Montag, 26. November 1990

Partisanin des permanenten Aufbruchs - Antje Vollmer










































Biografie. -
Antje Vollmer wurde am 31. Mai 1943 in Lübbecke/Westfalen geboren. Im Jahre 1962 bestand sie ihr Abitur und studierte in Berlin, Heidelberg, Tübingen und Paris evangelische Theologie. Anno 1968 wurde sie Vikarin an einer Berliner Kirche, arbeitete von 1969 bis 1971 als Assistentin an der Kirchlichen Hochschule Berlin und bestand 1971 ihre zweites Theologisches Examen. Von 1971 bis 1974 widmete sich Antje Vollmer als Pastorin in einem Team-Pfarramt in Berlin-Wedding der Seelsorge. In dieser Zeit promovierte sie bei Helmut Gollwitzer (*1908+1993) zum Dr. phil. und absolvierte ein Zweitstudium in Erwachsenenbildung mit Diplomabschluss. Von 1976 bis 1983 war sie als Dozentin an der Heimvolkshochschule in Bethel tätig. Im Jahre 1979 kam ihr Sohn Johann auf die Welt, unehelich - ein Novum in der Kirchengeschichte.
In den siebziger Jahren wirkte Antje Vollmer politisch aktiv in der Liga gegen den Imperialismus im Umfeld der 1970 gegründeten maoistischen Kommunistischen Partei Deutschland (KPD/AO), trat dieser Partei aber nie bei, die sich 1980 wieder aufgelöst hat. Obwohl Antje Vollmer erst im Jahre 1985 Mitglied der Partei "Die Grünen" wurde, gelangte sie über eine offene Liste der Arbeitsgemeinschaft "Bauernblatt" bei den Wahlen 1983 in den Deutschen Bundestag. Anfang 1984 wählte die Fraktion der Grünen einen neuen Vorstand, der ausschließlich aus sechs Frauen bestand. Die Theologin wurde Fraktionssprecherin. Von diesem "Weiberrat" (Eigenjargon) sollte ein Signal ausgehen, dass auch in der Politik "die Zeit der Männer vorbei ist" (Antje Vollmer). Für das Bundestags-Feminat galt sie als eine der Hauptinitiatorinnen. Im Zuge der Rotation legte Antje Vollmer im April 1985 ihr Mandat nieder - kam aber nach den Wahlen im Jahre 1987 wieder als Abgeordnete ins Parlament.
Bei der Bundestagswahl 1990 scheiterten die westdeutschen Grünen an der Fünf-Prozent-Hürde. Von 1994 bis 2005 war Antje Vollmer wieder Mitglied der Volksvertretung. Seit dem 10. November 1994 bekleidete sie zudem für diesen Zeitraum das Amt einer Vize-Präsidentin des Deutschen Bundestages.
Mit ihrer Initiative Grüner Aufbruch '88 versuchte Antje Vollmer, einen innerparteilichen Erneuerungsprozess voranzutreiben - zwischen den sich bekämpfenden Flügeln aus "Fundis" und "Realos" zu vermitteln. Im Dezember 1989 verlieh ihr die internationale Liga für Menschenrechte die "Carl-von- Ossietzky-Medaille. Zu ihrer Auszeichnung hieß es: Antje Vollmer sei "eine der wenigen, die in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland Aufgaben wahrnimmt, die viele vernachlässigen: Sie setzt sich für jene ein, deren Stimmen nicht gehört werden - für Sinti und Roma, Zwangsarbeiter und andere Nazi-Verfolgte sowie die Gefangenen in den Hochsicherheitstrakten." Sieben Jahre später wurde die streitbare Theologin mit dem Cicero Rednerpreis, 1998 mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken geehrt.
Eigentlich wollte Antje Vollmer sich schon immer nach relativ kurzer Zeitspanne von der Bundespolitik in Bonn, später in Berlin verabschieden, aufhören, aussteigen - wieder zu sich selbst, zu ihrer Authentizität zurückfinden, zu ihrem ursächlichen Ausgangspunkt. Gelungen ist ihr das freilich nie so ganz - jedenfalls bis dato 2005.
Als sie 1983 als Abgeordnete in den Bundestag kam, fühlte sie sich zunächst als "stille Beobachterin" - sieben Jahre später hat sie sich erneut in diese Wartestellung zurückgezogen. Das sei kein Abschied vom "grünen Projekt". Nur, so Antje Vollmer, sollte eine ökologische Partei im vereinten Deutschland auf dem Fundament eines Neuanfangs zwischen Ost- und Westgrünen stehen. Da sei sie "viel zu neugierig", um sich eines Tages doch vielleicht wieder einzumischen. - eine Partisanin des permanenten intellektuellen Aufbruchs .
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Frauen an der Macht
Protokolle einer Aufbruchs-Ära
athenäums programm
by anton hain Frankfurt a/M
26. November 1990
von Reimar Oltmanns
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Donnerstag, der 5. Mai 1983. Ich gebe zu, ihre Unsicherheit fasziniert mich. Überlegenheitsgefühl sind nicht ausgeschlossen. Sie fiel mir gleich auf in Bonn. Welcher Kontrast zum Politikeinerlei. Bubi-Kopf, große Augen, Pulli, Jeans, Kapuzenmantel aus der Pennäler-Zeit. Ziemlich schüchtern, auffällige Berührungsängste. So eine Frau ausgerechnet als Bundestagsabgeordnete unter all den stattlich herausgeputzten Vorzeige-Figuren! Dabei gab sich Antje Vollmer so, als wolle sie sich irgendwie dafür entschuldigen, mit den Grünen den Sprung in den Bundestag geschafft zu haben.
POLITISCHE GESÄSS-GEOGRAFIE
Seinerzeit hatten die Grünen als basisdemokratische und ökologische Protestbewegung mit 2.167.431 Stimmen die Fünf-Prozent-Hürde gemeistert. Das alternative Deutschland klagte sich, von der Sache kommend, laut ins etablierte Gefüge ein, sucht mit und in Negativ-Abgrenzungen Durchbruch und Halt. Die Situation Anfang der achtziger Jahre glich der APO-Zeit. Damals kämpfte eine rebellierende Jugend gegen eine Große Koalition im Bundestag und in manchen Ländern. Jetzt setzen sich die Grünen in Bonn ebenfalls mit einem stillschweigenden All-Parteien-Bündnis auseinander. Der Ausbau von Atomkraftwerken und die "Notwendigkeit" ökonomischer Zuwachsraten hatten CDU/CSU, SPD und FDP enger zusammenrücken lassen, als es die Sitzordnung im Bundestag deutlich machte.
VATERLAND
Bonner Politik schrumpfte auf ein zentrales Anliegen: mit welchen Mitteln ein oder zwei Prozent mehr Wirtschaftswachstum erreicht werden könnten. Kennzeichnend für den politischen Umgangston, für die vielzitierte "Dialogfähigkeit" in diesem Jahrzehnt war die eine Äußerung des Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger (*1920+2002) über die Grünen. Er nannte sie "politisch verkommen", weil sie in der Bundesversammlung die Nationalhymne "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland ..." nicht mitgesungen hatten.
INFAS UND INFRATEST
Jedenfalls wollte ich an jenem Donnerstagmorgen auf der Pressetribüne des Bundestags die "Wiederbelebungsversuche" des Parlaments durch die Bundestagsfraktion der Grünen mitbekommen. Über Jahre mied ich diese Pressetribüne. Die Ära hatte schon längst begonnen, in der Identität in der Politik mehr durch als durch Charakter und Persönlichkeit bestimmt wurde. In der Politik etablierte sich allmählich das Kabinett der austauschbaren Identitäten. Der Aufstieg trug ein Motto: "Sage mir, wer Dein Image macht, und ich sage Dir, wer Du nicht bist!" Zum Zeitalter des Persönlichkeitsstylings und des Treatment-Designs ist die beste Persönlichkeit keine Persönlichkeit.
