Donnerstag, 27. Juli 1978

Die bösen Geister in Deutschland




Deutschland in diesen Jahren. Das passiert ganz unspektakulär in dieser Republik, vergiftet das ganze Land. Auf der manischen Suche nach Radikalen spähen Verfassungsschützer Pastoren aus, bespitzeln Schüler ihre Lehrer, Bürger denunzieren ihre politischen Gegner von neben an, Betriebe durchleuchten die politische Gesinnung ihrer Arbeiter. Und selbst Linke verpfeifen immer wieder andere Linke. Brunnenvergiftungen vielerorts. Einschüchterungen ... ...

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stern, Hamburg
27. Juli 1978
von Reimar Oltmanns
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Für Alt-Nazi Kurt Ziesel (*1911+2001) , Herausgeber des ultrarechten "Deutschland-Magazin", sind Schriftsteller wie Heinrich Böll und Günter Grass "die geistigen Bombenwerfer". Der konservative Publizist Matthias Walden (*1927+1984) darf mit höchstrichterlicher Billigung weiter behaupten, Böll habe den Boden des Terrrorismus bereits durch "den Ungeist der Sympathie mit den Gewalttätern gedüngt". Gerhard Mayer-Vorfelder, Finanz-Staatssekretär in der Stuttgarter Landesregierung (1974-1976), hat den Nobelpreisträger Heinrich Böll aufgefordert, "das Land zu verlassen". Bremens CDU-Fraktionschef Bernd Neumann will für die exaltierten Verse des Lyrikers Erich Fried gleich die Endlösung; "Gedichte, wie die von Fried, gehören eigentlich verbrannt."

FEINDE ODER FREUNDE

Der CDU-Pauker Neumann, ein Radikaler im öffentlichen Dienst, der nicht vom Radikalenerlass betroffen ist, beweist, wie weit es nach sechs Jahren Radikalenerlass gekommen ist. Der radikale Erlass hat nicht nur über zwei Millionen junge Leute der Gesinnungsüberprüfung unterworfen und über 4.000 Bewerbern
für den öffentlichen Dienst Berufsverbot eingebracht. Die geistigen Auswirkungen der Berufsverbote haben auch das politische Klima der Bundesrepublik nachhaltig vergiftet. Unter dem Vorwand, der Staat müsse gegen Linksextremisten geschützt werden, treiben Verleumder und Denunzianten in allen Gesellschaftsbereichen ihr Unwesen. Zu ihren Opfern werden Lehrer, Pennäler oder Elternräte in den Schulen, Professoren an Universitäten, Manager, Angestellte und Betriebsräte in den Unternehmen, Pastoren und Gemeindehelfer in Kirchen. Der Radikalenerlass sortiert sie zur Linken wie zur Rechten - danach gibt es nur noch "Feinde" und "Freunde" der Verfassung.

NACHZENSUR

Bei den Schulbüchern ist der Radikalenerlass um eine subtile Variante bereichert worden. Zwar war es immer schon üblich, neue Schulbücher im Genehmigungsverfahren der Ministerien auch daraufhin abzuklopfen. ob ihre Inhalte die "freiheitliche demokratische Grundordnung" (FDGO) bejahen. Doch in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz werden seit 1975 immer mehr bisher erlaubte Lesestoffe einer rigorosen Nachzensur unterworfen.

Dabei handelt es sich nicht etwa um die antiquierte Geschichtsschreibung, die teilweise immer noch von den "polnisch besetzen Gebieten" zwischen Oder und Neiße ausgeht (Auer Verlag, Donauwörth, 1974) , sondern um bundesdeutsche Zeitgeister, die sich einen gesellschaftskritischen Blickwinkel angeeignet haben.

BIERMANN, FICHTE, FRIED UND CO.

So war "Brenders Deutsches Lesebuch, Bände 1-5", an den Gymnasien fast aller Bundesländer - auch in Bayern - eine Art Pflichtlektüre. Mit Schreiben vom 28. November 1977 forderte das bayerische Kultusministerium den renommierten Crüwell-Verlag in Dortmund auf, mehrere Texte auszumerzen, anderenfalls könne das Buch nicht mehr als Unterrichtsmaterial verwendet werden.

