Samstag, 24. Februar 1996

Keine Zeit für Wut und Tränen










































In einem Pariser Restaurant feierte sie mit ihrem Mann Hochzeitstag, als die Bombe explodierte und ihre Beine zertrümmerte. Im Klima von Terror und Bürgerkriegs-neurosen boxte sie mit ihrer Selbsthilfegruppe S.O.S.-Attentats Entschädigungsgesetze durch. Das Leben der Françoise Rudetzki oder die Ge- schichte einer ungewöhnlichen Frau.


Tagesspiegel, Berlin
vom 25. Februar 1996
von Reimar Oltmanns


Auf den ersten Blick sieht das alte Backsteinareal am Invalidendom erdrückend andächtig aus. Nicht nur die Militärhistorie aller Schlachten dieser Republik bis 1945 fand ihre ausgesucht verschnörkelte Heimstatt. Ihr Innenraum beherbergt schließlich das Nationaldenk- mal der Franzosen - die Grabstätte Napoléons samt anderer berühmter Kriegshelden. Schweigeminuten, gemächliche Schritte meist soldatischer Männer-Gang- arten tagaus, tagein.

Wenn da auf dem "Corridor de Metz" unter den Arkaden nicht neuerdings eine Frau ihre Büroräume bezogen hätte, die noch dazu keiner der männlichen Erwartungs- haltungen zu entsprechen vermag. Françoise Rudetzki gehört zu den behinderten Frauen der französischen Republik, die als zusammengeflicktes Terroropfer daher- kommen. Flink humpelt die 48jährige Juristin und frühere Boutiquenbesitzerin mit ihrem Krückstock des Weges, ehe sie ihr Arbeitszimmer erreicht. Die Gründerin von S.O.S.-Attentats, einer Selbsthilfeorganisation "von Opfern für Opfer" von Terroranschlägen, verkörpert die Gewalt moderner Kriegsführung.

BÜRGERKRIEGS-NEUROSEN

"Auch Terrorexplosionen in den Innenstädten sind Varianten eines Krieges, wenn auch meist mit sub- versiven Mitteln", so Françoise Rudetzki. "Insofern hat es schon eine innere Logik, dass ich hier bei den Kriegs- versehrten im Verteidigungsministerium der Republik sitze." Und das in Frankreich, einer jahrhundertalten ausrangierten Kolonialmacht, die sich in den letzten Jahrzehnten unfreiwillig zu einer Hauptzielscheibe des internationalen Dritte-Welt-Terrorismus wie der algerische fundamentalistische Islamistische Heilsfront (FIS) entwickelt hat. Wollen jene nordafrikanischen Terroristen mit fortwährenden Anschlägen die franzö- sische Politik doch geradezu zwingen, dem westlich eingestellten algerischen Regime die politische und materielle Unterstützung zu entziehen.

BOMBEN NICHTS ALS BOMBEN

Wohl in keinem anderen Land der westlichen Welt hat der Terror so rasant zugenommen und zu verständ- lichen Bürgerkriegsneurosen bei Französinnen und Franzosen geführt. Allein auf Korsika - dem franzö- sischen Nordirland - wurden im vergangenen Jahr 37 Menschen ermordet. Zudem notierten die Verwaltungen insgesamt 602 Bombenanschläge, die weit über 50 Millionen Euro Sachschäden verursachten. Seit dem Jahre 1990 explodierten exakt 3.103 Sprengsätze. "Sym- bole der Kolonialmacht" wie das Finanzamt von Bastia wurden in Schutt und Asche gelegt.

La France im Spätsommer 1995 - eine Nation gerät in Panik. Ob in Paris, Lyon, Marseille oder auch Bordeaux - überall gibt es wahllose, furchterregende Bomben-alarme, 1.374 an der Zahl. Acht Terroranschläge, teils in der Pariser Metro, teils auf verkehrsreichen Boulevards, sind bereits verübt worden. Bilanz: sieben Tote und 160 (teils Schwer-) Verletzte.