SATTER, ABGEFEIMTER, ZYNISCHER
Da stand Antje Vollmer nun am Rednerpult des Bundestages und sollte der Regierungserklärung des Kanzlers Paroli bieten. Ihre Stimme zitterte und war ständig in Gefahr, wegzukippen. Ich war irritiert und enttäuscht. Ihr parlamentarischer Auftritt in Sachen Agrarpolitik erfüllte nicht meine von Bonn geprägten Erwartungen. Paroli bieten hieß für mich, auf derselben Klaviatur rhetorisch gewieft zu klimpern - am besten noch satter, abgefeimter, zynischer. Antje Vollmer mühte sich vor meist gelangweilt Zeitung lesenden Männern um Aufmerksamkeit.
POLIT-MILIEU
Und gewiss hatte sie unterschwellig auch Angst vor dem Sprung ins Polit-Milieu. Wie lassen sich eindeutig Grenzen ziehen zwischen Absichten und tatsächlich neuen Formen des Streites? Wann hat jemand eine Profilneurose und wann sagt man, ja endlich, das ist die neue politische Identität? Ich hatte so meine Zweifel, Widersprüche und meine Schubläden. Die zog ich auf, noch ehe Antje Vollmer ihre Rede beendet hatte, "diese Art von Geschäft in der Politik könne auf Dauer niemand betreiben, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen", hatte ich mein Bild über diese Frau abgerundet - vorschnell, wie sich bald herausstellen sollte. Ich dachte mir: Wieder eine Person, die mit pastoralem Sendungsbewusstsein die Gesellschaft beglücken wollte. Jetzt setzt sie unverdrossen wie gebeutelt ihren Anspruch fort. Typisch Frau - sie dürfte kläglich hier an den politischen Schauplätzen der Krisenmanager. Doch Antje Vollmer versagte nicht. Ganz im Gegenteil.
MÄNNER-TRUTZBURG
Die Frauen-Aufbruchs-Ära, die in der Kinderladen-Bewegung der siebziger Jahre ihren Ausgangspunkt nahm, hatte längst die Männer-Trutzburg Bonn erreicht. Sie ist gleichsam eine Antwort auf Vertrauensverluste und Visionslosigkeit. Antje Vollmer steht für Tausende von Frauen in diesem Land, die die Aufbruchs-Ära eingeleitet haben.
LERNPROZESSE
Im Laufe der Jahre habe ich lernen müssen, dass sich hinter ihrer Unscheinbarkeit eine unvermutete Portion Härte und Durchsetzungsvermögen verbergen. Sie brachte den "gesellschaftlichen Dialog" mit einsitzenden RAF-Terroristen in Gang. Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1984-1994) gab einigen Gnadengesuchen lebenslänglich Verurteilter statt. Wobei sie Moral und Recht, Legitimität und Legalität, Politik und Gewissen auf die ihr eigene unbeugsame Art und Weise vereinte. Als die Grüne Partei sich in Fraktionskämpfen selbst zu eliminieren drohte, war sie es, die mit der Gruppe "Grüner Aufbruch '88" zu vermitteln suchte. Antje Vollmers Überlegungen brachen die Definitionsgewalt der Männer in der intellektuell chronisch untersorgten Hauptstadt.
MÜDE VOM GEZERRE
Als ich Antje Vollmer zum letzten Mal in ihrem Haus in Kirchdornberg bei Bielefeld besuchte, da hatte sie die Jahre in Bonn deutlich gezeichnet. Müde war sie des ewigen Gezerres in Bonn auf den Parteitagen. Und immer die Angst, die Politik könne sie endgültig davontragen, ihr den Rest an privater Sphäre nehmen, sie für die Apparate zurechtschleifen. "Nein", sagte sie, "ich will nicht mehr. Andere Frauen müssen für mich weitermachen. Man muss auch Abschied nehmen können. - Und ich kann ja vielleicht irgendwann einmal wiederkommen."
SEIN ODER NICHTSEIN
Das Bundestagsmandat im Schutze der Immunität, der Diplomaten-Status - all jene Privilegien sind für Antje Vollmer im Gegensatz zu den meisten Männern in Bonn keine Frage von Sein oder Nichtsein. "Denn jeder ist ersetzbar - erst recht, wenn die parlamentarische Routine die Menschen dort zu ersticken droht. Für mich erwarte ich Ruhe in einem großen Abstand zu allem."
FLUSSLANDSCHAFTEN
Auf der Rückfahrt von Bielefeld fiel mir eine Passage aus Heinrich Bölls (*1917+1985) "Frauen vor Flußlandschaften " ein. Da heißt es:
"Wubler: Du hast gelernt, dass Politik ein schmutziges Geschäft ist.
Erika: Was nicht bedeutet, dass Schmutz schon Politik ist."
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WIDERSTAND - ANTJE VOLLMER
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Als Antje Vollmer im Jahre 1983 - für sie eigentlich unerwartet - mit den Grünen in den Deutschen Bundestag einzog, fühlte sie sich eher als eine stille Beobachterin ihrer Fraktion. Sie war nicht einmal ordentliches Mitglied dieser ökologischen Partei, die von den Bonner Polit-Profis mit einem müden Lächeln - dank ihres unkonventionellen Parteiprogramms und nicht-hoffähigen Auftretens - weniger begrüßt als beargwöhnt wurde. Für die damals vierzigjährige Antje Vollmer ging alles rasend schnell: Keine sechs Wochen lagen zwischen dem ersten Gedanken an eine Kandidatur und ihrer Wahl zur Bundestagsabgeordneten.
Sie kam aus der ländlichen Bildungsarbeit, der sie sich über sieben Jahre lang mit einem Engagement gewidmet hatte, das zu ihren bestechendsten wie einnehmensten Eigenschaften gehört. Als Dozentin in der Erwachsenenbildung in Bethel besaß sie noch genügend Energie, um sich in einer Bauernoppositionsgruppe - die in Westfalen das "Bauernblatt" herausgab - mit agrarpolitischen Problemstellungen auseinanderzusetzen. In ihrem Tagebuch " ... und wehret euch täglich" beschrieb die studierte Theologie ihre Arbeitsstelle mit der ihr eigenen Wehmütigkeit als einen "Ort für die Suche nach dem Selbstbewusstsein der Menschen des ländlichen Raumes". Vom Lindenhof, der Begegnungsstätte für Jung und Alt, nach Bonn.
Damals traten die Grünen in Nordrhein-Westfalen mit einer offenen Liste an ( das machen sie heute nicht mehr), die für eine politische Grundüberzeugung stand: Die Grünen wollten damit Vertretern von Basisbewegungen volksnahen Einfluss auf ihre parlamentarische Arbeit sichern. Deshalb suchten sie eine Zusammenarbeit mit dem "Bauernblatt". Die Landwirte blieben skeptisch und wollten nicht von ihren Höfen weg. Antje Vollmer war zur rechten Zeit auf dem rechten Platz, und zudem war auch bei den Grünen der Gedanke virulent, dass eine Frau - natürlich - ein Plus wäre. Auf der Delegiertenversammlung der Grünen in Geilenkirchen. wo die Landeslistenplätze vergeben wurden, schnupperte Antje Vollmer zum ersten Mal die Atmosphäre eines mit fünfhundert Menschen gefüllten Saales, war überwältigt und rannte immer wieder raus. Der Kandidatenbefragung konnte sie sich freilich nicht entziehen, und es dauerte Stunden. Ihre anfängliche Irritation wich plötzlich dem Gefühl von Kontinuität. Diesen Wandel hielt sie in ihrem Tagebuch fest: "Für einen Moment stellte sich für mich, seinerzeit auf der Delegiertenversammlung in Geilenkirchen, meine ganze Lebenserfahrung auf den Kopf. - Alles, was mir bisher Schwierigkeiten gemacht hatte, hier bei den Grünen, gerät zu meinen Gunsten ...".
Neugierig und couragiert wie sie ist, begibt sie sich tags darauf auf Erkundungsfahrt, versucht sich ein Bild von den Grünen zu machen, von einzelnen Personen, von den Flügeln und Richtungen innerhalb der Partei, von den Drahtziehern und den Kritikern, von der Grünen Art zu streiten, zu diskutieren, Probleme auszutragen.
In ihrem ersten relativen kurzen Wahlkampf zog Antje Vollmer vor allem über Land, von Dorf zu Dorf, wo sie sich plötzlich als Rednerin in Sachen grüner Politik wiederfand. Auch hier kein Anflug von Selbstgefälligkeit, sondern kritische Selbstreflexion, darüber, dass sie zu zaghaft sei, noch zu sehr Dozentin, zu viel referiere und nicht nahe genug an die Leute herankomme. Antje Vollmer im Jahre 1983: erste Gehversuche als Politikerin und der feste Vorsatz, es muss anders, besser werden.
