Montag, 3. September 1984

Betrogene Betrüger - größte journalistische Gaunerstück aller Zeiten

Gerd Schulte-Hillen,
Verlagsmanager
(*1940): "Was teuer
ist, kann nur echt
sein." 4,65 Millionen

Euro für eine
Fälschung bezahlt.

Henri Nannen (*1913+1996)
war der Hans
Albers des Journalismus.
Ein Mann der
Legenden - der nicht nur
auf der Reeperbahn
; mit verbrannter
Erde sein Dasein bestritt.


Peter Koch (*1939+1989) liebte
Geld, schöne Frauen und schnelle
Autos. Als politischer Publizist
wollte er bedeutend werden. Dabei
hatte er Rasierklingen an den Ellen-
bogen. Es
reichte nur zur Fußnote
einer Stern- Skandal-Geschichte. Mit
1,5 Millionen Euro Abfindun
g nach
Hause geschickt. Koch starb an
Krebs in den USA.



Thomas Walde (*1940) war einer der
fundiertesten
Journalisten in Print-Medien.
Er promovierte über Geheimdienste.

Walde war präzis in Analysen, kenntnis-
reich sein Wissen. Im allgegenwärtigen
Illustrierten-Sog nach Sensationen verlor
er den Überblick hielt dem Druck nicht
mehr stand.Tragisch. Opfer des Hamburger
stern-Milieus.


Gerd Heidemann (*1931), ein Mann mit
Nazi-Affinitäten, Nazi-Liedern, Göring-
Maskeraden; Ehefrau mit adretter BDM-
Frisur. Wollte groß rauskommen, hoch
gepokert, viel Geld verdient, alles verloren.
In den Knast eingefahren. Vom Starreporter
zum Sozialfall.




Die sogenannten Hitler-Tagebücher und ihre Veröffentlichung in der Hamburger Illustrierten stern gilt als einer der größten Skandale in der Geschichte der deutschen Presse, als Parade-Beispiel für Scheckbuch-Journalismus. Der stern hatte für 4,65 Millionen Euro 62 Bände gefälschter Tagebücher erworben. Auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz kündigte Chefredakteur Peter Koch (*1939+1989) an, "große Teile der deutschen Geschichte müssen umgeschrieben werden". Beschaffer Gerd Heidemann, ließ sich in Siegerpose zu einem "Victory"-Zeichen hinreißen. Welterfolg.

Gerd Heidemann (*1931) musste wegen Unterschlagung eine Haftstrafe von vier Jahren und acht Monaten antreten; lebt seither von Sozialhilfe. Konrad Kujau (*1938 + 2000) wurde durch seine Fälschung populär und gleichfalls wegen Betrugs mit vier Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug belegt. Aufgrund seiner Kehlkopf-Krebserkrankung verbüßte Kujau lediglich drei Jahre Haft. Er starb im Jahr 2000.

Chefredakteur Peter Koch trat von seinem Amt zurück - notgedrungenerweise. Er ließ sich für sein Tagebuch-Abenteuer mit einer stattlichen Abfindung in Höhe von 1,5 Millionen Euro belohnen. Als neuer Blattmacher im Springer-Verlag scheiterte Peter Koch mit seiner Illustrierten "Ja" abermals. Sie musste schon nach wenigen Ausgaben wegen mangelnder Auflage und wirtschaftlichen Misserfolges eingestellt werden. Er starb im Alter von 50 Jahren 1989 auf seinem Landsitz in Florida an Krebs.

Auch Thomas Walde hatte als Ressortleiter Zeitgeschichte den stern verlassen. Bis zu seiner Pensionierung verantwortete er das Hörfunk-Programm von Radio Hamburg. Dessen ungeachtet blieb er Zeit seines Lebens ein Gefangener der gefälschten Hitler-Tagebücher. Ob er wollte oder auch nicht - sie liessen ihn nicht mehr los. So gestand Thomas Walde vor dem Service-Club Round Table in der Potsdamer Strandbar freimütig: Dieser Skandal habe tatsächlich seine verdeckte Anziehungskraft nicht verloren, auch nach 25 Jahren nicht. "Ich muss immer wieder Auskunft über dieses Desaster geben, hätte ich es nicht getan, wäre ich daran zugrunde gegangen."

Auftritt, Rhein-Main-Illustrierte
Frankfurt a/M
vom 3. September 1984


von Reimar Oltmanns

und Georg Weissenberger (Dokumentation)


Es
war einer jener seltenen Sommertage, der die Gemüter ungeahnt vibrieren lässt. Im klinkerverputzten Hamburg, der Hochburg des Hochmuts, kriechen die Bürger aus ihren Burgen. Der Volkspark wimmelt voller euphorischer Menschen samt lebenslustiger Hunde. Auf der Außenalster ziehen Segelboote ihre beschaulichen Schleifen. Und in der Fabrik rockt Ulrich Klose, damals Regierungschef der Hansestadt (1974-1981), in Udo Lindenbergs Aufbruch-Stimmung hinein - ("Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt und sonst gar nichts").

ZÄHESTER SPÜRHUND

Nur am Ausschläger Elbdeich plätschert das Wochenende eher freudlos vor sich hin. Genauer gesagt auf der Carin II, einer Privatjacht, die dem stern-Journalisten Gerd Heidemann gehört. Heidemann, auch Gerdsche genannt, zählt allseits unbestritten zu den hochkarätigen Rechercheuren der Illustrierten - und das schon seit mehreren Jahrzehnten. Eben der "hartnäckigste, raffinierteste Reporter Deutschlands, der zäheste Spürhund, der sich überhaupt denken lässt". Eben ein klassischer Karriere-Mann, der sich während seiner überaus langen Laufbahn nicht einmal eine Gegendarstellung, keine Klage, keinen Prozess einhandelte, wie der stern großspurig kundtat.

SCHIFFS-SALON

An diesem Wochenende anno 1978 hockt der stern-Star ein wenig gelangweilt in seinem Schiffssalon. Ihm missfällt jeder Stillstand, jede Minute, die Heidemann mit Heidemann zu konfrontieren droht. Er hasst erst recht jeden Urlaub, den er immer wieder irgendwie schon als eine "empfindliche Strafe" wahrnimmt, empfindet. Ferien zu machen, auszuspannen, das hieße ja, von der nahezu manischen, ureigensten Bessenheit, vom rasenden Fanatismus abzuschalten, sei es auch nur für ganze sechs Wochen. Wenn innere Ruhe als Bedrohung empfunden wird ... ...

FRAU HEIDEMANN IV.

Aus dem Bord-Kasettenrekorder scheppert stattdessen der Radetzky-Marsch. Heidemann, in der Prachtuniform des Reichmarschalls Hermann Göring (*1893+1946), wartet auf seinen Erbseneintopf. Das Ambiente um ihn herum: Göringsches Tafelsilber, Göringsche Aschenbecher. Selbst die Kissenbezüge stamme aus Görings Bademantel. In der Kombüse bekocht ihn Gina. Natürlich hat Gina wasserblaue Augen, ist groß wie blond; eine Frau, die an Lebensborn, ans Rassenglück erinnert; an jene vollends entgeisterten Arierinnen, die dem Führer ein Kind schenkten wollten und manchmal auch durften. Aber immerhin: alsbald darf Gina sich Frau Heidemann IV. nennen. Szenen wie aus Hollywood. Nur mit dem filigranen Unterschied, dass solch ein Kasperle-Theater auf einem Kahn zu Hamburg der siebziger Jahre nicht einer Kabarett-Aufführung, sondern der nachempfundenen Wirklichkeit entsprach.

SS-SCHERGEN ALS TRAUZEUGEN

Keine anderen als der ehemalige Waffen-SS-General und unbelehrbare Verteidiger der Reichskanzlei Wilhelm Monke (*1911+1977) wie auch der frühere Waffen-SS-General und Himmler-Intimus Karl Wolff (*1900+1984) werden in wenigen Wochen später die Heidemanns als Trauzeugen zum Standesamt eskortieren. Wolff, ein Nazi-Karrierist und ausgewiesener Scherge, der wegen Ermordung von 300.000 Juden zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Wolff , den Gerd Heidemann stets als "Wölfchen" liebkost; einfach, weil er doch so "ein netter Mann ist".

