Donnerstag, 24. April 1980

Keimfrei, klug und Karriere bewusst - Jugend '80 das Wunschbild der Medien ( I) Von Reimar Oltmanns




Die demoskopische Erfassung der "wahren Jugend" führt in den Medien immer wieder zu erstaunlichen Formen der Erleichterung. Die Gegenanalyse" des Autors als Vorabdruck.


Vorwärts, Bonn
24. April 1980
Wenn es in Deutschland um die "Jugend" geht, so scheint es, ist der Zugriff der Apparate perfekt, ist der Zufall ausgeschaltet. Eine ganze Industrie hat sich aufgetan, um auch nur die kleinsten Verschiebungen oder Veränderungen zu erfassen. Die Parteien interessieren sich für Jungwähler, die Großkonzerne für Absatzchancen. Die Massenblätter unterschiedlichster Couleur präsentieren in Schlagzeilen und Serien "ihre Jugend", wie sie "wirklich" denkt, was sie "eigentlich" will und wohin sie "tatsächlich" tendiert.

Noch in keinem Jahrzehnt ist so viel Rummel um eine Jugend veranstaltet worden wie in den siebziger Jahren. Aber in keiner Zeitspanne wurde mit demoskopischen Daten auch derart an Jugendlichen vorbeigeschrieben wie in dieser. Die Schlagzeilen sind fast austauschbar, nur die Jahreszahlen hinterm Apostroph variieren. "Generation ohne Illusion. So ist die deutsche Jugend wirklich". läutete Bild am Sonntag eine Serie ein. "Jugend '76" nannte der stern seinen Report, Quick titelte "Jugendliche heute: So leben, denken und lieben sie". Hörzu glaubte gar: "Jugend '77 - Der Schein trügt". Quick schrieb die Druckspalten über die "Jugend '79" voll. Der stern fand die "Idole '79" und befragte junge Deutsche: "Was ist Glück?" Die Antwort: "ohne Moos nichts los." Die Welt war "auf der Suche nach dem kleinen Glück". Neun Monate später entdeckte die Tageszeitung in einer sechsteiligen Serie "Die jungen Realisten". Und die Bravo hatte den originellen Einfall vom "Disco-Gewitter '79 - Der Boden bebt, bunte Blitze zucken".

ALLE SUCHEN DIE VORZEIGE-JUGEND
Bravos Blitz-und-Boden-Geschichten sind professionelle Routine. All diese Massenmedien, die zusammen an die 40 Millionen Menschen erreichen (alte Bundesrepublik 61 Millionen Einwohner). entdeckten "die Jugend" erst nach der 68er Studentenrevolte. Die außerparlamentarische Opposition hatte mit ihren Diskussionen, Demonstrationen und Straßenschlachten das scheinbar so festgefügte Wertsystem in diesem Land zumindest zeitweilig erschüttert. Der damals in der Bevölkerung ausgelöste Schock wirkt auch heute noch nachhaltig und wird mit jeder Terrorismus-Debatte aktualisiert. Seither hat die publizistische Ausschlachtung "der Jugend" ihr eigenes Gewicht bekommen. Jungen und Mädchen, die während der APO-Zeit erst zehn oder zwölf Jahre alt waren, werden kritisch nach dem gängigen Polit-Raster auf ihr Ideologieverständnis und ihre potenzielle Bereitschaft zur Rebellion abgeklopft. Ein Polit-Raster, mit Hilfe dessen man glaubt, präzise zwischen Systemveränderern und einer staatstragenden Jugend unterscheiden zu können glaubt.

CHANCE DER PUBLICITY
Gesucht wird eine Jugend, die in der Tradition der Erwachsenen steht, die mit ihren Aussagen sämtliche Normen einer in Wirklichkeit tief verunsicherten Gesellschaft bestätigen soll. Diese Vorzeige-Jugend soll nach außen den überzeugenden Anschein erwecken, dass die deutsche Leistungs- und Verwertungsgemeinschaft sauber und intakt funktioniert. Demoskopische Fragestellungen, die mit ihren Resultaten einen ganz anderen Schluss zulassen, werden erst gar nicht in Auftrag gegeben oder durch offenkundige Falschinterpretationen heruntergespielt. Ganz davon abgesehen, dass es "die Jugend" so wenig gibt wie "die Menschheit", wird mit dieser abgegriffenen Formel jede neue Meinungsumfrage als "Überraschung", "Bombe" oder "Erstaunliches" verkauft. Wissenschaftler, die ihre Chance der Publicity nutzen, fungieren als seriöses Alibi und werden in den Massenblättern als unerreichbare Größe des Zeitgeschehens stilisiert.

