Freitag, 28. April 1972

Kirche im Nationalsozialismus: Entzauberung einer Legende. Ein Denkmal wankt - "Der Krieg als geistige Leistung" - Bischof Hanns Lilje (*1899+1977)

































Die Kirchen in Deutschland waren tief in die Nazi-Diktatur verstrickt. Nur wenige Christen fanden Courage zu widerstehen. Zu ih
nen soll Hanns Lilje (*1899+1977) , Hannovers Protestanten-Bischof, gezählt haben; ein emphatischer "Prediger des inneren Widerstands", als "kühnster Sprecher der Bekennenden Kirche" gegen Hitler-Deutschland hieß es landauf, landab in all den Jahren. Tatsächlich war Hanns Lilje im Nachkriegs-Deutschland eine der wenigen weltgewandten Persönlichkeiten des Protestantismus im 20. Jahrhundert. Ein Theologe, an dem sich viele aufrichteten, Orientierung suchten, ein Märytrer. Letzte Forschungen belegen zweifelsfrei, Liljes Opposition gegen die Nazis ist Legende - zwischen wohldosierter Dichtung und unterdrückter Wahrheit. Wie konnten derlei Verklärungen über all die Jahrzehnte funktionieren? Propaganda-Tricks , Vertuschungen ? Begegnung mit einem Mitläufer. Zeitgeschichte
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Zur Erinnerung: Hanns Lilje war elffacher Ehrendoktor, Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland sowie der Niedersächsischen Landesmedeaille. Er ist Namensgeber der 1989 gegründeten synodalen Hanns-Lilje-Stiftung. Lilje starb im Alter von 77 Jahren. Seine Grabstätte befindet sich auf dem Klosterfriedhof in Loccum.
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Frankfurter Rundschau
28. April 1972
von Reimar Oltmanns
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In der Meraner Straße im hannoverschen Waldhausen verbringt Landesbischof a.D. Johannes Ernst Richard - genannt Hanns - Lilje seinen Lebensabend. "Ein Christ im Welthorizont", wie Lilje oft genannt wurde, der "allzeit das Ohr am Boden gehabt und das Grollen sich ankündigender Bewegung im voraus vernommen" hat, so charakterisierte ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ich habe mich auf mein Gespräch mit Hanns D. Lilje intensiv vorbereitet, Fragen notiert. Ich wusste um seine geschliffene Sprache, um seine wortgewaltige Argumentationsweise - eine vielleicht vordergründige Prägnanz, die aber gleichwohl unliebsame Ereignisse, Erinnerungen vom Tisch zu fegen verstehen. Nun, an seinem Lebensabend, hatte Hanns Lilje die Gelassenheit gefunden, fernab von der aktuellen Kirchenpolitik, Bilanz zu ziehen, eine Art Lebensresümee aufzuzeichnen - seine Memoiren zu schreiben.
POLITISCHER PRAGMATIKER
Hanns Lilje war seit 1947 kein Landesbischof im herkömmlichen Sinne. Als Prediger und Journalist (Urbegründer des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes 1948-2000), als Theologe und Seelsorger, als Kirchenführer und Schriftsteller versuchte er nicht nur, wie er es nannte, "Brücken zu schlagen". Das jedenfalls schrieb der Evangelische Pressedienst 1969 zu seinem 70. Geburtstag. Hanns Lilje war, wie er selbst von sich sagt, in all den politisch Zeiten der Irrungen und Wirrungen ein "politischer Pragmatiker", der keinen Weg betrat, "von dem ich nicht wusste, dass ich ihn nicht zu Ende gehen kann". Diese Maxime bestimmte seine Kirchenpolitik, sei es als Generalsekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (1927-1935) oder auch als Präsident des Lutherischen Weltbundes, der er von 1952 bis 1957 war.
VOM AUFSTIEG VERFÜHRT
Ein Schlüsselerlebnis, das Lilje zur Theologie führte, gab es nicht. Ursprünglich wollte er Verkündiger sein, "um mein Leben an eine ernsthafte große Aufgabe dieser Art zu verwenden". Doch schon 1927 - sechs Jahre vor Hitlers Machtergreifung - begann für ihn als Generalsekretär der Deutschen Christlichen Vereinigung der steile Aufstieg in die Hierarchie der Kirchenpolitik, von der er sich bis zu seiner Pension nicht mehr loseisen konnte - und auch wollte. Folglich begründete Lilje im Jahr 1933 die "Jungreformatorische Bewegung" mit und sagte zur NS-Machtübergabe ein "freudiges Ja". - Kirchen-Karriere.
ALLES GEWUSST - NICHTS GESAGT
Als Generalsekretär und später als Vizepräsident dieser Organisation will er "das Handwerk gelernt haben, um überhaupt in der geistigen Diskussion dieser Zeit drin sein zu können". Tagungen, Vortragsveranstaltungen und zeitweilig literarische Aufträge haben ihn "in das Licht der Öffentlichkeit gerückt". Und obwohl er "kein dramatischer Mensch war und auch nicht unbedingt provozierende Dinge gedacht und gesagt hat" (Lilje) schrieb er nach dem misslungenen Attentat auf Hitler am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller in der Zeitschrift "Furche": "Dass durch solche Anschläge der Siegeswille des nationalsozialistischen Deutschland nicht gelähmt werden darf, bedarf keines Wortes." Liljes Kirchen-Wort zu einer Zeit, als in Hitler-Deutschland längst Bücher und Synagogen brannten und der Angriffskrieg längst begonnen hatte.
KEIN WIDERSTANDS-KÄMPFER
Zwar gehörte Hanns Lilje zur Bekennenden Kirche um Dietrich Bonhoeffer (*1906+9.April 1945 im KZ Flossenburg ermordet ) und Martin Niemöller ( *1892+1984 - seit 1937 Häftling im KZ Sachsenhausen), doch ein Widerstandskämpfer war der rhetorisch wetterfeste Bischof im schwarzen Talar mitnichten. Ganz im Gegenteil. Weil Hanns Lilje vielleicht "kein dramatischer Mensch" war, schrieb er 1941 in den Furche-Schriften, einen Aufsatz "Der Krieg als geistige Leistung", um, wie er sich heute rechtfertigt, "den Menschen, die in die Maschinerie des Krieges hineingeraten sind, zu helfen, ihre geistige Existenz wahren zu können". So steht dort geschrieben: "Für Luther ist der Krieg 'Gottes Werk' - in demselben Sinne, in dem Größe und Grauen der Geschichte Gottes Werk heißen und in dem alle Geschichte gleicherweise Zeichen seiner Gnade wie seines Zornes ist ...". - Verständlich, dass Gott im Dienst "nationaler deutscher Belange" steht. Lilje im Originalton: "Es muss nicht nur auf den Koppelschlössern der Soldaten, sondern in Herz und Gewissen stehen: Mit Gott!" - Gott als Legitimation der Nazi-Barbarei; Hanns Lilje sein Chefinterpret: "Soldaten sind Männer, die jetzt wieder den grauen Rock der Ehre tragen."
VERKLÄRUNG FRÜHERER JAHRE
