Mittwoch, 16. Juni 1976

"Zukunftsroman" eines Putsches in Deutschland













Was Sie hier lesen, klingt wie ein Schauermärchen. Aber es kann morgen Wirklichkeit werden: Staatsstreich in Bonn und Zerstörung der demokratischen Freiheiten. Die Personen und Handlungen dieses "Zukunftsromans" , den der stern-Redakteur Reimar Oltmanns geschrieben hat, sind zwar frei erfunden. Aber die kursiv zitierten Gesetzestexte und Gerichtsurteile, die dem autoritären Staat und seinen Handlangern den Weg ebnen, sind ebenso echt wie die Parallelen aus den letzten zwanzig Jahren. Und die regierenden Sozialdemokraten und Liberalen sind gemeinsam mit der CDU/CSU-Opposition gerade dabei, die Waffen des Rechtsstaates weiter zu schärfen. Auf Kosten der Freiheitsrechte des Bürgers.
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stern, Hamburg
16. Juni 1976
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Die Eilmeldung der Deutschen Presseagentur tickert um 9.40 Uhr über die Fernschreiber der Zeitungen und Rundfunkstationen: "Generaldirektor entführt / Aktion von Linksterroristen?" Es sind noch vierzehn Tage bis zur nächsten Bundestagswahl.
Generaldirektor Kurt Becker von den Wolfsburger Motorenwerken (WM) war am frühen Morgen von vier vermummten Männern beim Verlassen seiner Dienstvilla in einen Lastwagen gezerrt worden. Einziger Augenzeuge: die Zeitungsbotin Gisela Gerhardt, die sich bei der Kripo nur daran erinnern kann, dass der Wagen "gelb wie ein Postauto" war. Von den Kidnappern und dem entführten Konzernherrn, der erst kürzlich in einer großen Anzeigenaktion für die CDU/CSU geworben hatte, fehlt seither jede Spur.
MIT KOMMUNISTEN
Die Nachricht platzt in die heißeste Phase der Wahlschlacht. Der Führer der oppositionellen CDU, Joachim Pantzer, hatte dem regierenden sozialdemokratischen Kanzler Herbert Lenzinger gerade vorgeworfen, mit den Kommunisten in der DDR unter einer Decke zu stecken. Lenzinger habe sich bei einem Staatsbesuch in Polen insgeheim in der Grenzstadt Szczecin (Stettin) mit SED Parteichef Erich Honecker(*1912+1994) ) getroffen. Bei dieser Begegnung, an der auch Ministerpräsident Horst Sindermann(*1915+1996) teilgenommen habe, seien - angeblich im Interesse des ungestörten Zugangs nach Berlin - gemeinsame Maßnahmen gegen Fluchthelfer auf dem Transit-Autobahnen verabredet worden. Pantzer vor dem Bundestags: "Das ist Verrat an Deutschland und ein Beweis für das Zusammengehen von Sozialisten und Kommunisten."
"DRECKSCHLEUDER"
Die empörten Sozialdemokraten nannten Pantzer "eine ungemeine Dreckschleuder" und bezichtigten ihn, mit üblen, von Konrad Adenauer ( erster Bundeskanzler 1949-1963 - *1876+1967) kopierten Tricks zu arbeiten. Der hatte 1953 kurz vor der Bundestagswahl auf einer Frankfurter Parteiversammlung die SPD-Funktionäre Schroth und Scharley beschuldigt, "von der Ostzone Geld bekommen zu haben". Nach der Wahl, bei der die CDU/CSU 50,2 Prozent der Stimmen bekam, erwies sich der Vorwurf in einer Gerichtsverhandlung als unhaltbare Erfindung.
ULTIMATUM
Drei Tage nach der Entführung des WM-Generaldirektors: Die noch immer unentdeckten Kidnapper haben den beiden Fernsehstationen ihre Forderungen für die Freilassung Beckers zugesandt. Sie werden in den Abendnachrichten verlesen. "Erstens Schluss mit der Lohn-Ausbeutung im Zweigwerk Singapur; zweitens Schluss mit der Produktion von Rüstungsgütern; drittens: Freilassung aller politischer Gefangenen in der Bundesrepublik; viertens: Fünf Millionen Mark in kleinen Noten."