AUS HIPPIES WURDEN PAPPIS


"Früher schwärmten die Jugendlichen für Willy Brandt (*1913+1992), heute schwärmen sie allenfalls für John Travolta", berichtet Die Welt. Ein Dreivierteljahr danach schreibt die Zeitung: "Irgendwo zwischen Dutschke und Travolta wurden die jungen Realisten geboren." - "Realisten", die nach einer Studie des Jugendwerks der Deutschen Shell die bestehende Wirtschaftsordnung bejahen. Die Welt zitiert: "Auf drei Anhänger kommt nur ein Gegner der Marktwirtschaft, die vor allem bevorzugt wird, 'weil der einzelne mehr Freiheit hat ...'."

Das Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung eruierte: vom Jahrgang 1959 seien nur sechs Prozent der Jugendlichen "unzufrieden". Ergo können sich 94 Prozent glücklich und selig schätzen. Bild am Sonntag brachte über das Emnid-Institut in Erfahrung, dass die Jugend der Staatsform in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs so ablehnend gegenüberstehe wie immer angenommen. Insgesamt 60 Prozent haben an ihr nur "einiges auszusetzen". - "Die Jugend '76 driftet nicht nach rechts oder links. Sie sucht den Weg nach oben ... Aus Hippies wurden Pappis. Underground und Gegenkultur haben ihren Betrieb aus Personalmangel eingestellt", ist die wesentliche Erkenntnis des stern, der sich in seinem Artikel ebenfalls auf das Bielefelder Emnid-Institut beruft.

"GUMMIBAUM IST VORBILD"

Grotesk wird es, wenn sich die Medien mit Hilfe der Demoskopen daranmachen, die Idole der jungen Generation herauszufinden. Bild am Sonntag fragt nach Vorbildern, und ein Mädchen namens Nicole aus München antwortet: "Mein Gummibaum ist mein Vorbild. Er besitzt alle meine Ideale: Ausdauer, Bedürfnislosigkeit, Zurückhaltung und Sauberkeit." Oder der 15jährige Thomas Schott, Hauptschüler aus Bargteheide in Schleswig-Holstein, sagt: "Die Riesen sind meine Vorbilder , weil ich so klein bin - 1,52 Meter." Das Blatt kommt zu dem grundlegenden Ergebnis: "Wir haben diesem Report den Titel gegeben: Jugend ohne Illusion. In der Tat - die jungen Leute sind realistischer, nüchterner, emotionsloser, illusionsloser als vergangene Generationen. Aber es ist auch eine Generation ohne Vorbilder wie Kennedy. Ohne Idole wie James Dean. Sogar Elvis Presly, Mao und Che Guevara sind von den T-Shirts verschwunden. Aber auch die Beatles sind für die Jugend heute 'Schnee von gestern'."

GROSSE NATIONALE ERLEICHTERUNG
Für Bild am Sonntag waren wieder die Emnid-Leute mit ihren repräsentativen Stichproben auf Achse. Ganz anders agierte dagegen das Institut Allensbach. Es ging für den stern auf die Straße und fand, was Emnid offensichtlich nicht suchen sollte oder wollte: die "Idole" dieser Generation. Nämlich John F. Kennedy, Albert Schweitzer, Udo Lindenberg und Sepp Maier. Sie rangieren auf den ersten Plätzen.

Noch fündiger wurde das Hamburger Sample-Institut, das für Die Welt Städte und Dörfer abklapperte. "Früher schwärmten die Jugendlichen für Willy Brandt, heute schwärmen sie allenfalls für John Travolta", hatte die konservative Tageszeitung eingangs kategorisch festgestellt. Doch nach Travolta (*1954, US-Sänger und Schauspieler) fragte niemand. Nein, Konrad Adenauer ist der Spitzenreiter unter den ausgekorenen "Idolen" des Jahres 1979; gefolgt von Helmut Schmidt, John F. Kennedy, Walter Scheel, Franz-Joseph Strauß, Willy Brandt, Theodor Heuss, Martin Luther King, Jimmy Carter, Helmut Kohl, Kurt Schumacher, Ludwig Erhard, Golda Meir, Tito, Karl Carstens und Che Guevara.