Ihre Vorstellung vom Bonner Abgeordneten-Dasein deckte sich nicht mit der Realität, dazwischen schoben sich die von den Medien vermittelten Klischees. Blickwechsel für Antje Vollmer; Einzug ins Hochhaus Tulpenfeld, ein von Häßlichkeit strotzender Betonklotz - der Bienenstock von Hunderten mehr oder weniger fleißigen Abgeordneten. Im fünften Stock die Geschäftsführung der Grünen. Für Antje Vollmer, gewöhnt an Arbeit im Grünen und in Ruhe, muss der Schock ziemlich groß gewesen sein: Hier klingelten die Telefone und schlugen die Türen ohne Unterlass, hier herrschte den ganzen Tag eine Rush-hour der Informationen und Neuigkeiten. Ungewohnt war für sie der vom Frankfurter Sponti-Organ "Pflasterstrand" (dem alten) beeinflusste Sprachstil. welcher der in Sachen Sprache sensiblen Antje Vollmer Entgegenkommen abverlangte. Acht Stockwerke darübe richtete sich Antje Vollmer mit sieben Mitgliedern der Fraktion ein. Es gab für sie viel zu lernen: Lektion Nummer eins, die Flut der Papiere zu kanalisieren, damit man seine Tasche überhaupt nach Hause tragen kann, wo die Arbeit noch kein Ende nimmt.
Trotz Wirrwarr und lockerem Chaos, wilden Diskussionen und theoretischen Unklarheiten - Antje Vollmer sah, dass viele ihrer Zukunftsideen, die in ihrer Studentenzeit nur Papier gewesen waren, von den Grünen in Angriff genommen wurden: angefangen bei der Rotation der Mandate, über die Offenheit der Partei- und Fraktionssitzungen bis hin zur Frauenparität.
Damals, in den APO-Jahren, war die Herausbildung politischer Machtzentren detailliert reflektiert worden. Und nun sollten es die Grünen sein, die als erste die Rotation in den führenden Ämtern der Partei beschlossen und auch weitestgehend befolgten. Oder: Die Ursachen der Unterdrückung der Frau waren in der deutschen Linken seit August Bebel (*1840+1913) und Clara Zetkin (1857+1933) aufgearbeitet worden. Aber es blieb wiederum den Grünen vorbehalten, ihren meisten Landesverbänden die Frauen-Parität als Ziel vorzugeben. Für Antje Vollmer bedeuteten diese aufsehenerregenden Ansätze der Grünen so etwas wie "Edelsteine", deren weitreichender Wert noch nicht allen klar war. Schon die Rotationstregelung hieß im Kern, dass die Grünen den konventionellen Abgeordnetenstatus nicht anerkannten. Sie war eine Attacke gegen das Berufspolitikertum, da die Grünen Politiker und Politikerinnen in ihren Reihen für ersetzbar erklärten. Sie war eine Kampfansage gegen die ausufernde politische Macht, die mit der parlamentarischen Routine verbunden ist.
Für Antje Vollmer war klar, dass damit Spontaneität, Basisverbundenheit und die Herkunft aus dem Berufsalltag für die Durchsetzung von Zielen fruchtbar gemacht wurden und aus der Eindimensionlität von Langzeit-Politikern ein konstruktiver, zukunftsweisender Weg gefunden wurde. Es war für sie eine spannende Erfahrung zu sehen, wie die Grünen Probleme auf neue Weise anpackten.
Antje Vollmer verließ ihre Rolle als stille Beobachterin und wurde, nachdem sie aus Rotationsgründen im April 1985 ihr Bundestagsmandat niedergelegt hatte, ordentliche Parteimitglied. In dieser Parlamentspause fand sie Zeit, über eine sie bedrängende Frage gründlicher nachzudenken: Gibt es noch Frauen-Utopien? Was treibt die Frauen an, über ihre Tagtraumfetzen hinauszugehen? Begeben sie sich auf die Schiffe (Ernst Bloch *1885+1977), um neues Land, einen neuen Kontinent zu entdecken? Antje Vollmer, die ihre Gedanken ungern im Kämmerlein verstauben lässt, sondern sie lieber als Provokation in die Welt schickt, gab ein Buch heraus mit dem märchenhaften Titel "Kein Wunderland für Alice?". Dort veröffentlichte sie einen ihrer liebsten Aufsätze, dessen zentrale lautet:
"Es ist nicht nur der Mangel an utopischen Leitbildern von Frauen an der Front des Neuen, der Frauen gelähmt hat, ihre eigene Zukunft zu entwerfen. Es war auch nicht nur die gewisse Aussicht auf das Schaffott und die sichere eigene Niederlage, die sie zurückhielt. Es war auch nicht nur der klassische enge Zuschnitt ihres Lebens und die mangelnde Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion und dem öffentlicen Leben, der sie auf Dauer hatte zurückzerren können von dem, das unaufhaltsam vorwärtsdrängt. Es ist die ewige immer-gleiche, nie-endende, Kräfte-auszehrende Sisyphus-Arbeit, Hoffnungen zu Grabe tragen zu müssen. Niederlagen als Geschlagene zu überleben, und die Verdammung zur Passivität in allen großen gesellschaftlichen Konflikten ... Für die Mehrzahl der Frauen gilt, dass alle großen Ereignisse - selbst die mit glückhaftem Ausgang - auf sie zuallererst ihre Schatten werfen. Diese Schatten haben das Gewicht von Fesseln, wie kein Mann sie trägt. Sie zu sprengen bedeutet eine unmenschliche Kraftanstrengung. Der Weg von Frauen - trotz dieses Wissens - in die erste Reihe der großen Menschheitsutopien ist länger, da sie viel mehr hinter sich und außer acht lasssen müssen. Deswegen ist er auch radikaler. Einmal vorne angekommen, führt selten ein Weg zurück."
Wenn Antje Vollmer schreibt, dann meint sie es ernst. Sie gehört zu jenen Frauen, die nach vorne stürmen - an die Front des Neuen. Ernst Blochs Prinzip Hoffnung wird hier weitergedacht, aus dem Philosophie-Seminar ins Leben geholt: quasi als gutmachende Anleitung für den Kampf um Recht und Gerechtigkeit. Antje Vollmer, die von sich sagt, sie möchte mal so leben, dass insbesondere Frauen denken, was sie kann, das kann ich auch, stellt ihr Leben und ihre Arbeit unter den Druck größtmöglicher Authentizität. Sie weiß um ihr Sendungsbewusstsein in der Bonner Raumstation, in der sie "dicke Bretter" zu bohren hat. Aber gerade dieser Anspruch lässt sie oft verzagt dreinschauen und sogar des Nachts in ihren Träumen noch schuften. Ihr Politik-Dasein ist bestimmt von einem abgeschottenden Verhalten gegenüber einem Milieu, in dem Radikalität und Unbestechlichkeit gegen sich selbst Fremdbegriffe sind - Eigenschaften, die für die bei allen Erfolgen bescheiden gebliebene Antje Vollmer charakteristisch sind - vom Gerede und Gehabe längst abgelöst worden.
Ihr Einstieg in die Bundes-Politik war insofern leicht, als sie konkurrenzlos ihre Arbeit aufnehmen konnte. Ob in der Friedens- oder in der Frauenpolitik - bei den Grünen wurde damals überall gerangelt. Nur von der Landwirtschaft verstand keiner etwas. Zur Zufriedenheit aller übernahm sie die Verantwortung für ein unpopuläres Arbeitsfeld. Es gelang ihr, eine Alternative zur EU-Agrarpolitik zu entwickeln, die auf eine beachtliche Resonanz nicht nur bei den Landwirten, sondern auch bei der CDU stieß, die begründete Ängste um ihr Wählerpotenzial hegte. Das Leben der Bauern kannte sie noch vom Lindenhof, mit diesen Menschen fühlte sie sich verbunden: "Im Loyalitätskonflikt hätte ich mich für die Bauern und nicht für die Grünen entschieden."