VORBILD: ALBERTZ/LORENZ
Um den freien Abzug der Kipnapper zu garantieren, soll sich - nach dem Vorbild des Berliner Pfarrer Heinrich Albertz (*1915+1993) bei der Entführung des Berliner CDU-Chefs Peter Lorenz (*1922+1987) im Februar 1975 - der Betriebsratsvorsitzende Werner Heintzel als Geisel zur Verfügung stellen. Noch in der Nachrichtensendung erklärt Heintzel seine Bereitschaft. Der Verdacht, dass es sich um eine linke Terror-Aktion handelt, scheint jetzt bestätigt. Am nächsten Tag übergibt das Verfassungsschutzamt Hannover der WM-Unternehmensleitung eine Liste von Werksangehörigen, die Verbindung zu linksextremistischen Kreisen haben und früher einmal eine spontane Arbeitsniederlegung wegen mangelhaften Kantinenessens inszeniert hatten. Man müsse davon ausgehen, dass diese Arbeiter Kontakt zu den Entführern hätten. Rechtsgrundlage dieser Information: Nach Paragraf 6 des niedersächsischen Verfassungsschutzgesetzes, das 1976 nach dem Vorbild anderer Bundesländer erlassen wurde, kann die Schlapphut-Behörde ihre Erkenntnisse weitergeben, wenn "dies zum Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erforderlich ist".
FRISTLOSE ENTLASSUNGEN
Die auf der Liste aufgeführten Arbeiter werden fristlos entlassen. Fünf von ihnen werden von der Polizei abgeholt. Ein richterlicher Haftbefehl bringt sie hinter Gitter. Rechtsgrundlage: Paragraf 12 Strafprozessordnung (StPO), Abs. 3 in der Fassung von 1976, wonach jeder der der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dringend verdächtigt wird, ohne weiteres verhaftet werden kann. Der Hinweis von Forstmeister Wolf Riedel, der den gelben Transporter in einer Scheune in der NÄhe des Tetzelsteins im Elm - 30 Kilometer südlich von Wolfsburg erspäht hat, bringt die Sicherheitsbehörden auf eine heiße Spur. Das Anwesen gehört dem 28jährigen Bodo Schneckenburg, laut Identifikationskartei des Bundeskriminalamtes früher Mitglied der NPD, vorbestraft wegen Einbruch und in Bonn einmal vorübergehend festgenommen, nachdem er vor der Ostberliner Mission die DDR-Fahne mit den Ruf "Spalter raus" zerrissen hatte. Nunmehr zählt er zu den Aktivisten der verbotenen "Wehrsportgruppe Hoffmann", bis ins Jahr 1980 die größte kriminelle Vereinigung westdeutscher Neo-Nazis. Von ihren 440 rechtsextremistischen Mitgliedern gingen zahlreiche Attentate wie Bombenanschläge aus.
SELBSTENTFÜHRUNG
Das Gerücht, dass sich hinter der angeblich linken Terroraktion ultrarechte Gruppen verbergen, die nach dem Muster der Selbstentführung des Kölner Professors Bertold Rubin (*1911+1990) im Jahre 1971 die kommende Bundestagswahl beeinflussen wollen, lösen im WM-Werk spontane Streiks aus. Bekanntlich fälschte Rubin Drohbriefe und hielt sich mehrere Tage versteckt. Er wurde später wegen Vortäuschung einer Straftat zu sechs Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Als sich die Staatsanwaltschaft dennoch weigert, die fünf immer noch verhafteten Kollegen auf freien Fuß zu setzen, kommt es zu ersten Krawallen. Arbeiter stecken das Reifenlager in Brand. In den Zweigwerken Emden, Hannover, Braunschweig und Kassel treten Teile der Belegschaft in Sympathiestreiks und fordern die ersatzlose Streichung des Paragrafen 6 des Verfassungsschutzgesetzes. Handzettel der "Roten Zelle WM" zirkulieren, auf denen ein "Stopp der militärischen Produktion" verlangt und die Landesregierung in Hannover als "faschistisch" attackiert wird.