Die Münchner Illustrierte Quick (eingestellt 1992) ortete unter den Jugendlichen ganz andere Favoriten; natürlich nicht allein, sondern mit dem Hamburger Kehrmann-Institut für Marktforschung im Hintergrund. Da liest es sich dann so: "Ihre Vorbilder sind nicht etwa Größen aus dem Showgeschäft, der Wirtschaft oder der Politik (die schon gar nicht); ihre Vorbilder sind heute wieder - die Eltern." Diese demoskopische Neuigkeit war für die Nachrichtenagentur ddp Grund genug, eine Eil-Meldung für die ihr angeschlossenen Zeitungen zu verbreiten. "27,5 Prozent der Söhne und 32,7 Prozent der Töchter halten ihr Verhältnis zum Vater für 'ausgezeichnet'. Und 53,8 Prozent der Söhne und 47,7 Prozent der Töchter finden, dass sie eine 'gute Beziehung' zum Vater haben. Noch besser schneiden die Mütter in der Bewertung ihrer Sprößlinge ab."

GENERATION OHNE FEHL UND TADEL
Überhaupt handelt es sich bei den Jugendlichen um eine Generation ohne Fehl und Tadel. Von Resignation, wie so oft vermeldet wird, keine Spur, von Apathie und Orientierungsschwäche können danach nur "soziale Versager" sprechen. Hier lebt, glaubt man den publizistischen Versionen, eine dynamische Generation: achtet ihre Eltern, manchmal frech, sonst eher staatsloyal, leistungsbewusst und menthol-frisch. Mit einer solchen Jugend können eigentlich sämtliche Institutionen und politischen Parteien zufrieden sein - vornehmlich aber die Unternehmer.

Die Werbeagentur H.K. McCann mbH ermittelte nämlich, was in den Vorstandsetagen die Manager schon nicht mehr für möglich hielten: den ungebrochenen Leistungsdrang der "jungen Leute von heute". Quick jubelte dann auch prompt: "Der Leistungsgedanke ist bei vielen ausgeprägt. 75 Prozent sagen: 'Man muss sich ranhalten, sonst wird man überholt.' 72 Prozent meinen außerdem: ' Um voranzukommen, muss man Einschränkungen im Privatleben hinnehmen.'" Auch das Jugendwerk der Deutschen Shell konstatierte, dass 62,1 Prozent "diesen Leistungsdruck ausdrücklich bejahen." Geradezu emphatisch feierte Hörzu hochgehaltene deutsche Tugenden, die das Emind-Institut im Auftrag des Mineralölkonzerns Shell herausdemoskopierte. "... Deutschlands Söhne und Töchter entschieden sich zu 88 Prozent für die 'Bejahung des Leistungsprinzips' und immerhin zu 78 Prozent für die 'absolute Treue'. Es ist also nichts mit dem Märchen von einer faulen, oberflächlichen, unmoralischen Jugend", triumphierte das Millionen-Blatt.

RESPEKT VOR AUTORITÄTEN

Ganz im Gegenteil: Die Leute von Sample aus Hamburg widmeten sich einer besonders delikaten Frage, "nach der Autorität, und wenn ja, welche?" Schließlich könne "nach den leidvollen Erfahrungen der jüngeren Geschichte" nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden. Insgesamt würden 54 Prozent der Jugendlichen die Autorität eines anderen respektieren, "wenn ich ihn menschlich besonders schätze". 46 Prozent akzeptieren Autorität, "wenn sie mir geistig überlegen ist." Und 42 Prozent der Jungen, dazu 32 Prozent der Mädchen, achten ihren Vorgesetzten als uneingeschränkte Autorität.



















Mittwoch, 16. April 1980

Suche nach Nähe - Wie eine Gesellschaft ihre Kinder zu Frührentnern macht













































abgeschoben, verwahrt, vereinsamt, verwahrlost - Jugendfreizeitheim "Gelse" im Falkenhagener Feld zu Berlin


Metall-Magazin Nr. 8/80
Frankfurt a/M
am 16. April 1980
von Reimar Oltmanns

Rüdiger hat es sich ausgerechnet: 512mal schließt er während seiner Arbeitszeit mit 64 Einzelschlüssel Räume auf und wieder zu, öffnet mit dem Vierkantschlüssel verriegelte Toiletten - und das Tag für Tag von 2 Uhr mittags bis 10 Uhr abends, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

Auch wenn seine athletische Gestalt auf manchen Angst einflößend wirken könne, so fürchtet Rüdiger sich doch seit Jahren insgeheim davor, "ein Messer oder eine Kugel in den Rücken zu bekommen". Seine "Wach- und Schließgesellschaft" hat ihn nämlich mit einem besonders delikaten Objekt betraut. Der 1.600 Quadratmeter große Neubau, in dem er seine Rundgänge macht, ist mit all den architektonischen Raffinessen der Neuzeit ausgestattet. Die Wände in der Halle, einst in grau, haben etwas von der früheren Kälte verloren. Realistische Maler pinselten überlebensgroße Menschen auf die Leerflächen, eben handfeste Menschen mit Charakterköpfen, konsequenten Blicken und stählernen Mienen. Im verqualmten Raum nebenan gibt's Limonade, Bier und kleine Snack's, aber nur "auf Selbstbedienung".