WEIHNACHTSMÄNNEROSTERHASEN


Anstoß genommen hatten die Münchner Kulturhüter an Wolf Biermanns "Ballade von dem Briefträger William L. Moore aus Baltimore". Im Untertitel heißt es: "Er protestierte gegen die Verfolgung der Neger, er wurde erschossen nach einer Woche." Biermanns Dichterkollege Hubert Fichte verärgerte die Bayern mit einer lyrischen Groteske über Festtags-Konsum: "Wenn die Weihnachtsmänner umgepresste Osterhasen sind, dann sind die Osterhasen umgepresste Weinachtsmännerosterhasen." Ein Essay des in London lebenden österreichischen Lyrikers Erich Fried (*1921 +1988) flog raus, weil es darin heißt: "Zu den Steinen hat einer gesagt: seid menschlich. Die Steine haben gesagt: Wir sind noch nicht hart genug." Auch eine harmlose Industrie-Reportage von Günter Wallraff passte nicht in die bayerischen Lehrpläne.

GESINNUNGS-TÜV

In Rheinland-Pfalz strich das Kultusministerium aus dem Buch des Frankfurter Hirschgraben-Verlages "Lesen - Darstellen - Begreifen", Ausgabe C für das 8. Schuljahr, Beiträge von Schriftstellern wie Bernt Engelmann ,(*1921+1994), - "Der König von Saarbein", ein Beitrag über die soziale Lage der Arbeiter um die Jahrhundertwende - , Peter O. Chotjewitz ("Malavita") sowie des Liedermachers Franz Josef Degenhardt ("Wiegenlied und Deutscher Sonntag").

VORZENSUR

Die Regierung des Ministerpräsidenten Hans Filbinger (*1913+2007) in Stuttgart indes legte eine noch schärfere Gangart vor. Sie traut ihren Lehrern künftig keine eigene Beurteilung des Unterrichts mehr zu. Schuldirektoren sollen das Lehrmaterial neuerdings vorzensieren - wohlbemerkt für Pädagogen, die bereits beim Verfassungsschutz im politischen Gesinnungs-TÜV waren und mit der begehrten FDGO-Plakette versehen wurden. Dennoch sieht das Kultusministerium weiterhin die Gefahr, "dass Schüler einseitigen Versuchen der Indoktrination" ausgesetzt sind.

MUSTER-LÄNDLE

Mit dem Grundsatzbeschluss des baden-württembergischen Ministerrats vom 18. Oktober 1977 wurde im "Muster-Ländle" ein Verfahren eingeführt, wonach "die Lehrer die Verwendung ergänzender Unterrichtsmaterialien der Schulleitung" zu melden haben, "um Missbrauchskontrollen zu erleichtern". Gleichzeitig wurden die Eltern ermuntert, "Verstöße und Missbräuche" anzuzeigen. Jene Eltern, die eigentlich vertrauensvoll mit den Pädagogen zusammenarbeiten sollen, werden von Amts wegen als Aufpasser eingesetzt.

ZWANGS-SEXUALISIERUNG

Eine Aufgabe, die die bayerischen Katholikenräte schon freiwillig übernommen haben. In ihrer Zeitschrift "Die lebendige Zelle" fordern sie Eltern auf, gegen "Zwangssexualisierung" und "politische Ideologisierung" ihrer Kinder vorzugehen. Was für die Katholikenräte im Schulalltag bedeutet: Eltern sollen die im Unterricht verwandten Texte als "Beweisstücke" ans Kultusministerium schicken, wenn ihnen irgendein Inhalt suspekt erscheint.

Die durch die Radikalen-Debatte ausgelöste und durch konservative Politiker geschürte Ängstlichkeit, die Schulen könnten bereits von "verfassungsfeindlichen Lehrern" unterwandert sein, hat im niedersächsischen Regierungsbezirk Osnabrück ebenfalls zu einem generellen Beschluss der Schulräte geführt, die damit die Anzeigepflicht verdächtigter Pädagogen festgelegt haben. Darin heißt es: "Bei Bekanntwerden von nicht verfassungskonformen Aktivitäten ist sofort Meldung zu erstatten, insbesondere dann, wenn solche Aktivitäten in Form von ideologischer, unmoralischer oder glaubensfeindlicher Beeinflussung im Unterricht festgestellt werden." Ob Eltern, Schulräte oder gar die Regierungen den Unterricht engagierter Lehrer mit "nachrichtendienstlichen Mitteln" ausspähen - der SPD-Politiker und Ex-Studienrat Erhard Eppler (1968-1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit) sieht schon seit längerem einen klaren Trend zur Resignation: "Es ist in manchen Lehrerzimmern schon ruhig geworden. Manche Pädagogen ziehen es vor, ihre Ansichten zu verschweigen, weil ein Klima des Misstrauens, der Heuchelei und der Unfreiheit herrscht."

