Lehrmittel-Ausstellung in Hannover: Viel Show-Effekte, viel Effekt-Hascherei - für den Schulalltag wenig
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Frankfurter Rundschau
25. März 1972 /17. März 2009
von Reimar Oltmanns
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Pädagogisches Inferno oder ein Paradies für Lehrer? Alles, aber auch alles, was irgendwie mit Vorschul-, Schul-, Hochschule-, Aus-, Fort- und Weiterbildung zu tun hat - präsentiert sich mittlerweile in 14 Hallen auf über 700 Messeständen; zur Schau gestellt für nahezu 70.000 Besucher. Gigantomanie pur, Monstershow im Großformat. Fernab von der Schul-Wirklichkeit dieser und künftiger Jahre demonstrieren Konzerne und Großverlage während der XI. Didacta in Hannover, was sie unter Fortschritt im Bildungswesen verstehen. Nur mit dem Schulalltag, mit den Unzulänglichkeiten, Engpässen, verpassten Chancen im deutschen Bildungssystem hat dieser Messe-Jahrmarkt namens Didacta reichlich wenig zu tun.
VERWIRRENDE BEGRIFFE
Begriffe wie "Tele-Didaktik", Worthülsen wie "Auditive Medien" oder "Algorithmus, gar ein "Single-Conzept-Film" deuten unmissverständlich darauf hin: die Industrie glaubt einen neuen - für sie äußerst profitablen, weithin ausbaufähigen Markt entdeckt zu haben. Zwar ist seit längeren offenkundig, dass Großunternehmen gigantische Summen in derartige Bildungs-Projekte investieren. Doch in welchem Ausmaß und mit welchen Marketing-Potenzial Lern- und Lehrprogramme entwickelt werden, darüber vermittelt die didacta einen breiten Flächen-Aufriss. Wer jahrein, jahraus durch die Messehallen wandert, kann kaum glauben, dass Deutschland in den europäischen Bildungs-Vergleichstests derart weit in den Keller abzurutschen vermochte.
SPITZEN-TECHNIK - LEHRER FEHLEN
Die Fernseh-GmbH, ein Unternehmen der Bosch-Gruppe, stellt beispielsweise ihre Vidikon-Farbkamera TV 140, in den Mittelpunkt ihrer Ausstellungs-Präsentation. Mit entsprechenden Zusatzgeräten vermag diese Linse unter anderem Objekte, die durch das Mikroskop betrachtet werden, auf den Bildschirm zu projizieren. Ferner kann sie Filme oder Dias direkt vom jeweiligen Projektionsgerät abnehmen und zu den Monitoren weiterleiten. Das Nonplusultra der Farbkamera TV 140 scheint für Bosch in der Live-Übertragung zu liegen. Das Nonplusultra des deutschen Bildungsalltags hingegen diktiert eine andere Schulwirklichkeit. Kaum Deutsch, kaum Physik, Mathematik eingeschränkt, Geschichte ab und zu - das ist nahezu überall die Wirklichkeit im westdeutschen Schulbetrieb geworden. Gespart wird vielerorts ohne Sinn und Verstand. Deutschland ein Bildungsland - ein Notstandsland.
DIDACTA - AN DER REALITÄT VORBEI
Wer jedoch beispielsweise nach den Preisen dieses Vidikon-Farbkamera-Zuges fragte, bemerkte schneller als es ihm recht sein konnte, dass ein solches Projekt mit der Realität der deutschen Schulen nichts zu tun hat; und das selbst unter den günstigsten Bildungs-Prognosen dieser Jahre. Zwar versicherten Firmenvertreter, das gesamte technische Instrumentarium sei pädagogisch erprobt, doch drängt sich unweigerlich die Frage auf, wer die finanziellen Belastungen auch nur halbwegs tragen kann.
BILDUNGSAUSGABEN GEKÜRZT
Allein die Farbkamera ohne Live-Übertragung kostet an die 30.000 Mark (Möglichkeiten: Mikroskop-, Film- und Dia-Überspielung). Der Preis für eine Farbkamera mit Live-Übertragung und den dazu erforderlichen Zusatz-Apparaten (Vidikon-Farbkamera-Zug) für alle Anwendungsbereiche beträgt etwa 180.000 Mark. Und das in einer Zeit, in der Wirtschafts- und Finanzminister Helmut Schmidt (1972-1974 ) Mitte der siebziger Jahre im Rahmen der mittelfristige Finanzplanung die Bildungsausgaben des Bundes von 58 auf 53 Milliarden Mark zusammenstrich. Und das ausgerechnet in einer Ära, in der etwa in der Universitätsstadt Bochum Lehrerinnen und Lehrer Lernmittel wie Lehrmittel für den Schulunterricht aus eigener Tasche zahlen. Zu kostspielig seien für das Bochumer Rathaus die Aufwendungen bis zu 500 Euro pro Jahr, unerlässliche Bücher, Lernprogramme, Lernmittel zu finanzieren. - Bildungs-Nation Deutschland.
