Frankfurter Rundschau
5. September 1992
von Jannick Boulle
und Reimar Oltmanns
Vom Rhône-Tal aus betrachtet ist das französische Bauerndorf Seillonnaz mit seinen 120 Einwohnern nicht auszumachen. Optisch zu dominant ziehen die Kühltürme der Kernkraftwiederaufbereitungsanlage Super Phènix in Malville die Blicke auf sich. Verschlungen führt eine schmale Asphaltstraße an den Weinbergen entlang hinein ins 600 Meter hoch gelegene, ver-schachtelt anmutende Alpenvorland.
Auf den Neuankömmling wirkt Seillonnaz wie ein verarmtes Überbleibsel aus längst verschollener Zeit. Die Schule ist seit Jahrzehnten geschlossen, der Priester schaut zum sonntäglichen "Vater uns" gerade mal alle vier Wochen vorbei. Nur ein Ehrendenkmal für die zwölf Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg mahnt im Dorf unübersehbar zur Patriotentreue. Es gibt keine Restaurants oder Herbergen. Nicht einmal ein Kolonialwaren-Laden ist zu finden. Nur jeden sechsten Tag versorgt Monsieur Brizard als épicier (Kleinkrämer) mit seinem Verkaufslaster die Landfamilien mit Lebensmitteln.
Doch trotz so viel pittoresker Beschaulichkeit durchlebt Seillonnaz in diesen Monaten eine Existenzkrise. Die Menschen haben Angst - es geht um Hofverlust, Tier-verlust, Landverlust - Identitätsverlust. Und Seillonnaz ist überall in Frankreich, wo das meiste Getreide, Mais und Rindfleisch in Europa produziert wird. Das Land ist noch immer der zweitgrößte Agrar-Exporteur der Welt nach den USA.
ÜBERPRODUKTION
Spätestens seit der beschlossenen Reform der EU-Agrarpolitik, die ab dem Jahre 1993 die kostspielige Überproduktion der etwa zehn Millionen EU-Bauern drastisch einschränken soll und die Stilllegung un-rentabler landwirtschaftlicher Flächen forciert, lebt Frankreichs Landbevölkerung in Aufruhr. Ziel der EU-Agrarreform ist es, die Preissubventionen für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu senken und dafür Bauern direkte Einkommenshilfen zu zahlen. Dies soll zu einer merklichen Verringerung der Produktion von Getreide, Milch und Fleisch führen und außerdem ermöglichen, die EU-Märkte für Einfuhren aus Drittländern zu öffnen.
bevor. Die bisherigen spektakulären Protestaktionen stufen die Ministerialen dabei lediglich als "Vorspiel" ein. Etwa die Blockaden von Autobahnen, National-straßen und Brücken rund um Paris. Wütende Bauern hatten in Südfrankreich , der Loire-Region bei Chartres und in Nantes tonnenweise Gemüse und Ost auf die Straße gekippt; "um einmal die Schmerzgrenze der französischen Bevölkerung zu testen", wie es Jacques Laigneau vom Koordinationsausschuss spontaner Bauern-Rebellionen lakonisch formulierte. Empörten Autofahrern legten sie kurzerhand Stacheldrahtrollen unter die Räder. - Endzeitstimmung.
BIRNEN AUF MÜLLDEPONIE
Ohnehin sind die Verkaufskurse von Obst und Gemüse die niedrigsten seit Jahrzehnten - und die Bauern erleiden Absatzverluste. Über 3.000 Tonnen Birnen landeten in der Gegend von Aix-en-Provence im Juli auf der Mülldeponie, weil sich keine Abnehmer fanden. Und die EU belohnt solche Vernichtungsaktionen auch noch im Durchschnitt mit 3,40 Cent pro Kilo - Europa zu Beginn der neunziger Jahre.