AKTION: SCHULBUCH

Dem vorausgegangen war im Frühjahr 1977 eine bundesweite "Aktion Schulbuch" des CDU-Wirtschaftsrates. Unter dem Motto "Wachsamkeit - Preis der Freiheit " (Seite 1) oder "Machen Sie mit bei der Verteidigung unserer Ordnung" (Seite 2) forderten die CDU-Unternehmer Schüler, Eltern und Freunde auf, in einen Fragebogen "bedenkliche Buchpassagen" aus dem Unterricht und den Namen des Lehrers einzutragen. Denn für den Initiator, CDU-MdB Philipp von Bismarck (*1913+2006), "geht der Marsch durch die Linken auch durch die Schulen und Schulbücher". Was ihn stört: sozial engagierte Lehrstoffe oder die Verwendung des Kürzels "BRD" für "Bundesrepublik Deutschland".

"DIFFAMIERUNG - DENUNZIERUNG"

Parallel zum CDU-Wirtschaftsrat hatte außerdem eine Arbeitsgruppe des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) 270 Schullektüren durchforstet. Sie gab folgende Empfehlung: Zum "Bestandsschutz der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gegen emanzipatorische Schulbuchproduktionen" müsse insbesondere der Arbeitskreis Schule/Wirtschaft entgegenwirken, um die unter der Jugend verbreitete "ungesunde Skepsis und die dadurch entstandene Arbeitsunlust" abzubauen.

Und zu guter Letzt nahm sich das Institut der Deutschen Wirtschaft (IDW) 40 Sozialkundebücher vor. Seine Analyse: " Statt sachlicher Informationen enthalten viele Schulbücher klischeehafte, ungenaue Darstellungen, die durch Vorurteile genährt werden."

Das politische Ziel für die bundesdeutschen Unternehmer hat CDU-MdB Philipp von Bismarck (*1913+2006) in seinem Schreiben vom 15. März 1977 an die Mitglieder des CDU-Wirtschaftsrates abgesteckt. "Es geht uns darum, der weiteren Diffamierung und Denunzierung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in den Schulbüchern und anderen Lehrmaterialien nicht länger tatenlos zuzusehen. Wir wollen durch Eigeninitiative eine Tendenz zum Besseren mit herbeiführen. Die Stunde für eine solche Aktion ist in der gegenwärtig labilen bildungspolitischen Lage günstig ...".

AUFBRUCH PASSÉ

Vorbei ist es mit der Aufbruchstimmung, die vor zehn Jahren die Bildungspolitik erfasst hatte. Unter dem Begriff Chancengleichheit sammelten sich Pädagogikstudenten von damals, forderten Durchlässigkeit der traditionellen Schultypen von Gymnasium, Real- unmd Volksschule, engagierten sich für ein flexibles Kurssystem, das den einzelnen Schüler nach seiner individuellen Begabung fördert. Gesamtschulen entstanden, der Vorschul-Unterricht wurde populär, Deutsch avancierte für Gastarbeiter-Kinder zum Pflichtfach, und neue Lehrpläne sollten den Unterricht alltagsnäher und berufsbezogener gestalten (Gesellschafts- und Sozialkunde). In jeder Zeit ereignete sich in dem bildungspolitischen Entwicklungsland Bundesrepublik ein Novum: allmählich setzte sich auch Englisch als erste Fremdsprache an den Volksschulen durch.

IMAGE-FILME

Heute dagegen, so sehen es zumindest für Unternehmerverbände, sollen die Reformansätze wieder zurückgeschraubt werden. Um ihr Image an den Schulen zurechtzurücken, lässt die Industrie- und Handelskammer in Koblenz in den nächsten zwei Jahren zwölf Filme über die "Grundlagen der Marktwirtschaft" drehen. Kostenpunkt: 250.000 Mark; Vorführungsort: Gymnasien, Real- und Hauptschulen. "Ein richtungsweisendes und in der Bundesrepublik Deutschland einmaliges Projekt", schreibt Kammerpräsident Ludwig am 13. Mai 1978 an die Unternehmer. Außerdem können die Spenden "als Betriebsausgaben steuerlich geltend gemacht werden".

RÜSTZEUG DER UNTERNEHMER

Zum Rüstzeug der Unternehmer gehört ebenfalls ein Buch des Marktwirtschafts-Professors Wolfram Engels (*1933+1995) "Mehr Markt". Der CDU-Wirtschaftsrat kaufte gleich 10.00 Exemplare auf (Buchhandelspreis 16,80 Mark) und verschickte einen großen Teil als "gesellschaftspolitisch geeignetes Lehrmaterial an die Ortsverbände der CDU-nahen Schüler-Union, damit die Pennäler es mit andersdenkenden Lehrern aufnehmen können.