KEIN ZU HAUSE

Der Stallgeruch drängt sich dort unverwechselbar auf. Es riecht nach altem Bahnhof. In der Billard- und Kickerecke stehen Leute, die seit eh und je kein Zuhause mehr haben oder sich nur bei den rollenden Kugeln heimisch fühlen. Bierfahnen, südlicher Haschgestank, Schweiß, Parfüm, Toilettenmief, Zigarettenqualm - inein-ander übergehende Gerüche, die oft undefinierbar sind. Vor der Treppe zum ersten Stock liegen ein paar Leute auf dem Boden, die im Volksmund Penner genannt, die "Schließer" Rüdiger oft genug wegscheucht, die sich dennoch wieder einnisten, hartnäckig wie sie sind. In der ersten Etage gibt es Kinoprogramme, ein Teestübchen mit weichen Polstersesseln, Ruhe und Leseräume.

KINDER-FRÜHRENTNER

Schauplätze, die Rüdiger im Auge behalten muss. Wenn er seinen Neubau kurz nach 22 Uhr schließt, räumt er mit seinen Kollegen den gröbsten Dreck beiseite: leere Kornflaschen, Bierdosen in Hülle und Fülle, abgebissene und zertretene Brote, aber auch zerdepperte Waschbecken. Überbleibsel eines Tages, die Rüdiger nicht der Putzkolonne überlässt. Sie würde sich in den frühen Morgenstunden strikt weigern, in solch einem wüsten Chaos sauber zu machen. Tatsächlich verbirgt sich hinter Rüdigers Wach und Schließgesellschaft das Bezirksamt Spandau, hinter dem Neubau das Jugendfreizeitheim "Gelse" im Falkenhagener Feld; der Schließer Rüdiger fungiert als Heimleiter, und die Jugendlichen, die hier verkehren, sind schon längst auf ihrer Endstation angekommen.

Kinder unserer Zeit, dreizehn, fünfzehn oder auch achtzehn Jahre alt, die oft ein Frührentner-Dasein führen, noch ehe sie richtig erwachsen wurden; die tagtäglich darauf warten, dass mal irgend etwas Spannendes passiert, dass sie etwas von der großen Welt abgekommen und sei es nur ein Quäntchen Glanz und Glimmer. Sozialarbeiter dieser Tage, die den Mut verloren haben, die saft- und kraftlos in ihrem Mitarbeiterzimmer herumhängen und gelangweilt in Illustrierten blättern, die sich aufs Türen-Auf- und Zuschließen beschränken, die ihre "Leck-mich-am-Arsch-Mentalität" für jedermann ersichtlich vor sich hertragen und auf die "beschissene Welt schimpfen.

Dabei glaubt Rüdiger, 37 Jahre alt, gerade einer anderen "beschissenen Welt" entkommen zu sein, nämlich der eines Brauerei-Facharbeitern in der Fabrik. Über sechzehn Jahre hatte er dort gearbeitet, zum Schloss durfte er sogar Schichtführer nennen. "Ich habe die Schnauze restlos voll gehabt in dieser Mühle, ich war nur noch deprimiert, weil mir alles so aussichtslos erschien." Justament zu dieser Zeit suchte das Bezirksamt Berlin-Spandau, Abteilung Jugend und Gesundheit, Erzieher, die im neu erbauten Jugendfreizeitheim "Gelse" eine Aufgabe sehen. Ein Arbeitskollege brachte Rüdiger mit einem gewissen Alfons Brawand zusammen, der sich nicht daran störte, dass Rüdiger keine Ausbildung zum Sozialarbeiter durchlaufen hatte. "Das macht nichts", soll Brawand ganz loyal gesagt haben, "die holste berufsbe-gleitend nach." Rüdiger war merklich unsicher auf dem Amt und sagte artig: "Herr Brawand". Doch der duzte ihn gleich wie einen alten Kumpel. Ihm käme es insbe-sondere darauf an, Praktiker, wenn auch ohne Ausbildung, auf die neu geschaffenen Planstellen zu hieven. Von arbeitslosen Akademikern wolle man weniger etwas wissen, "Die sind links verdorben, hetzen nur die Jugendlichen auf und machen den Behörden unnötige Arbeit", hieß es lapidar. Dagegen passte ein Typ wie Rüdiger offenbar sehr gut ins selbst gezimmerte Stellenprofil.

