wissenschaftlicher: "Wenn Ihre sozialen Ansichten nicht gesellschaftlich gefährlich wären, hätte man Sie nicht in eine psychiatrische Klinik gesteckt ... Sie kennen doch unsere Staatsmaschinerie. Wir sind alle den zuständigen Organen unterstellt und haben die Direktive zu befolgen ... Sie sehen, Sie sind gut bekannt wie Solschenizyn. Er wurde wegen seiner Erklärung außer Landes geschickt. Sie werden wegen Ihrer Erklärungen und Ansichten in eine psychiatrische Anstalt kommen ...".

0 Der Psychiater Dr. A. J. Lifschitz in Kaluga an der Oka zu seinem "Patienten" Schores Medwedjew , einem international bekannten Biogenetiker: " ... Ihre 'publizistische' Tätigkeit neben der normalen beruflichen Arbeit ist ein Zeichen für Ihre gespaltene Persönlichkeit. Natürlich wird das Krankenhaus Sie zu gegebener Zeit entlassen ... Aber wenn Sie Ihre publizistische Tätigkeit fortsetzen, werden Sie unweigerlich wieder hier bei uns landen ...".

STAATSTERROR AUF PSYCHIATER-COUCH

Staatsterror auf der Psychiater-Couch. Kaum in einem anderen Land klaffen Verfassungstext und -wirklichkeit so weit auseinander wie in der Sowjetunion. Die unter Josef Stalin (*1878+1953) im Jahre 1936 verabschiedete Verfassung garantiert dem 255-Millionen-Volk grundlegende Menschenrechte: Glaubensfreiheit und Ausübung religiöser Kulthandlungen (Artikel 124) Rede- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit (Artikel 125). Außerdem sichert Artikel 17 der Verfassung jeder Sowjetrepublik zu Recht zu, aus der Union auszutreten. Das bedeutet, dass sich jeder Bürger zu seiner eigenen Nationalität bekennen darf.

So kann KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnjew (*1906+1982) getrost behaupten: "Die sowjetischen Gesetze gewähren unseren Bürger große politische Freiheiten. Gleichzeitig schützen sie unser System vor jedem Versuch, diese Freiheiten zu missbrauchen."

Die liberalen Paragrafen haben noch niemanden aus dem Gefängnis geholt - eher hineingebracht, wenn Sowjetbürger sie für sich beanspruchen. Denn das Strafrecht, in den sechziger Jahren neu gefasst, schränkt die von der Verfassung geschützten Freiheitsrechte gravierend ein. Danach ist der Staatsapparat ermächtigt, politische Kritiker und religiöse Dissidenten zu verhaften, anzuklagen, abzuurteilen.

JAHRHUNDERTWERK

Auch der neue Verfassungsentwurf, der im Juni 1977 der sowjetischen Öffentlichkeit zur Diskussion vorgelegt worden ist, räumt den Bürgern nur scheinbar größere Freiheiten ein. In Wirklichkeit sind die als Jahrhunderwerk gefeierten Gesetzestexte ein Aufguss der Stalin-Verfassung von 1936. Auch heute, wie damals schon, gilt: "Die Ausübung dieser Rechte und Freiheiten durch die Bürger darf die Interessen der Gesellschaft und des Staates ... nicht verletzen." Und nur die Partei bestimmt, wer "die Interessen der Gesellschaft" missachtet.

KEINE FREISPRÜCHE

Der Generalprokurator der UdSSR, Roman Rudenko (*1907+1981) ernennt und dirigiert alle Staatsanwälte der Unions-Republiken. Sie sind die Chefankläger gegen politische Oppositionelle, Nationalisten, Juden und Christen. Verteidiger, die sich kompromisslos für ihre Mandanten einsetzen, müssen mit empfindlichen Sanktionen rechnen. So wurde der Moskauer Spitzenanwalt B. A. Solutuchin vor Jahren aus der KPdSU und aus dem Anwaltskollegium verwiesen, weil er für den demonstrierenden Schriftsteller und Bürgerrechtler Alexander Ginsburg (*1936+2002) - der im März 1977 erneut in Moskau verhaftet worden ist - Freispruch gefordert hatte. Kein Gericht in der Sowjetunion hat jemals die von Staatsanwälten vorgetragenen Anklagen abgewiesen. Kein Richter hat bisher einen aus politischen oder religiösen Gründen Angeklagten freigesprochen.

Im Namen der sozialistischen Sowjetrepubliken geht es immer in die Sonderkliniken oder Arbeitslager, die offiziell "Arbeitsbesserungskolonien" heißen. Der Moskauer Bürgerrechtler und Nobelpreisträger Andrej Sacharow (*1921+1989) schätzt, dass in mehr als 1000 Camps zwischen Kaliningrad und Wladiwostok 1,7 Millionen Sowjetbürger aus Gewissensgründen interniert sind. Die Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international ermittelte insgesamt 1,2 Millionen Gefangene, darunter mindestens 10.000 politische Häftlinge.

