Donnerstag, 11. März 1976

Polens Universitäten - Studentenunruhen und Geld für gute Noten




















Momentaufnahmen aus den siebziger Jahren zu Warschau: Wie polnische Studenten und Jugendverbände ideologisch aufgerüstet werden sollen. Tauwetter nach Jahren des Kalten Krieges zwischen Ost und West


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stern, Hamburg
11. März 1976
von Reimar Oltmanns
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Jan Kominski war einer der ersten Arbeitersöhne, die nach dem Krieg ihr Examen an der Warschauer Universität für Planung und Statistik machten. 23 Jahre später droht der soziale Aufstieg des 50jährigen Nationalökonomen und Abteilungsleiter einer Kaffeerösterei, seinen beiden Söhnen Jaschek, 17, und Tadeusz, 18, zum Verhängnis zu werden.
NUMERUS CLAUSUS AUF POLNISCH
Wäre Jan Kominski Arbeiter geblieben wie seine Vorfahren, hätte sein Sohn Tadeusz nach dem Abitur die Zulassung zum Studium in der Tasche gehabt. Denn Jugendliche aus Arbeiter- und Bauernfamilien haben in Polen bei den Aufnahmeprüfungen zehn Punkte gut. Dem Sohn des "Intelligenzlers" Kominski, der nur ein "befriedigendes" Abitur machte, fehlten aber gerade jene zehn Punkte, um im Jahr 1974 einen Studienplatz zu ergattern. Er zählte damit zu den 80.000 von insgesamt 130.000 Bewerbern, denen der polnische Numerus clausus einen Sitz im Hörsaal verwehrte.
PROLETARISCHE HERKUNFT
Im Juli 1975 aber schafften beide Kaminski-Söhne gemeinsam den Sprung an die Universität Wroclaw (früher Breslau). Jaschek studiert Medizin, Tadeusz Naturwissenschaften. Denn ihr Vater hatte inzwischen den Abteilungsleiterposten mit dem eines Produktionsarbeiters am Fließband in Kattowice (Kattowitz) vertauscht. Kaminski über seinen freiwilligen sozialen Abstieg: "Ich habe noch als Arbeiterkind einen Studienplatz bekommen. Wenn meine Jungen studieren wollen, dann gilt aber unsere proletarische Herkunft überhaupt nichts mehr. Deshalb bin ich jetzt erst einmal wieder Arbeiter geworden." Wie viele seiner Generation hielt Kominski vor 30 Jahren die These, dass "in einer sozialistischen Gesellschaft, die Universität in erster Linie für die Arbeiterklasse da sein soll", für richtig.
WARSCHAUER STUDENTEN-UNRUHEN
Noch im Jahr 1968 hatte Parteichef Wlasdislaw Gomulka (1956-1970; *1905+1982) , der Vorgänger von Polens erstem Sekretär Edward Gierek, nach den erbitterten Warschauer Studentenunruhen die Universitäten durch einen größeren Einfluss der Arbeiter- und Bauernjugend "gesunden" lassen wollen. Aber die einseitige Bevorzugung hat den einst Benachteiligten wenig Vorteile gebracht: Trotz des Zehn-Punkte-Vorsprungs stieg der Anteil der Arbeiterkinder an de Studentenzahl von 1962 bis 1973 nur von 27,3 auf 31,3 Prozent (Bundesrepublik 1973: zwölf Prozent). Der Anteil der Bauernkinder ging im gleichen Zeitraum sogar um 5,4 Prozent zurück.
FALSCHE MASS-STÄBE ABSCHAFFEN
Deshalb will Polen noch 1976 als erstes Ostblockland das Punktesystem abschaffen. Giereks Bildungsfachleute glauben, dass bei der Auswahl der Bewerber ohnehin "falsche und zu niedrige Maßstäbe angesetzt werden". Prüften Gymnasiallehrer die Abiturienten für die Hochschulzulassung, wurde nur jeder vierzehnte abgelehnt, nahmen Dozenten die Eingangstest ab, so fiel jeder zweite durch.
QUALITÄT DURCH LEISTUNGSDRUCK