PRESTIGE-OBJEKT

Rüdiger konnte nicht im entferntesten ahnen, warum das Amt ausgerechnet auf "Praktiker" baute. Er hatte nicht die leistete Vorstellung von dem, was in erwarten würde. Seine anfängliche Unsicherheit überspielte er stets damit, dass er sich mit einer "berufsbegleitenden Ausbildung" beruhigte. Auch verengte Rüdiger, vielleicht ungewollt, seinen Blick für gewissen Begleiterscheinungen, die ihn wahrscheinlich schon damals nachdenklicher hätten stimmen müssen. Doch er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit seiner Ablösung von der Fabrik, vom eingefahrenen Schichtdienst und nun dem plötzlichen Neubeginn als Sozialpädagoge sozusagen, dem Eltern ihre Kinder anvertrauten, abschoben, wenn auch nur stundenweise.

Denn so ein Jugendfreizeitheim eröffnet weitaus mehr Möglichkeiten, sowohl für die Jugendlichen als auch für ihre Betreuer, dachte Rüdiger, als er zum ersten Mal vor der Eröffnung staunend durch die brandneue "Gelse" schlenderte. Er merkte offenbar nicht, dass er die Einrichtung eher nach seiner eigenen Hobbylage begutachtete als nach der der Kinder, für die sie eigentlich mal gedacht war. Über 2,5 Millionen Mark hatte der Staat in dieses Prestigeobjekt investiert. Über 50.000 Mark kostete allein das Tonstudio, 40.000 Mark verschlang die Großküche, skandinavische Sessel - vergleichbar einem Hotel-Foyer - verschönerten die Lese- und Spielräume. Eine großflächige Bühne für Beatbands und Laienspielgruppen war vorhanden, es konnte Basketball, Volleyball und Tischtennis gespielt werden, Kicker und Billard gab's wie selbstverständlich. Theater- und Ballettgruppen, Sportvereine und Briefmarkensammler - sie alle sollten hier unterkommen. Es fehlte an nichts, alles schien bis ins Detail maßstabsgetreu durchgeplant und vorprogrammiert. Die zuständigen Ämter meinten, ganze Arbeit geleistet zu haben.

RABATZ BEI EINWEIHUNG

Die Spandauer Honoratioren aus Partei und Ämtern, Baufirmen mit ihren Ange-stellten, Architekten und notgedrungen auch die neuen Erzieher wollten ihr Jugendfreizeitheim im exklusiven Kreis in gebührender Form einweihen: quasi als Übergabeveranstaltung mit Bierfass, Sekt, Orangensaft und den obligaten kleinen Häppchen. Und natürlich hatte Brawand zuvor mit seinen Leuten kräftig die Hofberichterstattung in Funk und Lokalpresse angeleiert. So gab es unter den Jugendlichen im Falkenhagener Feld nur ein Thema: "Amtsärsche saufen und fressen sich im neuen Jugendfreizeitheim voll." Während Brawand vor dem erlauchten Halbrund das Bauwerk als ein Projekt "für die Welt von übermorgen" pries, luchsten die Jugendlichen draußen vor der Tür durch die Scheiben . Zwar hatte sich eigentlich keiner vorgenommen, Rabatz zu machen. Doch als sie die Herren in ihren feinen Anzügen vor sich sahen - auch Rüdiger zog seinen besten Zweireiher an -, da muss eine unbändige Wut in ihnen hochgekommen sein. Es mögen dreißig oder auch vierzig gewesen sein, die das Haus stürmten. Die feierliche Übergabever-anstaltung artete in eine schlimme Massenschlägerei aus. Keiner blieb verschont, auch Alfons Brawand musste Fausthiebe einstecken.

GLUCKLÖCHER IN BETON-HÖHLEN

Erstmals sah sich Rüdiger mit seiner Realität konfrontiert, die er bisher beiseite geschoben hatte. Erstmals überhaupt fragte er sich, woher die Jugendlichen kommen, die er fortan betreuen sollte. Und erstmals gingen seine Blicke ein wenig bewusster, ein wenig nachdenklicher über den Horizont des Jugendfreizeitheims hinaus. Was er sah, waren graue Betonhöhlen mit symmetrisch angeordneten Guck-löchern. Langsam und mit Hilfe anderer Kollegen aus dem benachbarten Klubhaus dämmerte es ihm, wo er tatsächlich gelandet was. In Spandau, einem der wichtigsten Neubaugebiete Westberlins - dort, wo sich Wohnsilos, Polizeischießplätze, Friedhöfe, Kleingärten und Müllhalden scheinbar friedlich miteinander vertragen.