GÖRINGS KAJÜTE

Die "Carin II" - das war einmal Görings Schiff.- Die Paradejacht des Reichsmarschalls Hermann Göring (*1893+1946). Im Jahre 1937 bekam er es im Werte von 1,3 Millionen Reichs-Mark von der Automobilindustrie geschenkt. Im Jahre 1973 kaufte es Gerd Heidemann im ziemlich verrotteten Zustand einem Bonner Druckerei-Besitzer für immerhin 160.000 Mark ab. Zwischenzeitlich diente es unter dem Namen "Prince Charles" dem englischen Königshaus als Prominentenjacht. Die "Carin II" - sie wurde zu Heidemanns Refugium. Eine tief verwurzelte, emotionale Heimstatt, für die er sein Haus veräußerte, für die er sich bei der Deutschen Bank wegen immenser Renovierungskosten sogar um 300.000 Mark verschuldete (Kontonummer: 521.815.101).

PANZERDIVISION "HITLER-JUGEND"

Eine Affinität, die Heidemann geschickt mit Geschäftsinteressen oder "zeitgeschichtlichen Nachforschungen" zu kaschieren wusste, aber tatsächlich bereits im Jahre 1945 ihren Ausgangspunkt nahm. Damals war Gerd Heidemann gerade dreizehn Jahre alt, als die aus Holland zurückbeorderte Panzer-Division "Hitler-Jugend" in Dorfmark am Rande der Lüneburger Heide ihm das Zerlegen von MGs und Schießen beibrachte - Pimpf Heidemann mit "feucht-glänzenden Augen" zu den 17jährigen Waffen-SS-Männern aufblickte.

VERWIRRENDE VERIRRUNGEN

Auf
diesem Geisterboot schuf Gerd Heidemann sich nach all den verwirrenden Verirrungen eines Reporterlebens seine Wirklichkeit; die der Nazis ("Kamerad-weißt-du-noch"), die der Waffenhändler, Neofaschisten und Geheimdienst-Agenten. Allesamt gingen sie auf der "Carin II" liebend gern ein wie aus. Saufgelage, Weiber, Blutfahne, Fressplatten vom Hotel Intercontinental mit Lachs- und Kavierschnittchen samt Rehrücken-Filet . Dazu Nazi-Lieder, Göring-Maskerade, Görings Lokusschüssel und natürlich der lallende Eintrag ins Heidemann'sche Bordbuch. Der Starreporter auf Recherche, auf Rechnung des stern versteht sich.

STATTLICHE MÄNNER - STERN-MÄNNER

Auf diesem Kahn, der traumatisch minutiös jenes braune Despoten-Dasein aktualisiert, fand Heidemann endlich seinen ersehnten Platz, seine NS-beseelte Genugtuung oder Anerkennung, auch seine menschlichen Bezugspunkte. Gerd Heidemann war richtig angekommen, er konnte sich allmählich zu dem häuten, der er schon immer war. Ein autoritätshöriger, enthusiastischer Verehrer überlebensgroßer Männer, "hart wie Stahl" und mit eisenbeschlagenen Schuhabsätzen - hießen sie nun SS-Wolff, SS-Mohnke, Schlächter Barbie in Lyon, stern-Nannen oder stern-Koch. Wer auch immer von den drahtigen "Mustermännern" sein Gegenüber war. Heidemanns Hingabe bestand aus winselnder Abhängigkeit.

GRÖSSTER REPORTER ALLER ZEITEN

Mit den Hitler-Tagebüchern, dem bislang umfangreichsten Fälschungswerk der Geschichte, wollte Gerd Heidemann zum Gröraz, zum größten Reporter aller Zeiten werden. Neun Millionen Mark (4,65 Millionen €) blätterte der Verlag Gruner + Jahr für Konrad Kujaus Falsifikate hin, auf etwa 20 Millionen Mark beläuft sich der Gesamtverlust. Es war der letzte Versuch eines ausgebrannten Reporters, dem drohenden Rausschmiss mit einem "Bravourstück" doch noch die entscheidende Wende zu geben - der Weltöffentlichkeit nach konspirativer Vorarbeit eine Weltsensation zu präsentieren, den "größten Coup seit Watergate" (politische Vertrauens- und Verfassungskrise in den Vereinigten Staaten von 1972-1974).

VOM ELEKTRIKER ZUM JOURNALISTEN

Denn vor nichts zitterte der damals 49jährige Heidemann mehr als vom stern, der größten deutschen Illustrierten (Auflage: 1,49 Millionen) den Fußtritt zu kassieren. Schon längst hatte er nicht mehr die Leistungskraft früherer Jahre, Schulden plagten ihn, Pfändungsbescheide flatterten ins Haus. Das, was Heidemann darstellte oder hermachte, verdankte er ausschließlich seiner Illustrierten. Ihr verschrieb er sich, von ihr ließ er sich enteignen. Sie ermöglichte ihm den einzigartigen Aufstieg vom Elektriker zum Frist-Class-Jetset, sie machte ihn x-beliebig gefügig, bestimmte durchschlagend seine Höhen und Tiefen. Gerd Heidemann merkte nicht, dass dieser stern ihn hingerichtet hat, Stück um Stück mehr in den Wahnsinn trieb, seine nach außen präsentierte Glanz- und Glimmerexistenz nicht mehr als ein beklagenswerter Trümmerhaufen war.

GRENZGÄNGER MIT SCHECKBUCH

Die gefälschten Hitler-Tagebücher verletzen bekanntlich ja nicht nur das geschichtliche Bild der Deutschen samt ihrer Millionen-Opfer. Sie sind gleichfalls Ausdruck eines beispiellosen Grenzgänger- oder Scheckbuch-Journalismus, der die Fronten zwischen Reportern, V-Leuten und Agenten gefährlich verwischt, folgerichtig in Medien-Exzessen endet. Die Käuflichkeit von Nachrichten wie Informanten zählt seit zwanzig Jahren in den internen Redaktionsabläufen zur bewährten Praxis - und dies ausnahmslos, ob Spiegel, Focus, stern oder auch Bunte; vom Privatfernsehen um RTL bis hin zu SAT1 ganz zu schweigen.

AUFSCHNEIDEREI

Gewiss ohne Heidemanns "Beschaffung" hätte der stern Hitlers Tagebücher wohl kaum drucken können. Doch seine Lebens- wie Reporter-Geschichte ist ohne Henri Nannen so nicht denkbar und der stern ohne Nannen ebenfalls nicht. In Wirklichkeit sitzen vor dem Hamburger Landgericht neben Heidemann/Kujau die verantwortlichen Manager und Chefredakteure auf der Anklagebank. Es sind deutsche Spitzenverdiener der Extra-Klasse eines "maroden spätkapitalistischen Monsterunternehmens", die den Führer in der Öffentlichkeit wie eine Delikatesse servierten, schrieb Ex-Autor Erich Kuby (*1910+2005) in seinem Buch, "Der Stern und die Folgen". Ob hemmungslose, ungenierte Profitgier oder kaltschnäuzige, abgerichtete Knüller-Mentalität, "die wöchentliche Aufschneiderei bis eben hin zur Fälschung", bemerkt der einstige Nannen-Stellvertreter Manfred Bissinger, "sei der eigentliche Nährboden gewesen, in diesem Klima konnte Heidemann gedeihen."

