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Vorwärts, Bonn
2. März 1972
von Reimar Oltmanns
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Der Rote Punkt wurde in den Aufbruch-Jahren 1969 bis 1973 zu einem Symbol - zu einem Wahrzeichen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in ihrem Protest gegen unbotmäßige Fahrpreiserhöhungen in Straßenbahn, Bussen, Nahverkehrszügen ; angeordnet von den Hannoverschen Verkehrsbetrieben. 50.000 Rote Punkte klebten an den Windschutzscheiben - die Bewegung erreichte breite Bevölkerung-Schichten. Der rote Punkt, einst legendär und gefürchtet, er bekam Volksfest-Charakter. Jedes zweite Auto fuhr im Großraum Hannover mit dem roten Punkt. Der Protest dauerte 1972 elf Tage. Die Preiserhöhung wurde wieder zurückgenommen und durch ein Einheits-Ticket von 50 Pfennig ersetzt.
PREISE FÜR GEWINNE ERHÖHT
Es begann damit, dass die Verkehrs-Knotenpunkte bis hin zum Stadtrand kurzerhand blockiert wurden . Der Grund: Wieder einmal, quasi Jahr für Jahr, wurden die Fahrpreise erhöht; dabei stiegen sattsam Gewinnausschüttungen der Verkehrsbetriebe an ihre Aktionäre.
EINE BESETZTE STADT
Drei Tage glich die Innenstadt von Hannover einer besetzten Stadt. Mit 16 Polizeihundertschaften, elf Wasserwerfern, die zeitweilig Tränengas aussprühten, und immer wieder spontan auftretenden Reiter-Staffeln der Polizei trat die Hannoversche Sozialdemokratie Tausenden Demonstranten entgegen, die sich unter der Aktion Roter Punkt gegen die Fahrpreis-Erhöhungen der Verkehrsbetriebe formiert hatten. Immerhin schmückte sich der gut dotierte Aufsichtsrat der ÜSTRA AG zu einem Drittel mit örtlichen SPD-Funktionären. - Nebenverdienste.
KNÜPPEL UM KNÜPPEL
Nach den täglichen Kundgebungen folgten Protest-Märsche durch die Innenstadt; dort kam es regelmäßig zu regelrechten Straßenschlachten. Mit Steinen, Farbbeuteln und Knallkörpern versuchten Demonstranten den Straßenbahnverkehr lahmzulegen. Uniformierte Formationen schlugen zurück - hart zurück: Einkesselung, Tränengas-Granaten, Verhaftung von über Hundert Blockierern, Schlagstöcke , Verletzte, überfüllte Krankenhäuser. Bürgerkrieg an der Leine. Unter diesem Eindruck der Staats-Konfrontation trat die Aktion Roter Punkt den Rückzug an und erklärte die Demonstrationen für 1972 als beendet.
AUSBEUTER-GESELLSCHAFT
Nur studentische Revolutionäre dieses APO-Aufbruchs und DKP-Marxisten-Leninisten marschierten unverdrossen weiter durch die Innenstadt. Ihnen schien es offenbar weniger um den öffentlichen Nahverkehr als vielmehr um die "kapitalistische Ausbeuter-Gesellschaft" zu gehen; so wurde ein spontaner, erfolgreicher Bürger-Protest zu einer in Randgruppen bedeutungsvollen "Systemfrage" stilisiert, abgewürgt. Jedenfalls war die Renaissance des Roten Punkt gescheitert. Damals - im Jahr 1969 - kam es zwischen Studenten und Bevölkerung unvorhersehbar zu einer breiten Solidarität in der Sache. Ein Bündnis, das so durchsetzungsstark all seine Forderungen durchzusetzen vermochte. Nur drei Jahre später blieb die erhoffte Sympathie weiter Bevölkerungskreise aus.
DILEMMA DER KOMMUNEN
Dabei waren die Städte längst nicht mehr in der Lage, den öffentlichen Nahverkehr zu finanzieren. Die beinahe jährlich wiederkehrende Konfrontation zwischen Staatsgewalt und Demonstranten-Protest verdeutlicht, wie ausweglos gegenwärtig das Dilemma der Kommunen ist. Was im Jahr 1969 als ein hoffnungsvoller Schritt in die viel zitierte Zukunft galt, könnte sich schon Ende 1972 als ein Schritt der Zahlungsunfähigkeit, des Konkurses herausstellen. Damals wurde ein Verkehrsverbund für den Großraum Hannover geschaffen, der der Zersplitterung des öffentlichen Nahverkehrs und den Konkurrenz-Kämpfen der einzelnen Verkehrsbetriebe ein Ende bereitete.