PARIS HAT ANGST

Niemals zuvor dominierten derart viele Uniformen die von Touristen bevölkerten Straßenbilder. 32.000 zusätz- liche Polizisten, etwa dreitausend Soldaten, an die neun- tausend Zöllner überwachten Flughäfen wie Bahnhöfe, Grenzen, Kernkraftwerke oder Museen, Parkverbote vor Schulen und anderen "exponierten Gebäuden". Sperr- gitter von Paris bis hinein in die abgelegensten breto- nischen Orte sollten verhindern, dass Autos vor den Schulen parken: außer dem Lehrpersonal durfte ohne- hin kein Erwachsener mehr das Schulgelände betreten. In Paris sind zirka 7.000 Abfalleimer zugeschraubt oder gleich ganz entfernt worden, damit sie nicht etwa als potenzielles Bombenversteck herhalten können. Letztlich wurde praktisch jeder im Land von einem "ge- spenstischen Klima des Terrors", so die konservative Tageszeitung "Le Figaro", erfasst, ganz gleich, ob er nun einkaufen geht und seine Tasche durchsuchen lassen muss, ob er mit der Metro fährt und sein Blick unweiger- lich kurz unter den Sitz schweift, ob er einen Bogen um die Telefonzellen und Mülltonnen schlägt, auch jede her- umstehende Plastiktüte gilt es fortwährend misstrauisch zu beäugen. "Paris hat Angst", titelte das Boulevard-Blatt "Le Parisien". Und der gaullistische Premier- minister Alain Juppé (1995-1997 ) antwortete beruhi- gend: "Frankreich wird nicht kapitulieren."

STELLVERTRETER-KRIEGE

Für Experten hingegen waren jene Attentatsserien lediglich Neuauflage von diversen politisch motivierten Terror-Aktionen mit unterschiedlichen Absichten: Paris eine Kapitale des Stellvertreterkrieges zwischen Nord und Süd, Arm und Reich, Kirchen und Moscheen. Zum ersten Mal wurde Paris in den Algerienwirren 1960 bis 1961 von gezielten Terrordetonationen erschüttert. Vor zehn Jahren versuchte der Iran mit terroristischen Mitteln auf die Nah- und Mittelostpolitik Frankreichs Einfluss zu nehmen. Seit dem Jahr 1987 hat es in Frank- reich 297 Terroranschläge gegeben. In dieser Zeit wurde S.O.S.-Attentats geboren. Diese Vereinigung von 2.220 Terroropfern, die die Gesetzgebung und damit die Ent- schädigungen in Frankreich noch maßgeblich verändern sollte, ist nicht etwa eine Schöpfung des Roten Kreuzes, auch nicht der Behörden, sondern das Werk einer da- mals von der Bombenwucht schwer verletzten 38- jährigen Einzelgängerin.

DETONATION AM HOCHZEITSTAG

Am 23. Dezember 1983 saß Françoise Rudetzki mit ihrem Mann im Pariser Restaurant "Le Grand Vélour". Beide hatten sich vorgenommen, zu ihrem zehnten Hochzeitstag festlich zu dinieren. Aber draußen explodierte eine Bombe, und eine durch den Raum fliegende Metalltür zertrümmerte ihr beide Beine. Sieben Wochen lag Françoise in Lebensgefahr, zehn Jahre blieb sie an den Rollstuhl gefesselt. Erst ganz allmählich gehorcht das rechte Bein dem Gehirn. Das linke nicht: Françoise schiebt es mit einer Viertel- drehung der Hüfte nach vorn. Sie sitzt jetzt nicht mehr im Rollstuhl. Sie steht und bewegt sich auf Krücken. Insgesamt 41 chirugische Eingriffe hat sie seit der Ex- plosion vor dem Restaurant über sich ergehen lassen müssen: über ein Jahr bleibt das Krankenhausbett ihre Hauptstütze, hat sie immer wieder eine Serie von Vollnarkosen auszuhalten. Die Ärzte meinten: "Beim nächsten Mal können wir nur eine örtliche Betäubung vornehmen. Sie müssen halt die Zähne zusammen- beißen." Françoise hat ihre Zähne heftig zusammen- gebissen: "Manche schöpfen ihre Lebenskraft im religiösen Glauben. Aber ich habe keinen. Ich hole mir meine Energie aus dem Leben und aus der Hoffnung, auf eine gerechtere Welt. Dabei hatte sie so gar keine Zeit, keinen Sinn für Wut und Tränen."