Das Jugendfreizeitheim "Gelse" liegt am Rande des Falkenhagener Felds, einer räumlich zerrissenen Betonwüste mit mehr als 30.000 Menschen. Früher zogen hier Arbeiter und kleine Angestellte hinaus, die sich ihr Häuschen in der Idylle mühsam zusammengespart hatten. Auf den noch freien Plätzen mauerte in den sechziger Jahren der soziale Wohnungsbau seine Häuser hoch. Einheitliche Pläne lagen zu keiner Zeit vor, deshalb wurden Läden, Post, Kirchen, Schulen und Spielplätze auch irgendwo verstreut an die Peripherie verlagert. Nur soviel stand fest: alleinstehende Rentner sollten aus dem Stadtzentrum, wo sie Wohnungen blockierten, in dieser erdrückende Neubaugebiet verfrachtet werden. Für sie waren damals die eineinhalb-Zimmer-Appartements gedacht. Als die alten Leute dann nicht kamen, weil sie den sozialen Wohungsbau nicht bezahlen konnten und lieber in gewohnter Umgebung sterben wollten, da riss man kurzerhand die Zwischenwände ein und legte jeweils zwei Appartements zusammen. So entstanden Drei-Zimmerwohnungen. Vornehmlich in der Siegener Straße und im Spekteweg, gleich in der Nachbarschaft zum Jugendfreizeitheim. In den Blöcken 655, 656, 657 leben seither die kinderreichen Familien, nicht selten sechs bis acht Menschen in drei Zimmer zusammengepfercht.

Sie waren natürlich allesamt recht herzlich willkommen, als die "Gelse" einige Wochen nach dem Prügeldebakel fürs Publikum geöffnet wurde. Doch bevor die Girlanden stiegen, die Beatbands aufspielten und eigens dafür engagierte Ballett-tänzerinnen den Betonbau-Kinder ihre Akrobatik vorführten, hatte Alfons Brawand in doppelter Hinsicht Vorsorge getroffen. Nach dem ersten Reinfall konnte er sich schon aus optischen Gründen keinen weiteren Prestigeverlust mehr leisten. Drei Einsatzwagen der Polizei standen abrufbereit in der Nebenstraße, Brawand blieb mit ihnen über ein Sprechfunkgerät, das er bei sich trug, in ständigem Kontakt. Aber jene Jugendlichen, denen der etwaige Knüppeleinsatz galt, die waren zur offiziellen Einweihung erst gar nicht erschienen. Die hatte Brawand nämlich jeweils mit einem Zwanzigmarkschein zuvor bestochen. "Macht euch einen schönen Tag!", soll er ihnen gesagt haben. Darauf sind Dino, Liebel, Ito, Ristow, Becker, Kaiser, Hotte, Ricci und Accer abgezogen. "Ist das ein Angsthase, dieser Amtsarsch", feixten sie und zogen durch Spandaus Kneipen, Geld genug hatten sie ja.

PÄDAGOGIK UNERWÜNSCHT

Allmählich begriff Rüdiger auch, was Alfons Brawand wohl unter einem richtigen Praktiker verstand. Leute, die sich weniger von ideellen Zielsetzungen leiten lassen, die kaum Skrupel kennen, wenn es darum geht, ihren eigenen Erfolg und einen reibungslosen Ablauf zu sichern, die sich auch nicht groß um pädagogische Grund-sätze in einem Jugendheim kümmern. Sonst wäre Brawand ja nicht auf die Idee verfallen, Zwanzigmarkscheine auszuteilen, nur um der lieben Ruhe willen. Er hätte sich ebenso gut vor der Eröffnungsveranstaltung, an der ihm soviel lag, mit den renitenten Jugendlichen zusammensetzen und mit ihnen über ihre Vorstellungen sprechen können. Denn eines war doch ziemlich klar: Diese Jugendlichen wollten etwas, nur was, das wusste keiner. Rüdiger jedenfalls hatte sich fest vorgenommen, mit Dino und Co. Berührungspunkte zu finden. Doch er tat sich ungemein schwer.

