Donnerstag, 24. April 1980

Keimfrei, klug und Karriere bewusst - Jugend '80 das Wunschbild der Medien ( I) Von Reimar Oltmanns




Die demoskopische Erfassung der "wahren Jugend" führt in den Medien immer wieder zu erstaunlichen Formen der Erleichterung. Die Gegenanalyse" des Autors als Vorabdruck.


Vorwärts, Bonn
24. April 1980
Wenn es in Deutschland um die "Jugend" geht, so scheint es, ist der Zugriff der Apparate perfekt, ist der Zufall ausgeschaltet. Eine ganze Industrie hat sich aufgetan, um auch nur die kleinsten Verschiebungen oder Veränderungen zu erfassen. Die Parteien interessieren sich für Jungwähler, die Großkonzerne für Absatzchancen. Die Massenblätter unterschiedlichster Couleur präsentieren in Schlagzeilen und Serien "ihre Jugend", wie sie "wirklich" denkt, was sie "eigentlich" will und wohin sie "tatsächlich" tendiert.

Noch in keinem Jahrzehnt ist so viel Rummel um eine Jugend veranstaltet worden wie in den siebziger Jahren. Aber in keiner Zeitspanne wurde mit demoskopischen Daten auch derart an Jugendlichen vorbeigeschrieben wie in dieser. Die Schlagzeilen sind fast austauschbar, nur die Jahreszahlen hinterm Apostroph variieren. "Generation ohne Illusion. So ist die deutsche Jugend wirklich". läutete Bild am Sonntag eine Serie ein. "Jugend '76" nannte der stern seinen Report, Quick titelte "Jugendliche heute: So leben, denken und lieben sie". Hörzu glaubte gar: "Jugend '77 - Der Schein trügt". Quick schrieb die Druckspalten über die "Jugend '79" voll. Der stern fand die "Idole '79" und befragte junge Deutsche: "Was ist Glück?" Die Antwort: "ohne Moos nichts los." Die Welt war "auf der Suche nach dem kleinen Glück". Neun Monate später entdeckte die Tageszeitung in einer sechsteiligen Serie "Die jungen Realisten". Und die Bravo hatte den originellen Einfall vom "Disco-Gewitter '79 - Der Boden bebt, bunte Blitze zucken".

ALLE SUCHEN DIE VORZEIGE-JUGEND
Bravos Blitz-und-Boden-Geschichten sind professionelle Routine. All diese Massenmedien, die zusammen an die 40 Millionen Menschen erreichen (alte Bundesrepublik 61 Millionen Einwohner). entdeckten "die Jugend" erst nach der 68er Studentenrevolte. Die außerparlamentarische Opposition hatte mit ihren Diskussionen, Demonstrationen und Straßenschlachten das scheinbar so festgefügte Wertsystem in diesem Land zumindest zeitweilig erschüttert. Der damals in der Bevölkerung ausgelöste Schock wirkt auch heute noch nachhaltig und wird mit jeder Terrorismus-Debatte aktualisiert. Seither hat die publizistische Ausschlachtung "der Jugend" ihr eigenes Gewicht bekommen. Jungen und Mädchen, die während der APO-Zeit erst zehn oder zwölf Jahre alt waren, werden kritisch nach dem gängigen Polit-Raster auf ihr Ideologieverständnis und ihre potenzielle Bereitschaft zur Rebellion abgeklopft. Ein Polit-Raster, mit Hilfe dessen man glaubt, präzise zwischen Systemveränderern und einer staatstragenden Jugend unterscheiden zu können glaubt.

CHANCE DER PUBLICITY
Gesucht wird eine Jugend, die in der Tradition der Erwachsenen steht, die mit ihren Aussagen sämtliche Normen einer in Wirklichkeit tief verunsicherten Gesellschaft bestätigen soll. Diese Vorzeige-Jugend soll nach außen den überzeugenden Anschein erwecken, dass die deutsche Leistungs- und Verwertungsgemeinschaft sauber und intakt funktioniert. Demoskopische Fragestellungen, die mit ihren Resultaten einen ganz anderen Schluss zulassen, werden erst gar nicht in Auftrag gegeben oder durch offenkundige Falschinterpretationen heruntergespielt. Ganz davon abgesehen, dass es "die Jugend" so wenig gibt wie "die Menschheit", wird mit dieser abgegriffenen Formel jede neue Meinungsumfrage als "Überraschung", "Bombe" oder "Erstaunliches" verkauft. Wissenschaftler, die ihre Chance der Publicity nutzen, fungieren als seriöses Alibi und werden in den Massenblättern als unerreichbare Größe des Zeitgeschehens stilisiert.