Lilje Nachkriegsleben mit neu zurechtgerückten Collagen begann schon zwei Jahre nach dem Zusammenbruch am 8. Mai 1945. Da lobte ihn der "Internationale Biografische Dienst" als einen vom Volksgerichtshof Verurteilten, der die "eisernen Fenstergitter und Türen des berüchtigten Gefängnisses von Moabit mit seinem ungebrochenen Geist gesprengt habe, längst ehe nach dem Einmarsch der alliierten Truppen in Berlin die Zeiten sich öffneten". Im selben Jahr, im Frühjahr 1947, stellte die viel beachtete britische Zeitung British Zone Review, dem wichtigsten Presseorgan des Kontrollrats, Lilje als einen "mutigen Deutschen" dar, der in Gestapo-Haft kam (1944 bis 1945), weil er in das Komplott des deutschen Widerstands vom 20. Juli verstrickt gewesen sei. Naheliegend, dass dieser Lilje in einem Atemzug mit den Widerstandskämpfern Theodor Steltzer (*1885+1967 ), Fabian von Schlabrendorff (*1907+1980 ), Helmuth Graf von Moltke (*1907+23. Januar 1945 gehängt im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee ) und Eugen Gerstenmaier (*1906+1986; als Mitglied des Kreisauer Kreises am 20. Juli 1944 verhaftet) genannt wurde. Beinahe so, als sei Hanns Lilje einer der wenigen, der den Nazi-Schergen noch entronnen sei. Lilje als Märtyrer. Karriere-Bausteine. Blanko ausgestellte Persilscheine, die dem Kirchenmann nicht nur hohe Reputation sicherte, sondern gleichfalls zu einer der ersten von den Briten genehmigten Zeitungslizenzen verhalfen - das "Sonntagsblatt", welches er herausgab. In Wahrheit hatte sich Hanns Lilje nicht gegen die Nazis gestellt. Auch war er nicht - wie immer wieder in Umlauf gesetzt - zum Tode , sondern zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Letztlich war der Prozess am Volksgerichthof unter dem Vorsitzenden Roland Freisler (*1893+1945 ) gegen den Kirchenmann wegen seiner zahlreichen Auslandskontakten ("Landesverrat") inszeniert worden - und nicht gegen seiner Zugehörigkeit zu einer Widerstandsguppe gegen Hitler, gar zu den Männern des 20. Juli 1944. - Aufklärung.
FESTSCHRIFT ZUM 70. GEBURTSTAG
Junge Theologen um den Göttinger Pastoren Hartwig Hohnsbein fertigten zum 70. Geburtstag des Landesbischofs einen Raubdruck über sein Nazi-Mitläufertum an. Sie ließen ihm - als "Festschrift deklariert" - ein Exemplar zukommen. Danach war es Hanns Lilje, der den Anführer des zivilen Widerstands, Carl Goerdeler (*1984+1945 ), nationalkonservativer Oberbürgermeister von Leipzig, jede bittende Hilfe bei seiner geplanten Flucht ins Ausland - als letzte Rettung - verweigerte. Er , Goerdeler, so Liljes Maßgabe, solle doch lieber nach Leipzig zurückkehren Carl Coerdeler wurde 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Pastor Hartwig Hohnsbeins Befund: "Lilje war verlässlicher Parteigänger für die NS-Machthaber, bis er, sehr zufällig, selbst in das Räderwerk ihrer brutalen Unrechtsordnung kam."
FRAGEN ÜBER FRAGEN - KEINE ANTWORT
Es waren junge Theologen und in der Kirche aktive Christen, die ihren Landesbischof nach seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus fragten. Viele junge Menschen fragten in den sechziger Jahren ihre Väter. Es war die Zeit der ersten schüchternen Aufarbeitung des Unverstellbaren - die Massenmordes im Namen der Deutschen. Es war die Zeit, des Publizisten Eugen Kogon (*1903+1987) mit seinem Standardwerk über den "SS-Staat". Es waren die Jahre des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich (*1908+1982) mit seiner deutschen Zustandsbeschreibung "Die vaterlose Gesellschaft" oder "Die Unfähigkeit zu trauern". Es waren aber nicht die Jahre, Aufklärungsjahre, Trauerjahre des Landesbischofs im Namen der Christen. Denk- und Diskussionsverbot. Hanns Lilje beschied lapidar: "Ich habe keinen Anlass, diese Kritik ernst zu nehmen, weil sie Ausschnitte aus einer geplanten Antipropanda gegen die Kirche sind, deren Ursprung höchstwahrscheinlich in der DDR zu suchen ist." Ende der Durchsage. Kein Pastor wagte aufzumucken, Kritiker versteckten sich.
NAZI-KONTINUITÄT
Zwei Jahre nach Kriegsende wurde Hanns Lilje, inzwischen zum Oberkirchenrat avanciert, von der hannoverschen Landessynode zum Landesbischof gewählt. Er trat damit die Nachfolge des NSDAP-Parteigängers und Antisemiten Bischof August Marahrens (*1875+1950) an, dem er zuvor des öfteren in der Kirchenpolitik begegnet ist: insbesondere um 1935, als August Marahrens Präsident des Lutherischen Weltkonvents war und Lilje als Generalsekretär fungierte. Von der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen , dass mit der Amtsübergabe Marahens/Lilje eine unscheinbare, innere Kontinuität gewahrt wurde. Im Klartext: Hitler-Befürworter von einst gaben sich im neuen Gewande den Tresorschlüssel in die Hand. Nach draußen hin sollte die Ablösung Marahrens durch Lilje die Landessynode offensichtlich demonstrativ einen Schlussstrich unter die nationalsozialistischen Geschehnisse signalisieren; aber nur fürs Kirchenpublikum. Denn intern in vielen Pastorenstuben waren beklemmende Erinnerungen an die Marahens-Ära noch zu frisch, lebte auch das kirchliche Amtsblatt der Landeskirche zu Hannover vom 21. Juli 1944 in so manchen Seelsorger-Köpfen fort. Ein Amtsblatt der Zeitgeschichte, in dem August Marahrens "als Dank für die gnädige Errettung des Führers für den darauffolgenden Sonntag folgendes Gebet anordnete: "Heiliger barmherziger Gott! Von Grund unseres Herzens danken wir Dir, dass Du unserem Führer bei dem verbrecherischen Anschlag Leben und Gesundheit bewahrt und ihn unserem Volke in einer Stunde höchster Gefahr erhalten hast. In Deine Hände befehlen wir ihn ...".
KAMPF UM RESTAURATION
Die Zeichen in der Nachkriegsgeschichte der evangelischen Kirche standen auf Sturm. So heißt es in der "Stimme", einer Zeitschrift um den früheren KZ-Häftling im Konzentrationslager Sachsenhausen und Widerstandskämpfer Martin Niemöller (*1892+1984): "Im Unterschied zur Gruppe der deutschen Christen konnte die lutherische antisozialistische Fraktion ihre Machtposition in den Landeskirchen und in der EKD auch nach 1945 behaupten, und sie setzte in den entscheidenden Jahren 1945 bis 1949 alles daran, eine kirchliche und gesellschaftliche Neuordnung zu verhindern."
PERSONEN-PROFILE
Das Hauptaugenmerk dieses gesellschaftlichen Kirchen-Kampfes um Erneuerung oder Bewahrung bei den Protestanten richtete seinen Blickwinkel auf zwei Protestantenführer jener Jahre - eben Hanns Lilje als Mann der westdeutschen Restauration - und Martin Niemöller, Repräsentant des Neubeginns, Vertreter der Aufarbeitung auch des Unrechts, das im Namen der evangelischen Kirche geschehen ist. Er schrieb in diesen Jahren einen Vers, der wohl kaum besser das allseits lähmende, erstickende Klima reflektiert:
"Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie die Sozialisten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialist.
Als sie die Juden einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."
Doch einen gab es dann noch noch - der aber protestierte nicht: Hanns Lilje. Ganz im Gegenteil: Vier Jahre nach dem Nazi-Gräuel forderte der Bischof einen Schlussstrich zu ziehen, eine "Liquidation der Vergangenheit". Er war ein Exponent der anti-sozialistischen Lutheraner nach 1945. Und Hanns Lilje bekannte sich im Frühjahr 1971 erstmalig im Rückblick auf seine Amtszeit als Landesbischof ganz offen zur Wiederherstellung alter Verhältnisse, zur Wiedereinsetzung aller Figuren in ihren Ämtern - zur Restauration.
FÜR NS-TÄTER EINGESETZT
Vor der hannoverschen Synode sagte er: "Wir haben in der Tat wiederhergestellt. Und ich darf, ehe dieses Wort der Restauration wieder absinkt in den Streit der Schlagworte, sagen: Genau das war unsere Pflicht." War es auch seine Pflicht, sich für verurteilte NS-Täter einzusetzen; darunter Massenmörder wie Paul Blobel (+1894+1951; u.a, Führer des Sonderkommandos 4a, das 60.000 Menschen, darunter 30.000 Juden am 29. und 30. September 1941 bei Kiew ermordete und Franz Six (*1909+1975; SS-Brigadeführer - Generalmajor - , verantwortlich für Logistik der Judenverfolgung)?
STUTTGARTER SCHULDBEKENNTNIS
Hatte Hanns Lilje noch 1945 zusammen mit Martin Niemöller und Gustav Heinemann (*1899+1976; Bundespräsident 1969-1974) das "Stuttgarter Schuldbekenntnis" unterschrieben, so trennten sich die Wege beider Theologen in den fünfziger Jahren. Schon 1947 war Martin Niemöller in der Synode äußerst umstritten, galt als "linksverdächtig". So steht in einem Urantrag geschrieben: Sie (Synode) steht auf dem Standpunkt, dass Herr Niemöller als Leiter des Außenamtes der evangelischen Kirche untragbar ist." Aus den Synodalprotokollen geht hervor, dass Niemöller für den ehemaligen deutsch-nationalen niedersächsischen Ministerpräsidenten Heinrich Hellwege (*1906+1991; Ministerpräsident des Landes Niedersachsen 1955-1959) ein Dorn im Auge war. Grund der Auseinandersetzung: Martin Niemöller suchte vergeblich in Zeiten des "Kalten Krieges" eine "positive Klärung" der Westdeutschen zu ihren östlichen Nachbarn. Anti-Kommunisten Hellwege vor der Synode: "Solche Parolen sind gefährlich, weil sie den Widerstandswillen des deutschen Volkes gegen die östliche Bedrohung schwächen, und weil sie damit der ernstlichen Bemühung der Bundesregierung und unser aller geistiges Bollwerk in den Rücken fallen." - Kirchenpolitik.
AUFRÜSTUNG - MILITÄRSEELSORGE
Ihren Höhepunkt fanden heftigst die Auseinandersetzung in der Diskussion um Wiederaufrüstung , Gründung der Bundeswehr im Jahre 1956. Wieder sollten Pastoren Panzer und Soldaten, diesmal in ihrer Hab-Acht-Stellung gegenüber dem Kommunismus, Pate stehen, Beistand leisten, Gottvertrauen zusprechen. Es war Kanzler Konrad Adenauer (*1876+1967), der die Pastoren - neun Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg - mit seinem Militärseelsorge-Vertrag wieder in die Kasernen rief. Es waren Martin Niemöller und Helmut Gollwitzer (*1908+1993), die eine abermalige Bindung ihrer Kirche an Panzern mit ihren Pastoren strikt ablehnten. Hanns Lilje hingegen engagierte sich mit seinem Kollegen Otto Dibelius (*1880+1967) fürs Engagement schwarzer Talare auf Kasernen-Höfen; nach dem Motto: Gotteswort überall.
BESCHLÜSSE EINFACH MISSACHTET
Bezeichnenderweise steht nichts über derlei gravierende Richtungskämpfe in offiziellen Kirchen-Verlautbarungen. Lediglich das "Jahrbuch für kritische Aufklärung" vermerkt: "Der Protest meldete sich auf der außerordentlichen Synode der EKD zu Wort, die auf Wunsch der Kirchen in der DDR wie von westdeutscher Seite wegen der Verbreitung der allgemeinen Wehrpflicht und des Militärseelsorgevertrages einberufen wurde. In einem am 29. Juli 1956 angenommenen Ausschuss-Resolution heißt es: 'Der Rat der EKD hat beschlossen, endgültige Maßnahmen zur Ordnung der Militärseelsorge nicht zu treffen ...' Der Beschluss sollte 'beachtet' und 'keine Tatsachen geschaffen werden, die die EKD zu dieser Sache binden'. Sandkasten-Demokratie,
MILITÄRSEESORGE DURCHPAUKT
Indes: Unter 'bewusster Missachtung' (Helmut Gollwitzer) dieses Synodalbeschlusses unterzeichnete der Ratsvorsitzende der DKD, Bischof Otto Dibelius sowie der Leiter der Kirchenkanzlei Heinz Brunotte (*1896+1984) den Militärseelsorgevertrag am 23. März 1957 in Bonn. Erster Militärbischof wurde Hermann Kunst (1957-1972; *1907+1999). Er war auch ohne Befragen der Synodalen kurzerhand ernannt worden. Hanns Lilje war jedenfalls ohne Wenn und Aber auf der Seite von Armee und Pastoren in Uniform zu finden. Er befand: "Es war schon immer Unsinn, wenn man meint, dass die Militärseelsorge die Waffen segnen soll."
US-AUSSENMINISTERIUM EINGESCHALTET
Der Konflikt zwischen beiden Flügeln in der evangelischen Kirche hatte zumindest Mitte der fünfziger Jahre ein solches Ausmaß erreicht, dass sich auch der damalige US-Außenminister John Forster Dulles (*1988+1959; US-Außenminister 1953-1959) für derlei Diadochen-Kämpfe in Sachen Jesus in Deutschland interessierte. Aus den Adenauer-Memoiren geht hervor: "Botschafter Krekeler habe John Forster Dullas sagen müssen, dass leider in der protestantischen Kirche neben den Persönlichkeiten von so klarer Haltung wie den Bischöfen Dibelius und Lilje sowie den Laien von Thadden-Trieglaff noch eine ganze Reihe von Geistlichen durchaus keine realistische Einstellung zum Problem des Kommunismus hätte."
LILJE: ZU WENIG ZUGETRAUT
Hanns Lilje will sich in all den verirrten und verwirrenden Epochen treu geblieben sein. Der "politische Pragmatismus", so sagt er, war der "einzige Weg, der uns ein Überleben sicherte". Und wenn er während seiner Amtszeit Fehler gemacht , Fehleinschätzung vorgenommen habe, dann sind sie darin zu suchen, "dass ich mir nicht immer so viel zugetraut habe, wie manche Situationen es von mir abverlangt hätte"; den Weg des geringsten Widerstands gegangen zu sein. Nach einer kurzen Pause fährt er fort: "Ich habe versucht, behutsam zu sein, um die Situation nicht noch weiter zu verschärfen." Kirchen- und Gesellschaftspolitik gehören für Hanns Lilje "organisch zusammen".