NUR VORSTADT-KÖTER
Dino und Co., das waren 15 Leute zwischen 18 und 23 Jahren, die sich in einem Klub zusammengerottet hatten - "Trink-Dich-Frisch" nannten sie ihn. Jugendliche, die in ihrem Leben noch nie aus Spandau rausgekommen sind, die tagein, tagaus durch ihr Neubauviertel lungern. Die meisten stammen aus zerrütteten Familien. Vater arbeitslos und Alkoholiker, Mutter laufend schwanger, an Streitereien mangelt es nicht, nur am Geld. Die meisten sind seit ihrem Schulabgang arbeitslos. Jugendliche, die seit ihrer Kindheit machen konnten, was sie wollten - sie blieben doch die begossenen Vorstadt-Köter, eben Straßenkläffer, die keiner hören will und keiner ernst nimmt. Zärtlichkeit und Nähe haben sie nie kennen gelernt, Lehrstellen gab's auch keine, nur die ewige Langeweile und ein Nichtstun, das aggressiv macht. Und das Jahr für Jahr im grauen Beton mit seinen Schiffsluken und der quälenden Enge. Da holt sich dann ein jeder, was er braucht, sucht sich seine Nischen in einer Gesellschaft, die dichtgemacht hat, die keine Chancen eröffnet, die von solchen Jugendlichen einfach nichts wissen will und mit dem Begriff "Randgruppe" für sich ein beruhigendes Vokabular erfand. Setzt sich dieses Grundgefühl erst einmal fest - nutzlos zu sein, nicht gebraucht zu werden - , dann sind Raubzüge, Körperver-letzungen, Autodiebstähle eine der unweigerlichen Antworten - nicht aus Kriminalität, vielmehr aus Verzweiflung. Schließlich wollen Dino und Co. sich ihre Sehnsüchte, ihre Träume nach Freiheit, Autobahn, Disco und Mädchen nicht vermasseln, nicht zertreten lassen. Sie wollen nicht dastehen nur mit einer lumpigen Mark in der Hand und noch eine weitere Abfuhr riskieren. Sie sind zwar Frührentner,das heißt für sie aber noch lange nicht, den ganzen Tag am Fenster zu hocken und Mutter immer beim Staubsaugen zu helfen.

OHNE LEHRE, OHNE JOB - EINFACH GAR NICHTS

Unversehens geriet der zunächst unbeleckte Rüdiger in ein Dickicht sozialer Probleme, auf die er nicht vorbereitet war, aus denen es aber keinen Ausweg gab. Wie sollte er eine Lehrstelle besorgen, wie sollte er ihnen die Trinkerei, die Kokserei abgewöhnen? Gut, Verhütungsmittel für die Mädchen hätte er vielleicht organisieren können, und mit dem Jugendrichter sprach er ohnehin von Zeit zu Zeit. Rüdiger, der aus der strumpfsinnigen Fabrik geflohen, ausgestiegen war, der den Mief der Brauerei nicht mehr ertragen hatte und an einen sozialen Aufstieg glaubte, er sah sich plötzlich einer noch "beschisseneren Welt" gegenüber - Jugendlichen, die teilweise noch nicht einmal die Möglichkeit bekamen, am Fließband zu stehen und für die ein Disco-Abend das höchste der Gefühle wäre, wenn sie doch nur das nötige Geld hätten.

Aber die Kinder vom Falkenhagener Feld waren zum Teil schon über Jahre ohne Job, und von ihren Eltern kriegten sie auch nicht die ersehnten Groschen. Deshalb gingen sie in die "Gelse", auf der Suche nach Nähe, nach Geborgenheit, nach Durchbruch. Da standen sie nun in dem bombastischen Neubau, der alles andere war als ein Jugendfreizeitheim. Vielleicht ein Offizierskasino, vielleicht ein Soldatenheim, so hygienisch und steril schlug schon das Äußere durch. Die skandinavischen Klubsessel, das Tonstudio und die Großraumküche für eine ganze Kompanie. Die "Gelse" war das traurige Resultat ehrgeiziger Reißbrett-Bürokraten, die über "jugend-pflegerische Aufgaben" lamentierten, aber insgeheim ihre Bedürfnisse nach Groß-mannssucht und Millionenetats verwirklicht sehen wollen.

"HOLT DIE BULLEN"

Schon ein halbes Jahr nach der Eröffnung war von dem Glanz nichts mehr da. Wie sollte es auch? Jugendliche, die zu Hause nicht einmal ihr eigenes Zimmer hatten, die nie viel Spielzeug besaßen, die sich in der Konfliktbewältigung stets auf ihre Fäuste verließen - die mussten diesen Heimwohlstand einfach als eine ungeheure Provokation empfinden. Da verbarrikadierten sich nach 22 Uhr die "Trink-Dich-Frischler" im Klubraum. Das Heim sollte geschlossen werden, doch Dino und Co. wollten nicht gehen. Gutes Zureden quittierten sie mit lautem Gejohle. "Holt doch die Bullen", holt doch die Bullen, das ist unser Raum, das ist unser Raum ...". Sie schmissen den Kühlschrank und eine Kommode vom ersten Stock auf die Straße und flüchteten erst durchs Fenster, als Rüdiger mit dem Beil ein Loch in die Tür schlug, um mit dem Gartenschlauch das Zimmer unter Wasser zu setzen.