Das Jahr 1983 war für Antje Vollmer ein Aufbruchsjahr zu anderen Ufern. Ein unvermuteter Aufbruch, der Erinnerungen an andere Aufbrüche in ihrem Leben weckte. Mit zehn Jahren wollte sie unbedingt aufs Gymnasium. Ein Wunsch, mit dem sie innerhalb ihrer Familie aus der Reihe tanzte. Mit zwanzig hatte sie es endlich geschafft, wegzukommen aus der beklemmenden Kleinstadt Lübbecke im Westfalenland: raus, möglichst weit weg - Berlin, Paris, Damaskus, Madrid, Rom. Dann kam das Studium und Studentenbewegung - theoretisches Neuland. Es schlossen sich an drei Jahre als Pastorin in einem Berliner Arbeiterviertel. Sie wurde dreißig und fing noch einmal von vorne an, hängte die "theologische Amtsperson" an den Nagel. Neuer Beruf, neue Lebenswelt, neue Freunde. Immer auf der Suche, getrieben vom Drang aus dem Leben etwas zu machen. Das Glück scheine ihr günstig gewesen zu sein, meint sie rückblickend lakonisch.
Als Antje Vollmer die Parteiarbeit aufnahm, überschatteten die Politik der Grünen starke Auseinandersetzungen in der Fraktionsführung. Das ist nach Jahren immer so. Damals bestand die Fraktionsführung aus Otto Schily ( 1980 Mitbegründer der Grünen, 1990 SPD-Bundestagsabgeordneter, 1998-2005 Bundesminister des Inneren), Petra Kelly (Alternativer Nobelpreis 1982 - *1947+1992) und Marieluise Beck-Oberndorf ( 2002-2005 parlamentarische Staatssekretärin im Ministerium für Familie, Frauen, Gesundheit, Ausländerbeauftragte). Alle drei hatten vor allem eins gemeinsam, sie konnten nicht miteinander. Antipathien. Diese Situation schien nicht nur für Antje Vollmer prekär. Es konnte nicht darum gehen, sich blind für eine Person zu entscheiden. Das hätte nur unnötige persönliche Verletzungen mit sich gebracht, den lähmenden Zustand der Partei verlängert. Für Antje Vollmer und Gleichgesinnte stellte sich die Frage, wie eine allseits akzeptable Lösung aussähe.
Was einst Utopie war und nun knallharte Wirklichkeit wurde - zum Missvergnügen vieler männlicher Grünen - , das war das Feminat der Bundestagsfraktion der Grünen. Es war eine Geburt in schwerer Stunde, doch - wie Antje Vollmer meint - zur rechten Zeit. Mit einem Machtputsch der Frauen - wie es von den Medien männertreu dargestellt wurde - hatte das Konzept nichts gemein. Antje Vollmer und ihre Mitstreiterinnen probierten lediglich, einen konstruktiven und perspektivreichen Ausweg aus einer schwierigen, weil verfahrenen Lage zu finden. Im weitesten Sinne eines Lösungskonzepts hatte das Feminat einen neuen Umgang miteinander, ein Verhalten, das auf Zusammenwirken und Zusammenarbeiten und gegen das von eigenen Interesse angetriebene Intrigenspiel in der Politik setzte. Es war ein Konzept, das Gegensätze austragen und nicht zukleistern wollte. "Es gab darauf ungeheure Machtauseinandersetzungen mit den Männern, die das Feminat politisch zu diskreditieren versuchen."
Hier zeigte sich die Gefahr von ferne, die die Grünen dann einholte. Antje Vollmer sah damals schon genauer, aus der Distanz einer, die nicht in die Machtkämpfe verstrickt ist. Die Grünen hatten in ihrer kurzen Geschichte ein atemberaubendes Tempo mit ihren Ideen, Forderungen und Konzepten vorgelegt; allmählic emanzipierten sich jedoch diese Entwürfe von ihnen und wurden gesellschaftsfähig. Der Erfolg der Grünen stand in seinem Zenit, und die Gedankengeber von einst drohten sich in parteiinternen Flügelkämpfen aufzureiben. Antje Vollmer, die für alles Neue ein ungetrügerisches Gespür hat und diesem mit Energie auf die Sprünge zu helfen versteht, stellte ein merkwürdiges Phänomen fest: Kaum hatten einige Grüne einen ungewöhnlichen Gedanken in die Diskussion geworfen, meldete sich gleich jemand, der hier nur einen Stein des Anstoßes erblickte und den Gedanken im Keim erstickte.
Zurück blieb der blasse Schein einer Idee. Die Folge war. dass der Elan der Grünen nachliess. Antje Vollmer brachte die Talfahrt auf den Punkt: Nichts ist so praktisch wie die überkommene Praxis. Der Parteiapparat der Grünen mutierte auf erschreckende Weise in die Formen der traditionellen Parteibürokratien. Deren Strukturen hatten sich in Jahrzehnten bürgerlicher Machtverwaltung herausgebildet. Antje Vollmer in den politischen Diskussionen der APO-Zeit geschulter Blick erkannte innerhalb der Grünen Partei erste Anzeichen eines in Funktionalität und Hierarchie erstarrenden Parteilebens. Sie traf den Kern dieser Entwicklung mit einer Geschichte. In der DDR habe ihr jemand mal einen Zettel zugesteckt, der in ihren Augen revolutionärer sei als so manches Zitat von Rosa Luxemburg: "Wie Rosse gehn die gefangenen Element' und alten Gesetze der Erde. Und immer ins Ungebundene geht eine Sehnsucht." Exakt hier zeige sich, so Antje Vollmer, das Grunddilemma: Was haben Parteien mit ungebundenen Sehnsüchten zu tun? Nichts - eben! Antje Vollmers Diagnose wenige Monate nach ihrem Parteieintritt.
Ob in der Phase, die zum Fraktions-Feminant führte, oder in der Zeit bis zum zehnjährigen Geburtstag der Grünen Partei - es gelinge den Grünen zeitweilig gar nicht und mittlerweile immer weniger - so Antje Vollmer -, sich aus der Paralye des Selbstbeharkens und des Selbstmitleidens zu befreien. Die Flucht in die Verbalradikalität und die endlose Scheindebatten seien die Konsequenz. Im Spannungsverhältnis zwischen sich verselbständigenden Apparaten bei gleichzeitig egalitären Strukturen waren längst die Grenzen des politisch und menschlich Möglichen und Erträglichen erreicht worden. Antje Vollmer sah als Ursache meistens ein soziales Problem, das alle Parteien hinreichend kennen: Wohin mit den verdienten Funktionär (inn)en? Auch die Antwort der Grünen auf diese Frage war bislanf eine traditionelle gewesen: Hinein mit ihnen in die Mitarbeiterstäbe und Geschäftsstellen. Der Apparat gebiert so sich selber. Zusammen mit dem Blockdenken braute sich da ein hochexplosives Gemisch zusammen.
Die politischen Debatten in den Orts- und Kreisverbänden wurde dagegen seltener, "eine Auszehrung der Basis" war schon damals unverkennbar. Antje Vollmer gab jedoch nie auf. Unscheinbar ging sie voran. Hinter der Etikette der Schüchternheit verbarg sich ein in der Politik ungewohntes Stehvermögen. Schon damals fiel den politischen Beobachtern zu Bonn auf. dass Frauen an der politischen Macht ihre Arbeit nicht mit Samthandschuhen ausführen, sondern mit jener Härte, die scheinbar ein Privileg der Männer ist. Ein kluger Kopf erkannte damals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Frau Vollmer bezeichnet sich selbst als sehr deutsch und sehr protestantisch, und mancher in der Fraktion wünschte sich, sie übte mehr Nachsicht gegenüber den kleinen menschlichen Schwächen."
Zu Zeiten des Fraktions-Feminats brachen bislang unterschwellige Konflikte mit den Grünen-Männern offen aus. Erstmals prallte das Selbstverständnis der Macher brüsk ab bei den Grünen Frauen auf dem Weg zur Macht. "Zum ersten Mal in der Geschichte haben Frauen in einer Fraktion die Führung übernommen", sagte Antje Vollmer nicht ohne einen gewissne Stolz.