FLÄCHENBRAND
Der niedersächsiche CDU-Innenminister Pfau befürchtet, dass sich die Streiks wie ein Flächenbrand ausweiten und die Polizeikräfte des Landes bald nicht mehr Herr der Lage seien. Nachdem ihn der Verfassungsschutz gewarnt hatte, dass es zu weiteren Entführungen kommen könnte, fordert er unter Berufung auf Paragraf 9 Abs. I Ziffer 3 des Bundesgrenzschutzgesetzes von Bundesinnenminister May BGS-Truppen an: "Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes" und zum "Schutz ziviler Objekte". Es sind noch acht Tage bis zur Wahl.
TEILMOBILMACHUNG DER NVA
Die 15.000 in Schützenpanzern und Mannschaftswagen ins Zonenrandgebiet angerückten BGS-Männer lösen in der DDR eine Teilmobilmachung der Nationalen Volksarmee aus. Schlagzeile am nächsten Morgen im westdeutschen Millionenblatt "Zeitung": "Die Russen kommen." Derweil bricht in Bonn Hektik aus. SPD-Kanzler Lenzinger ruft den Krisenstab zusammen. CSU-Vorsitzender Miesbach sagt: "Der Notstandsfall ist da." Generalinspekteur Schützer erklärt, er könne für die Sicherheit der Bundesrepublik nur dann die Verantwortung übernehmen, wenn ihm außerordentliche Befugnisse eingeräumt werden. Nach einer Sitzung der SPD-Fraktion, auf der der Kanzler freie Hand erhält, entschuldigt sich der linke Abgeordnete Schlachtmann vor Journalisten: "Sie müssen doch den politischen Druck sehen, unter dem wir stehen."
SPANNUNGSFALL
Noch am selben Abend beschließt der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit den Spannungsfall (Art. 80a, Abs. 1 Grundgetz). Damit wird nach Art. 87a Abs. 3 GG der Einsazz der 500.000 Bundeswehrsoldaten im Innern der Republik möglich. Die Ereignisse überschlagen sich: Entsetzt über die Notstandsmaßnahmen der sozial-liberalen Regierung Lenzinger spaltet sich der linke SPD-Parteiflügel (Ex-Juso-Chef Wolfgang Schwarz: "Diese Todsünde soll uns historisch nicht belasten") von der Mutterpartei. Schon werden junge Lehrer und Arbeitsrichter, die sich der neuen Unabhängigen SPD (USPD-Die Linke) anschließen, mit Disziplinarverfahren belegt und vorläufig des Dienstes enthoben.
VERFASSUNGSFEINDLICH
Begründet wird dies mit der Behauptung, die USPD-Die Linke verfolge verfassungsfeindliche Ziele. Vergebens berufen sich die Betroffenen darauf, dass nur das Bundesverfassungsgericht (BVerG) für eine solche Feststellung kompetent sei. Ihnen wird ein Beschluss des BVerG vom 22. Mai 1975 entgegengehalten, wonach dieses "Parteien-Privileg" nicht gelte, wenn es um die Beurteilung der Verfassungstreue eines Beamten durch den Dienstherrn geht.
RADIKALEN-ERLASS
Zugleich erinnert das niedersächsische Innenministerium in einer "Information für die Presse" an die Rechtssprechung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz. Die Richter hätten in einem Urteil zum Radikalen-Erlass am 29. August 1973 festgestellt: "Schon eine Neutralität gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist ein Eignungsmangel ... ... Deshalb muss der öffentliche Dienst ständig und ausnahmslos von Personen freigehalten werden, die der Grundordnung ablehnend oder gleichgültig gegenüberstehen."
OHNE RECHTE
In Niedersachsen bezeichnet CDU-Innenminister Pfau die USPD sogar als "verfassungswidrig", ohne dass sich die neue Partei dagegen wehren kann. Denn in einem Urteil vom 29. Oktober 1975 hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden: "Es ist verfassungsrechtlich legitim, wenn die obersten Verfassungsorgane versuchen, eine Partei. die sie für verfassungswidrig halten, durch eine mit Argumenten geführte politische Auseinandersetzung in die Schranken (zu) verweisen."