Und in kulturkämpferischer Manier warnte die "Niedersächsische Wirtschaft", das Verbandsorgan der Industrie- und Handelskammer Hannover/Hildesheim, Ausgabe Nr. 5/77 vor der neuen Schüler-Generation, die sich im Herbst 1977 bei den Firmen bewarb: "Man muss wissen, dass in Niedersachsen der erste Jahrgang der Gesamtschulen in die Betriebe zur Ausbildung drängt - ein Jahrgang der vielerorts Jahre planmäßig in Konfliktpädagogik trainiert worden ist von Lehrern, die sich nach eigener Aussage als Agenten einer totalen Gesellschaftsveränderung verstehen. Welche Saat wird in den Betrieben, die Gesamtschulabgänger aufzunehmen gedenken, aufgehen?

GRABENKRIEG DER ERWACHSENEN

Für manche Jugendliche ist der Grabenkrieg der Erwachsenen zum Vorbild geworden - und zwar in der Schule. An der hessischen Gesamtschule Friedberg verteilte die Junge Union Fragebögen an die Schüler: "Hast Du Respekt vor Deinem Schulleiter?" - "Kommst Du Dir als Versuchskaninchen vor?" - "Wirst Du von Deinem Lehrer politisch beeinflusst?"

In Hamburg hatte der 16jährige Johannes Barwinkel*, Aktivist der Jungen Union, nach einer Unterrichtsstunde zum Thema Terrorismus Fantasie und Wirklichkeit durcheinandergebracht. Er erzählte seinen Eltern - beide sind engagierte CDU-Leute -, sein Lehrer Wolfgang Breyer habe Formulierungen des früheren Anarchisten-Anwalts Horst Mahler (*1936 - Gründungsmitglied der terroristischen Rote Armee Fraktion [RAF] 1970, seit 2003 vorbestrafter Rechtsextremist und Antisemit) vorgelesen. Ohne Nachprüfung steckten die empörten Barwinkel der Hamburger CDU den "Terrorismus-Tip". Die Christdemokraten starteten daraufhin in der Vorwahlkampf-Phase der Bürgerschaftswahl 1978 im Hamburger Stadtparlament eine Große Anfrage. Die Opposition wollte vom SPD/FDP-Senat wissen, ob der Schulsenator endlich gegen Lehrer vorgehe, die Schüler "im linksradikalen Sinne indoktrinieren". Die Bild-Zeitung kam am nächsten Morgen mit der Schlagzeile heraus: "Skandal an Hamburger Gymnasium".

ALS RADIKALER SCHLAGZEILEN GEMACHT

Nur einer blieb ahnungslos: der betroffene Pädagoge Breyer. Er las an diesem Morgen keine Bild-Zeitung. Erst der Schüler Barwinkel klärte den arglosen Lehrer über seine taufrische Popularität auf: "Sie sind ja gestern in der Bürgerschaft groß als Radikaler erwähnt worden."

Die Folge der CDU-Anfrage: Lehrer Breyer geriet in den Schraubenstock der Schulbürokratie. Sein Quellenmaterial, seine persönlichen Aufzeichnungen wurden durchleuchtet. Gespräche mit Kollegium, Vortrag beim Direktor, Vorladung in der Schulbehörde. Monat um Monat verging. Der "Sympathisant Breyer hatte Angst: "Ich war verunsichert, denn ich wusste nicht, was aus meinem Fall wird."

Erst nach einem Vierteljahr rehabilierte die Schulbehörde den Pädagogen mit dem lapidaren Hinweis, er habe neben dem Spiegel auch das CSU-Organ Bayerkurier im Unterricht verwandt. Deshalb könnte von einer "linksradikalen Indokrination" nicht die Rede sein.

AUF EIGENE FAUST ANSCHWÄRZEN

In Düsseldorf ging die CDU-nahe Pennälertruppe "Bund Demokratischer Schüler" (BDS) vom Comenius-Gymnasium 1976 gleich direkt den Verfassungsschutz an. Der BDS-Vorstand machte im Jahre 1976 durch markige Sprüche auf sich aufmerksam, nachdem er sich entschlossen hatte, auf eigene Faust auf Radikalen-Hatz zu gehen.

Unter der Kampfparole "Gebt dieser linken Meute in Zukunft eine deutliche Absage" durchkämmten die Oberprimaner Schulklassen und Lehrerkollegium nach "Verfassungsfeinden". Ihr Anführer war der Schüler Hubertus Reygers.

RABATZ MACHEN

Als einmal DKP-Jugendliche und Juso-Schüler auf einer Versammlung gegen die CDU-Schüler Rabatz machten, liess Reygers Polizei in Mannschaftswagen anrücken. Er meldete auch ahnungslose Schulkameraden, die bei den Jungsozialisten mitmachten, dem Verfassungsschutz. Denn für ihn sind Juses "verkappte Kommunisten".