Denn obwohl es gegenwärtig beispielsweise 160.000 Schullehrer zu wenig gibt, wollen Polens Professoren nicht größere Studienzahlen, sondern Qualität durch Leistungsdruck. Zitat aus der Fachzeitschrift "Zycie Literackie": "Berufliche Qualifikationen sollten nur die erlangen, die in einer gerechten Konkurrenz mit den anderen ihre Überlegenheit unter Beweis stellen können und immer höher werdenden Anforderungen gerecht werden."
PRÄMIEN, ZUSCHLÄGE., VERGÜNSTIGUNGEN
Um die Leistung zu steigern, setzten die Bildungsbürokraten schon 1974 Prämien für den akademischen Nachwuchs ein. Wer das Zwischenexamen am Semesterende mit guten Noten (In Polen werden Zensuren von 1 - ungenügend - bis 5 - sehr gut - gegeben) abschließt, erhält zu seinem Stipendium - je nach Verdienst der Eltern gibt es Studienbeihilfen zwischen 400 und 1.200 Zloty - Zuschläge: Zensuren zwischen 3,6 und 4,0 bringen 200 Zloty monatlich. Für einen Notendurchschnitt von 4,1 bis 4,5 gibt es 300 und für sehr gute Noten zwischen 4.6 und 5 sogar 500 Zloty (rund 42 Mark) im Monat.
TALENTE VERGEUDEN
Leistungsdruck fordern auch Ministerpräsident Piotr Jaroszewicz und Außenministrer Stefan Olszowski . Politbüro-Mitglied Olszowski warf den Studenten vor, sie arbeiten nicht effektiv genug, vergeudeten Talent und Material und gäben sich mit "bescheidenen Zensuren" zufrieden, weshalb der Anteil der sehr guten Studenten nur zehn Prozent betrage.
IDEOLOGISCHE SCHULUNGEN
Alarmiert durch eine Umfrage des Warschauer "Zentrums zur Erforschung der öffentlichen Meinung" verlangte Ministerpräsident Jaroszewicz stärkere ideologische Schulung der Jugend und organisatorische Straffung der Jugendverbände nach dem Muster des sowjetischen "Komsomol". Zwischen 1970 und 1980 waren in der Sowjetunion 40 Millionen Jugendliche zwischen 14 und 28 Jahren "Komsomolzen"; seit 1991 verboten.
VILLA, AUTOS, AUSLAND
Die Meinungsforscher hatten herausgefunden, dass über 50 Prozent der Jugendlichen später möglichst "luxuriös, mit eigener Villa, Auto und Auslandsreisen" leben wollen und 28 Prozent ein "stilles und glanzloses Leben" mit einem sicheren Arbeitsplatz und einem trauten Heim vorziehen. Seine bescheidene Zukunftsvorstellung begründete ein Abiturient in Kattowice so: "Ich verstehe das Geldsammeln auf dem Sparkonto nicht. Mir liegt auch nichts daran, wegen der Teilnahme an einem 'blutigen Kampf' geehrt zu werden. Ich habe keine Ambitionen, überbegabte Kinder zu haben. Mir imponiert auch die Position eines Direktors mit 10.000 Zloty Gehalt nicht sonderlich." - Verweigerung auf polnisch.
IDEALEN DES KOMMUNISMUS
Nur 18 Prozent der polnischen Jugendlichen - so ergab die Umfrage - entsprechen dem Ideal der kommunistischen Vereinigten Arbeiterpartei. Ihre Vorbilder sind die romantischen Heldenfiguren des vergangenen Jahrhunderts, voller Idealismus, "bereit für die nationalen Ziele notfalls auch zu sterben".
DEUTSCH-POLNISCHER JUGEND-AUSTAUSCH
Wenn im Frühsommer 1975 Parteichef Edward Gierek und Bundeskanzler Helmut Schmidt in Bonn ein Abkommen über den Jugendaustausch beider Länder unterzeichnen, soll die ideologische Aufrüstung der polnischen Jugend und die organisatorische Straffung der Jugendverbände schon erkennbare Fortschritte gemacht haben ... ...
Immerhin: In fünfzehn Jahren (1993-2005) haben durch das Deutsch-Polnische Jugendwerk ( Polsko-Niemiecka Waspólpraca Mlodziezy) 1,5 Millionen Personen an deutsch-polnischen Austauschprogrammen in 35.000 Begegnungen aktiv teilgenommen . Überdies gibt es 1.500 Schulpartnerschaften mit insgesamt 160.000 Jugendlichen . Getragen werden die Kosten von etwa 9,2 Millionen Euro jeweils aus den öffentlichen Haushalten beider Länder.