SCHNELLVERFAHREN
Im Schnellverfahren beschließt das Bonner Parlament gegen die Stimmen der USPD-Abgeordneten ein Ausführungsgesetz zum Grundgesetz-Artikel 11, das die Freizügigkeit der Bundesbürger zeitweilig einschränkt. Die Regierung will damit verhindern, dass sich Demonstrationszüge vom Ruhrgebiet aus nach Wolfsburg in Marsch setzen. Ferner ordnet die Bundesregierung auf Grund des Arbeitssicherstellungsgesetzes von 1968 (das zum Notstandspaket gehört) die Dienstverpflichtung sämtlicher Bus- und Lkw-Fahrer für die Dauer des Spannungszustandes an.
PRÄSIZIONSSCHÜTZEN
Das Versteck der mutmaßlichen Terroristen im Elm ist seit 48 Stunden von Präzisionsschützen aus BGS und SEKs der Polizei umstellt. Seit 24 Stunden ist Betriebsratsvorsitzender Heintzel als Geisel bei den Entführern gefangen. Die Insassen des Hauses, die sich auf ihren Abflug nach Spanien vorbereiten, wissen nicht, dass Bundesminister May und sein Länderkollege Pfau den nach dem Polizeigesetz von 1976 möglichen Todesschuss längst befohlen haben.
STRASSENKAMPF
Drei Soldaten, die daraufhin den Gehorsam verweigerten, müssen sich von ihrem Kommandeur Sätze aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vorhalten lassen, das am 18. Februar 1970 gegen einen aufmüpfigen Soldaten entschieden hatte: "Mit seiner Aufforderung, den Befehl zur Ausbildung im Straßenkampf u verweigern, hat der Beschwerdeführer seine Dienstverpflichtung verletzt. Solche Umtriebe können in einem Gemeinwesen, das sich auf das Prinzip der streitbaren Demokratie gründet, nicht hingenommen werden."
BLUT-TRANSFUSIONEN
In den frühen Morgenstunden des darauffolgenden Tages verlassen fünf Mann das Bauernhaus. Drei haben Seidenstrümpfe über den Kopf gezogen, zwei tragen nur dunkle Sonnenbrillen. Sofort nehmen die Scharfschützen die drei Maskierten unter Feuer. Die Männer mit den Sonnenbrillen reißen die Arme hoch. Als die Beamten zum Tatort rasen, stellen sie fest, dass sie auf einen Trick hereingefallen sind. Die blutüberströmt am Boden liegenden Männer mit den Strumpfmasken sind WM-Chef Kurt Becker, Geisel Heintzel und einer der Terroristen. Bluttransfusionen retteten den WM-Chef, Heintzel und der eine Terrorist sterben auf dem Weg ins Krankenhaus.
SEHNSUCHT NACH STARKEM MANN
Das dilettantische Vorgehen der Polizei putscht die Erregung der Arbeiterschaft hoch, Warnstreiks greifen jetzt auf den gesamten Bereich der Metallindustrie über. Der liberale Fernseh-Kommentator Heinrich Trappel fragt: "Wer profitiert von diesem Durcheinander am Wahltag? Die Sehnsucht nach dem 'starken Mann' wächst." Indes: Die Gewerkschaftsführung der IG-Metall, die sich bisher zurückgehalten hatte, sieht sich nun im Zugzwang. Gewerkschaftsboss Ludwig Florian und seine Vorstandskollegen wollen nach Wolfsburg fahren, um dort "ungebrochene Solidarität" mit den Streikenden zu demonstrieren. Es dauerte Stunden um Stunden, bis sich die Herren Funktionäre aus ihren Sesseln im 18. Stock des Gewerkschafts-Wolkenkratzers in Frankfurt am Main. erheben. Der Grund: Zur "Beruhigung der Gemüter" hatte vorsorglich der Chefredakteur des IG-Metall-Zeitung, Jürgen Mechelhoff, ("Ich kenne meine Pappenheimer") aus dem benachbarten Hotel 'Intercontinental' Lachs- und Kaviarschnittchen bestellt, Frühstücks-Sekt gleich kübelweise ankarren lassen. Um die Öffentlichkeit über das Vorgehen der größten Einzelgewerkschaft der Welt mit ihren 2,6 Millionen Mitgliedern zu informieren, soll vorab das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" informiert werden, als meinungsmachendes Profil-Blatt Deutschlands in diesen Jahren sozusagen.