Im Herbst 1975 leitete Reygers Freund Christian Fischer über einen Mittelsmann ein Dossier an den Verfassungsschutz - und hatte in einem Fall Erfolg. Die Verfassungsschützer legten eine Akte über den linksorientierten Kunsterzieher Henning Brandis an. Vermerk des Verfassungsschutzes: "Anonym zugesandt".

BUNDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUZ

Als der Spitzelfeldzug ruchbar wurde, wandte Reygers sich auf einem CDU-Briefbogen ("sicher, sozial und frei") an die Öffentlichkeit. Unter der Überschrift "SPD-Ortsverein kämpft für Kommunisten" kündigte der CDU-Schüler weitere Denunziationen an: "Der Bund Demokratischer Schüler greift zum letzten gravierendsten, aber für jeden echten Demokraten völlig legitimen Mittel: er informiert das Bundesamt für Verfassungsschutz."

Die CSU-nahe Schüler-Union in München ermahnte den bayerischen Kultusminister Hans Maier (1970-1986), "verfassungsfeindlich eingestellte Lehrpersonen an der Bundeswehr-Hochschule zu überprüfen, denn Bundeswehr-Schüler haben ebenso wie andere Schüler das eigentlich selbstverständliche Recht auf einen ideologiefreien verfassungsbejahenden Unterricht".

Zum Beweis ihrer Vermutung präsentierten die Union-Schüler der Öffentlichkeit eine Dokumentation über den Bundeswehr-Hochschullehrer Karlheinz Geißler. Sie fasst Äußerungen zusammen, die der Professor vor bereits acht Jahren gemacht haben soll. Demnach hatte Geißler in seiner Streitschrift "Gegen die positivistischen Bestrebungen in der Pädagogik" Stellung bezogen und gefordert, dass sich der "Wandel des Selbstverständnisses der Pädagogen und Erzieher vom gesellschaftsstabilisierenden zum gesellschaftsverändernden Moment" hin entwickeln müsse.

Auch habe der Professor für das Publikumsorgan "Initiativgruppe Fachschafts- und Sozialpädagogen" verantwortlich gezeichnet - und zwar mit der Adresse des damals "linksextremen" Asta in der Münchner Leopoldstraße 15.

MITVATER WILLY BRANDT

Einer der Mitväter des Radikalenerlasses, Willy Brandt (*1913+1992), fürchtet inzwischen, die Bundesrepublik könne ein Land werden, "in dem der Vater dem Sohn misstraut, der Nachbar den Nachbarn beargwöhnt, die Organe des Staates die Bürger ausspähen". Indes: Die Wirklichkeit hat Brandts Besorgnis schon längst eingeholt.

Eingeholt, weil es für die Staatsspäher mittlerweile kaum noch einen Tabubereich gibt und ihnen kaum noch eine zweifelhafte Methode unzulässig erscheint. Für den baden-württembergischen SPD-Landeschef Erhard Eppler (1973-1981 ) "ist in der Bundesrepublik ein unheimlicher Prozess in Gang gekommen, der eine ganze Generation in Gegensatz zum demokratischen Staat zu drängen droht."

VON BERUF: SPITZEL

Schulkinder, die nur einen unkonventionellen Gedanken äußern oder sich radikal gebärden, laufen Gefahr, in den Computer des Verfassungsschutzes eingespeist zu werden. Bayern Innenminister Alfred Seidl (*1911+1993) hat zugegeben, dass etwa 250 Schüler in Geheimakten des Verfassungsschutzes stehen. Und sein Pressesprecher Frieling hat sogar eingeräumt, dass auch Schüler als Spitzel angeheuert wurden. Die Voraussetzung: Sie müssen volljährig sein. Dieses Kriterium erfüllte die inzwischen 20jährige Marianne Weiß aus München schon 1977. Dabei führte ihr Weg nicht direkt zum Verfassungsschutz, sondern zunächst zur Studienberatung der Universität München. Sie wollte nämlich wissen, welche Möglichkeiten es überhaupt noch für den ohnehin schon überlaufenden Lehrerberuf gibt. Marianne Weiß: " Mir wurde gesagt, wegen meiner Funktion als Schulsprecherin sei mit Sicherheit eine Akte beim Verfassungsschutz vorhanden, die mir wahrscheinlich keinen Chance gebe. Beamtin zu werden."