Dabei kam es den Grünen-Frauen gar nicht darauf an, die Männer zu entmachten. Der Spiegel betitelte damals seinen Bericht über den Wahlsieg der sechs Frauen mit der Überschrift "Spitze entmannt" und traf damit den Nerv männlicher Machtvorstellung. Die Kollegen der "sechs tapferen Schneiderleininnen" (Antje Vollmer, Waltraud Schoppe, Annemarie Borgmann, Heidemarie Dann, Erika Hickel und Christa Nickels) waren sichtlich verschreckt. Der abgesägte Otto Schily sprach vom "falschen Weg einer geschlechtsspezifischen Lösung". Und der Ex-Fraktionsgeschäftsführer Joschka Fischer flüchtete sich in zynische Sprüche über "die gequetschten Schwanzträger". Der Alt-Sponti erkannte gleichwohl die Stoßkraft der Bewegung: "Jene letzte Burschenschaft namens Bundestag vergeht seitdem in ängstlicher Häme über den Weiberrat der Grünen, denn, meine Güte, wo kommen wir denn hin, wenn dieses Beispiel Schule macht . . . Unser Weiberrat wird es nicht leicht haben, denn er (er!) wird sowohl mit den sattsam bekannten Vorurteilen der Bonner Versammlung zu kämpfen haben als auch mit den zurückgestellten Bedenken. Ambitionen und Ehrgeizen grüner Klemmchauvis, ganz zu schweigen von den ungelösten und verdrängten politischen Problemen der grünen Bundestagsfraktion." Fischers Einsicht folgte aber sogleich eine Verniedlichung, so, als würde es sich hierbei nur um ein Puppenstück handeln: "Zudem ist es schon ein Genuss, die allgemeine Verunsicherung der Republik durch die grüne Weiberherrschaft zu erleben." Männer-Sprüche.
Bei den Frauen hingegen hörte sich das anders an. Christa Nickels (1998-2001 parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit), auch nicht auf den Mund gefallen: "Mir hat jemand am Abend der Wahl gesagt: Jetzt haben die Frauen die Herrschaft übernommen: Nicht die Herrschaft, sondern die Arbeit." Die Grande Dame des Deutschen Bundestages, Hildegard Hamm-Brücher (Staatsministerin im Auswärtigen Amt 1976-1982, FDP-Austritt 2002), begeisterte sich: "Eine tolle Sache, damit kann ich mich nur solidarisieren." Die CSU-Abgeordnete Ursula Männle gratulierte Waltraud Schoppe zum Erfolg. Die Sozialdemokratin Anke Fuchs fand, was da passierte, "ganz prima". Frauen-Solidarität.
Mit dem Feminat sollte ein anderes Politik-Stil entwickelt werden. Statt Konkurrenzneid und Profilierungssucht - Kooperation und Kollegialität. Es war der Versuch, Politik mit anderen Mitteln zu betreiben. Staat des Kriegs der Prominenten und Karrieristen um Fernsehauftritte und Zeitungsmeldungen ging es um das uneitle Engagement, um richtige Lösungsvorschläge. Antje Vollmer bekannte schon damals freimütig, dass sie keine Lust habe, ein Polit-Star zu werden. "Ich habe aber ein unheimliches Interesse, dass sich Frauen in ähnlicher Situation, in der wir alle mal gewesen sind. in uns wiederfinden. Von daher denke ich, dass wir unheimlich große Wirkungen haben werden auf die Entwicklung von Frauen, dass sie lernen, sich Sachen zuzutrauen, die sie sich vorher nicht zugetraut haben."
Der Unmut der Grünen-Frauen jener Partei, wo vieles in der Praxis anders ablief, doch einiges nur auf dem Papier, war groß. Denn im Bonner Männer-Domizil bildeten die Grünen-Männer keine Ausnahme. Machismo gab es links wie rechts. Doch - erstmals in der Hauptstadt überhaupt - waren die Frauen nicht mehr bereit, den alltäglichen Chauvinismus der Männer hinzunehmen. Die angebliche Chancengleichheit bei den Grünen, so stellte die Frauengruppe der Grünen fest, sei "nur die Verschleierung der permanenten Unterdrückung von Frauen". Antje Vollmer profilierte sich als eine scharfte Kritikerin der männlichen Politikformen bei den Grünen. Joschka Fischer (Bundesminister des Auswärtigen 1998-2005) und der einstige Pariser Studentenrebell wie späterer Frankfurter Berufs-Sponti Daniel Cohn-Bendit sah sie als typische Repräsentanten an. Im Streitgespräch mit dem letzteren schimpfte sie: "Da braut sich doch etwas zusammen: Mackertum, männlich bestimmte Formen, Politik zu machen, sind an allen Fronten im Vormarsch." Sie sprach von der "Verhandlungstaktik nach Zocker-Mentalität". "Es ist für mich kein Zufall, dass dabei Männer den Ton angeben."
Als Synonym für überkommenes männliches Verhalten kreierte sie das Schlagwort von der "Fischer-Gang". Dahinter steckte kein Vernichtungswille, sondern eher die Lust, spielerisch Tendenzen auf einen Begriff zu bringen. Diese Suche nach neuen Wörtern, der Wille zut eigenen, unverbrauchten Sprache geht einher mit ihrer unverkennbaren Suche nach politischem Neuland. Der Begriff "Fischer-Gang" wurde die Parole zur Verteidigung der politischen Bedeutung des Feminats.
Die Frauen des Feminats suchten die Konfrontation mit jenem Typus von politisch aufgeklärtem, scheinbar durchsetzungsfähigerem Mann, der sie - allen Floskeln zum Trotz - wie einen netten Hausfrauenverein behandelte: Sie sind zur Genüge bekannt, diese unglaublich progressiven, innig verständnisvollen Repräsentanten ihres Geschlechts, die mit ihrem routinierten Wortgeklingel vor jeder Tür ihr Liedchen singen.
Die Grünen-Frauen wollten raus aus ihrer therapeutischen Rolle, die die Männer, Zweierbeziehungen geübt, so gerne den Frauen, mit ihrer "Naturbegabung zum Kompromiss", überlassen: zwischen den Fronten zu vermitteln, den Hitzköpfen die Hand zu reichen, den Kampfhähnen Wärme zu geben und wie eine Mutter da zu sein, wenn der Junge sich das Knie aufgeschlagen hat. In der Tat: Die medienpotenten Cracks der Grünen zogen sich den nach bürgerlichen Muster für ihre Auftritte maßgeschneiderten Anzug an, auch wenn sie sonst in ausgefransten Jeans herumliefen.
Die Mehrheit der Grünen nahm damals ein kritisches Verhältnis gegenüber einer möglichen Zusammenarbeit mit der SPD ein. In der Öffentlichkeit jedoch entstand ein anderes, verzerrtes Bild, das von Joschka Fischer und Otto Schily dominiert wurde, die sich schon damals als grüne Minister in einem möglichen Bundeskabinett Oskar Lafontaines (SPD-Vorsitzender 1995-1999) empfahlen. Antje Vollmer: "Schau Joschka Fischer und Waltraud Schoppe (Frauen-Ministerin in Niedersachsen 1990-1994) an. Sie bekommen ihre politischen Anliegen unterschiedlich deutlich rüber. Woran liegt das? Mit Qualitätsunterschied ist das nicht zu erklären. Er polarisiert, sie nicht. Polarisierung hat so per se einen höheren politischen Wert. Diese Medien haben ein größeres Interesse, Politik über Leute wie Fischer zu machen, als über Leute wie Waltraud. So wird mit uns Politik gemacht. Das hat für uns eine eigene Dynamik, wir laufen Gefahr, die Politik zu machen, die die Öffentlichkeit will." Die Medien für die Transportierung grüner Inhalte in die Öffentlichkeit zu nutzen, das stellte Antje Vollmer dagegen. Dem Feminat gelang es, Kampagnen gegen das Kraftwerk Buschhaus, gegen Dioxin zu initiieren und eine breitangelegte Initiative zur Deutschlandpolitik zu starten. Die Kraft resultierte aus der Geschlossenheit der Fraktion, um die das Feminat kämpfte.
Dabei kam es den Grünen-Frauen nicht darauf an, ihren politischen Stellenwert qua demonstrativer Negativ-Abgrenzung an den Männern in Bonn dingfest zu machen. Wenn sie sich mit ihnen anlegten, verfolgten sie stets konkrete Ziele. Antje Vollmer wehrte sich vehement dagegen, dass der Machtkampf bei den Grünen ausschließlich eine Auseinandersetzung zwischen Männern und Frauen sei. Sie wusste, dass es um die Macht ging und der Frauenvorstand bei den Grünen im Zentrum der Macht war. Damals äußerte sie: "Meines Erachtens geht es um eine Auseinandersetzung zwischen bestimmten Männern, die ein programmatisches, im Grunde genommen bürgerliches Politik-Modell anstreben, und Frauen wie Männer in der Fraktion, die an den grünen Grundsatzentscheidungen festhalten wollen, die sagen: Wir wollen keine Berufspolitiker und keinen Personenkult, sondern wir wollen in Form einer besonders solidarischen Zusammenarbeit oppositionelle ökologische Politik machen." Polarisierung, die Stärke der Männer - eben.