AUS HIPPIES WURDEN PAPPIS


"Früher schwärmten die Jugendlichen für Willy Brandt (*1913+1992), heute schwärmen sie allenfalls für John Travolta", berichtet Die Welt. Ein Dreivierteljahr danach schreibt die Zeitung: "Irgendwo zwischen Dutschke und Travolta wurden die jungen Realisten geboren." - "Realisten", die nach einer Studie des Jugendwerks der Deutschen Shell die bestehende Wirtschaftsordnung bejahen. Die Welt zitiert: "Auf drei Anhänger kommt nur ein Gegner der Marktwirtschaft, die vor allem bevorzugt wird, 'weil der einzelne mehr Freiheit hat ...'."

Das Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung eruierte: vom Jahrgang 1959 seien nur sechs Prozent der Jugendlichen "unzufrieden". Ergo können sich 94 Prozent glücklich und selig schätzen. Bild am Sonntag brachte über das Emnid-Institut in Erfahrung, dass die Jugend der Staatsform in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs so ablehnend gegenüberstehe wie immer angenommen. Insgesamt 60 Prozent haben an ihr nur "einiges auszusetzen". - "Die Jugend '76 driftet nicht nach rechts oder links. Sie sucht den Weg nach oben ... Aus Hippies wurden Pappis. Underground und Gegenkultur haben ihren Betrieb aus Personalmangel eingestellt", ist die wesentliche Erkenntnis des stern, der sich in seinem Artikel ebenfalls auf das Bielefelder Emnid-Institut beruft.

"GUMMIBAUM IST VORBILD"

Grotesk wird es, wenn sich die Medien mit Hilfe der Demoskopen daranmachen, die Idole der jungen Generation herauszufinden. Bild am Sonntag fragt nach Vorbildern, und ein Mädchen namens Nicole aus München antwortet: "Mein Gummibaum ist mein Vorbild. Er besitzt alle meine Ideale: Ausdauer, Bedürfnislosigkeit, Zurückhaltung und Sauberkeit." Oder der 15jährige Thomas Schott, Hauptschüler aus Bargteheide in Schleswig-Holstein, sagt: "Die Riesen sind meine Vorbilder , weil ich so klein bin - 1,52 Meter." Das Blatt kommt zu dem grundlegenden Ergebnis: "Wir haben diesem Report den Titel gegeben: Jugend ohne Illusion. In der Tat - die jungen Leute sind realistischer, nüchterner, emotionsloser, illusionsloser als vergangene Generationen. Aber es ist auch eine Generation ohne Vorbilder wie Kennedy. Ohne Idole wie James Dean. Sogar Elvis Presly, Mao und Che Guevara sind von den T-Shirts verschwunden. Aber auch die Beatles sind für die Jugend heute 'Schnee von gestern'."

GROSSE NATIONALE ERLEICHTERUNG
Für Bild am Sonntag waren wieder die Emnid-Leute mit ihren repräsentativen Stichproben auf Achse. Ganz anders agierte dagegen das Institut Allensbach. Es ging für den stern auf die Straße und fand, was Emnid offensichtlich nicht suchen sollte oder wollte: die "Idole" dieser Generation. Nämlich John F. Kennedy, Albert Schweitzer, Udo Lindenberg und Sepp Maier. Sie rangieren auf den ersten Plätzen.