HANS ALBERS DIESER EPOCHE

Dieser stern, der sich seinen Lesern mit einfühlsamen Sozialreportagen, mit Serien gegen Berufsverbote, Militarismus, Folter, Rüstungswahn empfiehlt, in diesem stern spielte Henri Nannen "das Schwein, um den stern zu retten" (Nannen über Nannen). Er beritt Frauen nach Lust und Laune; alle staunten, tuschelten und schauten weg. Er bürstete seine verängstigten Mitarbeiter menschenverächtlich ab, furzte in den Konferenzen herum, ließ seine Leute im Gestank schmunzelnd strammstehen. Er feuerte oder heuerte Redakteure von einer Minute zur anderen. Wer aufmuckte, widersprach - gegen den "Hans Albers des Journalismus"- der bekam in späteren Jahren nicht etwa den neureich als TV-event aufgemotzten "Henri-Nannen-Preis", sondern nicht selten Hausverbot - postwendend. Und wer gar zaghafte Schwäche zeigte, den beutelte er oft genüsslich bis zur Selbstaufgabe. Sie hießen Peter Heinke, Wolfgang Barthel oder auch Paul-Heinz Koesters - sie schieden alle - über kurz oder lang, Jahre hin, Jahre her - freiwillig nicht nur vom stern - aus ihrem Leben. Ein Redakteur um die 50 Jahre alt, flehte ihn weinend an, ihn doch wenigstens erst in einem Jahr zu feuern, wenn sein Sohn das Studium beendet habe. Fehlanzeige. Dieser "perfekte", "radikale Opportunist", wie Erich Kuby ihn charakterisierte, der sich bei Nannen immerhin 16 Jahre verdingte, prügelte sein Blatt mit Bauch und Geruchssinn zum einsamen Erfolg: zu acht Millionen Lesern wöchentlich.

HAIFISCH-BECKEN

Indes: Unter Nannens Ägide brodelte ein Klima, das in Kasernen oder Gefängnissen den zermürbenden Alltag durchdringt.

Eine luxuriöse Psycho-Folter, der sich kaum einer entziehen kann, der auch nur halbwegs in diesem Haifischbecken überleben will. Der einstige stern-Reporter Kai Hermann trat Chefredakteur Nannen jedenfalls vor Zorn im Jahre 1978 die Glastür ein, weil er sich der Auflage willen wieder einmal über eine Absprache hinweggesetzt hat und das Konterfei der Christiane F. ("Wir Kinder von Bahnhof Zoo") fast idenifizierbar auf den Titel pustete. Dem Triebtäter Nannen folgte der Kompanie-Feldwebel Peter Koch, der Mann "mit den Rasierklingen an den Ellenbogen".

GROßHANS-ARROGANTEN

Diese "deutschen Großhans-Arroganten" stapften gut gelaunt über Leichen. Was macht es da schon, wenn sich eine Redakteurin vor beruflicher Ohnmacht ihre Pulsadern aufritzt, quasi in letzter Minute gerettet wird? Ein Bonner Korrespondent sich aus dem Fenster stürzen will, weil er dem "Leistungsknüppel" nichts mehr entgegen zu setzen hatte, nunmehr als Bonner Frührentner sein Leben mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker meistert? Ein anderer, der den einjährigen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik regelrecht als "Befreiung" feiert; ein weiterer mit 40 Jahren ins Gras beißt, weil er dem Stress nicht mehr standhielt und sich zu Tode soff. Was macht es da schon, wenn der frühere stern-Reporter Karl-Robert Pfeffer in Beirut, Hans Bollinger und Wolfgang Stiens am Victoria-See in Uganda erschossen werden? Ihre Leichen geben zumindest soviel hier: eine hautnah erlebte Illustrierten-Story mit faktenreichem Betroffenheits-Habitus, von der Nannen schon längst geträumt hatte - im doppelseitigen Vierfarbformat versteht sich.

ERDBALL EIN PUFF

Für die stern-Oberen ist die Welt, ist jedermann käuflich, alles verfügbar, der ganze Erdball ein einziger Puff.; Spesen selbstverständlich qua Ersatzbeleg für "Übersetzungsskosten". Bekanntlich 9,34 Millionen für die Tagebücher, 100.000 Mark für die degoutante Serie über Marianne Bachmeier (*1950+1996 - sie hatte im Gerichtssaal den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter erschossen); ganze 80.000 Mark für den Kronzeugen gegen den KGB, 250.000 Mark für die Lebensgeschichte des Franz Beckenbauer, 125.000 Mark für Jimmy Carter (US-Präsident 1977-1981) usw. usf. Und einen Chefredakteur Peter Koch, der sich seine Tapeten fürs neue Haus im Villen-Vorort Övelgönne an der Hamburger Elbchaussee aus New York einfliegen lässt; ansonsten aber, auf die Erste-Klasse-Flüge als nicht standesgemäß pfeift. Stattdessen lieber wie einst der TV-Serienheld aus dem Soap Denver-Clan mit einem Lear-Jet andere Länder beglückt - und nicht nur diese. So mal eben nach Madrid (Kostenpunkt: 18.000 Mark), vier gestotterte, verhaspelte Fragen an den damaligen spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzalez (1982-1996) , dann zum Spanferkel-Menü, zwischendurch einen kleinen Fick. Schließlich wieder nach Hamburg in die Redaktion, um die "Faulenzer" zusammenzuscheißen, "weil der stern kein Mädchen-Pensionat, keine Invalidenstation und erst recht kein Sozialwerk ist".

NASE FÜR SCHWÄCHEN

Gerd Heidemann jedenfalls war die Anti-Figur zum Möchtegern-Reporter. In seinem meist blauen Anzug mit Tüchlein und dem ewigen Seminargesicht hätte er auch gut einen gestandenen Abteilungsleiter im Supermarkt an der Hamburger Alster abgeben können. Ein zurückhaltener Typ, leise, gleichmütig, bescheiden. Heidemanns Kapital: er hat eine ausgeprägte Nase für die Schwächen anderer. Sein Risiko: Wenn er sich voll mit seiner jeweiligen Rolle identifiziert. kann er nicht mehr auf Distanz gehen - weder zu seiner Maske noch zu dem Gesprächspartner. Die Gedankenwelt muss er sich erarbeiten. Denn er ist derjenige, der täuscht, manipuliert, reinlegt.

FÜRCHTERLICHES BESÄUFNIS

Zwei klassische Szenen aus dem Arsenal der stern-Recherche. Gemeinsam mit Thomas Walde, Ressortchef Zeitgeschichte, er promovierte über Nachrichtendienste, reist Heidemann zum angeblichen Fundort der Tagebücher nach Börnesdorf in der damaligen DDR. Dort war zu Kriegsschluss die Junker Ju 352 abgestürzt, die die vermeintlichen Aufzeichnungen Hitlers nach Berchtesgaden in Sicherheit schaffen sollten. Heidemann:

"Doktor Walde und ich flogen am 14. November 1980 nach West-Berlin, übernachteten im Hotel 'Schweizer Hof' und fuhren am nächsten Morgen vom Bahnhof Zoo mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichsstraße. In Ost-Berlin warteten bereits zwei Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf die stern-Leute. Der Tag schließt mit einem 'fürchterlichen Besäufnis'. Denn wir hatten zwei Flaschen Whisky mitgebracht." Als erster kippte ein Stasi-Mann um, donnerte mit dem Kopf an die Heizung. Heidemann weiter: "Doktor Walde und ich gingen dann noch einmal in die Hotelhalle. Inzwischen war Walde so voll, dass er Dummheiten machte. Er klappte seinen Kugelschreiber auf, in dem ein Namensstempel war, und drückte seine volle Adresse auf die Meldezettel und auf den Empfangstresen an der Rezeption. Die Sache war nicht ungefährlich - denn die MfS-Leute hatten uns gar nicht angemeldet."

KABALE UND HIEBE

Am nächsten Morgen mit dicken Kopf und ein paar Alka-Seltzer-Tabletten intus in Börnesdorf. Heidemann stellte sich dem Dorfbewohner Göbel als Neffe des Bruchpiloten Liebig vor. Um die Bewohner gesprächig zu machen, verteilte er westdeutschen Kaffee. Am Grab seines "Onkels" legt er bedächtig mit ernster Miene Blumen ans Kreuz.