Der Kampf um die innerparteiliche Macht - das war für Antje Vollmer schon ein Kampf um den politischen Stil. Sie erinnert sich in diesem Zusammenhang an die Auseinandersetzungen und Aktionen der rebellierenden Studenten in der 68er Zeit. Damals hatten sich die Männer und Frauen in gleicher Stärke engagiert. Doch wer damals das Wort führte und in vorderster Front stand, das waren vor allem die Männer - Repräsentanten eines ganz bestimmten Stils. Diskussionen wurde nicht geführt, sondern an sich gerissen. Es dominierte eine unterschwellige Aggressivität. Die Frauen zogen den kürzeren.
Zweifellso hat Antje Vollmer ihre politische Prägung in den Jahren des Aufbruchs aus der restaurativen bundesdeutschen Enge, in der Studentenbewegung, erfahren. In jener Ära herrschte noch die Ansicht vor, junge Mädchen sollten lieber nicht aufs Gymnasium gehen. Ihre dürftigen Bildungs- und Berufschancen sollten nur eine garantieren: den Erhalt von Heim und Herd. Eine Generation lief sich die Hacken ab, um aus der vermiefen Heuchelei der Wirtschaftswunderkinder auszubrechen. Und Antje Vollmer war dabei. Im Streitgespräch mit einem Helden des Mai '68, Daniel Cohn-Bendit, das politische Enfant terrible der vereinigten Spießer, beschrieb sie, wo dieses Dabeisein ein Ende hatte - bei den Straßenkämpfen: "Ich habe die aus der Studentenbewegung noch in genauer Erinnerung. Wenn sich eine bestimmte Militanz auf der Straße breitmacht, können die Frauen bestenfalls das Hinterland darstellen, aber keinesfalls in der ersten Reihe mitkämpfen. Ich stehe doch bei solchen Demonstrationen angstschlotternd am Ende der Straße, wehrlos. Männer bestimmten die Auseinandersetzung. Wenn das zur Hauptform politischer Auseinandersetzung wird, haben Frauen nichts mehr zu bestellen."
Die Erfahrung und ihre Folgen. Es blieb das Wissen um einen Zensor, der die politische Kultur dominiert. Das Faustrecht von gestern wurde die Rhetorik von heute. "Wenn ich eine Rede schreibe zum Beispiel, habe ich natürlich die Stellen im Kopf, an denen Joschka Fischer lächelt oder Thomas Ebermann (ehemals Kommunistischer Bund, 1987/1988 Fraktionssprecher der Grünen im Bundestag) abwinkt. Der männliche Stil ist als Zensor im Kopf." Ihre Eindrücke haben sich im Laufe der Jahre erhärtet. 1987 veröffentlichte sie in der Tageszeitung ihren Aufruf "Boykottiert das Hauptquartier", der die Auseinandersetzung um die Krise der Grünen Partei eröffnete.
Letztendlich bildete dieser Aufsatz für eine kritische Bestandsaufnahme der grünen Bewegung - was sie wollten, was sie wurden . Mit den Fundies und Realos hatten sich in der Partei schon längst zwei Blöcke gebildet, die um die Meinungsführerschaft erbittert kämpften. Das heißt: statt um den Konses um Mehrheiten. Antje Vollmer sah neue Götter auf den linken Hausaltären. Sie schlug sich auf die Seiten der Schwachen, nämlich der Basis, der wortlosen Minderheiten und prangerte den Niedergang jenes grünen Elans an, der einst für alle charakteristisch war und nunmehr nur noch einzelne beschwingte. Warum sollen Ebermann und Schily als Sprecher gewählt werden? Antwort: Weil jedermann sofort darauf kommt, dass sie die Sprecher sind! So war das. "Selten habe ich mich so wütend und so ohnmächtig gefühlt", klagte die Ketzerin.
In Distanz zu den tagespolitischen Themen stellte sie die Frage nach den grundlegenden Vorstellungen der Grünen, der Linken und Alternativen. Es war ein Appell an alle, jene produktive Unruhe wiederzufinden, ohne die eine Bewegung im parlamentarischen Trott erstarrt. Bekanntlich war Antje Vollmer, die frisch vom Land kam, von den in Beton gegossenen Parteizentralen wenig angetan. Mit zunehmender Verblüffung musste sie feststellen, wie sehr sich manche Gleichgesinnten der neuen Umgebung anglichen, der Beton der Macht an ihnen fraß, bis hin zut "Betonisierung des Kopfes der Parteispitze". - Politische Werdegänge.
Aber etwas zu erkennen und zu wissen, damit gibt sie sich nicht zufrieden. Mit Hartnäckigkeit und treffsicherern Stichworten rückt sie an gegen zementierte Verhältnisse, gegen die Elitebildung innerhalb der Partei. Typisch: Wer Antje Vollmer über Jahre ihres politischen Wirkens beobachten konnte, lernt sie schätzen: ihren klärenden Rigorismus und ihre hoffnungsgetragene Kampfbereitschaft, die direkt zur Sache geht, wenn es um die Sache geht. Im lauthalsigen Polit-Geschäft dieses Jahrzehnts ist Antje Vollmer eine Ausnahmeerscheinung, Ihr Engagement in ihrer Arbeit zeigt, wie eine Frau, die ihre Kampfbereitschaft nicht wie ein Markenzeichen vor sich herträgt, mit analytischem Blick und Sensibilität eine beachtliche Resonanz erzielt. Für sie ist Parlamentarismus nicht nur konformes Abstimmungsverhalten, sondern der Versuch, Meinungs- und Denkprozesse der Menschen aufzunehmen. Dafür steht sie ein, eine Eigenbrötlerin, die Spuren hinterlässt.
Zeiten der Selbstfindung der Grünen-Frauen: Wechselbäder zwischen Resignation, Ohnmacht und Aufbruch. Auf ihrem "feministischen Ratschlag" im November 1989 in Bonn setzte sich die Erkenntnis durch, dass auch die Grünen eine "stinknormale chauvinistische Partei" sei, ohne ernsthafte frauenbewusste Politik. Eine Partei , in der die Macher vor den Trümmern das Sagen hatten. Folgerichtig kehrten die engagierten Frauen um Regina Michalik der Partei den Rücken, gingen dorthin zurück, woher sie gekommen waren: in die autonome Frauenarbeit. Auf dem "feministischen Ratschlag" in Bonn gewann auch die Erkenntis an Boden, dass die neuen Frauen an der Macht von den herrschenden Spielregeln vereinnahmt würden. Das Grüne Haus begann zu bröckeln. Der Erosionsprozess der ökologischen Bewegung entzündete sich an den Frauen. Es waren aber grüne Mandatsträgerinnen, die nach der Einführung der Frauenquote von einem "Rollback der Männer" sprachen, davon, dass die Frauenquote die Qualität der Politik kaum verändert habe.
Über dieses Klima zwischen Protest und Karriere, Unbeugsamkeit und Anpassung schrieb Jutta Ditfurth (Bundesvorsitzende der Grünen 1984-1988) später, im Jahre 1989, unter der Überschrift "Profiteure in der Flaute" in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit:
"In unserem alltäglichen politischen Alltag knallten Ansprüche auf die Praxis, Den Kopf voll mit Simone de Beauvoirs (*1908+1986) 'Das andere Geschlecht' beobachtete ich irritiert, wie Männer in studentischen Teach-ins Reden schwangen und sich, zurück in den Bänken, von Freundinnen den Nacken kraulen ließen. Bei den seltenen Reden der Frauen stieg der Geräuschpegel demonstrativ. Aus vielen offensichtlichen Widersprüchen dieser Kulturrevolte wuchsen die Wurzeln für die erfolgreichen Bewegungen der siebziger Jahre. Wir lernten ... Mir wird schwindelig von der Geschwindigkeit, mit der Leute, ihre eigene Geschichte fanatisch leugnend, in all den Jahren von links nach rechts an mir vorbeirasen. Da kungeln sie nun rosa-grün, müde, zynische Männer zwischen vierzig und fünfzig, im Bierkeller oder im Schloss. Ihnen gegenüber SPD-Apparatschiks wie Karsten Voigt (seit 1999 Koordinator der deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit), Wolfgang Roth (Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank 1993-2006) oder Gerhard Schröder (Bundeskanzler 1998-2005) aus der ersten Anpassungsgeneration der APO . . .