ENTLAUBUNGSMITTEL
Aber auch die französischen Politiker bleiben in ihrem Sommerurlaub nicht verschont. In Auxerre drängten 60 Landwirte auf das Grundstück des Chefs der EU-Kommission Jacques Delors (Präsident der EU-Kommission 1985-1995), und versprühten Entlaubungsmittel. Im südfranzösischen Arles verhinderten Polizisten, dass Demonstranten die Wohnung von Justizminister Vauzelle besetzten. Statt dessen hinterließen Bauern auch hier Gemüse- und Obstberge.
Wer nach Gründen sucht, warum Hunderttausende von französischen Bauern heute teils mit offenen Aggres-sionen dem Staat gegenüberstehen, warum für viele die etablierten Parteien kaum noch wählbar sind, und die rechtsradikale "Front National" des Jean-Marie Le Pen sich über Zulauf freuen kann - der sollte das Lebens-gefühl der französischen Bauern nicht vergessen. Es wird von einem Bewusstsein getragen, in ein vorbe-stimmtes Leben gepresst zu werden - vorausgesetzt man wähnt sich auf der Gewinnerseite. Frankreichs leistungsorientierte öffentliche Meinung ist längst dazu übergegangen, sich in stereotypen Floskeln und plakativen Kürzeln untereinander zu verständigen - vornehmlich, wenn es um Schicksalsfragen der Bauern geht.
Lebensgefühl und Selbstwahrnehmung lassen sich zunehmend heftiger von bedrohlichen Momenten leiten, "dass unsere Existenz auf dem Lande so ziemlich sinnlos ist. Als erklärten uns die Städter für verrückt, weil wir unser Bauern-Dasein, unser Land lieben. Es ist aber inzwischen so, als würde uns jäh der Boden unter den Füssen fortgerissen. Manchmal denke ich, wir haben all die Jahre umsonst ge-schuftet", sagt die 41jährige Bäuerin Jacqueline Laurencin aus Seillonnaz.Der Bauern-Alltag der Madame Jacqueline ist geprägt von harter körperlicher Arbeit und Ausdauer. Ihre Anforderungen sind typisch für eine große Zahl von Bäuerinnen, ohne die nun einmal nichts funktioniert in Frankreich und anderswo.
Meist, wenn Ehemann Robert von Seillonnaz aus mit seinem Trecker zu den Demonstrationen ausrückt, ist es seine Frau, die daheim den Hof in Gang hält. Und Bauer Robert ist diesen Tagen fast ständig unterwegs. Jacqueline findet es richtig, "dass mein Robert in vorderster Front mitmarschiert. Nur wenn wieder tonnenweise unsere doch kostbaren Lebensmittel auf der Mülldeponie oder Straßen weggekippt werden, habe ich Beklemmungen, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Irgendwie fühle ich mich so, als würden wir uns selber aufgeben", sagt Jacqueline.
"VICKY" - "LILLY" - "FLORENCE" - "CHERIE"
Das Anwesen der Familie Laurencin umfasst 53 Hektar Land und zwei Hektar Weinberge. Dazu kommen zwanzig Milchkühe und 15 Kälber. Jeden Morgen und jeden Abend treibt Madame Jacqueline "Cherie," "Vicky", "Lilly", "Florence" oder auch "Josiane" über die Dorf-Hauptstraße Richtung Wiesen, abends Richtung Gehöft. Anders als bei den reichen Bauern im Tal, die über großflächige Weiden verfügen, gibt es im Alpen-Vorland nur kleine, vereinzelte Grasflächen. Also lässt Bäuerin Jacqueline ihre Kühe sich rund ums hügelige Dorf sattfressen - gemolken wird im Stall.
AN STEILEN HÄNGEN IN DEN VOR-ALPEN
Beinahe täglich hockt Jacqueline mehrere Stunden vor Formularen, muss sie Rechnungen schreiben, Zuschüsse beantragen oder beim Finanzamt um Zahlungsaufschub für die nächste Steuerrate nachsuchen.