Für Übervater Nannen ist Heidemann sein ausgemachter Lieblingsreporter, mit dem er sich duzt. Denn kaum einer wie Heidemann hat Nannens handwerklichen Rat so beherzigt: "Ein Reporter, der keine Frauen aufreißt, ist kein richtiger Reporter." Und Heidemann reist und reißt. Kaum kehrte er von seinen Ausflügen zurück, musste er dem grunzenden Nannen unverzüglich Bericht erstatten. Hier mit Etta Schiller gebumst, dabei sogar das Tonband laufen lassen. Frau Schiller trennte sich gerade vom damaligen Wirtschaftsminister Karl Schiller (*1911+1994, Bundesminister für Wirtschaft 1966-1973) zu Beginn der sozialliberalen Koalition im Jahre 1972. Etta Schiller war verzweifelt, suchte Halt. Heidemann lieferte Halt mit Tonband-Aufzeichnungen aus dem Bett. Schlagzeile im stern: "Kabale und Hiebe." Dort mit Edda Göring geschlafen, um das Mokkaservice vom Reichsfeldmarschall abzustauben. Immer schauspielerte Heidemann dieselbe Masche mit überhöflichem Getue. "Dürfen wir stören". - "Aber wir wollen Ihnen keine Umstände machen." - "Das ist aber sehr freundlich von Ihnen." - "Dürfen wir wieder vorbeischauen."

FREMDENLEGIONÄR

Nur auf fernen Kontinenten kehrt er den "Fremdenlegionär" heraus. stern-Reporter Peter-Hannes Lehmann, der am liebsten in englischen Militärhemden selbst oder gerade auch über die Redaktionsflure läuft, schildert ein Erlebnis mit seinem Kumpanen Gerd: "Als es in Guinea-Bissau plötzlich krachte, haben wir uns hinter einen Termitenhaufen geworfen. Es war kein Feind zu sehen. Nur ein wildes Geschieße. Während ich mich so flach wie möglich machte, fluchte Gerd: "Scheiße, hier gibt's ja nichts zu fotografieren, überhaupt kein Motiv" Dafür spätestens aber am Abend in Mombasa. Da holt Heidemann sich drei "Negerweiber" aufs Hotelzimmer, stellt sie unter die Dusche, hantiert mit dem Selbstauslöser. Ist es etwas Rassismus, vielleicht lästiger Hormon-Überschuss oder was treibt ihn immer wieder in derlei Abenteuer? Ab welchem Punkt wird journalistische Besessenheit krankenscheinpflichtig. Reporter Lehmann erwidert sibyllinisch: "Es gibt keine Zufälle, Gott hat die Türen, auch durch die du gehen musst, schon aufgetan. Ja, ja, mein Lebenstraum war immer, Journalist zu werden. Er ist Wirklichkeit geworden."

SS-EHRENDOLCH

Die stern-Redaktion, die im Verlag als arrogant gilt, arbeitete immerhin über dreißig Jahre mit Gerd Heidemann zusammen. "Immer, wenn es brenzlich wird ,muss Heidemann ran. Immer, wenn's ums Bescheißen geht." Heidemann hingegen ist nicht der einzige im stern, der Nazi-Trophäen sammelt. Einige Kollegen hatten schon vor ihm mit diesem einträglichen Geschäft begonnen. Stolz zeigt Heidemann ihnen seinen SS-Ehrendolch, wandert damit von Stockwerk zu Stockwerk.

TEUER UND ECHT

Dieser stern, der stets so viel Wind ins Land pustet, wenn er den Mächtigen der Republik angebliches Fehlverhalten nachweisen will, für diesen linksliberalen aufgeklärten stern ist der rechts gestrickte Heidemann "übergroß". Wo war die vermeintlich so selbstbewusste Reaktion, als nach der merkwürdigen ZDF-Fernsehsendung Peter Koch alle Skeptiker, veritable Historiker, die an der Echtheit der Hitler-Tagebücher arge Zweifel hegten, sie coram publico als Dummköpfe, Fälscher , Neider bezeichnete? Am nächsten Morgen saßen sie einträglich im Konferenzraum zusammen, jubelten ihrem Chef-Koch für die Meisterleistung zu. Endlich eine Sensation, endlich wieder in aller Munde. Ganz nach dem Motto: "Was so teuer ist, kann nur echt sein."

GELDGIER

Geldgier mit den eingegerbten Parvenü-Allüren hatten bei allen Beteiligten am Unternehmen "Grünes Gewölbe" jäh den Verstand ausgeschaltet. Heidemann wurde vorab 1,5 Millionen Mark zugesagt. Thomas Walde sollte mit 560.000 Mark beteiligt werden, Co-Autor Leo Pesch rechnete sich Extra-Gagen in Höhe von 280.000 Mark aus. Kritische Einwände, es könne doch gar nicht möglich sein, dass Hitler sich bei solch einem Konvolut seiner Aufzeichnungen (60 Bände) nicht einmal verschriebe, konterte Dr. Walde mit der Bemerkung: "Unser Führer verschreibt sich nicht."

BANANEN ODER MAGAZIN

Für die Konzernspitze war es ein sinnliches Erlebnis, ein Hitler-Tagebuch in den Händen zu halten. Ganz egal, was sie auch verhökert, Bananen, Autos oder ein Magazin, Geld muss es bringen. Auszug aus Bissingers Buch, Hitlers Stern-Stunde-Kujau, Heidemann und die Millionäre:

"Am 9. März 1981 bekam das Unternehmen Grünes Gewölbe einen neuen Mitwisser. Manfred Fischer (*1934+2002), damals Vorstandschef von Gruner + Jahr, fuhr zu einer Sitzung der Konzernzentrale nach Gütersloh. Dort traf er seinen Boss, den Inhaber, Noch-Vorstandsvorsitzenden und designierten Aufsichtsratsvorsitzenden von Bertelsmann, Reinhard Mohn (*1921+2009), Konzernumsatz: 6,04 Milliarden Mark jährlich. Der wollte Fischer an seinem sechzigsten Geburtstag am 29. Juni zu seinem Nachfolger machen. Fischer bat um ein Gespräch unter vier Augen.

SENSATION DES JAHRHUNDERTS

Das Sekretariat wurde angewiesen, keinen Besucher vorzulassen, dann zog Fischer Heidemanns Dossier aus der Aktentasche und legte es 'durchaus ein bisschen stolz' dem Bertelsmann-Boss vor. Mit dem Finger fuhr er über die Aussage von Hitlers Chefpilot Baur, in der von wichtigen verlorenen Dokumenten die Rede war. 'Die haben wir jetzt gefunden.' Fischer langte wieder in seine Tasche und legte mehrere Hitler-Tagebücher auf den Tisch. 'Das sind die Tagebücher. Hier sind sie.' Mohn nahm die Kladden in die Hand 'war fasziniert' und sagte: 'Ungeheuer Manfred!' Und dann fielen die Sätze, die später die Runde machten: "Das ist das unglaublichste Manuskript, das je meinen Schreibtusch passiert hat. Das ist die Sensation des Jahrhunderts. Es ist unglaublich, wenn es stimmt.' "

BLIND JEDE SUMME

Tatsächlich entsprach Heidemann mit seinen Geldforderungen wie auch seinem Auftreten präzis dem Befund, den sich die Herren aus dem provinziell angehauchten Gütersloh über einen Hamburger Journalisten gezimmert hatten. Gerd Heidemann erhält blind jede Summe , die er will. Als zum Beispiel am 27. Janaur 1981 die Banken schon geschlossen haben, Heidemann hingegen die erste Rate in Höhe von 200.000 Mark anfordert, muss Vorstandsmitglied Peter Kühsel die Summe am Spätschalter des Hamburger Flughafens lockermachen. In den folgenden Jahren kassiert Heidemann in regelmäßigen Abständen zwischen 200.000 bis 900.000 Mark. Über das Geld kann er quasi verfügen, wie er will, Rechenschaft fordert niemand von ihm.

MYTHOS VON DER ECHTHEIT

"Auch in den letzten Wochen vor dem Auffliegen der Fälschung". heißt es in der stern-internen Klug-Untersuchungskommission (benannt nach dem früheren Hochschullehrer und FDP-Politiker Ulrich Klug *1913+1993 ). "ist der Mythos von Echtheit der Tagebücher im Ressort Zeitgeschichte noch so stark, dass man sich sagt, selbst wenn Heidemann in psychiatrische Behandlung müsse, dann aber erst nach der Beschaffung der letzten fehlenden Stücke." Als die Hitler-Sondernummer in der stern-Grafik ausgelegt war, griff Gerd Heidemann feist zum Telefonhörer, wählte eine Nummer in Südamerika. Er tat so, als telefonierte er mit dem Hitler-Vertrauten Martin Bormann (*1900+1945) , der bereits nach stern-Recherchen nachweislich nicht mehr lebt. Heidemann: "Martin, wir haben zwölf Doppelseiten." Und Konrad Kujau erinnert sich an folgendes Erlebnis: "Plötzlich stand er auf, stützte seine Hände auf den Schreibtisch und fragte: "Konni glaubst du, Hitler ist im Himmel?..."