Mittwoch, 26. April 1972

Kanzler-Sturz Willy Brandt, Ostverträge und ein FDP-MdB namens Wilhelm Helms - Aus deutschen Landen der Zeitgeschichte




















Ein bis dato unbekannter Bauer aus dem niedersächsischen Bissenhausen wollte zu Beginn der siebziger Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte schreiben, Bundes- kanzler Willy Brandt (1969-1974) stürzen - die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition aus den Angeln hebeln - Wilhelm Helms, Mitglied der Bundestags in der 6. Wahlperiode, erst in der FDP-, dann Gast der CDU/CSU-Fraktion. Damals, in seiner ersten Amtszeit, konnte sich Willy Brandt (* 1913+1992) im Bundestag nur auf eine rechnerische Mehrheit von zwölf Stimmen stützen. Doch diese Majorität schmolz zusehends zusammen. Überläufer, Übertritte. Bei seiner Wahl zum Bundeskanzler im Oktober 1969 hatte er gerade einmal zwei Stimmen mehr als notwendig bekommen. Schon 1970 liefen drei FDP-MdBs zur CDU über.

Am 23. April 1972 erklärte sodann auch noch der FDP-Abgeordnete Wilhelm Helms seinen Parteiaustritt. "Irgendwas mache ich mal, dann komme ich schon groß heraus", das sagte er damals dem FR-Korrespondenten Reimar Oltmanns. Denn das Schicksal der ersten sozialliberalen Koalition stand auf dem Spiel. FDP-Minister Hans-Dietrich Genscher und Josef Ertl (*1925+2000 ) eilten zu Helms nach Bremen. Der aber sagte stereotyp seinen prominenten Parteifreunden. Er habe die Missachtung wie Geringschätzung seiner Person in Bonn satt. Wenigstens einmal möchte er vom Fraktionschef der CDU/CSU Dr. Rainer Barzel (*1924+2006) empfangen werden. Possenspiel eines Hinterbänklers - die Republik hielt in jenen Tagen den Atem an
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Frankfurter Rundschau
vom 26. April 1972
von Reimar Oltmanns
Eigentlich wollte Wilhelm Helms, so steht es zumindest in seinem Terminkalender, am Montagabend für die bevorstehenden Haushaltsberatungen im Bundestag einen Redetext ausarbeiten. Doch da sich die Bonner "Ereignisse derart überschlugen", und er sich zudem bei der Bundestagsverwaltung "erst einmal informieren will, welche politischen Möglichkeiten einem fraktionslosem Abgeordneten bleiben", lässt der Ex-FDPler Helms Redetext und Sprechübungen sein. Er steht wetteifernden Journalisten nunmehr den dritten Tag atemlos Rede und Antwort - in eigener Sache versteht sich. Dies geschieht nicht Bonn, sondern in seinem heimatlichen Bissenhausen, einem Dorf in der Grafschaft Hoya, das ganze fünf Bauernhöfe umfasst. - Weltpolitik auf dem Acker.
POSE EINES STAATSMANNES
In der Pose eines Staatsmannes, der sich auf seinen Landsitz zurückzog, im Bewusstsein eine für die deutschen Bevölkerung wichtige Entscheidung getroffen zu haben, lehnt Wilhelm Helms sich in den Klubsessel zurück und beginnt zu erzählen, dass er die Bonner Politik kennt, so als sei er auf einer Versammlung des Landvolks. Wäre Helms nicht Helms, dann zöge er sich bis zur Abstimmung des von der CDU/CSU beantragten konstruktiven Misstrauensvotums am 27. April 1972 gegen Bundeskanzler Willy Brandt im Deutschen Bundestag zurück.
MISSTRAUENSVOTUM - HELMS-STUNDE
Doch der Landwirt aus Bissenhausen liebt Turbulenzen und hektischen Szenerie dieser Stunden. - Helms Stunden. Oder die eines verblichenen Hinterbänklers, der sich ur-plötzlich im Rampenlicht der knalligen Kontraste wähnt - als Aufmacher-Meldungen nahezu aller europäischer Fernsehstationen. Er genießt es geradezu, das im "Fall Brandt", wie er zu sagen pflegt, "an mir kein Weg vorbei führt". Interviews über Interviews, ein Gespräch mit der FDP-Spitzen-Garnitur Hans-Dietrich Genscher und Josef Ertl (*1925+200o) eigens in Bremen, mit denen er sich in "vielen Dingen einig weiß". Dann wieder ein Statement für die ARD. Und der amerikanische Nachrichtensender CBS wartet schon in der Diele.
UNSICHER UND GRAUMÄUSIG
Große Politik-Entwürfe, große Worte. - Wirkt Wilhelm Helms auf dem Hauptstadt-Parkett zu Bonn eher unsicher, graumäusig als souverän, so ist es zu Bissenhausen genau umgekehrt. Stallgeruch. Auf die Frage, warum er solch ein Spektakel, solch ein Gedöns veranstalte, zumal er die ohnehin die arg angespannte Situation um die Ostverträge weiterhin verschärfe, argumentiert Hinterbänkler Helms mit seinen Wählern, deren er sich im Sinne seiner Politik verpflichtet glaubt. Nur direkt hat er von seinen Bürgern in einem Wahlkreis gar kein Mandat erhalten. Über die berühmte Landesliste der niedersächsischen FDP - also über die Zweitstimme - zog er ins Parlament ein. Ganze 13,1 Prozent der Landsleute hatten in seinem Wahlkreis das Polit-Talent Helms erkannt. Dürre Zeiten.
WEM DIESE STUNDE SCHLÄGT
Wilhelm Helms weiß, was die Stunde geschlagen hat, die er selbst einläutete. Zwar will er "keine Weltpolitik dem eigentlichen Sinn nach betreiben"; er lässt aber unverhohlen wie überzeugt durchblicken, er habe für politischen Entwicklungen und die sich daraus ergebenden Entscheidungen, mögen sie für manche noch so hart sein, "immer das richtige politische Gespür" gehabt. Und das bedeutet: Macht und Mandat sichern.
DEUTSCH-NATIONAL
In der Tat: Zumindest einmal hat Helms das durchgezogen, was er als seine "richtige Intuition" ausgibt. Das war im Jahr 1962, als er das sinkende Schiff der am rechts-konservativen Rand agitierenden Deutschen Partei (DP) ganz plötzlich verließ. Seinerzeit war er fasziniert vom Gedanken, die "Erneuerung Deutschlands" voranzutreiben und die junge Republik aus der "geistig-moralischen Krise" zu führen. Ob ehemalige Wehrmachts-Offiziere, Vertriebene aus Ostpreußen oder Schlesien - sie saßen allesamt mit Wilhelm Helms einst auf seinem Acker. Die Restauration im Nachkriegs-Deutschland sammelte ihre gestrauchelten Väter. Die aber kannten nach Mord, Tod, Demütigung, Flucht und Hunger nur einen zentralen Gedanken: Die Wiederherstellung ihrer Würde und somit der nationalen deutschen Identität.
ETIKETTEN-WECHSEL
Damals fischte gleichfalls die noch markant nationale FDP, um die Gunst des rechten Wählerrandes. Folglich hatte Überläufer Helms zur FDP mehr oder weniger nur seine Etiketten ausgetauscht. Eine Plakaterneuerung in der Grafschaft Hoya, die plötzlich liberalen Maximen zur vordringlichen Priorität erhob. Dabei ist Bauer Helms weder ein Mensch, der gern "in Konflikt" mit sich und seiner Umwelt lebt. Harmonie braucht er, Zuspruch genießt er. Das ist ihm allemal wichtiger, als Konflikte intellektuell zu verarbeiten. Das ist wohl der eigentliche Grund, warum er genau zehn Jahre nach seinem Austritt aus dem deutsch-nationalen Verband abermals einen Überlauf riskiert, Konsequenzen zieht und dieses Mal auf eine spektakuläre Art und Weise die FDP verlässt. Helms lapidar: "Ich habe dazu gelernt."
OSTVERTRÄGE