BEZAHLTE SCHLEPPERIN

Doch mit der Studienberatung in Sachen Radikalen-Erlass gab sich die blondgelockte Abiturientin nicht zufrieden. Sie ging zum Verfassungsschutz und wurde von einem "Herrn Speer" empfangen. Zwar bestritt Staatsschützer Speer die Existenz einer Akte, zeigte sich aber gleichwohl zutraulich, dass er Marianne Weiß als "Informationsschlepperin" engagieren wollte. "So für 200 bis 300 Mark monatlich." Denn für den Verfassungsschutz zu arbeiten, sei immer sinnvoll. Sie könne "ihren politischen Aktivitätem freien Lauf lassen" - also weiterhin radikal sein -, und ihr würde daraus kein Nachteil entstehen. Marianne Weiß lehnte ab, über Schüler und Lehrer aus der Vergangenheit auszupacken und künftig ihre Kommilitonen und Professoren auszuspähen.

DATEN ÜBER HOMESEXUELLE

Der fragwürdige Grundsatz des FDGO-Statthalters Alfred Seidl, "für den politischen Extremisten darf es keinen Freiraum geben", bleibt jedoch nicht nur auf Bayern beschränkt. In Essen bestätigte auf einer Veranstaltung Ministerialrat Seichter, Öffentlichkeitsarbeiter des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, auch Daten und Angaben über Homosexuelle würden systematisch in den zentralen NADIS-Compuer (Nachrichtendienstliches Informationssystem) eingegeben und ausgewertet, wenn die betreffenden Personen Kontakte mit "geheimhaltungsbedürftigen" und "sicherheitsempfindlichen" Bereichen haben. Die Essener Homo-Gruppe "RAGE" vermutet hinter den Schnüffelaktivitäten vielmehr "den klammheimlichen Aufbau einer Riesen-Schwulenkartei, gegen die die früheren Registraturen nach dem Strafrechtsparagrafen 175 harmlose Zettelkästen gewesen sein dürften". Eine gesellschaftliche Diskriminierung, die mit der Liberalisierung des Sexualstrafrechts abgeschafft schien, hat demnach bei den Verfassungsschutzämtern immer fortbestanden. Wahrscheinlich deshalb, um eine vermeintliche "Erpressbarkeit" für die Behörden oder für andere Organisationen auszuloten.

SCHWARZE LISTEN

Im Grundgesetz garantierte Freiheitsspielräume wie die freie Berufswahl werden selbst von staatlichen Institutionen unterlaufen, die in der Öffentlichkeit von ihrem sozial-humanitären Anstrich leben und bei denen es niemand ohne weiteres vermuten würde - den Jugendämtern. Seit Jahrzehnten kursieren unter den jeweiligen Jugendbehörden der Bundesländer, zwischen Waisenheimen, Erholungsstätten und Kindergärten "schwarze Listen" über unbequeme oder missliebige Sozialarbeiter, Kindergärtnerinnen, die wegen permanenten Zuspätkommens entlassen worden sind; Sozialpädagogen, die politisch zu kritisch waren, Heimerzieher, die eigenwillig ihre Ziele verfolgten - sie alle landen auf der "Schwarzen Liste", die im Amtsjargon "Warnmitteilung" heißt. Natürlich nicht nur mit Namen, sondern auch mit den entsprechenden Informationen. So kann sich der Sozialarbeiter Roland Ferner* aus Buxtehude bewerben, wo er will, Zeugnisse und Referenzen einreichen. Eines ist ihm sicher: das heimliche Dossier eilt seinem Schreiben schon voraus."Es wird gebeten, vor einer etwaigen Einstellung bei der Regierung in Lüneburg nachzufragen." Denn spätestens beim Rausschmiss oder der Kündigung lassen die Heimleiter ihre "Warnsignale" los. Von dieser Praxis erfährt der Betroffene nichts. Er kann folglich auch keinen rechtlichen Einspruch geltend machen, weil er nicht einmal weiß, welche Fakten über ihn zusammengetragen worden sind. Und - dass die Heime sich bei Einstellungen neuer Fachkräfte ausschließlich auf die "Schwarze Liste" verlassen und danach die Bewerbung beurteilen, gesteht der für Niedersachsen zuständige Ministerial Klaus Rauschert ein. "Über die Warnmitteilung hinaus informieren sich die Dienstvorgesetzen leider nicht."

"FEINDE" FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ

Eine Gepflogenheit, die einem Verfassungsschützer kaum passieren würde. Wenn es um diskrete Informationen geht, beauftragt der Verfassungsschutz selbst Verfassungsfeinde, unbescholtene Bürger zu überwachen. So wurde der Kommunist Wolfgang Wenzel, Vorsitzender des Kreisjugendausschusses in Minden, vom NRW-Verfassungsschutz genötigt, Jugendorganisationen auszuspähen. Der Verfassungsschutz drohte dem DKP-Mann Wenzel Berufsverbot an, wenn er nicht als Spitzel arbeite.