Nach einem Jahr Untersuchungshaft recherchierte Gerd Heidemann aus dem Gefängnis heraus jedenfalls eine völlig neue, unerwartete Spur. Die endgültige Story über den Ort, an dem Jesus Christus begraben wurde. Bislang hat Gruner + Jahr die Weltrechte noch nicht gekauft - noch nicht.
















Samstag, 4. August 1984

"Voilà , das ist Monsieur Möllemann" - Sein und Schein deutscher Politik-Elite
































Er passte sich an. Er verhielt sich servil nach oben. Und er redete schnodderig über die Kleinen hinweg. Er stand früh auf und trat forsch auf. Er war pausenlos aktiv, ohne sich um Inhalte zu kümmern. Er stand für viele deutsche Karrieristen im Politikgeschäft. Rasant verlief sein Aufstieg nach oben; Bun-destagsabgeordneter, Staatsminister im Auswärtigen Amt, Bildungs- und Wirtschafts-minister, Vizekanzler der Republik etc. etc. Eine politische Bilderbuch-Karriere, die im Jahre 2003 mit einem Fallschirmtodessprung jäh endete. Hintergründe waren undurch-sichtige Finanzgeschäfte, Verdacht auf Steuerhinterziehungen, Hausdurchsuch-ungen, Parteiausschluss aus der FDP. Der Name Möllemann geriet zu jener Zeit zu einem Synonym verbogener Charaktere in der Politik, die die Grenzen zwischen Legalität und Kriminalität überschritten hatten. - Der menschliche Sumpf und Tragödien deutscher Machteliten. Am 5. Juni 2003 stürzte sich Jürgen W. Möllemann mit einem Fallschirm in den Tod. Kurz zuvor hatte des Parlament seine Immunität aufgehoben. Seinen Erben hinterließ Möllemann drei Millionen Euro Schulden. Er wurde auf dem Zentralfriedhof im westfälischen Münster bestattet.

DER SPIEGEL, Hamburg
vom 4. August 1984
Nr. 39/ 1984
von Reimar Oltmanns

An diesem Morgen greift Jürgen W. Möllemann etwas fahrig zum Radiowecker, der ihn exakt zehn Minuten vor den 6-Uhr-Nachrichten in die Wirklichkeit der Agentur-Meldungen aus aller Welt, der Bonn-Mel-dungen, der Möllemann-Meldungen zurückholt. Seine Hand gleitet über das Bettregal, auf dem die geladene Politiker-Pistole liegt, zum Radioknopf. Er dreht lauf auf.

An diesem Tag vermelden die 6-Uhr-Nachrichten nichts Spektakuläres. Aber das ist es gerade, was Möllemann antreibt. Er wittert seine "Marktlücke", boxt sich konse-quent in die Frühmagazine, "wo die doch zu Tagesbe-ginn eine unheimliche Faktennot haben und deshalb gerade die Geschichten aus Amerika bringen - wegen der Zeitverschiebung, versteht sich".

Im Bademantel hastet er zum Telefon, wählt die Bonner Nummer 23 20 98. Für die Redakteure der Nachrich-tenagentur ddp zählen die morgendlichen Möllemann-Anrufe schon zur Routine. Der Deutsche Depeschen Dienst gehört zu den kleineren Agenturen in der Bundes-hauptstadt. Für Möllemann ist "dieser Laden besonders fleißig, weil er natürlich schwächer ist".

... ... WIEDER WAS AUF DER PFANNE

"Hier Möllemann, guten Morgen Herr Schmidt, ich habe wieder was auf der Pfanne, was ihr gleich raus-jagen könnt. Sieht ja sonst ziemlich mau aus." Da bitte dann der Herr Schmidt um etwas Geduld, er schreibe gleich alles mit. Eine halbe Stunde später läuft alles über den Ticker.

Das macht dem Politiker Möllemann Spaß, "denn man merkt, es geht. Da liegen doch die Politiker noch faul im Bett, dann muss ich schnell für die FDP eine Stellung-nahme abgegeben, aber nicht 08/15. Meine Kollegen machen um sieben Uhr das Radio an, und schon hören sie wieder den Möllemann. Und die Partei sagt, Mensch, da hast du ja schon wieder. Da sag' ich, Mensch, was hab' ich denn gesagt? Da merke ich, die Leute hören Nachrichten".

In der Fraktion ist er auch schon kritisiert worden, weil er morgens um sieben zum dritten Mal in drei Tagen über den Sender lief. Da hat sich der Lambsdorff (Bundeswirtschaftsminister 1977-1984; FDP-Chef 1988-1993) zu Wort gemeldet und Möllemann verteidigt. Er finde es unmöglich, dass die Kollegen, die zu faul seien, einmal früh aufzustehen, den kritisierten, der fleißig arbeite, sich pressemäßig vernünftig verhalte. "Na gut", sagt Möllemann, "vielleicht habe ich manchmal auch zu dick gebuttert."

VERSUCHSBALLON GESTARTET

So hat Möllemann schon in manchen Interviews einen Versuchsballon gestartet. Da erklärte er, noch in der sozialliberalen Regierungszeit, er sei dafür, Hans-Dietrich Genscher (Bundesaußenminister 1974-1992) zum Bundeskanzler zu machen. Denn die CDU hätte doch ihren Helmut. Nur Helmut zu heißen, reiche für den Kohl (1982-1998) im Kanzleramt auf Dauer sicher-lich nicht aus.

"Diese Meldung lief bombig, überall. Da hat Genscher mich hinterher angerufen und meinte, ich sollte doch nicht zu dick buttern, das würde uns nur in arge Schwu-litäten bringen. Ich erwiderte, aber Herr Genscher, hören Sie mal, das war doch nur ein Vorschlag, ein diskussionswürdiges Denkmodell. Was die Journalisten daraus machen, dafür kann ich doch nicht. Nun ja, schließlich habe ich die Sache nicht weiter verfolgt."

Wirbel zu entfachen, mit "Highlights" in aller Munde zu sein, das verschafft ihm lang ersehnte Anerkennung, das ist ihm allemal wichtiger als Kärrnerarbeit; ganz im Sinne des stoischen Philosophen Epiktet, den er für sich reklamiert: "Nicht die Tatsachen, sondern Meinungen über Tatsachen bestimmen das Zusammenleben."

Und Meinungen hat er viele. Mal eben das Ende der sozialliberalen Ära in den Stenoblock diktieren, den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin (*1913+1992) einen "Kriegsverbrecher" nennen, den Einmarsch sowjetischer Truppen in Polen "binnen zweier Wochen" prophezeien, von der Gefahr "eines neuen Weltkrieges" reden.

UM DEN HALBEN GLOBUS

Innerhalb von vierzehn Tagen jettet er um den halben Globus. Mal eben nach New York zum UNO-General-sekretär, einen Abstecher nach Washington zum US-Ver-teidungsminister Caspar Weinberger (*1917+2006). Vom Pentagon direkt zu Fidel Castro (Regierungschef 1959-2006) nach Havanna, dann weiter nach Amman zu König Hussein (*1935+1999).

Auf dem Rückflug nach Bonn-Wahn baut er auch noch eine Unterredung mit dem libyschen Staatschef Muam-mar el-Gaddafi in Tripolis ein, der prompt Möllemanns Einladung zum Besuch der Bundesrepublik akzeptiert.

"Ein stärkeres Engagement bringt mehr Erfahrungen, mehr Bekanntschaften, mehr Wirkungsmöglichkeiten", erklärt er, "und ein bisschen muss man gewiss auf dem Klavier spielen können. Das ist ein ganz merkwürdiger Mechanismus. In dem Moment, wo ich mit PLO-Chef Jassir Arafat (*1929+2004) geredet hatte, habe ich gesagt, jetzt will ich mit Gaddafi sprechen. Da hat er gesagt, da soll der Möllemann mal kommen."