Ginge es tatsächlich ausschließlich um etwaige Meinungs-Konflikte oder gar um Gewissensnöte des Wilhelm Helms - nichts wäre undramatischer als das. Dem niedersächsischen FDP-Landeshaupt-Ausschuss hat er noch am 26. März 1972 versichert, er werde die Partei nicht verlassen und für die Ostverträge eintreten. Am selben Tag hat er sich - begleitet von minutelangen Ovation - erneut zum FDP-Kreisvorsitzenden in Hoya wählen lassen. Hingegen: Keine vier Wochen später war dies für Helms "der Schnee von gestern". Nach einer FDP-Veranstaltung des Kreisverbandes Harburg-Land am 20. April 1972 fasste er den einsamen Beschluss, die Liberalen - wie einst die Deutsch-Nationalen - zu verlassen. Neuerliche Gründe, gar aktuelle Vorkommnisse gab es wohl keine. Es sei denn, mangelnde Beachtung mangelnde Ehrerbietung für den "Willem aus Bonn" sind Anlass genug. "Ja, ja", erinnert sich Buchholz Kreisvorsitzender Günter Helmrich, "die haben ihm nicht anständig auf Wiedersehen gesagt, nur gelacht, weil sie alle abgefüllt waren wie Haubitzen."
ZITTERPARTIE
Immerhin drei Tage brauchte Helms, um sich zu besinnen, seinen Parteiaustritt zu bekräftigen. Gemeinsam mit seiner Frau formulierte er einen Telegramm-Satz. Da verlautbarte es, er müsse nunmehr die Konsequenzen ziehen, weil die "liberale Eigenständigkeit" der Freien Demokraten nicht mehr gewährleistet sei. Der Ostpolitik Brandt/Scheel stehe er allerdings nach wie vor positiv gegenüber. - Tage der Ernüchterung. Helms-Befunde. Jedenfalls könne von einem Monate langen Hin und Her, ob er nun in der Partei bleibe und für die Ostverträge stimme, wie Helms andernorts behauptete, keine Rede mehr sein. Zitterpartie. Weder die FDP-Bundestagsfraktion noch der niedersächsische Landesverband wussten das geringste von seinen Absichten. So unerwartet und spektakulär wie möglich - dies war das Kalkül des Wilhelm Helms in der besagten Wahlnacht zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Es ging schließlich auf. Die FDP verlor 5,5 Prozent weit über ein Drittel der Stimme. Wahldesaster.
"DESOLATER HAUFEN"
Fragt man Helms in diesen Zeiten seines Umbruchs danach, wo die "liberale Eigenständigkeit" der FDP nicht mehr gewährleistet sei, dann spricht der Abgeordnete von einem "desolaten Haufen". Gemeint seien damit jene undurchsichtigen Parteiapparate und insbesondere der ewig diskutierende FDP-Bundesvorstand. Indes: alternative gesellschaftspolitische Thesen vermag der Landwirt nicht zu formulieren; schon gar nicht solche, die den Ruf nach liberaler Eigenständigkeit rechtfertigen. Auch das Freiburger Programm - formuliert von Karl-Hermann Flach (*1929+1973), Werner Maihofer (Bundesminister 1972-1978) und Walter Scheel (Bundespräsident 1974-1979) lehnt Wilhelm Helms kategorisch ab. Die Freiburger Thesen, verabschiedet auf dem FDP-Parteitag vom 27. Oktober 1971, markierten einen reformorientierten "Sozialen Liberalismus" als Erneuerung der Partei. Danach sollte der Liberalismus in der Bundesrepublik sich nicht nur als Mehrheitsbeschaffer für Regierungen begreifen, sondern ganz im Sinne ihres Vordenkers Friedrich Naumann (*1860+1919) soziale Engagement, Freiheitsrechte eines jeden Bürgers ausbauen helfen.
BOCKIG, STUR
"Programme", sagt er da, "die sind gut. Nur dieses komplizierte Zeug, das habe ich nicht ganz bis zu Ende gelesen. Papierberge bleiben Papierhaufen. Das hat mit Realpolitik wenig zu tun." - "Aber, warum nur, Herr Helms, sind Sie so stur, ja ignorant?", frage ich. Achselzucken. Er weicht lieber aus, redet lieber von lokalen Ereignissen in seiner Grafschaft Hoya - von einer notwendigen "politschen Zusammenarbeit, die in Fleisch und Blut übergehen" müsse.
BRANDT KALTSTELLEN
Wäre es nach ihm gegangen. dann hätte die FDP-Bundestagsfraktion "die Staatsmänner um Willy Brandt (*1913+1992) ) kaltgestellt." Und im übrigen sie es die Schuld der Parteiideologen, dass sich "die sozialliberale Koalition bis auf die Knochen blamiere". Was den SPD-Politiker Herbert Wehner (*1906+1990 ) anbelangt, so nennt ihn sein Bundestags-Kollege schlicht "hinrissig". - Aus deutschen Landen frisch auf den Kabinettstisch .
TABULA RASA
So aufbrausend geht es zu, wenn "Willem", wie er von Freunden genannt wird, mal in Bonn und anderswo kurz dazwischentritt. Verständlich, dass er sodann die ganze Bundesrepublik als ein "Trauerspiel" begreift. Er sie ja nach Bonn gekommen, um mitzudenken, mitzumachen, politische Gedanken in die Tat umzusetzen. Anträge habe er geschrieben. Sie landeten über kurz oder lang in Papierkörben. Immer wieder habe er sich zu Wort gemeldet, Diskussionsbeiträge zu diesem oder jenem beigesteuert. - Helms: "Ein mildes Lächeln war oft die Reaktion".
AUSSORTIERT
Als sich am Rande einer Tagung in der Theoder-Heuss-Akademie in Gummersbach FDP-Politiker über die personelle Zusammensetzung der Landeslisten für die Bundestagswahl 1973 unterhielten, tauchte der Name Helms nirgendwo mehr auf. - Kurzum aussortiert. Helms drohte intern erregt: "Irgendwann mache ich mal, dann komme ich ganz groß raus." Schließlich sei er über Jahrzehnte in seiner Grafschaft eine "überragende politische Persönlichkeit" gewesen - und dann solch ein Abgesang zu Bonn? Verärgert, verletzt, verstört zog Helms seine Konsequenzen, weil er doch weiter in der Bundespolitik für Deutschland "mitmischen" will. Nun zieht es ihn zur Christlichen Union. Daraus macht er keinen Hehl mehr. Von Rainer Barzel (*1924+2006), dem allgegenwärtigen Fraktionschef, empfangen zu werden - "das wäre schon eine Sache", mutmaßt er. Auf künftige Abstimmungen im Bundestag eingehend, konstatiert er: "Wenn ich nicht gegen den Kanzler Brandt stimme, verlasse ich einen Teil meiner politischen Position." Vabanque-Spiel.
Der "Landwirt zu Bissenhausen" machte in diesen politisch angespannten Tagen nach dem Text eines Protestliedes von sich reden: "Irgendwas mach' ich mal, dann komm' ich ganz groß heraus". Doch nach dem 4. Mai 1972 wird man nicht einmal mehr im Foyer oder in der Bar des Bundestages über den Politiker Wilhelm Helms ein Wort verlieren. Vor der Diskussion um die Ostverträge und seinen spektakulären Austritt aus der FDP war das ja auch nicht der Fall.
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Postskriptum. - Brandt siegt über Helms - 18 Jahre nach dem gescheiterten Misstrauensvotum hat der damalige SPD-Kanzler Willy Brandt einen späten Sieg über den Ex-FDP-Abgeordneten Wilhelm Helms errungen. Helms, Landwirt in Bissenhausen. hatte sich vor dem Münchner Landgericht gegen eine Passage in Brandts Memoiren gewehrt, wonach der Liberale dem sozialliberalen Kanzler im Vier-Augen-Gespräch "mit Tränen in den Augen" gestanden habe, er werde "wegen des Hofes" mit der CDU-Opposition gegen Brandt stimmen. Auch das Münchner Oberlandesgericht (OLG) gab jetzt dem SPD-Ehrenvorsitzenden recht. Brandt habe "glaubhaft gemacht", dass seine Schilderung zutreffend sei, nicht jedoch die Darlegung von Helms. Die Richter zeigten sich besonders von Aussagen des damaligen FDP-Chefs Walter Scheel und des FDP-Abgeordneten Kurt Spitzmüller sowie der Sozialdemokraten Egon Bahr und Karl Wienand beeindruckt. Dazu gehörten Berichte, Helms habe "finanzielle Probleme mit seinem Hof" gehabt. Eine von Helms vorgelegte Bankbestätigung habe dagegen "keine näheren Daten zur wirtschaftlichen Situation im Jahre 1972" erbracht. Auch sei, so das OLG, nach dem versuchten Sturz einer Regierung das "zeitgeschichtliche Interesse der Allgemeinheit" an der Information höher zu werten als "das persönliche Integritätsinteresse" eines einzelnen. Quelle: Spiegel vom 06.08.1990 - 32/1990. Er starb im Alter von 95 Jahren am 17. Dezember 2019.