"QUALITÄT KOSTET SEIN PREIS"
Der Philips-Konzern hält dagegen sein neuartiges PIP-System (Programmid individual Presentation) für geeignet, im Rahmen der inneren Differenzierung dem Unterricht neue Impulse zu vermitteln. Es handelt sich hierbei um ein Wiedergabegerät, das getrennt Schmalfilm- und Tonkassetten synchron ablaufen läßt. Dies ist deshalb möglich, weil in der Tonkassette Steuerimpulse für den Schmalfilm gespeichert sind. Der Vorteil dieses Systems liegt darin: ein und demselben Film können verschiedene Tonkassetten zugeordnet werden. Für die Unterrichtspraxis ergeben sich dadurch Differenzierungsmöglichkeiten nach dem Schwierigkeitsgrad der wörtlichen Information. Außerdem kann derselbe Film durch andere Tonkassetten unter anderen Aspekten betrachtet werden (Schwerpunktbildung). Nicht zuletzt wird das Gerät wohl auch für den Sprachunterricht interessant sein. Die kontinuierliche Regulierung der Film-Geschwindigkeit von Standbild bis zu 24 Bildern pro Sekunde beeinträchtigt zudem nicht die Bildqualität.
FÜR SCHULEN VON MORGEN: ZU TEUER
Trotz dieser technischen Vorteile kann der Philips-Konzern wohl kaum damit rechnen, sein PIP-System in absehbarer Zeit in deutschen Schulen einführen zu können. Ein Cassettescope LCH 2020, mit dem maximal zwei Schüler gleichzeitig über Kopfhörer arbeiten, kostet immerhin rund 1.500 Mark. Selbst bei einer Klassenfrequenz von 30 Schülern, von der die meisten Lehrer in der Bundesrepublik träumen, müssten mindestens 15 Cassettescopes für eine Klasse zur Verfügung stehen. Das wären je 22.500 Mark pro Klasse ausschließlich für besagte Apparatur. Die dazu notwendigen Programme kosten in der Produktion je nach Qualität nochmals zwischen 15.000 bis 20.000 Mark. Ein Philips-Vertreter abgeklärt: "Gewiss teuer, doch selbst die staatlichen Schulen von morgen werden diesen Preis nicht zahlen können oder auch wollen. Es bleibt allenfalls bei lauthalsigen Politiker-Versprechen. In Wirklichkeit bewegt sich in Sachen Bildung und Ausbildung nichts in Deutschland."
AUDIOVISION - ZUKUNFT HAT BEGONNEN
Bosch und Philips sind zwei markante Beispiele im Konzert der 107 in- und ausländischen Aussteller, die Audiovisionsgeräte und Zubehör anboten. Die Technik dominiert eindeutig, prägt das Denken. Nicht etwa Pädagogik, sondern Audiovision war der erstmals der zentrale Begriff, mit dem die Besucher konfrontiert wurden. Zeitwende. So erklärte der Vorsitzende des Fachausschusses Schulwesen des Verbandes für Arbeitsstudien Refa, Bernd Krommweh: "Ob Sprachlabor, Computer oder auch schulinternes Fernsehen - der auf der Didacta '72 gezeigte offenkundige Technisierungsgrad der Schule zeichnet ein völlig unrealistisches Bild des deutschen Bildungswesen auf." Der Pädagoge fragt sich: "Was nützen kostenaufwendige Sprachlabore, wenn geeignete Programme fehlen. Was nützen schul-interne Fernseh-Anlagen, wenn es wiederum den ohnehin hoch verschuldeten Bundesländer überlassen bleiben soll, die kostspielige Software zu bezahlen?" Fata Morgana.
ENTWICKLUNGSLAND: BUNDESREPUBLIK
Ähnlich äußerte sich auch der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft, Erziehung und Wissenschaft (GEW), Erich Frister (1968-1981; *1927+2005), wenn er davon sprach: "Die Diskrepanz zwischen dem, was Produzenten, Händler und Verlage auf den Lehrmittel-Ausstellungen zeigen und dem, das sich eine normale Schule leisten kann, entspricht etwa dem Gefälle zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern."