EIN ABENTEUER

Oder Castro, oder die amerikanische Regierung, das ergibt sich nacheinander. "Im Grunde genommen ist das wirklich ein Abenteuer. Die ganze protokollarische Be-handlung, dass da also der Staatschef von Südkorea sowie Sambia draußen warten mussten, bis ich meine Gespräche beendet hatte. Die arabischen Gastgeber entschuldigten die Termin-Verzögerung höflich mit der Bemerkung, 'voilà, das ist Monsieur Möllemann aus der République fédérale d'Allemagne'. Das macht einem Spaß, das motiviert ungeheuer."

An diesem Morgen gibt er dem "Frieden" eine Nach-richtenchance - eine Meldung, mit der er den Grünen den Wind aus den Segeln nehmen will. Einfach deshalb, weil er mit der Standardformel von "Effizienz und knall-harten Fakten", den Dreisprengkopfmittelstrecken-raketen, Anti-Raketen-Raketen, Trident 2, SS 20, Pershing 2, ICBM-Rakten, Luft-Luft-Raketen, operativ-taktischen Raketen in den öffentlichen Diskussionen nicht mehr ankommt. "Möllemanns Vorschlag für Zone ohne Kern-waffen", lautet nunmehr seine Schlagzeile.

Dabei handelt es sich um eine uralte FDP-Idee, die bereits Mitte der sechziger Jahre zur Parteiprogram-matik gehörte. Aber Möllemann weiß, wie man Nach-richten verhökert, wie man verstaubte, in der Sache längst überholte FDP-Propaganda als "brandneu" ser-viert, "wo doch die Politik ohnehin von Wiederholungen lebt."

"CAROLA - DER TAG BEGINNT"

Um acht Uhr sitzt er mit seiner Frau Carola Möllemann-Appelhoff, einer Lehrerin und FDP-Rathaus-Politikerin in Münster, am Frühstückstisch, als seine "Auffassung über eine atomwaffenfreie Zone im Geltungsbereich der KSZE-Schlussakte von Helsinki" aus dem Radio dröhnt. In solchen Glücksminuten kann er sich gar nicht beruhi-gen, er klopft sich triumphierend auf den durchtrainier-ten Schenkel. "Carola", sagt er da, " der Tag beginnt. Bin wirklich gespannt, was der Dicke dazu meint."

Die Ansichten des "Dicken", wie Möllemann seinen Parteivorsitzenden Hans-Dietrich Genscher nennt, durchdringen sein Seelenleben. Dieser Genscher be-stimmt Höhen und Tiefen, bewirkt Euphorie oder Motivationsabfall. Ihm hat er sich unmerklich ver-schrieben, dem Ziehvater verdankt er so ziemlich alles, was aus ihm in Bonn geworden ist.

WO EIN GRAF DEN "ONKEL" SPIELTE ... ...

Ohne Genscher wäre Möllemann ein Hinterbänkler geblieben. Genscher brachte ihn über den Proporz-anspruch ins Fernsehen, schickte ihn auf Erkundungs-fahrt um den Globus, ohne Genscher hätte Möllemann nie und nimmer in die Vermittlung von Arabien-Geschäften einsteigen können.

Mit Genscher im Hintergrund schafft er das Entree, avancierte zum jüngsten Staatsminister der Regierung Kohl, zum Landesvorsitzenden und Spitzenkandidaten der nordrhein-westfälischen FDP. Und über Genscher knüpfte Möllemann seine Bande zu Lambsdorff, die immer dichter, immer menschlicher gediehen, bis er im Grafen "so etwas wie einen Onkel" ausmachte; zu dritt betrieben sie die Bonner Wende.

UND GENSCHER ZUM ZIEH-PAPA WURDE ... ...

Einfach außergewöhnlich, fast übermenschlich um-werfend, muss dieser Genscher auf ihn wirken, eine von Außenstehenden bislang nicht erkannte faszinierende Persönlichkeit, die ihn selbst in den späten Abendstun-den in "Kuhlmanns Eck" , der Stammkneipe in Münster, als charismatisches, väterliches Über-Ich beschäftigt: Möllemanns profane wie distanzlose Elogen auf den Meister geraten zu langatmigen Selbstgesprächen.

Nach misslungenen Veranstaltungen hat er sich in seiner ziemlich einseitigen Bindung oft gefragt: "Was würde wohl Genscher dazu sagen?" Und überhaupt hat doch auch Genscher angedeutet, "dass Vorsicht geboten sei vor den fanatischen, verbiesterten, verkrampften Gesichtern aus der Friedensecke".

"Schon wenn die von ihren Ängsten lamentieren", fährt Möllemann fort, "kommt es in mir übel hoch. Als hätten wir etwa keine Ängste. Die hatte ich gewaltig im Flug-zeug beim ersten Fallschirmsprung. Auch noch als ich im Wahlkampf für die Partei vom Himmel geplumpst bin. Immer wieder habe ich den inneren Schweinehund überwunden."

ERDKUGEL TANZEN LASSEN

Mit der leise gemeinten Bemerkung, "erst am letzten Sonntag hat Genscher bei uns zu Hause wieder ange-rufen", erhöht Möllemann unter seinen Zuhörern gern die abgeschlaffte Aufmerksamkeit. Natürlich will einer unverzüglich wissen, was Hans-Dietrich Genscher denn so wollte: "Eigentlich gar nichts. Der klingelt immer mal durch, wenn er am Wochenende Langeweile hat und vom Telefon nicht lassen kann. Diesmal musste er die Namen der Personen raten, die sich gerade im Zimmer aufhielten. Das war selbstverständlich die ganze Familie einschließlich der Schwiegereltern. Dann hat doch die freche Maike zu ihm noch gesagt. 'Du bist im Fernsehen immer so ein Lachsack, manchmal und so.' So etwas hört der Genscher sehr gern, das bringt ihm halt Spaß."

Es ist ja auch nicht so, dass Genscher "nur bei uns anruft", verrät Möllemann, "Carola und ich fahren auch schon mal zu ihm nach Hause, da in Bonn-Pech.

"Außer Lambsdorff und Mischnick kommen da nur sehr wenigen von der Partei aufs Grundstück. Da sitzen wir munter mit ihm und seiner Barbara am Swimming-pool, knabbern Salzstangen, trinken Campari. Des öfteren sind Genscher und ich richtig magnetisiert, da lassen wir zwischen uns nur so die Erdkugel tanzen. - Das ist schon befriedigend, da weiß ich dann auch, wofür ich das alles so mache. Da merkst du dann urplötzlich, dass der mit dir turnt, dich auch nicht im Regen stehen lassen will, wenn es heikel wird. Das gibt mir natürlich die Möglichkeit, in der Fraktion ganz schön selbstbewusst aufzutreten."

"So, Freunde, sage ich dann, die Sache sieht völlig an-ders aus, da geht's lang. Fragt nicht lange, vergeudet die kostbare Zeit nicht, ich weiß es ganz genau, das habe ich alles mit den zuständigen Stellen überprüft. In Wirk-lichkeit weiß jeder von den Kollegen, dass ich Genschers Libero bin."

ESS-STÖRUNGEN IN DER EINBAHNSTRASSE

Nur wenn Genscher seinen Möllemann "zusammen-scheißt", ihn mit Nichtachtung straft, dann zweifelt Möllemann, ob er auf Dauer in der Politik bleiben soll, zieht sich sein Magen zusammen, Essstörungen plagen ihn.

"Herr Genscher", reagiert er dann, "hören Sie mal zu, das können Sie mit mir wirklich nicht machen. Dann guckt der mich sibyllinisch an und erklärt, wir müssen nüchtern rekapitulieren. Dann sage ich, Herr Genscher, Loyalität und Solidarität ist keine Einbahn-, sondern eine Zweibahnstraße."