Donnerstag, 20. April 1972

Fronten überwinden - Deutsch-polnische Schulbuch-Konferenz im Zeichen der Entspannung




















Vorwärts, Bonn
20. April 1972
von Reimar Oltmanns


Schon im Jahre 1956 bemühten sich polnische und deutscher Historiker um ein Stück Vergangenheitsbewältigung oder anders ausgedrückt: um einen von beiden Seiten anerkannte geschichtliche Ausgangsbasis. Kärrnerarbeit. Denn gerade diese "immens wichtigen Gespräche" so resümiert Professor Georg Eckert (*1912+1974), Leiter des Internationalen Schulbuch-Instituts in Braunschweig und Präsident der deutschen UNESCO-Kommisssion, "sind durch die Situation des Kalten Krieges zum Erliegen gekommen."

JAHRZEHNTE VERGANGEN


Es sollten Jahrzehnte vergehen. Erste konkrete Anknüpfungspunkte, so berichtet Pädagoge Georg Eckert, gab es auf der Generalkonferenz der UNSECO 1970 in Paris. Im Zeichen der deutsch-polnischen Entspannung einigten sich beide Kommissionen auf ein Informationsprogramm und insbesondere auf eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Schulbücher, "weil gerade diese Probleme der Geschichtsaufarbeitung in Polen sehr ernst genommen werden". Im Februar 1972 reiste Sozialdemokrat Georg Eckert mit einer achtzehnköpfigen Delegation nach Warschau. Nicht die alten Schulbücher beider Nationen standen im Mittelpunkt der Konferenzen, sondern wie neue Geschichts- und Geografiebücher für künftige Generationen auszusehen hätten. Zukunftsperspektiven.

"VERGIFTETE ZEIT" "WEIMARER REPUBLIK

In Braunschweig fand nun die zweite Tagung statt. In drei Arbeitskreisen (Mittelalter, Euro-Geschichte und Geografie) wurde die Diskussion vertieft und zu einem vorläufigen Abschluss gebracht. Während die Zeit des Nationalsozialismus für beide Seiten kein Problem darstellte, nahm die "vergiftete Zeit" der Weimarer Republik, (1918/1919-1933) ausgehend vom Versailler Vertrag (1919) , der für die Polen die Wiederherstellung ihrer Staatlichkeit nach 130 Jahren bedeutete, naturgemäß mehr Zeit in Anspruch. Klärungbedarf.

RITTERORDEN

Trotz der komplizierten und bisher kaum vorurteilsfrfei reflektierten, diskutierten Ereignisse vergangener Jahrhunderte / Jahrzehnte, gelang es den Wissenschaftlern zu einer einheitlichen Beurteilung der damaligen Geschehnisse zu kommen. Fortschritt. Dagegen zeigte man sich bei dem Komplex "Polen und der Deutsche Ritterorden" noch uneins. So kam es auf einigen kontroversen Gebieten lediglich zum Austausch von Standpunkten.

MEILENSTEIN

Gleichwohl bezeichneten deutschen wie auch polnische Historiker ihre während der Konferenz erzielten Resultate als einen "Meilenstein" in der Beziehung beider Länder; eben ein erstes, brauchbares Zwischenergebnis, das es im "Geiste des Warschauer Vertrages" (1972) auszubauen gilt. Während es in der Bundesrepublik Deutschland nunmehr darauf ankommt, Verlage wie Autoren von der erarbeiteteten Empfehlung zu überzeugen, wird auf polnischer Seite darauf hingewiesen, dass diese Thesen den Charakter von "Direktiven" haben.

BESCHLEUNIGTES VERFAHREN

Schon im Jahr 1973 sollen die polnischen Schulbücher auf Grund dieser Historiker-Gespräche entsprechende Veränderungen aufweisen. Auf eine beschleunigte Prozedur in der Bundespepublik Deutschland angesprochen, unterstrich Professor Georg Eckert, einen möglichen Beschluss der Kultusministerkonferenz für wenig sinnvoll , nur noch Schulbücher freizugeben, die die bisher erzielten deutsch-polnischen Thesen berücksichtigen - Überstürzte Verfahren.

KEINE NATONALE FRONTEN

Die Atmosphäre der Gespräche zur deutsch-polnischen Schulbuch-Konferenz war getragen von einer "sachlichen Offenheit", berichtet Georg Eckert. Von nationalen Fronten zwischen beiden Delegationen konnte keine Rede sein. Im Dezember 1972 sollen die geschichtlichen Aufarbeitungen in Warschau ihre Fortsetzung finden. Der Professor aus Braunschweig gibt nämlich keine Ruhe, will die Entspannungs-Gunst der Stunde auch für die folgenschwere Geschichtsaufarbeitung beider Länder nutzen.

Dienstag, 18. April 1972

Viel Kabarett - aber keine Karriere: Leben eines Bänkelsängers: Dietrich Kittner

































SPD-Rausschmiss, Demos, Blockaden - Auftritt- und Fernsehverbot in Deutschland. Ausgewandert von Hannover ins österreichische "Exil" in die Steiermark Von den "wilden" Protest-Jahrzehnten gezeichnet. Dietrich Kittner (*1935+2013), war ein widerspenstiger Rebell, Sänger, Satiriker, der nicht "vernünftig" werden wollte. Bilanz eines ungeliebten Außenseiters.