Seit die Grünen am Tropf der Harmoniesucht hängen, trudeln sie in den Sumpf der Mittelmäßigkeit, dessen Ufer alle rechts liegen . . .
Gerade die, die gestern Marx und Lenin auswendig aufsagten, anstatt sie zu verstehen und weiterzuentwickeln, werfen denen, die noch Linke sind und selten Dogmatiker waren, die eigene Vergangenheit vor. Wie sie Marx vergötzten, den ich schätze, so beten sie heute mit zunehmender Entschlossenheit, zum goldenen Kalb kapitalistischer Marktwirtschaft. Sie grenzen wie Antje Vollmer am liebsten nach links aus und öffnen sich nach rechts. Was ist auch schon die Utopie sich befreiender Menschen gegen einen warmen Platz im Kreis bürgerlicher Honoratioren? Die Grünen werden zur persönlichen Beute. Eine Idee, die wahrhaftig zur persönlichen Bereicherung gedacht war, stirbt . . .".
Am Ende der Feminatszeit 1985 - Antje Vollmer hatte infolge der anstehenden Rotation ihr Bundestagsmandat niedergelegt - holten sie die Folgen des 'Deutschen Herbstes 1977' ein. Das Schicksal der RAF-Gefangenen hat Antje Vollmer nie losgelassen: "Es konnte mir nie gleichgültig werden - selbst wenn ich es gewollt hätte." Gemeinsam mit ihrer Freundin der Grünen-Bundestagsabgeordneten Christa Nickels, schrieb sie einen Brief an die inhaftierten RAF-Mitglieder - ein Zeichen, auf einander zuzugehen. Regelmäßig besuchten die beiden Frauen RAF-Gefangene, die sich vom Terrorismus losgesagt hatten. Sie bemühten sich, Hafterleichterungen und Haftverkürzungen durchzusetzen. Und sie versuchten, mit denen ins Gespräch zu kommen, die noch stur auf der Linie der RAF waren. Antje Vollmer hoffte herauszufinden, "ob die Hardliner unter Umständen nicht bereit waren, andere Wege einzuschlagen. Das heißt keineswegs: Amnestie für alle. Aber wenn unsere Gespräche einen Sinn haben sollten, dann müssen wir denen genauso etwas abringen wie der Gesellschaft. Wir versuchten, unsere Erfahrungen mit dem gewaltfreien Widerstand zu vermitteln. Gerade wir Grünen müssen nach Methoden suchen, wie wir der Gewalt der Militanten gewaltfreien Widerstand entgegensetzen."
Verständlich, dass eine Einzelkämpferin wenig auszurichten vermochte. Antje Vollmer hatte sich vielk vorgenommen, vielleicht zu viel, obwohl ihr die Medien für die von ihr angestrebte neue Nachdenklichkeit breiten Raum gaben. Dabei nahm sie in Kauf, bei ihren fast ausweglosen Vermittleraktivitäten für naiv und lebensfern gehalten zu werden. Ein Vorwurf, den sie offensiv ins Positive zu verkehren suchte. "Naivität ist unsere Waffe", diktierte sie den Bonner Journalisten in ihre Schreibblocks, Es war ihr damaliger Fraktionskollege und einst prominenter RAF-Verteidiger Otto Schily (SPD-Übertritt 1997, Bundesminister des Inneren 1998-2005), der ihr in den Rücken fiel. Er wollte den Dialogversuch der beiden Politikerinnen keineswegs als "Christenpflicht" gewertet wissen. Im Gegenteil, Otto Schily warf ihnen vor, "großen politischen Schaden angerichtet" zu haben. Es sei "unverantwortlich", so Schily in einer Presserklärung, "in nahezu devotem Ton gegenüber Personen, die in gewissenloser und aberwitziger Realitätsverkennung Mord und Gewalt propagierten und praktizierten, um Gespräche zu ersuchen."
Antje Vollmer ließ sich nicht beirren. "Wir haben mit vielen Politikern und mit vielen Gefangenen darüber geredet oder zu reden versucht. Die Wahrheit ist: Es gibt seit Jahren kein einziges Lösungskonzept außer dem, das Ulrike Meinhof (*1934+1976) ein halbes Jahr vor ihrem Selbstmord - am 9. Mai 1976 - in Stuttgart-Stammheim geschrieben hat."
In der Tat waren es Worte der Ausweglosigkeit. Ulrike Meinhof: "Wie kann ein isolierter Gefangener den Justizbehörden zu erkennen geben, angenommen, dass er das wollte, dass er sein Verhalten geändert hat? Wie? Wie kann er das in einer Situation, in der bereits jede, absolute jede Lebensäußerung unterbunden ist? Dem Gefangenen in der Isolation bleibt, um zu signalisieren, dass er sein Verhalten geändetz hat, überhaupt nur eine Möglichkeit, und das ist Verrat . . . Das heißt, es gibt in der Isolation exakt zwei Möglichkeiten: Entweder sie bringen einen Gefangenen zum Schweigen, das heißt, man stirbt daran, oder sie bringen einen zum Reden. Und das ist Geständnis und der Verrat. Das ist Folter, exakt Folter . . .".
Zur Erinnerung: Am 1. Februar 1989 gingen 50 Gefangene der RAF abwechselnd und gemeinsam in den Hungerstreik, sie forderten Zusammenlegung und humane Haftbedingungen. Doch die Länder-Justizminister blieben hart. Antje Vollmer warf den verantwortlichen Politikern vor, eine Chance, den Hungerstreik zu verhindern und somit die Lage in den Gefängnissen zu entspannen, vertan zu haben. Im Klartext: Der "gesellschaftliche Dialog" sie am Desinteresse der Politiker kläglich gescheitert.
Für Antje Vollmer, die sich selbst als Partisanin bezeichnet, die aus den eingefahrenen Rechts-links-Schablonen auszubrechen versucht, war diese Erfahrung nicht neu. Doch sie kennt ihre Stärken: "Es ist zwar ein Vorteil, dass ich langfristig und hartnäckig an einer Geschichte dranbleibe, mich nicht von aktuellen Erfordernissen antreiben lasse. Die Kehrseite ist aber meine Schwäche, dass ich nur schlecht etwas beiseite legen kann, was ich mir einmal vorgenommen habe. Diese Zähigkeit bedingt meine Art von Unbeweglichkeit. Und das kostet eben viel Kraft. Denn in einer aussichslos erscheinenden Situation ist es ja nicht ausgemacht, dass man nicht weiterkommt."
Sie will keine falsche Sicherheit, weder bei sich noch bei anderen. Sie möchte Zweifel wecken an starken Urteilen, das Denken in Bewegung setzen. Die Hoffnung, dass ihr dies gelingt, treibt sie voran. Aber es gibt Situationen, "in denen ich mich auf weiter Flur verloren fühle, was ja nicht ganz stimmt. Denn gute Freunde gibt es ja. Doch das Gefühl ist nachhaltig da, meistens ohne einen direkten Auslöser: allein gefressen zu werden. Daraus entsteht dann meine Art Bockigkeit, es packen zu wollen, die Stimmung, es doch irgendwie zu schaffen. Ich rede mir dann ein, dass meine Vorhaben ohne Risiko seien. Schwäche ist in Wirklichkeit eine Form der Stärke, wenn es einem gelingt, dieses Schwachsein auszuhalten." Diese Einsicht unterscheidet Antje Vollmer von Politikern wie Otto Schily. Dieser Typus riskiert sich selbst nicht so stark, kalkuliert den Einsatz seiner Identität genauer.