Der Krankenpfleger ging deshalb zum Schein auf das Verlangen ein. Als der Fall aufflog, musste der Verfassungsschutz zugeben, dass er nicht nur Jugendverbände, sondern auch Gewerkschaften beobachten lässt. Dabei kann schon "so eine Panne wie der Fall Wenzel" vorkommen, erklärte der Präsident des NRW-Landesamtes für Verfassungsschutz, Christoph Graf von Hardenberg.

AUSHORCHEN VON NACHBARN

Das Bespitzeln von Nachbarn oder politischen Gegnern wird immer öfter zum Bürger-Hobby. Seit jeher hat der Handelsvertreter Herbert Land "in seinem Leben nichts mehr gehasst als die Kommunisten". Der Radikalenerlass gab dem CDU-Mitglied Land und dessen Frau Gisela die Rechtfertigung, eine Berufsverbots-Kampagne gegen den 36jährigen Bernhard Hanfland zu starten, einen Realschullehrer, der mit dem Mao-orientierten Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) sympathisierte. In der Schule verhielt sich der Pädagoge politisch neutral.

Der 42jährige Land kannte den denunzierten Pädagogen nur vom Sehen. Lands Kinder besuchten die Realschule Chorweiler, an der ihr Vater in der Schulpflegschaft mitwirkte und Lehrer Hanfland Sozialkunde und Sport unterichtete. Anfang 1976 nahmen Herbert und Gisela Land eine Unterschriftenaktion gegen § 218 zum Anlass, Hanfland zu beobachten und Erkenntnise über ihn zu sammeln. An einem Sonnabendmorgen verteilte der Lehrer vor einem Spupermarkt im City-Center Flugblätter für sein politisches Grüppchen. CDU-Land nahm eines mit und sah rot.

TOTENGRÄBER DER DEMOKRATIE

Anfang November 1976 schrieben die Lands aufgebracht an den Kölner Regierungspräsidenten. "Wie lange wird uns und unseren Kindern in der Realschule Chorweiler dieser 'Totengräber ' der Demokratie noch zugemutet? Was muss geschehen. um den 'Pädagogen' Hanfland aus dem Schuldienst zu entfernen? Können wir Eltern diesem 'Prediger' einer neuen kommunistischen Weltordnung unsere Kinder noch länger anvertrauen? ... Die Schule in Chorweiler muss wieder das werden, was sie von ihrem Auftrag her ist, und kein Tummelplatz für kommunistische Agitatoren."

MALLORCA-AGFAMATIC

Doch um Lehrer Hanfland zu feuern, mussten nachhaltigere Beweise her. Herbert Land. "Vier Monate habe ich fast nichts anderes gemacht, als diesen Typ zu beobachten. Dann hatte ich alles zusammnen." Gemeinsam mit der Politischen Partei, dem 14. Kommissariat, ging Land häufig auf Schnüffeltour. Flugblätter und Broschüren wurden eingesackt, Fotos geschossen - mal mit der Profi-Kamera der Polizei, mal mit Lands Mallorca-Agfamatic.

Gegen Hanfland wurde anoynm ein Strafantrag wegen Volksverhetzungen gestellt (14.K.Tgb.-Nr. 2434/76). Darin wurde dem Lehrer vorgeworfen, am 2. Februar 1976 in Köln-Seeberg, Karl-Marx-Allee, Flugblätter mit der Überschrift "Die Schule gehört in die Hand des Volkes" verteilt zu haben.

BERUFSVERBOT

Schließlich zeigte sich der Erfolg. Der Regierungspräsident in Köln belegte Bernhard Hanfland mit dem Berufsverbot, weil dieser "die Zweifel nicht ausräumen konnte, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten" - Proteste von Eltern der Hanfland-Schüler, die von den pädagogischen Qualitäten des Lehrers überzeugt waren und sich an dessen außerschulischem Sektierertum nicht störten, nutzten ebensowenig wie Eingaben der Lehrerkollegen.

BELOBIGUNG VON DER PARTEI

Vom Erfolg mit dem Schulrausschmiss berauscht, schrieb CDU-Mitglied Herbert Land einen Brief an CSU-Chef Franz-Josef Strauß (*1915+1988). Er beschwerte sich darüber, dass er in seinem CDU-Landesverband zu wenig Unterstützung bei der Jagd auf Kommunisten finde. Der Leiter des CSU-Büros, Dr. Wilhelm Knittel, antwortete am 17. 10. 1977 und bedankte sich im Auftrag von Herrn Strauß für den Land-Brief. Er sprach die Hoffnung aus, "dass es Ihnen, sollten sich ähnliche Fälle in Ihrer Gegend wieder ereignen, gelingt, doch noch die tatkräftige Unterstützung von örtlich oder sachlich zuständigen Landtags- und Bundestagsabgeordneten der CDU zu finden."