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Frankfurter Rundschau
18. April 1972/
12. Januar 2008
von Reimar Oltmanns
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Er ist ein Mann der Grenzüberschreitungen, Grenzver- letzungen - ein feixender Tabu-Brecher früherer Jahrzehnte. Nahezu 45 Jahre macht Dietrich Kittner politisches Kabarett im deutsch-sprachigen Europa. Immer unterwegs, immer auf Tour, von Saal zu Kneipe, vom Tresen zum Barhocker mit über 7.000 Veranstaltungen in drei Jahrzehnten. - Lang ist's her; unter Satirikern Rekord verdächtig.
"AUFMÜPFIGSTE SATIRIKER"
Damals in der so genannten 68er Bewegung, als "Liedermacher" des Protests wie Franz-Josef Degenhardt oder auch Dieter Süverkrüp mit ihren -Songs über Notstandsgesetze, Vietnam-Krieg Hallen füllten, der Rebellen-Look zum Mode-Schick aufstieg - das waren gleichsam seine Jahre - Kittner-Jahre. Damals, als Polit-Satire mehr mit bissiger Aufklärung als mit wohlgefällig vermarkteter Comedy zu tun hatte, da galt der mittlerweile 73jährige Dietrich Kittner als "gefürchtester, aufmüpfigsten Satiriker" deutscher Zunge. Eben, wie Günter Wallraff es einmal über Dietrich Kittner formulierte: "Er ist der Einzelkämpfer und Partisan, der sich wesentlich weiter vorwagt auf feindliches Terrain als alle etablierten - früher mal politischen Kabaretts zusammen."
EXIL EINES VERSCHMÄHTEN
Da hockt er nun in seinen alten Tagen in der Steiermark im arg verträumten Städtchen Bad Radkersburg zu Österreich. Wer Dietrich Kittner von früher kennt und ihn erneut begegnet, der spürt schon nach seinen ersten Sätzen, dieser Mann ist ausgewandert - Distanz und Schutz als Exil. Er sagt: "Wer nicht kämpft geht unter, wer kämpft reibt sich auf." Der alte Barde lächelt wehmütig, spürt er irgendwie schon, dass seine letzten Auftritte in Deutschland angebrochen sind, müde ist er geworden - etwa vom Deutschlandlied und Tagesthemen-News von "Mega-Hartz IV" über "Aldi-Schnellbehandszentren" bis zum "Zirkus Bush" oder mit Golf-Viagra in den Puff. - Resignation.
POLIT-SATIRE
Es sind Lebensskizzen eines Mannes, die keine Kontinuität vermissen lassen - die da lauten: Aufbruch, Abbruch, Ausdauer, Stehvermögen, Hatz wie Atemlosigkeit - und das mithin vier Jahrzehnte lang. Dabei sind Kittners Programme kaum in Schubläden zu suchen. Er beherrscht alle Stile und Spielrichtungen der 10. Muse; Sketch und Conference, Paradie und Ballade, Nachricht, Pamphlet und Morität. Aus all dem mischt er einen Cocktail, der das Publikum wachrüttelt. - Aufklärung mit Polit-Satire auf höchstem Niveau.
FERNSEH-VERBOT
Aufmüpfigkeit, Gegen-Rede, Widerspruch, Widerstand - das waren schlechthin noch nie so recht die Lebensart der Deutschen. Es waren die siebziger Jahre, als Tausende wie Abertausende junger Menschen wegen ihrer unangepassten Gesinnung mit Berufsverboten abgestraft wurden. Dietrich Kittner bekam Fernseh-Verbot in Deutschland - praktisch sein Leben lang. Lediglich - und das ausnahmesweise zur Mainzer Fastnacht - machten die Mächtigen der Republik "gute Miene zum bösen Spiel", wenn mal da mal einer aus dem politischen Kabarett am sorgsamen Politiker- oder Manager-Image tupfte. So humorvoll artig gab man sich in diesem Land; nicht so Kittner.
NARRENFREIHEIT
Auf der Bühne seines Ein-Mann-Kabaretts genoß Dietrich Kittner unter Ausschluss der Medien-Öffentlichkeit Narrenfreiheit, selbst dann, wenn er mit der Sozialdemokratie nicht lange zauderte und führende Genossen unter gleißendem Scheinwerferlicht seinem Publikum als "spezielle Charaktere des Aufstiegs" ausleuchtete - Abend für Abend vors Schienbein trat. Was SPD-Funktionäre ihrem Parteimitglied Kittner auf der Bühne noch konzedierten, dazu waren sie auf einer von Kittner organisierten Flugblatt- und Unterschriften-Aktion nicht mehr bereit. Berührungs-Ängste mit Kommunisten. "Verträge ratifizieren! Rechtsentwicklung stoppen", verlautbarte es da. - Die Folge: Partei-Rausschmiss.
WANDEL DURCH ANNÄHERUNG
Damals bestimmte die Neue Ostpolitik von Egon Bahr (Bundesminister für besondere Aufgaben 1972-1974) "den Wandel durch Annäherung" die Ostverträge mit Polen und der damaligen DDR. Verständigung, ein neuer Umgang der Menschen in beiden Systemen war gefragt. Nicht jedoch so an der Parteibasis zu Hannover. Der Widersinn jener sozialdemokratischen Jahre mit ihren Öffnungs-Gebaren gen Osten mit ihrer geradezu traumatischen Phobie vor vermeintlicher kommunistischer Unterwanderung - dafür sollte mit dem Fall Kittner ein populäres Parade-Beispiel statuiert werden. Stein des Anstosses im politisch penibel sortierten Deutschland: auch ein paar westdeutsche Kommunisten hatten gewagt, sich per Unterschrift auf dem Kittner-Flugblatt öffentlich für die Entspannungspolitik der Ära Brandt/Scheel (1969-1974) zu bekennen. Es blieb dem niedersächsischen Verfassungsschutz vorbehalten, eine Handvoll Kommunisten unter den 1.500 Menschen ausfindig zu machen, die ihre Unterschrift gegeben hatten. Es waren erste Schnüffel-Aktionen, die wenig später im Überwachungsstaat der Berufsverbote eine ganze studentische Jugend mundtot zu machen glaubte.
DAMOKLES-SCHWERT
Mit dem Damokles-Schwert im Nacken - "denke an deine Parteikarriere, grenze dich rigoros von Kommunisten und ihren Organisationen ab" - zwang der SPD-Apparat in Hannovers Odeonstraße seine Mitglieder ihren Namen auf dem Kittner-Flugblatt zurückzuziehen. (Willy Brandt, Bundeskanzler 1969-1974: "Wir wollen mehr Demokratie wagen.") Ausnahmslos alle kuschten, keiner will da wirklich seinen Namen gegeben haben. Friedhofsruhe. Wäre Kittner nicht Kittner, dann hätte er dasselbe getan. Nur ging es ihm, wie er beteuerte, "um Glaubwürdigkeit". Auch wolle er sich ausgerechnet von diesen "satten und kugelrunden SPD-Funktionären nicht zum Toren" machen lassen. Denn nach Thomas Mann (*1875+1955) ist der "Antikommunismus die Grundtorheit des 20. Jahrhunderts".
PROTEST UND PROVOKATION
Kittner war zeitlebens ein Mann des Protests und Provokation. Viel Kraft, Energie - auch so manche Federn hat er dabei lassen müssen. So Mitte der sechziger Jahre, als er auf offener Straße in Hannovers Innenstadt mit Stahlhelm und Gasmaske festgenommen wurde - eine Aktion, die er als Widerspruch gegen die Notstandsgesetze verstanden wissen wollte.
KITTNER-ZEIT VOM ROTEN PUNKT