Noch fündiger wurde das Hamburger Sample-Institut, das für Die Welt Städte und Dörfer abklapperte. "Früher schwärmten die Jugendlichen für Willy Brandt, heute schwärmen sie allenfalls für John Travolta", hatte die konservative Tageszeitung eingangs kategorisch festgestellt. Doch nach Travolta (*1954, US-Sänger und Schauspieler) fragte niemand. Nein, Konrad Adenauer ist der Spitzenreiter unter den ausgekorenen "Idolen" des Jahres 1979; gefolgt von Helmut Schmidt, John F. Kennedy, Walter Scheel, Franz-Joseph Strauß, Willy Brandt, Theodor Heuss, Martin Luther King, Jimmy Carter, Helmut Kohl, Kurt Schumacher, Ludwig Erhard, Golda Meir, Tito, Karl Carstens und Che Guevara.

Die Münchner Illustrierte Quick (eingestellt 1992) ortete unter den Jugendlichen ganz andere Favoriten; natürlich nicht allein, sondern mit dem Hamburger Kehrmann-Institut für Marktforschung im Hintergrund. Da liest es sich dann so: "Ihre Vorbilder sind nicht etwa Größen aus dem Showgeschäft, der Wirtschaft oder der Politik (die schon gar nicht); ihre Vorbilder sind heute wieder - die Eltern." Diese demoskopische Neuigkeit war für die Nachrichtenagentur ddp Grund genug, eine Eil-Meldung für die ihr angeschlossenen Zeitungen zu verbreiten. "27,5 Prozent der Söhne und 32,7 Prozent der Töchter halten ihr Verhältnis zum Vater für 'ausgezeichnet'. Und 53,8 Prozent der Söhne und 47,7 Prozent der Töchter finden, dass sie eine 'gute Beziehung' zum Vater haben. Noch besser schneiden die Mütter in der Bewertung ihrer Sprößlinge ab."

GENERATION OHNE FEHL UND TADEL
Überhaupt handelt es sich bei den Jugendlichen um eine Generation ohne Fehl und Tadel. Von Resignation, wie so oft vermeldet wird, keine Spur, von Apathie und Orientierungsschwäche können danach nur "soziale Versager" sprechen. Hier lebt, glaubt man den publizistischen Versionen, eine dynamische Generation: achtet ihre Eltern, manchmal frech, sonst eher staatsloyal, leistungsbewusst und menthol-frisch. Mit einer solchen Jugend können eigentlich sämtliche Institutionen und politischen Parteien zufrieden sein - vornehmlich aber die Unternehmer.

Die Werbeagentur H.K. McCann mbH ermittelte nämlich, was in den Vorstandsetagen die Manager schon nicht mehr für möglich hielten: den ungebrochenen Leistungsdrang der "jungen Leute von heute". Quick jubelte dann auch prompt: "Der Leistungsgedanke ist bei vielen ausgeprägt. 75 Prozent sagen: 'Man muss sich ranhalten, sonst wird man überholt.' 72 Prozent meinen außerdem: ' Um voranzukommen, muss man Einschränkungen im Privatleben hinnehmen.'" Auch das Jugendwerk der Deutschen Shell konstatierte, dass 62,1 Prozent "diesen Leistungsdruck ausdrücklich bejahen." Geradezu emphatisch feierte Hörzu hochgehaltene deutsche Tugenden, die das Emind-Institut im Auftrag des Mineralölkonzerns Shell herausdemoskopierte. "... Deutschlands Söhne und Töchter entschieden sich zu 88 Prozent für die 'Bejahung des Leistungsprinzips' und immerhin zu 78 Prozent für die 'absolute Treue'. Es ist also nichts mit dem Märchen von einer faulen, oberflächlichen, unmoralischen Jugend", triumphierte das Millionen-Blatt.

RESPEKT VOR AUTORITÄTEN

Ganz im Gegenteil: Die Leute von Sample aus Hamburg widmeten sich einer besonders delikaten Frage, "nach der Autorität, und wenn ja, welche?" Schließlich könne "nach den leidvollen Erfahrungen der jüngeren Geschichte" nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden. Insgesamt würden 54 Prozent der Jugendlichen die Autorität eines anderen respektieren, "wenn ich ihn menschlich besonders schätze". 46 Prozent akzeptieren Autorität, "wenn sie mir geistig überlegen ist." Und 42 Prozent der Jungen, dazu 32 Prozent der Mädchen, achten ihren Vorgesetzten als uneingeschränkte Autorität.



















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