ENTSCHÄDIGUNG NICHT VORGESEHEN

Zwischenzeitlich beobachtete Françoise, wie das beschädigte Restaurant binnen drei Wochen stattlich repariert worden war. Wie selbstverständlich hatte der Besitzer eine Versicherungssumme erhalten. Eben einen Betrag, der auch noch ausreichte, um für die Neueröff-nung Werbeanzeigen zu platzieren, Sendeminuten in Funk und Fernsehen zu kaufen. Nur die Entschädi- gung von Opfern - die war in Frankreich nicht vorge- sehen.

Und Françoise weiß, wovon sie redet. "Sprechen wir", fährt sie fort, "von der jungen Sekretärin Michèle, einem Opfer in der Pariser RER-Bahn. Trotz ihrer Proteste wurde ihr blutüberströmter, halbnackter Körper von einem Passanten fotografiert. Das ist strafbar. Nur einige Tage später sah sie sich doppelseitig mit ihren Verletzungen voyeuristisch aufgeblättert in einer Illu- strierten wieder. Hilfe, gar einen Rechtsbeistand, hat Michèle bis heute nicht bekommen.

NOTFÄLLE, NOTSTÄNDE

"Sprechen wir vom Betonmischer Albert, an den Beinen seit dem Metro-Attentat schwer verletzt. Er leidet auch zusätzlich noch an Hörstörungen. Aber Albert darf nach langem Krankenhausaufenthalt nicht mehr nach Hause. Seine Wohnung in einem Hochhaus wird unentwegt von Flugzeugen überflogen. Sein Département Val de Marne kann ihm mangels Masse keine andere Wohnung an- bieten. Seiner schwangeren Frau Fabienne kann trotz der drei Millionen Arbeitslosen keine Haushaltshilfe zur Hand gehen. Ein finanzieller Haushaltszuschuss wird offiziell nicht gezahlt.

POLITIKER SIND IMMER "BETROFFEN"

Sprechen wir auch noch vom stets filmreif inszenierten Betroffenheitsgehabe des Premierministers in seinem Salon Matignon, wenn die Augen auf ihn gerichtet sind. Sonst stapeln und verstauben dort die Briefe in Säcken von Angehörigen, die um Hilfe bitten, einfach deshalb, weil sie die Beweisführung des Todes eines Verwandten beim Anschlag zu führen haben. Oder sprechen wir auch noch kurz von George und Felix. Über einen ganzen Monat lagen sie mit ihren Knochenbrüchen auf sich allein gestellt in der Orthopädie. Sie haben nicht einmal einen kurzen Besuch von Psychologen oder Psychiatern zwecks seelischer Hilfestellung bekommen. Keine Zeit hatten die Ärzte, jagten sie doch sinniger- weise von Pressekonferenz zu Fachkolloquien. Ihr Hauptthema: "psychologische Betreuung der Kriegs- neurosen von Terroropfern im Rampenlicht der Öffentlichkeit."

INVALIDENDOM

Françoise sitzt neuerdings an ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer des weiträumigen Invalidendoms. Über zehn Jahre diente notgedrungenerweise die beengte Privatwohnung im 8. Pariser Arrondissement als zen- trale Anlaufstelle für Attentatsopfer. Sie korrespon- dierte, informierte, überzeugte monatelang - und fast immer vergeblich. Keiner mochte die Frau im Rollstuhl ernst nehmen. Oft in den Abendstunden tütete sie mit ihrem Mann, Handelsdirektor einer Modegesellschaft, unverdrossen etwa Protestaktionen nach einer Fernseh- sendung ein. Kärrnerarbeit einer Einzelkämpferin.