Seinen Höhepunkt an Einfluss und Popularität gewann er als Mitinitiator der Aktion "Roter Punkt" in Hannover gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr in den Jahren 1969-1973. Der Club Voltaire in der Nicolaistraße war Kittners Domizil, praktisch wohnte er dort gleich neben der Theke im Hinterstübchen. Hier im Zentrum der Außerparlamentarischen Opposition in Niedersachsen ging es Kittner und Kumpanen um die Schaffung eines kulturellen Ortes einer neuen linken Gesprächs- und Streitkultur.
CLUB VOLTAIRE IN HANNOVER
Der Clubname vermittelte ein Gedenken an den französischen Philosophen und Schriftsteller Voltaire, der mit bürgerlichen Namen François-Marie Arouet (*1694+1778) hieß. Er war einer der tragenden Initiatoren der französischen Aufklärung , außerdem Mitarbeiter an der großen "Enzyklopädie" - ein Anhänger des Deismus. ( Gehen von Gott aus Schöpfer des Universiums aus. Glauben aber, dass Gott keinen Einfluss auf die Geschehnisse auf Erden hat).
AUSSCHAU NACH ALTERNATIVEN
Und unter Schaffung einer neuen linken Gesprächs- und Streitkultur wurde in den Anfangsjahren verstanden, eigene Standpunkt vertreten, artikulieren zu können, ohne dem Anderen abzusprechen, dass auch er eigene Positionen, Ansichten besitzen und mit Leidenschaft vertreten darf. Für Dietrich Kittner in jenen Jahren war die Streitkultur schlechthin positiv besetzt. Sie ermöglicht alte Normen, überkommenes Gefüge radikal in Frage zu stellen - nach Alternativen Ausschau zu halten. Aufbruch-Zeiten.
GENOSSEN VORM LANDGERICHT
Undenkbar schien Kittner damals, die Sozialdemokratie links liegen zu lassen. Er wollte sie einbinden in die Phasen des politischen Umbruchs.Das glaubte er jedenfalls. So war für das ausgeschlossene SPD-Mitglied Kittner über seinen Verstoss noch längst nicht das letzte Wort gesprochen. Er kämpfte weiter, sogar bis vor dem Landgericht. Nach dem Motto, was dem einen recht ist, istdem anderen billig, will er mit seinen Anwälten erreichen, dass der Parteiausschluss revidiert wird.
SCHRÖDER FÜR KITTNER
Die Unterstützung des linken Flügels der Partei ist ihm dabei gewiss. Niedersachsens Juso-Chef Gerhard Schröder (Bundeskanzler 1998-2005) urteilte: "Das Engagement für die Ostverträge wird doch durch die Teilnahme von irgendwelchen Kommunisten nicht diskreditiert." So will Kittner mit einer Akte von Flugblättern, die ihm aus allen Teilen der Bundesrepublik zugeschickt wurden, vor Gericht ziehen. Dort glaubt er beweisen zu können, dass SPD-Politiker vom Kommunalparlament bis hin zum Bundestag ähnlich Auftrufe unterzeichnet haben, an denen auch Kommunisten geteiligt waren.
FLUGBLATT ÜBER FLUGBLATT
Der Aberwitz dieser Tage. Kittner war im Besitz eines Flugblatts, das auch der Journalist und SPD-Politiker Fritz Sänger (*1901+1984), Mitglied der Bundesschiedskommission, unterzeichnet hatte. Fritz Sänger meint zwar, "die Unterschrift ist ohne meine Kenntnis auf das Flugblatt gekommen", fügt aber gleichzeitig hinzu, "man hätte es ruhig unterschreiben können". Im übrigen bedaure er die ganze Rauschmeißerei außerordentlich."
"BILD"-ZEITUNG FÜR GENOSSEN
Tatsächlich sieht sich Dietrich Kittner als das Bauern-Opfer seines Intrigen-Spiels. Er behauptet in seiner Dokumentation: "Die SPD-Zentrale lancierte - zumeist über die "Bild"-Zeitung oder über den CDU-nahen Pressedienst "Rundblick" diffamierende Artikel. Sie sollen sodann als später Beweise dafür benutzt werden, dass es die Beschuldigten höchst persönlich seien, die der SPD in der Öffentlichkeit einen Image-Schaden zufügten. Auch habe ihm der SPD-Geschäftsführer Hans Striefler zugefeixt: "Endlich, jetzt haben wir dich!" - Es war eine der üblichen Disziplinierungs-Maßnahmen oder auch Maulkörbe. Sie wurden immer dann präsentiert, wenn es darum ging, mit Hilfe der Satzung unbequeme Kräfte los zu werden.
STAATSSEKRETÄR, DER KARRIERE MACHTE
Seinerzeit gewichtete Ernst Gottfried Mahrenholz ( SPD-Karriere als Staatssekretär in der Staatskanzlei - später Kultusminister in Niedersachsen, Verfassungsrichter in Karlsruhe) den Kittner-Exodus sehr korrekt. Er sagte mir als Korrespondent der Frankfurter Rundschau in Hannover: "Wenn es wirklich nur darum ginge, unbequeme Kräfte loszuwerden, dann ist dies ein Skandal."
ROTER PUNKT - UND DIE FOLGEN
In letzter Konsequenz war die "Aktion Roter Punkt", die empfindliche SPD-Achillesferse, die der Straßenprotest unverhofft traf - und Kittner einer ihrer Anführer. Es begann damit, dass die Verkehrknotenpunkte bis hin zu den Außenbezirken blockiert wurden - keine Straßenbahn fuhr mehr. Der Grund Fahrpreiserhöhungen um 30 Prozent waren beschlossen worden. Gleichzeitig sollte aber satte Gewinne des Unternehmens ÜSTRA an seine Aktionäre um 1,4 Millionen Mark ausgezahlt werden. - Nichts ging mehr keine Straßenbahn fuhr mehr im Großraum Hannover. Rote Aufkleber an der Heckscheibe signalisieren die Mitnahmebereitschaft für jedermann. Überaus harte Polizeieinsätze sollten den Protest ersticken. Alsbald musste Politiker und Polizisten miterlebten, wie sich der Unmut auf die gesamte Bevölkerung übertrug - sich immer mehr Menschen mit Studenten, Schüler - auch - Arbeitern solidarisierten. Ein Novum im Deutschland der Nachkriegsjahre. Die Zahl der Schwarzfahrer stieg, falsche Tickets wurden hergestellt, Fahrbahnautomaten aufgebrochen. Und eine schwer bewaffnete Polizei, die dem Massenprotest hilflos gegenüberstand.
DEGENHARDT, SÜLVERKRÜP ... ...
Es waren Kittners bewegende Tage, Wochen und Monate, ein Massenprotest, den er mit dem Parteiausschluss bezahlen hatte. Die Moral der Geschicht': gemeinsam mit dem Liedermacher Franz-Josef Degenhardt, Dieter Sülverkrüp und Mitgliedern der Gruppe Floh de Cologne wandten sie sich zum real existierenden DDR-Sozialismus zu. Kittner tingelte seither immer wieder durch die DDR. Immer öfter konstatierte er, ob in Dresden oder Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), auch ungefragt, wie heimatlos ihn die alte Bundesrepublik gemacht habe. Heute lebt er in Österreich. Ein Zurück nach Deutschland wird es für ihn nicht mehr geben. - Lang, lange ist es her. Wie sang Franz-Joseph Degenhardt (*1931+2011) seinerzeit: " ... dass das nur solche Geschichten bleiben, die man den Enkel erzählen kann es gibt eine Menge Leute, die haben ein Interesse daran ...".