Im Grundgesetz-Artikel 3 unseres "freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates" heißt es: "Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." Der KBW, mit dem der gejagte Ex-Pädagoge und jetzige Hilfsarbeiter Hanfland sympathisiert, ist bis heute nicht als verfassungswidrig verboten.

TRIBUNAL GEGEN DIE FREIHEIT

Unter den Augen der Öffentlichkeit, doch von ihr nahezu unbemerkt, gerät die westdeutsche Szene immer mehr zum Tribunal gegen die Freiheit. Sie registriert Bürger-Denunziationen und Staatsübergriffe als vereinzelte Pannen - der Überblick fehlt, um das Dominospiel zu erkennen, das aus einem Verfassungsstaat freiheitlicher Grundordnung eine autoritäre Staatsverfassung mit gegenseitiger Bespitzelung seiner Bürger macht.

Die Auswirkungen der Radikalendebatte haben auch das politische Klima in der Kirche nachhaltig beeinflusst. Heute geht es schon längst nicht mehr um vermeintliche "Verfassungsfeinde". Schon werden Pastoren an den Rand der Legalität gedrängt, deren kirchliches Verständnis sich nicht mit der vorherrschenden Meinung deckt. Der Norderstedter Pfarrer Theodor Lescow ist zur Zielscheibe heftiger CDU-Attacken geworden, weil er auf der Suche nach der Wahrheit am Karfreitag 1977 eine unbequeme Meinung von sich gegeben hat. "Die Baader-Meinhof-Hysterie würde bei uns sicher nicht so hohe Wellen schlagen, wenn wir hier nicht ein paar Menschen gefunden hätten, an denen wir alle unser schlechtes Gewissen abreagieren können."

HETZ- UND RUFMORDKAMPAGNE

Statt das
Gespräch mit dem Pfarrer zu suchen, entfachte der CDU-Ortsverband mit Rückendeckung des Kieler Ministerpräsidenten Gerhard Stoltenberg (*1928+2001) eine Hetz- und Rufmordkampagne: "Dieser Pastor predigt nicht mehr das Wort Gottes, sondern das des Teufels". erklärte der CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Würzbach (1976-2002). Und in einem Flugblatt stachelte die Unionspartei die Gemeindemitglieder gegen den Pfarrer auf: "Von Staeck bis Wallraff, vom Halmkriminellen RBJ bis zur linksgesteuerten Anti-Atom-Initiative - sie alle trafen und treffen sich dort. (Schalom-Gemeindeaus, d. Verf.) Und Herr Lescow gibt seinen 'Segen' dazu." Und prompt schreibt die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung im Oktober 1977, Lescow "verunglimpfe als linksextremer Pfarrer die Union".

PFARRGESETZ


Wie erfolgreich der Unionsbeschluss ist, beweist die Reaktion der nordelbischen Kirchenleitung in Kiel. Sie hat dann auch dringend den Pastor aufgefordert, seine Äußerung in aller Form zurückzunehmen" und Lescow an das Pfarrgesetz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands erinnert, die jedem Seelsorger vorschreibt, "die Grenzen zu beachten, die sich für Art und Mass seines politischen Handelns ergeben". Dabei haben die Kirchen-Oberen keine Scheu vor doppelbödiger Argumentation. Zwar verkünden sie, dass ihnen "in jüngster Zeit ein Klima zunehmender gegenseitiger Verdächtigungen Sorge bereite", gleichzeitig aber schreckt diese Sorge die nordelbische Kirchenleitung nicht ab, mit einem spektakulären Polizei-Großeinsatz das Hamburger Martin-Luther-Haus der evangelischen Studentengemeidne (ESG) räumen zu lassen. Anlass für die Polizeiaktion war die friedliche Besetzung des Hauses durch ESG-Mitglieder,die über die Schliessung ihres wöchentlichen Treffpunkts während der Semesterferien im Foyer diskutieren wollten.

KIRCHE ALS SCHARFMACHER

Die friedliche und gelassene Stimmung dieses Treffens veranlasste die Polizei, sich dezent zurückzuhalten. Doch die Kirchenbürokratie heizte den Konflikt unnötig an. Mit einem Strafantrag wegen Hausfriedensbruch zwang sie die Polizei zur Räumung
des Gebäudes. In den frühen Morgenstunden des 20. Juli 1978 nahmen 50 Polizisten daraufhin 35 übernächtigte Jugendliche fest, um sie erkennungsdienstlich zu behandeln. Auf diesen ersten Polizeieinsatz gegen kirchliche Protestgruppen in Hamburg reagierte die Mehrheit der Pastoren einhellig. "Man fasst es nicht". Freiheit in Deutschland - Amen.



























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Name auf Wunsch des Betroffenen geändert