HÖHENFLÜGE
Wer sich nach derlei fortwährenden Konzern-Höhenflügen wieder dem widerborstigen Schulalltag nähern wollte, der fand bei dem Verlag Westermann in der Zeitschrift Schul-Management Ausstattungsvorschläge und Kosten-Kalkulationen für eine vier-zügige Sekundarstufe (Klasse 7 bis 10). Die Ausstattungs-Alternativen, die als eine Minimalausrüstung verstanden werden, beziehen primär nur "traditionelle" Geräte ein (vier Tageslicht-Projektoren, zwei Episkope, ein 16mm-Tonprojektor, zwei Dia-Projektoren, ein Tonband-Gerät, einen Plattenspieler und ein Radio). Diese eher traditionelle Ausrüstung, die den Audiovisions-Experten nur ein gelangweiltes Lächeln abtrotzt, kostet etwa 11.000 Mark. Bemerkenswert ist jedoch, dass bei einem zusätzlich vorgeschlagenen Erweiterungsprogramm, das bis zu einem Gesamtpreis von 55.000 Mark geht, Video-Recorder und Fernsehkameras (schwarz-weiß) erst dann ihre Berücksichtigung finden, wenn jede Klasse mit ihrem eigenen Tageslicht-Projektor ausgestattet ist. - Chancengleichheit.
VERARMTE BILDUNG
Während für Westermann-Verlagsdirektor Schröder Tageslichtprojektoren "sich in den Schulen inzwischen etabliert haben", diktiert die Statistik eine andere Sprache. Danach besitzen insgesamt 62 Prozent aller westdeutschen Schulen noch nicht einmal einen einzigen Tageslicht-Projektor. Diese Zahl veröffentlichte Heribert Heinrichs (*1922+2004) Professor für Medienpädagogik an der Universität Hildesheim (1958-1987). Selbst von Westermanns Minimalprogramm ist die Schul-Wirklichkeit noch sehr weit entfernt. Die Untersuchungen, die Heribert Heinrichs in seinem Buch "Lehr- und Lernmittel" (1972) veröffentlichte, beweisen dies hinreichend. Demzufolge hatte ein deutscher Klassenlehrer im Jahre 1968 durchschnittlich nur 125 Mark als Jahresausgabe seines Schulträgers für die so genannte Erweiterung, Ergänzung oder auch Erneuerung seines didaktischen Reservoir (ohne Bücherei) zur Verfügung. Deutschland - ein Entwicklungsland. Zur Erinnerung: Im Etatjahr 1970 waren es sage und schreibe 140 Mark und im Jahr 1971 wieder nur 135 Mark. In einer niedersächsischen Großstadt beispielsweise wurden pro Schüler 6,50 Mark anno 1971 gewährt.
NIEDERSCHMETTERNDE PROGNOSEN
Wie das Institut für Bildungswesen in Frankfurt a/M in seiner Informatiosschrift über die Bildungsmedien mitteilte, sollen bei günstigen Voraussetzungen im Jahre 1975 jedem Schüler in der Bundesrepublik Lernmittel für durchschnittlich 51 Mark zukommen. Dies bedeutet zwar eine Verdoppelung gegenüber dem Jahr 1970, wo durchschnittlich 27 Mark für einen Schüler ausgegeben wurde; dennoch wird diese Verdoppelung nicht einmal ausreichen, den jetzigen Stand der Lernmittelversorgung in Nordrhein-Westfalen für die ganze Bundesrepublik zu erzielen. Dort stehen schon jetzt 56,40 Mark pro Schüler zur Verfügung. Trotz dieser niederschmetternden Zahlen über die Möglichkeit, Gelder für Lernmittelausgaben zur Verfügung zu stellen, glauben Firmen auf ihre Absätze, hoffen auf ihre Märkte.
SCHWEDISCHE VORBILDER
Von den Unternehmen wenig progagiert und von der Öffentlichkeit kaum betrachtet, haben seit der letzten Didacta 1970 in Basel nach schwedischem Vorbild Kooperationsprozesse stattgefunden, die in den so genannten System-Gemeinschaften ihren Niederschlag finden. Der Klett-Verlag kooperiert mit der Bosch-Gruppe Leibold-Heraeus, während Westermann mit der Firma Philips zusammenarbeitet. Der Klett-Verlag sagt dazu, es gehe den drei Partnern nicht darum, Medien um jeden Preis zu produzieren, sondern vernünftige, realisierbare didaktische Unterrichts-Materialien in Kombination anzubieten. Auch Westermann und Philips sehen die Rechtfertigung der System-Gemeinschaft darin, dass Informatiker und Pädagogen nicht länger aneinander vorbeireden sollen.