Einen Steinwurf von der Bäuerin entfernt wohnt der Bürgermeister Aimé Trischetti mit seiner Frau Henriette. Beide sind 68 Jahre alt, seit vier Jahrzehnten verheiratet und haben drei Söhne aufgezogen. Auch sie sind Bauern - Weinbauern.
In ihrer großräumigen Wohnküche tickt eine alte Wanduhr. - Behaglichkeit. Sie deutet vielleicht an, dass die Familie Trischetti schon einmal bessere Tage in Seillonnaz erlebt hat. Die Gesichtszüge der Madame Henriette verraten kaum etwas von dem, womit sie quasi ein halbes Jahrhundert ihr Tagwerk bestritt. An den steilen Hängen im Rhône-Tal liegen ihre Weinberge. Und Wein-Arbeit - das ist Frauen-Arbeit. Hier hat sie ihre Weinstöcke gepflegt, gebunden und beschnitten. Kaum etwas lässt sich hier maschinell verrichten. In den Sommermonaten ist Henriette schon früh morgens um 6 Uhr bis etwa 10 Uhr in den Weinbergen. Dann wird es zu heiß. Und schließlich muss sie auch noch das Mittagessen vorbereiten. Zur Zeit der Weinlese hat Madame Henriette für 30 befreundete Mithelfer zu kochen.
WEINLESE UND WEHMUT
Aber irgendwie liegt ein bisschen Wehmut im Gesicht der Madame Henriette. - Umbruchzeiten für Frankreichs Bäuerinnen. "Natürlich", bemerkt sie, "der technische Fortschritt, die Maschinen erleichtern vor allem uns Frauen das Leben. Früher haben wir doch fast so viele Muskeln wie die Männer gehabt. Nur Geld konnten wir nie genügend verdienen. Es blieb immer Mangelware. Wenn wir mal etwas haben, müssen wir zum Beispiel einen Trecker kaufen, weil der alte nur noch Schrott ist."
Verständlich, dass Madame Henriette sorgenvoll in die Zukunft blickt.Verständlich auch, dass sie lieber von den Erfolgserlebnissen früherer Jahre erzählt. Als im Mai 1968 Frankreichs Studenten in Paris die Revolution probten,fand in Seillonnaz ein ganz anderer Aufbruch statt - das Wasser war da. Jeder Hof, jeder Haushalt wurde an die Kanalisation angeschlossen. Vorher mussten die Frauen noch das Wasser vom Dorfbrunnen in Eimern nach Hause schleppen, und die Wäsche wurde im Bach gewaschen.
EIN BRUNNEN - ZENTRUM DES LEBENS
Dass der Brunnen der Gesprächs- und Klatsch-Knotenpunkt des Dorfes war, ist kaum verwunderlich. Der Bürgermeister meint: "Vom Brunnen waren wir allesamt abhängig, und die Familien handelten solidarisch." - Wendezeiten. Nunmehr mit Wasser verlagerte sich das Dorfgeschehen immer mehr in die Küche des Bürgermeisters und seiner Frau Henriette. Hier kommen die Bauern mit ihren Landfrauen hin, um zu reden und zu klagen - bei gutem Wein.
FRAUEN FLÜCHTEN - NEUE AMOUREN
In der Tat sieht die viel besprochene Gemütslage des Dorfes alles andere als hoffnungsvoll aus. Trotz zigfacher Heiratsinserate - regional wie national - will es beispielsweise dem relativ gutgehenden Landwirt Jean-Luc mit seinen 38 Jahren nicht gelingen, eine Frau zu finden - über eine Nacht hinaus an sich zu binden; Monat für Monat, Jahr für Jahr ist der Bauer auf der Suche. Routinegeübt füllt er wieder im Tabakladen einen neue Lottoscheine aus, bringt Frau-Suchanzeigen zur gegenüber liegenden Post im Tal. Nach dem fünften Pastis murmelt er: "Was wir hier machen an diesem schönen Fleck, ist die gemeinsam erlebte Einsamkeit." Ein Flug nach Polen in die Masuren sollte die beschworene Frauen-Wende, den allseits erhofften Durchbruch bringen - Jean-Luc auf Brautschau in Olsztyn. Junge Polinnen werden ihm vorgeführt. Jean-Luc bezahlt für eine Nacht, für die nächste Nacht. Jean-Luc versteht nur Bahnhof, Sprachprobleme. Viel Wodka, große Geldausgaben, Vermittlungsgebühr, Flug, Hotel. Nur ein anschmiegsames junges Masuren-Mädchen für Seillonnaz im französischen Alpenvorland - Fehlanzeige.