"CHRONIK DER LAUFENDEN EREIGNISSE"

Welche Zahl auch stimmen mag, die KPdSU-Führung leugnet strikt, auch nur einen einzigen politischen Häftling in ihren großflächigen Lagern festzuhalten. Schon Nikita Chruschtschow (*1894+1971) behauptete 1959: "Es gibt heute keine politischen Gefangenen mehr in sowjetischen Gefängnissen." Dabei war es Chruschtschow, der die Liberalisierung in der Nach-Stalin-Ära beendete und neue Verhaftungswellen gegen Intellektuelle in Gang setzte.

Auch Chruschtschow-Nachfolger Leonid Breschnjew (KPdSU-Chef 1964-1982) zeigte sich nicht weniger zimperlich. Sein absoluter Machtanspruch provozierte Widerspruch, vor allem Literaten, Theaterleute und Wissenschaftler schlossen sich insgeheim zur "Kultur-Opposition" zusammen, die schnell gesellschaftpolitische Bedeutung gewann. Die hektografierte Untergrund-Zeitschrift "Chronik der laufenden Ereignisse" (Chronika te Kutschtschich sobytij), zunächst eine klassische Literaturpublikation, die unzensiert und illegal von Mann zu Mann wanderte, gewann zunehmend politisches Profil. Die Forderung nach mehr politischer Freiheit und nach mehr Informationen wurde vom Kreml mit spektakulären Einschüchterungsprozessen beantwortet.

VERSCHÄRFTE LAGERHAFT

Als erste traf es die Schriftsteller Juli Daniel (*1925+1988) und Andrej Sinjawskij (*1925+1997), die zu sieben und fünf Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt wurden, weil sie ihre kritischen Bücher im westlichen Ausland veröffentlichen liessen. Der Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei rief 1968 Regimekritiker wie Wladimir Bukowskij , Schlüsselfigur der demokratischen Oppostion, Alexander Ginsburg, Pawel Litwinow (+2005) oder Larissa Daniel zur Demonstration auf den Roten Platz in Moskau. Die Parolen auf ihren Transparenten - "Hände weg von der CSSR" oder "Freiheit für Dubcek" (*1921+1992) - brachten sie auf der Stelle in Lager und Sonderkliniken.

IRRENHAUS + NOBELPREIS

Zwischen Irrenhaus und Nobelpreis pendelt auch der Atomphysiker Andrej Sacharow, der in Moskau unerschrocken den "freien Austausch von Gedanken, Informationen und Meinungen" fordert. Zu diesen Freiheiten hatte sich auf der KSZE-Konferenz (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) 1973 in Helsinki auch Parteichef Leonid Breschnjew feierlich bekannt, als er im August 1975 die Schlussakte unterzeichnete.

GEFANGENEN-TRANSPORTE

Dessen ungeachtet rollen weiter jeden Monat die Gefangenen-Transporte von Moskau zu den Arbeitslagern nach Perm im Ural oder in der Mordwinischen Republik. Fünfzehn Verbannte hockten in einem Schlafabteil. Die Fenster sind luftdicht verschlossen, die Lebensmittel verdorben. Toiletten und Waschräume sind aus Sicherheitsgründen verriegelt, die Gefangenen müssen die Gänge benutzen. Schmutz, Gestank, Atemnot. Nach zweitägiger Fahrt läuft der Zug in Perm ein. Ein unverstellbares Martyrium erwartet die Verbannten.

KÖPFE: KAHL GESCHOREN

Rings um Perm und in den sumpfigen Regionen der Mordwinischen Wälder gibt es kaum Straßen, nur Bahngleise verbinden die Arbeits-Wälder mit der Außenwelt. In den Kolonien ShCh 385/1, 385/3 und 385/17 sind die politischen Gefangenen interniert. Den meisten wird sofort der Kopf kahlgeschoren, In der Kolonie 385 /3 sitzen Frauen, die zu laut an Gott geglaubt und deshalb ins Arbeitslager verbannt wurden.

Getreu der marxistisch-leninistischen Doktrin "Arbeit ist ein universelles Mittel zur Erziehung des Volkes", so der Kommentar zu den Grundlagen des sowjetischen "Besserungsarbeitsgesetzes" von 1972, beginnt die Frühschicht um 8.00 Uhr und dauert bis 16.30 Uhr, die Spätschicht von 16 bis 0.30 Uhr. Die Arbeitsplätze sind Wälder, Sumpfgebiete, Sägewerke, Ziegeleien oder chemische Fabriken.

ZWANGSARBEITER VERSCHARREN

In Sibirien bauen Gefangene eine der längsten Eisenbahn-Linien der Welt. Parallel zur bestehenden transsibirischen Linie soll nördlich der sowjetisch-chinesischen Grenze eine neue Strecke entstehen.