Die Frage war Antje Vollmer schon immer präsent, woher ihre Besessenheit komme, etwas in Bewegung zu setzen, keinen Stillstand zuzulassen. Die damalige Konstellation bei den Grünen polarisiert die Partei in zwei fest unversöhnliche Lager. Diese Partei ähnelte einem Schlachtfeld der harten Flügelkämpfe, die viele resigniert zum Austritt oder in den Ohnmacht trieben. Die Grünen, die sich als eine Partei des Jugendprotestes begriffen, verloren im Dauerstreit um Posten und Programmpunkte vornehmlich die Jugend weitgehend aus dem Blickwinkel. Vor der Bundestagswahl 1980 bis zur Wahl 1987 sank der Anteil der 18- bis 25jährigen bei den Grünen -Wählern von 43 auf 23 Prozent. Der Anteil der Erstwähler schrumpfte gar von 20 auf 6 Prozent. Die damalige Vorstandssprecherin der Grünen, Verena Krieger (Grünen-MdB 1987-1989): "Ich habe vor zehn Jahren als Jüngste angefangen und bin heute immer noch die Jüngste." - Gemeinsam mit großen Teilen des linken Flügels verließ sie 1990 die Partei.
Mit der Gruppe Aufbruch '88 wollte Antje Vollmer die Grünen aus ihrer Lethargie herausholen. Die Spaltung der Grünen geisterte damals durch so manchen Kopf. "Wir befanden uns alle in einer äußerst kritischen Situation, die durch eine bedrohliche Entfernung von den gesellschaftlichen Problemen und Zerstörungen von Zukunftshoffnungen gekennzeichnet war." Der Zeitpunkt schien überfällig, eine Bilanz der acht Jahre Parteiarbeit zu ziehen, auch unter Verarbeitung des Praxisschocks, den die Grünen in den Jahren im Parlament erlitten hatten. "Viele Mitglieder retteten sich in die Routine, und die Parteigremien ähnelten mehr einer Ansammlung von Strömungsvorsitzenden. Wir mussten raus aus diesen Flügelkämpfen zwischen Realos und Fundis. Wir brauchten eine Kulturrevolution - dringender denn je." Mit dem Manifest, das die Gruppe '88 zur Urabstimmung stellen wollte, sollte eine verbindliche, von allen Mitgliedern der Partei legitimierte und damit richtungweisende Vorentscheidung für die Weiterentwicklung grüner Programme und für die Neugestaltung grüner Parteistrukturen herbeigeführt werden. Die Urabstimmung war ein Signal in der Demokratisierungsdebatte, die so exemplarisch war wie die Diskussion über die Quotierung der Frauen.
Antje Vollmer wurde damals von vielen als versöhnlerisch kritisiert. Doch es blieb etwas hängen: In der Frauen-Arbeit setzte sie neue Schwerpunkte, die über die Feminismus-Debatte hinausgingen - Erwerbsarbeit und Arbeitszeitverkürzungen sollten in der neuen Mütterpolitik auf einen Nenner gebracht werden. "Als der Startschuss für den Aufbruch '88 gegeben wurde, da fragte ich mich dann nicht mehr nach dem Erfolg - ich sah nur unser Engagement. Rückblickend kann ich sagen, dass der Aufbruch '88 - trotz der gescheiterten Urabstimmung - für die Grünen wichtig war und noch ist. Gerade an den Bedingungen der einstigen Opposition in der DDR sehen wir, was hier auch sein könnte und warum die Bundesrepublik ein demokratisches Entwicklungsland
ist." -
Regelmäßig inszeniert Antje Vollmer seither einen lauten Generalangriff auf die Partei. Zwei Jahre nach dem Aufbruch klagte sie den überfälligen Generationswechsel ein. Er habe nicht stattgefunden; nun müsse über "Filz" und die "Nomenklatura" innerhalb der Grünen gesprochen werden. Ein Jahr später forderte Antje Vollmer ihre Mitstreiter zu einem generellen Neuanfang unter dem Motto "Deutscher Umbruch" auf. Antje Vollmer empfahl ihrer Partei, sich im vereinten Deutschland den Bürgerbewegungen zu öffnen, schließlich seien sie es gewesen, die den einstigen Ostblock nachhaltig verändert hätten.
Über Resonanzen ihres politischen Engagements kann sich Antje Vollmer nicht beklagen. Trotz ihres politischen Erfolgs wird sie der Politik erst einmal den Rücken kehren und nciht in das erste gesamtdeutsche Parlament geben. Für manchen Außenstehenden mag ihr Entschluss unverständlich sein. Doch für sie steht fest, wer die Politik nicht verlassen kann, der wird unmerklich seiner Sprache, seines Denkens und seiner Gefühle enteignet: "Viele Frauen haben eine andere Einstellung zu Macht und Mandat. Sie gehen nicht in dem Maße eine Symbiose mit der Politik ein wie so viele Männer, die nur noch ihre politische Karriere im Kopf haben. Die Frauen wissen, dass sie ein Mandat auf Zeit haben, und verlieren deshalb nicht die Verbindung zu den alten Lebenszusammenhängen."
Für Antje Vollmer gibt es vor allem einen Grund, warum sie sich von der Hauptstadt vorerst verabschieden will. "Als ich in die Politik ging, war mein Sohn Johann gerade vier Jahre alt. Mittlerweile ist er zwölf. Wenn ich nochmals vier Jahre im Parlament bleibe, dann hätte ich wirklich kein Kind haben sollen. Es ist in meinem Leben keine Randfigur. Hinzu kommt, dass meine Rolle bei den Grünen zusehends intensiver wird. Ich kann Kind und Politik nicht so einfach verbinden. Andere schaffen das vielleicht. Ich nicht."
Ihr zentrales Anliegen ist, Frauen Hoffnungen zu vermitteln, Zutrauen, in die Offensive zu gehen. Das gehört zum festen Bestand ihrer Überzeugungen. Über die SPD-Frauen schrieb Antje Vollmer in der Vorwärts-Ausgabe, die zum 125jährigen Jubiläum der Sozialdemokratie erschien. Sie verglich die SPD-Frauen vor allem mit den Frauen der Grünen - unter der Überschrift "Die letzte intakte deutsche Großfamilie und ihre Frauen". Großfamilie bedeutete einmal Sicherheit, dann Angst, wenn man sie verläßt. "Für Frauen ist das komplizierter. Einerseits müssen sie den Druck der SPD-Großfamilie aushalten, andererseits haben sie schon bestimmte Funktionen übernommen. Gleichzeitig kehren die Frauen, die in die Politik, dieser Großfamilie den Rücken. Sie leben mit der Fähigkeit des Verlassenkönnens und de Eigene-Wege-gehen-Könnens. Sonst wären sie hier in Bonn nicht ange- kommen."
Nur: in Bonn, ihrer Fluchtburg sozusagen, holt sie die Großfamilienstruktur der SPD wieder ein. Der Unterschied zu den Frauen der Grünen ist für Antje Vollmer trotz der Quotenregelung beträchtlich. Wenn die SPD-Frauen Erfolg haben wollen, müssen sie sich der Männer-Zustimmung vergewissern. So waren jedenfalls bisher die Frauen-Karrieren in der SPD angelegt. Die Grünen-Frauen hingegen akzeptieren den Mann als eine Art Zensor im Kopf nicht mehr.
Rückblickend auf die Jahre in Bonn, möchte sie nicht behaupten, auf einen unfruchtbaren Acker geflügt zu haben. Bonn hatte ja immer den Vorteil eines Mediums für ihre Botschaften an die Öffentlichkeit. Das Feminat der Grünen, die Quotenregelung in der SPD, überhaupt die zunehmende Frauen-Präsenz im Parlament bis hin zu den Anstößen in die CDU/CSU-Fraktion hinein sind letztlich durch die grünen Botschaften in Bewegung geraten. Ohne diesen Frauen-Aufbruch hätte es nie einen direkten Draht zwischen der feministischen Frauen-Zeitschrift Emma bis hin zu den katholischen Frauen gegeben. Ohne diesen Frauen-Aufbruch wäre das politische Agieren der Rita Süssmuth - ob als Familien- und Frauenministerin oder als Bundestagspräsidentin - so nicht denkbar gewesen.
Antje Vollmer: das ist die Polit-Revolution in Permanenz - ein Aufbruchkonzept von unten. Es hat sein Motto:
"Meine Mutter Rebekka Jakobowsky hat immer zu mir gesagt. es gibt im Leben immer und überall mindestens zwei Möglichkeiten. Niemals, sagte der Oberst, für einen Mann von Ehre gibt es immer nur eine einzige Möglichkeit. Eben, sagte Samuel Jakobowsky." - Der Frauen-Aufbruch hat erst begonnen.