"Er hat mich ja mehrfach im Regen stehen lassen. Zum Beispiel als ich für die Einführung der Neutronenbombe in der Öffentlichkeit eingetreten bin, wo wir uns doch zuvor sorgfältig bis ins Detail abgestimmt haben. Als die heftigen Proteste kamen, distanzierte er sich einfach. Dies führte dazu, dass ich erklärte, Herr Genscher, so geht das nicht mehr. Entweder wir ziehen das künftig gemeinsam durch, dann müssen wir Risiko-Sharing machen."

"Das ist eine Situation, in der es nicht darum geht, dass er als Außenminister eine öffentliche Erklärung abgibt, hiermit identifiziere ich mich, aber es darf auch nicht das Gegenteil der Fall sein, wo doch jeder weiß, was gespielt wird. Auch mit dem Kabinettsposten als Staats-minister im Auswärtigen Amt war das ja so eine Sache. Den hatte er mir schon zur Bundestagswahl 1980 zugesagt."

DREI JAHRE AUF EIN MINISTERAMT GEWARTET

Drei Jahre hat Möllemann auf eine Berufung in ein Staatsamt gewartet. "Ganze 36 Monate", sagt er, "das ist eine verdammt lange Zeit, das haut rein" - dieses Aus-harren, diese Ungeduld, diese Unsicherheit, dieses Ausgeliefertsein. "Mensch, da merkte ich auf einmal, wie ich zusehends dünnhäutiger, sensibler wurde, Mensch, Möllemann, verdeutlichte ich mir, reiß dich zusammen, das darfst du auf keinen Fall zeigen, das zieht erst recht nicht."

Aber was er auch anpackte, wo immer er Luft holend herumdüste, der alles entschei- dende Genscher-Satz galoppierte nah und dennoch uneinholbar vor ihm her: "Möllemann, wir müssen jetzt was tun. Bei nächster Gelegenheit kommen Sie in die Regierung rein, das verspreche ich Ihnen."

"Ja, ja, da habe ich mich riesig gefreut. Der Möllemann wird was", sagt Möllemann, und er ist ja auch was geworden.

In Kuhlmanns Kneipe, wenn die Uhr die Zwölf über-rundet, zieht er gern Bilanz. Das geht so lange, bis Axel Hoffmann, der Referent, den Euro-Piep auf den Tisch legt - diesen schmalen, einem Funkgerät ähnelnden Apparat den Hoffmann dann mahnend aus der Jackett-Tasche holt, um anzudeuten, Möllemann möge zum Schluss kommen.

MIT EURO-PIEP AUF ACHSE

Ansonsten funktioniert der Euro-Piep als das I-Tüpfel-chen eines ausgeklügelten Informationssystems. Ob auf ihren wahlkämpfenden Tourneen durch die Provinz, in den Flugzeugen oder nachts in den Hotels, der Euro-Piep sorgt für die Gewissheit, dass ihnen nichts Wesent-liches entgehen kann.

Der Kanal eins ist dem Bonner Büro reserviert, der zweite gilt Möllemanns Ehefrau Carola, der dritte seinen Public Relations treibenden Geschäftspartner in München, und die vierte Linie bleibt Genscher für den Fall vorbehalten, dass "der mal anbeißt".

Immer, wenn es piept und rot aufleuchtet, wissen die beiden, dass irgendwo "der Hammer geschwungen wird". Dann rast einer zum nächstliegenden Telefon. Und immer sind es dieselben hastigen, halb verschluck-ten Wörter, die in den Hörer sausen. "Was ist los, was ist passiert, na was denn schon?"


Meist kehrt er dann enttäuscht zurück, weil die aufge-regte Erwartung sich so gar nicht der Bonner Banalität fügen mag. Da erklärte eben nur ein "FDP-Zausel aus Baden-Württemberg, es geht doch nicht an, dass uns jeder Furz, den Herr Möllemann lässt, als besonders wohlriechend verkauft wird, bloß weil er ein Vertrauter unseres Parteivorsitzenden Genscher ist". Da hat er seiner Sekretärin lediglich geantwortet: "Frau Perlewitz, beruhigen Sie sich. Das hat keine Eile. Dem gebe ich nächste Woche eins zwischen die Augen."


AUFSTEIGER-SEHNSÜCHTE

Mit 27 Jahren ist er nach Bonn gekommen, ins Zentrum seiner Aufsteiger-Sehn-süchte. "Achten Sie mal auf den", empfahl die "Bild"-Zeitung ihrem Millionen-Publikum schon, als sich Möllemann noch am MdB-Telefon mit dem Spruch "Hier die Städtischen Bühnen" zu erkennen gab.

Popularität, das hat er schnell begriffen, hebt den Marktwert. Früh verknüpfen sich konkrete Assozi-ationen mit Bonn - der Ort von Angebot und Nachfrage, ein Börsen-platz, auf dem Politiker ihre Aktien makeln.

Möllemanns Management als Imageträger, die Wähler-stimme als Kundenauftrag, für die es zudem fünf Mark gibt, das Parteiprogramm als konjunkturbedingte Produkt-palette. die F.D.P. mit ihren drei exklusiven Punkten als erlesene Großstadt-Boutique für den gehobenen, finanzkräftigen Mittelstand und noch für einige darüber.


AUS DER CDU AUSGETRETEN

Er kann sich unumwunden eingestehen, dass seine FDP-Mitgliedschaft nicht mehr als eine von Tantiemen bestimmte Firmenzugehörigkeit bedeutet, etwa "die bei Opel oder VW"; dass er im Jahre 1969 mit Beginn der sozialliberalen Ära aus der CDU nach siebenjähriger Verbundenheit austrat, weil keine Partei in der Bundes-republik "Risiko und Chance so gerecht verteilt wie die FDP".

Da können noch "wirkliche Blitzkarrieren gestartet werden", vergewisserte er sich damals vorsichtshalber, und er brauchte auch Themen, an denen er sich empor-hangeln konnte.

Die Bildungspolitik, der er im Bundestag vier Jahre gewissenhaft nachging, das zählebige Gezeter um Hochschulrahmengesetz, die fussligen Bafög-Regel-ungen, Bund-Länder-Kommission, Kultusminister-konferenz, all die ermattende Kleinarbeit versprach seinem Ego bald keine Reizschwelle, keine neugierig aufgenommene Selbstentfaltung mehr.

PLO-REVOLVER-MÄNNER


Folglich hat ihn sein marktlückengeprüftes Bewusstsein zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) gebracht, intuitiv den Trend kommender Jahre im Bauch, dazu noch ein Novum für ihn und natürlich für seine FDP. In der VIP-Lounge des Beiruter Flughafens empfingen ihn PLO-Revolver-Männer wie einen Staatsgast.

In einer als tollkühn erlebten Zickzackfahrt ging es durch verwirrende Gassen, vorbei an aufgetürmten Straßenbarrieren, Plätzen und ausgebrannten Autos. In der Rue Université Arabe 155 sicherten Jugendliche mit ihren Kalaschnikows das Portal, "Ja, ja, spannend, wahnsinnig spannend ist das da, Schmauch und Rauch am Horizont."

Im vierten Stock, in einer konspirativen Wohnung, residierte sein Gesprächspartner im Kampfanzug mit umgeschnalltem 9-mm-Colt und blank polierten Patronen im Gurt. Gläserne Nippes-Fische auf den Regalen, Brokatdeckchen, zierlich vergoldete Stühle und dann ein höchstens 16jähriger Jung im grünen Military-Look, der für ihn die Seven-Up-Limonadenflasche mit dem Griff seiner Maschinenpistole öffnete.

Exakte 87 Minuten dauerte die vorsichtig abtastende Unterhaltung, die bei Schummerlicht ablief, weil es keinen Strom gab in der Stadt. 87 Minuten, das weiß er noch hundertprozentig. Er hatte seine Uhr gestellt, wie einst bei den Pfadfindern, mit denen er Madagaskar besingend auf Erkundungsfahrt war.

GEHEIMPLAN ... ...

Keineswegs nur die oft gefällige Medien in der kleinen Bundesrepublik, sondern Welt weit raunte die Presse über einen acht Punkte umfassenden Geheimplan zur Befriedung der Nahost-Region unter Einbeziehung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinensern sowie ihrer staatlichen Souveränität. Ein streng vertrauliches Papier, das Möllemann in stiller Abstimmung mit der Bonner Vertretung Arafat übergeben haben soll.