Ob Sonntag oder Feiertag - malocht wird immer, "um den Rest der Arbeitskraft auszubeuten", sagt Hauptmann Sutschkow aus dem Lager Dubrow in der Mordawinischen Republik. Manche Männer fallen während der Arbeit tot um. Im nahe gelegenen Birkenwald werden sie dann verscharrt. Eine Zahl auf einem kleinen hölzernen Grabschild ist alles, was an die Zwangsarbeiter erinnert.

Andrej Sinjawskij, der die letzten Jahre seines Lebens in Paris lebte, war einst in den Mordwinischen Wäldern interniert. Er erinnerte sich an einen Greis, den er damals fragte: "Wie lange bist du schon hier, Großvater?" - "Seit 43 Jahren", antwortete der alte Mann. "Dann kennst du also das Sowjetregime so gut wie gar nicht?" "Nein", sagte er, "Gott hat mir hier seine Gnade gegeben."

FOLTER DES HUNGERS

Mit anderen Häftlingen ist er nicht so gnädig. Die von Moskau verordnete Folter des Hungers treibt viele in den Wahnsinn. Am Morgen dünne Grütze, Wassertee und etwa 20 Gramm Zucker. Am Abend das gleiche, nur der Zucker fehlt. Mittags eine Kohlsuppe aus Wasser und Knochen und Hafergrütze. Manchmal gibt's auch eine Kartoffel.

Gefangene mit so genannten verschärften Sonderregimen (Haftbedingungen) bekommen noch weniger. Der internationale Standard für einen Gefangenen, der acht Stunden arbeitet, liegt zwischen 3100 und 3900 Kalorien täglich. In den sowjetischen Lagern erhalten die Häftlinge unter normalen Konditionen 2600, unter strengen und scharfen Regimen nur 2100 und 1300 Kalorien. Zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel. Dafür werden den Geschundenen auch noch täglich 42 Kopeken von ihrem ohnehin mageren Fron-Lohn abgezogen.

POLIT-UNTERRICHT

Wer dem politischen Pflichtunterricht, der mindestens einmal in der Woche stattfindet, fernbleibt oder die Parteilinie nicht vertritt, wird bestraft. Die erst nach einigen Jahren Lager in Aussicht gestellte Besuchserlaubnis der Familie wird von vornherein gestrichen. Denn das vordringliche Ziel ist, den Gefangenen "zum Geist eines redlichen Verhaltens zur Arbeit, der strikten Einhaltung der Gesetze, der Achtung vor den Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens ..." umzuerziehen, heißt es im Kommentar zu den Grundlagen der sowjetischen "Besserungsarbeitsgesetze" von 1972. Dafür können die Wärter "jede beliebige Maßnahme und Methode der pädagogischen Einflussnahme" einzusetzen.

Beim Polit-Unterricht des Oberstleutnant Ljubajew vom mordwinischen Lager Nummer 11 wagten es einige Dissidenen doch einmal, eine Art Diskussion über die Menschenrechte der Vereinten Nationen zu entfachen. Lubajew zeigte sich nachsichtig: "Hört mal, aber das ist doch für Neger." In die Weltpoltiik führte Oberstleutnant Bessubow seine Schüler ein. "In China", so verkündete er Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern, "treiben die Zionisten und der Tschou-En-lai (*1898+1976, Premierminister Chinas von 1949-1976) ihre Unwesen. Aber das chinesische Volk ist ja nicht blöd - es wird es ihnen schon zeigen."

SELBST-VERSTÜMMELUNGEN

Wohin die Verzweifelung der Ausgemergelten führt, berichtet der Schriftsteller Eduard Kusnezow in seinem Tagebuch, das auf geheimen Wegen in den Westen gelangte. Kusnezow, der wegen eines missglückten Fluchtversuchs mit einem entführten Flugzeug zu 15 Jahren Arbeitslager in den Mordwiniscen Wäldern verurteilt wurde, schildert: "Unzählige Male bin ich Zeuge der unglaublichsten Selbstverstümmelungen geworden. Nägel und Stacheldraht werden kiloweise verschluckt. Man würgt Quecksilberthermometer, Schachfiguren, Nadeln, Glasscherben, Löffel und Messer hinunter. Man näht sich den Mund oder die Augen mit Zwirn oder Draht zu. Man nagelt sich den Hodensack an den Pritschen fest. Man verschluckt Haken, gebogene Nägel und befestigt sie mit einem Faden an der Tür, so dass man sie nicht öffnen kann, ohne den 'Fisch' zu ziehen. Man schneidet sich Fleischstücke vom Bauch oder von den Beinen heraus, brät und verspeist sie. Man hüllt sich ganz in Papier ein und zündet sich an ...".

Vor den Sanitätsstationen stehen rund um die Uhr lange Menschenschlangen, einen Arzt bekommen die Verbannten selten zu Gesicht. In dem notdürftigen "Krankenzimmer" operieren sich die Häftlinge oft untereinander.

Jurij Galanskow starb am 18. Oktober 1972 mit 33 Jahren im mordwinischen Lager 17 A von Potma. Der junge Dichter litt an einer akuten Infektion des Zwölffingerdarms. Ein Mithäftling operierte ihn zu Tode.