KAUM VERLUSTE AUFFANGEN
Die Hannoverschen Verkehrsbetriebe - ÜSTRA AG - wurde zum Kaufpreis von 82 Millionen Mark kommunalisiert. Heute aber sind weder der Großraumverband noch die Stadt Hannover in der Lage, die eingetretene Kostenexplosion mit ihren Defiziten aufzufangen oder abzudecken. Bereits 1972 wird der Verband ein Haushaltsloch von 15,3 Millionen Mark aufweisen: 1975 sind es 46,8 Millionen. Verkehrsverbund und Einheitstarif, in einem Ballungsraum von mehr als einer Millionen Menschen, sind ohne finanzielle Beteiligung des Bundes und in diesem Fall des Landes Niedersachsen in den kommenden Jahrzehnten nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die Konsequenz für Hannover wäre folgenschwer: Rat und Verwaltung müssten dort wieder anfangen, wo sie nach der Roten-Punkt-Demonstrationen 1969 aufgehört haben:
ZONENTARIF, ZERSPLITTERUNG
Zonentarif, Zersplitterung und Konkurrenz der jeweiligen Verkehrsbetriebe, Steigerung des Individualverkehrs. Wer den Kreislauf, in dem sich die Städte befinden, seit Jahren beobachtet, fragt sich, wo eine mögliche Alternative zu der unbefriedigenden Situation zu finden ist. Zahlreiche Großstädte treten zwar schon seit Jahren mit Vehemenz für eine verstärkte Förderung des öffentlichen Nahverkehrs ein. Doch sie sind bisher nicht in der Lage, ihre Forderungen in die Praxis umzusetzen. Geldmangel, Haushaltslöcher, Netto-Kreditaufnahmen, Schulden, Geldmangel begleiten ihr Finanzgebaren.
NEUE KONZEPTION MUSS HER
Auf dem SPD-Parteitag in Hannover im November 1971 prallen zwar die Meinungen hart aufeinander, aber eine Alternative zu den Fahrpreiserhöhungen um immerhin 25 Prozent sah freilich niemand. Während ausgerechnet der FDP-Fraktionschef im Rathaus an der Leine, Walter Heinemann, an die Genossen appellierte, die Verkehrsbetriebe vor dem Konkursrichter zu bewahren, kritisierten Delegierten Konzeptions- wie Visionslosigkeit bundesdeutscher Verkehrspolitik. Für Gewerkschaften und dem linken SPD-Flügel sind mit unentwegten Fahrpreiserhöhungen verfehlte politische Strukturgaben nicht zu lösen. Es gehe auch nicht an, sich Jahr um Jahr mit erhöhten Ticket-Gebühren an den Kunden "gesundzustoßen".
AUTOABGASE IN METROPOLEN
Für den SPD-Landtagsabgeordneten Wolfgang Pennigsdorf ist der öffentliche Nahverkehr nicht nur eine kommunale Aufgabe, sondern ein zentrale gesellschaftspolitisches Problem; eine Aufgabenstellung, die den Bund ebenso verpflichtet. Nach seiner Ansicht dürfe Hannover nicht dem Beispiel der Bundesregierung folgen, die den Nahverkehr, die den Nahverkehr nach privat-wirtschaftlichen Grundsätzen behandeln wolle. Es käme vielmehr darauf an, dass endlich im Bundesverkehrsministerium eine Konzeption erarbeitet werde, die den durch Autoabgase erstickenden Großstädten eine neue Perspektive eröffne. Es gehe nicht an, so meint Wolfgang Pennigsdorf, dass Verkehrsminister Georg Leber (1966-1972 )bis 1985 insgesamt 175 Milliarden Mark für den Ausbau des Straßennetzes ausgeben wolle - aber für den öffentlichen Nahverkehr so gut wie kein Geld zur Verfügung stünde. - Fehlentwicklungen.
EINFRIEREN DER FAHRPREISE
"Mit dem Einfrieren des Fahrpreises und den daraus entstehenden Konsequenzen hätte Bundes-Bonn sich nicht mehr aus der Affäre ziehen können. Jetzt, wo die Unzulänglichkeiten wieder auf kommunaler Ebene gelöst wurden, sind wir in der Grundsatz-Auseinandersetzung kein Stück vorangekommen." Verschoben auf Sanktnimmerleinstag. In Anspielung auf Georg Lebers Ideallösung, "der autogerechten Straßen" erklärt Wolfgang Penningsdorf: "Die Förderung des Indiviualverkehrs ist die Fortsetzung der Eigenheimpolitik der CDU in den sechziger Jahren."
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