Natürlich lag im Köfferchen kein ernst zu nehmendes Dossier, wie stets war es eine wahllos gebündelte Zettelwirtschaft. Ein Übersetzungsfehler hatte die westliche Allianz erschreckt. Und Möllemann war Opfer seiner Knüller-Prophetie geworden, die im Beiruter Hotel "Napoléon" ein deutscher Journalist allzu genau genommen hatte.

Für den Möllemann-unerfahrenen Berichterstatter im Libanon sind Bonner Bugwellen-Usancen auch nicht von vornherein zu durchschauen. Vor allem, wenn da einer anreist, der sich zwischen Trümmerbesichti-gungen aus der Jeep-Perspektive und Friseurbesuchen in Hintergrundgesprächen an der Hotel-Bar als "Gen-schers Minenhund" andient.

Nach Rückkehr sah Möllemann sein jähes politisches Ende, den Abgrund seiner Karriere vor sich. Keiner aus der Fraktion, keiner in der Partei, der auch nur ansatz-weise auf die misslichen Begleitumstände verwies. Alle-samt ließen sie ihn dort stehen, wo er schon immer stand - in Genschers Vorzimmer, gestikulierend und sich hektisch anbiedernd, obwohl ihm dort nach dem Bei-ruter Abenteuer kein kesser Spruch mehr unter dem Schnäuzer herausflutschen wollte.

Allenfalls sein Selbstmitleid streichelte ihn noch in einer Sprache, die sonst so gar nicht zu seiner verkarsteten Diktion passte, insbesondere dann, wenn er über schwächere Kollegen herfiel.

HÄME VON BEIRUT

"Unbarmherzig die Beschimpfungen und Drohungen von allen Seiten Tag und Nacht, grausam dieses Sperr-feuer, die alles durchbohrende Häme, Beirut sei kein geeignetes Übungsgelände der Bundeswehr-Reserve, Genscher, ich erkannte ihn nicht wieder, so stinkmies schiss er mich zusammen. Ich dachte, das packe ich nicht mehr. Jetzt geben sie mir milde lächelnd den Genickschuss. So etwas habe ich vorher noch nicht erlebt."

Nach Beirut sagte er: "Ich will nicht mehr nach Appel-dorn. Meine Brüder wollen auch nicht mehr nach Appel-dorn." Jener kleinen Dorfgemeinschaft bei Kalkar am Niederrhein, in der er seine weniger begüterte Kindheit ertrug, die erste Ehe mit einer umsorgenden Verkäuferin einging.

"DER JÜRGEN AUS DER GROSSEN POLITIK"

Dort, wo er sich im Besitz der frisch erworbenen Ab-geordneten-Immunität mit einem funkelnagelneuen Audi unaufgefordert zeigte, Lichthupenimpulse die er-hoffte Anerkennung aus dem örtlichen Seelenleben herleuchteten: "Das ist doch der Jürgen aus der großen Politik."

Er sagte: "Ich will nicht mehr nach Beckum, dieses läppische Beckum", wo er für kurze Zeit als Lehrer arbeitete. Und das "bei einem reaktionären Rektor", der ihn öfter als einen "Dünnbrettbohrer" zu entlarven suche, "so unverschämt war dieser Kerl".

Erinnerungen an Appeldorn und Beckum lähmen ihn. Diese Vergangenheit hat er überwunden: Staatsminister im Auswärtigen Amt - in dieser Position erst kann er sich in der äußeren Darstellung so akzeptieren, wie es der Logik seiner Gefühle entspricht.

Immer wieder lugt Möllemann begierig und staunend auf die Insignien Bonner Staatsmacht. Irgendwo kann er es immer noch nicht richtig fassen, bricht aus ihm ein unsicheres, unbeholfenes Lachen heraus. Irgendwie ist er sich in solchen intensiven Momenten selber unheim-lich, dass seine Lebensmaxime so rasch Wirklichkeit wurde. "Irgendwas mache ich mal, dann komme ich ganz groß raus."

Und das ausgerechnet im Auswärtigen Amt, in einem großflächigen, mit Velour-teppichen ausgelegten Büro, das einer schnörkellosen Hotel-Suite ähnelt, "ganz dicht beim Dicken", den er ja fernsehwirksam an der Seite des Bundeskanzlers vertreten soll.

GOBELIN, SATIN, DIE COCKTAILS

"Mensch, Jürgen", sagt er sich da zu sich. Die Bundes-luftwaffe, der 280er Dienst-Mercedes mit Fahrer und Autotelefon. mal eben durch Münsters City, zwei Persön-liche Referenten, zwei Sekretärinnen, die Sicherheits-beamten, die Empfänge in der Godesberger Redoute, Gobelin, Satin, die Cocktails bei den Saudis, Akkura-tesse in Gesicht und Zwirn, "mit Carola bei Frau Bundes-präsident zum Teetrinken". Das überwältigt den Mann aus Appeldorn: "Das ist schon ein wenig wie Weihnach-ten und Pfingsten auf einen Tag." So hatte seine erste Amtshandlung darin bestanden, erst einmal diese Bon-ner Kinofassade den Schwiegereltern und den Kegel-brüdern vorzuführen. Und alle staunten. Nur einen Besucher wollte der Staatsminister nicht so recht verknusen. Seinen um fünf Jahre jüngeren Bruder Norbert, der aus Berlin angereist war.


EINMAL MIT DEM BRUDER REDEN

Norbert, ein Lehrer, der in Kreuzberg das alternative Tischlerhandwerk ausübt, sucht schon seit Jahren in der Vergangenheit nach seiner Identität.

Wenigstens einmal wollte er mit Bruder Jürgen reden, richtig reden, wo sie doch beim Tode ihrer Mutter sprachlos, schnurstraks nach der Beerdigung aus-einandergelaufen sind.

Er wollte seinen Bruder fragen, warum er, der Junge aus der Sattlerfamilie, sich eigentlich derart auf die Bil-dungsbürger fixiere. Er wollte ihn fragen, ob der Bruder denn nicht merke, dass eine krasse Trennung von Per-sönlichkeit und Staatsfunktion ihn allmählich, aber systematisch verbiege, hinrichte.

Das alles wollte der Nobert Möllemann aus der Berliner Gegenkultur mit seinem großen Bruder einmal offen bereden. Deshalb war er nach Bonn gekommen, um ein Stück Vergangenheit aufzuarbeiten, mit den eigenen Enttäuschungen wie Unfertigkeiten umgehen zu können. Doch Nobert, der sich so viel vorgenommen hatte, brachte keinen zusammenhängenden Satz über die Lippen. Beide saßen sich stumm im Restaurant des Bundestages gegenüber.

Es war ein nasskalter Herbstabend, der Bruder reiste vorzeitig ab. Jürgen W. Möllemann zieht sich auf sein Appartement zurück. Noch vor dem Einschlafen konzipiert er die Pressemeldung 127 im fortlaufenden Jahr, schreibt eine Notiz für seine Sekretärin Frau Walter. "Bitte die Einschaltquote meiner letzten Fernsehsendung beim WDR feststellen."




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POSTSCRIPTUM. - 23 Jahre später - am 5. Juni 2003 - stürzte sich Jürgen W. Möllemann auf dem Übungsgelände Marl-Leomühle mit seinem Fallschirm in den Tod. Weniger als eine halbe Stunden zuvor hatte der Deutsche Bundestag zwecks Strafverfolgung Mölle-manns Immunität aufgehoben. Daraufhin durchsuchten Polizei und Staatsanwaltschaft Möllemann-Geschäftsräume wie auch seinen privaten Bungalow. Der am 9. Juli 2003 vorlegte Abschlussbericht der Staatsanwalt über die Todesursache Möllemanns, schloss ein Fremd-verschulden aus. Im Dezember 2oo4 wurde ein Insolvenzverfahren über seinen Nachlass eröffnet. - Die Akte Jürgen Wilhelm Möllemann ist damit geschlossen.