LEHR- UND LERNSYSTEMEN
Obwohl es inzwischen zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen Pädagogik und Informatik gekommen ist, stellt sich der kritischen Didacta die Frage, mit welcher Berechtigung die Firmen im gegenwärtigen Entwicklungs-Stadium der Kooperation "von perfekten audfiovisuellen Lehr- und Lernsystemen" sprechen. Derlei Anmaßungen finden ihren Höhepunkt im Angebot eines weiteren großen Elektrokonzerns, der die erst eben auf den Markt präsentierte Bildplatte als "Bildungs-Platte" bezeichnet, da "das Videosystem Bildplatte idealer Träger von Lehrprogrammen aller Art" sei.
WENIG INNOVATIONEN
Wenn man vom audiovisuellen Bereich einmal absieht, so hatte die didacta 1972 recht wenig an neuen Lehrmaterialien zu bieten. Das meiste, von einigen Bücher-Neuerscheinungen abgesehen, konnte auch schon 1970 in Basel besichtigt werden. Die am Sonderschultag der didacta anwesenden Pädagogen bekamen zwar einen Vortrag geboten, erhielten aber nur wenig neue Anregungen, die sich auf ihre Unterrichtspraxis beziehen. Es zeigte sich wieder einmal mehr, dass der Sonderschulbereich für die Industrie nicht attraktiv ist. Würde man nach den Ausstellungsständen gehen, könnte man spontan den Eindruck gewinnen, als sei die Sonderschulpädagogik mit der Vorschulerziehung identisch; Randerscheinungen auf der Messe allemal. Dasselbe gilt auch für den Bereich der Erwachsenenbildung.
AKTION: "KLEINE KLASSE"
Während Industrie und Verlage mit ihren audiovisuellen Programmen in höheren Regionen abheben, schweben und die Vorteile ihrer Konzeptionen den Messebesuchern zu erklären versuchen, haben etwa die Junglehrer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft auf der didacta -Gelände die Aktion "Kleine Klasse" gestartet. Durch Flugblätter weisen die Pädagogen auf einen Erlass des Jahres 1872 hin, in dem gefordert wurde: "Jede Klasse ihren Klassenlehrer; jede Klasse ihren Klassenraum: Verbesserung der Ausstattung mit zeitgemäßen Unterrichtsmaterial und keine Anfängerklasse mit mehr als 20 Schülern!" Diese Forderungen erschienen 100 Jahre später noch ebenso utopisch, wie folgende Zahlen verdeutlichen: Im Jahr 1958/59 kamen auf einen Grundschullehrer in der Bundesrepublik 36 Kinder; 1969/70 waren es "nur" 33 Kinder. In derselben Zeit verbesserte Frankreich seine Klassenfrequenz von 29 auf 25 Schüler.
DIDACTA - EINE PR-MESSE
Anstelle didacta 72 wäre die Bezeichnung utopia '72 angebracht gewesen. Seither läuft jährlich die größte Fachmesse für Bildungswirtschaft mit einem enormen public-relations-Aufwand ab. Nebelkerzen. Tatsächlich offenbart es sich als ein Festival von Verlags-Marketing, Kultus-Bürokraten mit ihren Lehrer-Funktionären. Jahr um Jahr gilt es im Wortschwall etwas zu würdigen, zu feiern; mal sollen die "neuen Medien immer wichtiger", mal soll ein "Höchstmaß an soziale Gerechtigkeit" werden; mal muss der Lehrer für seine "engagierte und gute Arbeit" belobigt werden; mal fordert Niedersachsen Kultusministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU): "Wir brauchen eine höhere Bildungsqualität." Auf der didacta herrscht seit ihres Bestehen herrscht stets Feiertagsstimmung mit theatralisch inszenierten Kalendersprüchen, die "den Eltern Mut machen" soll, weil "vieles auf einem guten Weg ist" (Bundesbildungs-Ministerin Annette Schavan, im Jahre 2009). - Nur am miserablen Zustand im deutschen Bildungswesen, an zu hohen Klassenfrequenzen, Lehrermangel, baufälligen Schulgebäuden, unzureichende Ganztagsschulen, mangelnde Unterrichts-Ausstattungen, fehlendes Lern- wie Lehrmaterial Lücken in der vorschulischen Betreuung - daran vermochte in den vergangenen Jahrzehnten niemand etwas auszurichten. Aber immerhin in einer Disziplin ist Deutschland Rekordhalter: Kein Land der Welt leistet sich 16 eigenverantwortliche Kultusministerien mit eigener Bürokratie, eigenen Schulplänen, eigenen Anordnungen und Erlassen.
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