LISPELN IM LUXUSHOTEL
Im Luxushotel "Frankfurter Hof" (Zimmerpreis ohne Frühstück 245 Mark pro Tag) wartet deshalb schon vorsorglich Wirtschaftsredakteur Stephan Burgdorff - ausgestattet mit Flanell, Kaschmir samt Rolex-Armbanduhr - mittlerweile die dritte Nacht auf "real dates and facts" der Arbeiterführer, wie das da so heißt im neudeutschen Journalisten-Slang. Er ist eigens mit der Lufthansa aus Hamburg eingeflogen, und jagt sodann mit einem Avis-rent-a-car BMW 2000 GTI über die Autobahnen an die Wolfsburger Arbeiter-Werkstore. Dort lässt es sich Spiegel-Redakteur Burgdorff - couragiert wie er ist - dann doch nicht nehmen, Bekannte per Handschlag zu begrüßen, "ach, siehe da, der Kollege Peters. Wie geht's denn so. Sieht ja nicht so gut aus", lispelt er sich an die übermüdeten Arbeiter heran. Recherchen-Reise. Kern seiner Spiegel-Geschichte: "Bei einer Flasche dome Pérignon kamen sie zur Sache."
AUSSPERRUNGEN
Derweil kontern die Metall-Arbeitgeber mit einer totalen Aussperrung aller Streikenden. Florian will in seiner Eigenschaft als stellvertretender WA-Aufsichtsratsvorsitzender das Werksgelände betreten (Florian: "Die Aussperrung ist ein Relikt aus der Steinzeit"), wird aber durch die BGS-Posten mit Gewalt daran gehindert. Tausende aufgebrachter Arbeiter, die vor dem Werkstoren warten, erzwingen sich und Florian jetzt gewaltsamen Zugang zum Werk. In einem Telefon-Interview, das sich neuerdings "live-Schaltung" nennt, mit den Dritten Programm des Norddeutschen Rundfunks erklärt der niedersächsische CDU-Innenminister Pfau nach einem eindeutigen Urteil des Bundesgerichtshof vom 12. Februar 1975 sei die Gewerkschaftsführung durch die Werksbesetzung, bei der sie gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei riskierte, zu einer "kriminellen Vereinigung" geworden.
KRIMINELLE VEREINIGUNG
Nach einer Beratung des Landeskabinetts geht Pfau noch einen Schritt weiter. Die Ausschreitungen in Wolfsburg, so erklärt der Minister, hätten gezeigt, dass es Tote geben könne. Damit seien der Vorstand der IG-Metall und die sonstigen Werksbesetzer eine terroristische Vereinigung nach Paragraf 129a des Strafgesetzbuches. Noch am selben Abend werden die Vorstandsmitglieder als Rädelsführer und sympathisierende Demonstranten auf Grund dieses 1976 ins Strafgesetzbuch eingefügten Paragrafen verhaftet.
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Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Sozialdemokrat,
Als sie die Katholiken holten,
habe ich nicht protestiert;
ich war ja kein Katholik.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.
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Der Kommentator der "Hannoverschen Morgenpost", der deutsche Pulitzer-Preisträger of Journalism Adalbert Kröncke, wird im beschleunigten Verfahren (Paragraf 212 StPO) nach dem neuen Paragrafen 88a StGB wegen Befürwortung von Gewalt verurteilt. Er hatte aus New York herbeigeeilt eine Schrift der Evangelischen Kirche zitiert (" ... ... auch aus dem Blickwinkel christlichen Sozialethik kann die Anwendung von Gewalt ausnahmsweise vertretbar sein ...") und die Frage gestellt , ob die Vorgänge in Wolfsburg nicht einen solchen Verlauf nehmen könnten, dass eine derartige Ausnahmesituation denkbar sei.
EIFRIGE POLIZISTEN
Zwei besonders eifrige Polizisten in Hameln führen sogar einen Gastwirt in Handschellen ab, weil er es versäumte, die Einsatzzentrale anzufen, als ein Gast in seinem Lokal Unterschriften für eine Solidaritätserklärung mit den Werksbesetzern sammelte und sich damit nach Paragraf 129 a in Verbindung mit Paragraf 138 Strafgesetzbuch in der Fassung von 1974 strafbar machte.