ENDLICH MADEMOISELLE GEFUNDEN ... ...
Vis-á-vis von ihm wohnt Pascal mutterseelenallein in einem Zwölf-Zimmer-Haus. Als Bankangestellter dort unten im Tal hoffte er auf Aufstieg und Anerkennung. Jahre vergehen, Jahrzehnte verfliegen im Nu - Pascal steht immer noch akurat am Schalter mit eingefrorenem Dauerlächeln. Nichts, so scheint es, will sich bewegen, weil er offenkundig vergessen hatte, ein bisschen länger zur Schule zu gehen, sich im Bankfach weiter ausbilden zu lassen. Stillstand bei der all wöchentichen Chrom-Versiegelung. Nur seine junge Frau Monique hatte sich bewegt, zog es plötzlich ganz unvermittelt in die Stadt. Sie könne doch nicht ihr ganze Leben lang auf den Alpen starren. Sie könne doch nicht ewig ihr Dasein damit verbringen, ihrem Mann bei seiner liebevollen Autopolitur zuzuschauen - und das Samstag für Sonnabend immerfort in Seillonnaz im Alpenvorland. Das soll Monique ihrem Pascal zum Abschied gesagt haben. Abgang. Frauen-Aufbruch. Seither stottert sich Pascal auf Suche nach neuem Glück durch Gassen und Boulevards. Aber imgrunde, beschwichtigt Pascal, benötige er auch dríngend keine neue Frau. Seine Mutter Ramona umhegt ihn ohne Unterlass, bekocht ihn, putzt im Haus und bügelt seine Krawatten. Und wenn Pascal wieder auf die Autopolitur-Tube drückt, dann steht nicht selten Mutter Romana ganz in der Nähe, lächelt warmherzig, verständnisvoll. Mutteridylle in Seillonnaz.
... ... DOCH EIN BAUER SUCHT NOCH IMMER
Und am Berghang lebt schließlich noch der Lehrer Michel. Auch er ist in seiner Freizeit Bauer, Kuh- und Weinbauer. Seit über einem Jahr lebt Michel mit seiner Tochter Sandra und ihrem Hund Rock allein. Fluchtigartig - wie offenkundig gezielt in Dörfern - hatte auch seine Frau Isabelle ihren Michel verlassen. Sie habe es einfach satt mit anzusehen, wie Gatte Michel als kleiner Bauer so leidenschaftlich-besessen im Schlamm herumwurschtelt, sonst für nichts Zeit hat und noch immer keine schwarzen Zahlen schreibt. Gemeinsam erlebte Einsamkeit der Männer.
Hin und wieder - meist zu Abend - treffen sich die verbliebenen Landfrauen bei Henriette in der Küche. Nach den jüngsten EU-Beschlüssen und neuerlichen Frauenflucht aus dem Dorf kennen sie nur noch ein Thema. Sie wissen nicht, wie es tatsächlich weitergehen soll, wer überlebt und wer untergeht. Und sie haben Angst vor dem Ausverkauf ihres Dorfes Seillonnaz. Mahnend zeigen sie in Richtung der Region Ardèche - dort, wo sich der deutsche Jet-Set eingekauft, die Preise gedrückt habe. "Nein, das wollen wir hier nicht erleben. Da mögen die Schecks noch so hoch sein, schließlich geht es auch um unsere Bauern-Identität", sagt Madame Henriette und schenkt frisch gekelterten Wein nach.