KEINE RACHE - NUR HILFE

Als Françoise eines Tages den fehlenden Schadenersatz - somit die längst überfällige finanzielle Versorgung - für Terroropfer in der Sécurité sociale (BfA - Bundesver- sicherungsanstalt) rügte und ein Gesetz forderte, da hatte sie den Nerv ihrer Landsleute freigelegt. "Meine Arbeit wird fortgesetzt, solange die Not nicht gelindert und kein Ort des Zuhörens, keine psychische Hilfe geschaffen wird. Wir lehnen die Todesstrafe strikt ab. Wir wollen keine Rache. Aber wir Opfer werden es nicht zulassen, dass Frankreich dem Staatsterrorismus so schnell nachgibt. Wir sollten uns schämen", verkündete sie damals in die laufenden Kameras.

Die Republik schrieb das Jahr 1986; in Frankreich herrschte die Atmosphäre des Bombenterrors. In den darauffolgenden Tagen erreichten Françoise Rudetzki 50 Postsäcke, jeder einzelne zwanzig Kilo schwer. Und bei Jacques Chirac, seinerzeit Premierminister in Paris, gingen 500.000 Postkarten mit Unterschriften für eine Gesetzesinitiative ein. "Madame, sagen Sie mir bitte unverzüglich, was ich für S.O.S.-Attentats tun kann. Es wird geschehen", bekundete dieser geübten Blickes hingebungsvoll.

ERKÄMPFTER GARANTIEFONDS

So und nicht anders setzte Françoise Rudetzki in Frankreich ihren Garantiefonds durch, der in Haupt- zügen dem deutschen Opferentschädigungsgesetz entspricht. Damit ist Frankreich das einzige Land, das über ein eigenes Gesetz zum Schutz von Terroropfern verfügt. Es besteht im wesentlichen aus einem speziellen Versicherungsfonds, der den betroffenen Menschen und ihren Familien sämtliche durch ein Attentat erlittenen Schäden ersetzen soll. Er wird durch einen jährlichen Aufschlag von etwa 76 Cents finanziert, die jeder Franzose pro privatem Versicherungsbeitrag zahlen muss.

S.O.S. - ATTENTATS

Mittlerweile tritt Françoise Rudetzki mit ihrer Organi- sation S.O.S.-Attentats als Nebenklägerin in über 200 gerichtlichen Terrorverfahren des Landes auf. Alle vierzehn Tage steht S.O.S.-Attentats in den Amtsstuben von Richtern und Staatsanwälten der grössten Prozesse. So soll verhindert werden, dass sich die Justiz wieder zum Faustpfand der Politik machen lässt, aus Gründen der Zweckmäßigkeit Terroristen in ihre Heimatländer - in die Freiheit - abgeschoben werden. Systematisch hat Françoise Rudetzki ein Netzwerk aus Rechtsanwälten und Ärzten geflochten. "Nur unsere Wachsamkeit schützt uns vor Mauscheleien. Irgendwie haben wir in Frankreich im Laufe der letzten Jahre verdrängt, dass wir doch ein durch und durch verkappt romantisches Land mit einer ganz gehörigen Portion Machismo sind. Wir müssen im Gericht Worte der Opfer wieder lauter werden lassen. Terroristen haben kein ausschließliches Erklärungsmonopol. So verquer sind die Zeiten."

Das Telefon klingelt. Am anderen Ende der Leitung erkundigt sich Justizminister Jacques Toubon (1995-1997) nach ihrem Wohlbefinden. "Wir müssen endlich die juristischen Grenzen in Europa abschaffen", sagt Francoise ihm an diesem Abend. "Denn ein potenzieller Täter sollte zwingend in einem Land vor Gericht gestellt werden, in dem er gefasst wird. Die Auslieferungs- verfahren verschleppen Prozesse und dünnen Anklagen aus. Somit gerät Gerechtigkeit immer noch zum x-beliebigen Spielball europäischer Interessenpolitik. Dieses muss ein Ende haben. Warum entkommen die Terroristen der Rechtssprechung in Europa immer noch?" fragt sie Jacques Toubon, - Eine höchst berechtigte Frage, befindet der Justizminister. Darauf Francoise Rudetzki: "Monsieur, auf, auf nach Brüssel."