Nachbarn aus den gegenüberliegenden Einfamilienhäusern zogen gegen die übenden Beatbands zu Felde. Ein Lärmschutzwagen des Berliner Senats registrierte, dass die zulässige Lärmgrenze um vierzig Prozent überschritten sei. Das Bauamt hatte vergessen, in die Außenwand eine Schallisolierung einziehen zu lassen (Kostenpunkt: 40.000 Mark). Folglich durften fast zwei Jahre lang auch Musik-gruppen nicht mehr proben. Ohne großes Aufhebens kürzte das Bezirksamt Spandau für die geplanten Neigungsgruppen die finanziellen Mittel um zwanzig Prozent. Mit ganzen 750 Mark musste das Heim jährlich auskommen, wenn es sich Kleinmaterial besorgte. Die Illusion von einem intakt funktionierenden Jugendfreizeitheim wurde jäh zerstört.

MENSCHEN IN KÄFIGEN

In all den Jahren registrierte Rüdiger nicht ein einziges Mal auch nur einen aufmunternden Satz. Keine Äußerung, die Mut machte, kein Hinweis, der als Unterstützung oder Rückendeckung gewertet werden könnte, Dabei hätten sich doch gerade die Beamten einmal fragen lassen müssen, welchen Unsinn sie dort hingebaut haben, Menschen in Beton einzupassen und selbstgefällig von "übergeordneten jugendpflegerischen Aufgaben" zu philosophieren. Wie sollen sich Jugendliche in einem Heim wohlfühlen, in dem alles DIN-genormt zugeht; angefangen vom künstlichen Freizeitangebot - Kicker, Flipper, Billard - bis hin zur Schadensre-gulierung. Nach dem Motto: So, nun sind wir mal ein Stündchen artig. Eine solche antiquierte Konzeption musste von vornherein zum Scheitern verurteilt sein.

Über eines sind sich alle im klaren. Man könnte die "Gelse" dichtmachen, es wäre kein herber Verlust, es gäbe wohl auch kaum jemanden, der ernsthaft protestieren würde, nicht einmal die verbliebenen Jugendlichen. Höchstens die Montagabende müssten sie dann aus ihrem Programm streichen. Montags kommt es schon vor, dass sich mal fünfzig oder sechzig Jugendliche für ein Weilchen in der "Gelse" aufhalten. Nicht etwa, weil etwas Besonderes abläuft, sondern weil in einem kalten, kalten Raum, Schallplatten, sogar neue CDs aufgelegt werden. "Disco" sagen alle dazu, eben Saturday-night-fever zum Wochenbeginn, wo doch für die meisten zwischen Sonn- und Werktagen ohnehin kein Unterschied besteht. Hotte fühlt sich für die Scheibe zuständig, als der DJ von der Gelse immerhin. Wenigstens einmal in der Woche sieht er, dass er gebraucht wird. Keiner kennt sich nämlich so gut mit der Anlage aus, keiner kann auch so gut Englisch wie Hotte.

"EINEN SATZ" - WOHIN ?

Kerstin hat sich schon des öfteren gefragt, woher Hotte eigentlich so gut Englisch kann. Hotte antwortete ihr die Frage natürlich: "Det ha ich ma selba bejebracht." Hotte ist der Bruder von Dino, dem Chef der "Trink-Dich-Frisch-Clique". Acht Kinder zählen sie zu Hause. Eine Dauerarbeit haben Dino und Hotte bis heute nicht gefunden. Eine Zeit lang fuhr Hotte Wäsche aus. Damals ging er noch mit Uschi, damals sparte er noch für eine Wohnungseinrichtung. Als die Reinigung dann Pleite machte, sein Chef über Nacht mit dem restlichen Geld nach Westdeutschland türmte, standen noch die letzten beiden Monatslöhne aus. Seinen Boss und sein Geld sah er nie wieder. Inzwischen ist sein Gespartes aufgebraucht, mit Uschi ist er fertig, und zu einer echten Arbeit hat er keine Lust mehr. "Selbst wenn die mir heute den besten Job anbieten", erklärt Hotte vom Discositz. Aber nun kann Hotte ja nicht sein ganzes Leben in der "Gelse", DJ spielen, Disco mimen, Starallüren mimen, wenigstens im Probelauf. "Nee,", sagt er, "vielleicht bis dreißig, irgendwann um diesen Dreh mache ich bestimmt einen richtig großen Satz." - Nur wohin, das weiß er noch nicht.