BUNDESZWANG
Die Inhaftierung der IG-Metall-Führung beantwortete der DGB mit dem Generalstreik. Die Bundeswehr marschiert in einige Werke ein, um die Versorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten - gestützt auf Art. 87a. Abs. 3 GG (Schutz ziviler Objekte). Als es daraufhin in den sozialdemokratisch regierten Ländern Hessen und Nordrhein-Westfalen zu blutigen Zusammenstößen zwischen Arbeitern und Soldaten kommt, fordert die Generalität die Bundesregierung auf, entsprechend Artikel 3 Grundgesetz beim Bundesrat dwn "Bundeszwang" für die beiden Bundesländer zu beantragen. Ziel ist es, dioe offenkundig unfähigen Landesregierungen ihrer Amtsbefugnisse zu entheben und zentral gesteuerte Gegenmaßnahmen zu ermöglichen.
WAHLEN VERSCHOBEN
Die Inspekteure der drei Waffengattungen erklären jetzt unter Berufung auf das im Artikel 20, Absatz 4 GG für alle Deutschen garantierte Widerstandsrecht, dass der Bundeskanzler seiner Amtsbefugnisse enthoben sei und dass sie zum Zwecke der Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung die oberste Befehlsgewalt ausüben. Widerstand werde mit allen Mitteln gebrochen. Sie verweisen darauf, dass schon bei den Beratungen des Art. 20, Abs. 4 im Jahre 1968 klargestellt worden sei, dass es auch ein "Widerstandsrecht von oben" gebe, wenn dies "das letzte verbleibende Mittel zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechts ist".
AUSGEH-VERBOT, AUSSCHLUSS
Die Bundeswehr versucht, durch "Notverordnungen" - so ein Ausgeh-Verbot zwischen 19 Uhr abends und 7 Uhr morgens - Herr der Lage zu werden. Ein Drittel der Bundestagsabgeordneten ruft jetzt das Bundesverfassungsgericht an, um die Gesetzeswidrigkeit dieser Maßnahme festzustellen. Bevor es jedoch zu einem Urteilsspruch kommt, schließt der II. Senat zwei seiner liberalen Mitglieder aus. Begründung: Sie hätten schon in früheren Schriften gegen den Begriff der "streitbaren Demokratie" Stellung bezogen md müssten deshalb als "befangen" gelten. Das Gericht verhält sich genauso wie schon am 16. Juni 1973. Damals hatte der II. Senat beim Verfahren über den Grundlagenvertrag mit der DDR auf Antrag Bayerns den Verfassungsrichter Dr. Joachim Rottmann (1971-1983) als befangenen ausgeschlossen. Begründung: Rottmann habe schon früher erklärt, dass das ehemalige Deutsche Reich nicht mehr fortbestehe und durch zwei deutsche Staaten abgelöst worden sei.
"GESÄUBERTE" GERICHT
Im Urteilsspruch räumt das "gesäuberte" Verfassungsgericht dann zwar ein, dass die Proklamtation der drei Bundeswehr-Inspekteure und die Notverordnungen mit den Bestimmungen des Grundgesetzes nicht in Einklang stehen. Doch dann greifen die Richter in der roten Robe auf die Rechtssprechung im sogenannten Abhörurteil vom 15.12.1970 zurück. Damals schon seien "systemimmanente Modifikationen" auch unumstößllicher Verfassungsprinzipien im Rahmen des tragenden und allgemeinen Verfassungsprinzips der streitbaren Demokratie für gerechtfertigt erklärt worden.
AUTORITÄRE VERFASSUNGSSTAAT
Zugleich bescheinigt das Gericht mit einem Zitat aus dem KPD-Verbotsurteil vom Jahre 1956 den Militärs die Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens: "Ein Widerstandsrecht gegen einzelne Rechtswidrigkeiten kann es nur im konservierenden Sinne geben, das heißt als Notrecht zur Bewahrung oder Wiederherstellung der Rechtsordnung." Das Urteil wird im Bundesgesetzblatt verkündit und erhält damit Gesetzeskraft. Es ist für alle Gerichte und Behörden bindend. Damit ist der autoritäre Verfassungsstaat "legal" installiert.