Bonn am Rhein glich einer dunstigen Käseglocke unter der gewachsene Bindungen verkümmerten und ungezwungene Mitmenschlichkeit nahezu Ausnahmen waren. Die Politik-Szene von einst schien geprägt vom Überlebenskampf jedes einzelnen: Ein Überleben mit Aktenzeichen im Fraktionszwang, mit Intrigen und Affären, mit Staatskarossen und Helikoptern, in Parteizentralen und Lobbyburgen, behütet von Staatssicherheits-beamten und Schützenpanzerwagen, zwischen Stacheldrahtverhauen und Videokameras. Nichts kennzeichnet den Verlust von Wirklichkeit, die Deformation der eigenen Person deutlicher als das einstige schrille Politiker-Leben des CDU-Generalsekretärs und Bundesministers Dr. Heiner Geißler. Ein Mann, der von sich sagte, in Bonn sei er schmerzfrei geworden. Ein Jesuiten-Schüler, der ohne knallharte Konfrontation nicht mehr leben konnte. Diagnose: suchtkrank. Ursache: Bonn - bis zu jenem Tag des 10. Dezember 2003 jedenfalls, an dem die Parteizentrale - das "Konrad-Adenauer-Haus" - gesprengt wurde. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war auch die Ära Geißler Vergangenheit.
Der Intrigant
oder Die Bonner Operetten-Republik
Eichborn-Verlag, Frankfurt a/M
11. November 1986
von Reimar Oltmanns
Das Konrad-Adenauer-Haus liegt an der Friedrich-Ebert-Allee, einer vierspurigen Ausfallstraße Richtung Bad Godesberg. Der schmucklose, zehnstöckige Beton- und Glaskasten grenzt an die britische Botschaft, vis-à-vis haben Polizeipräsident aber auch Sozialdemokraten ihre Bonner Heimstatt gefunden. Nachts wachen un-übersehbar die knallig roten, fast drei Meter hohen, über zwölf Meter breiten CDU-Leuchtbuchstaben auf dem Dach der Parteizentrale über die provinziell schlummernde Bundeshauptstadt Bonn. Nur der auf dem Steigenberger Hotel postierte, blau-illuminierte Mercedes-Stern signalisiert von Ferne eher einver-nehmliche Zweisamkeit.
WEIHNACHTSFEIER
Weihnachtsfeier im Bonner Konrad-Adenauer-Haus, der Parteizentrale der CDU. Lamettageschmückte Tannenbäume, ein von Steigenberger arrangiertes Büfett für knapp 20.000 Mark, schummrige Wohnzimmer-Beleuchtung, Akkuratesse in Gesicht und Zwirn.
An diesem Abend suchen Menschen die Nähe anderer, denen sie in der Hauptstadt sonst nicht nah sein dürfen. Durch die herausgeputzte Weitläufigkeit bundes-deutschen Aufsichtsratsinterieurs, einem holzgetäfelten Verschnitt aus Kunst und Knoll, dröhnt gedämpft der Stereo-Sound, "Yes Sir I can buggy". Im Arbeitszimmer des Herrn Dr. Kohl (CDU-Parteivorsitzender 1973-1998) tanz das Adenauer-Sekretariat mit der abgeordneten Sicherheit aus dem Bundeskriminalamt in die Nacht hinein.
Die meisten kennen sich schon recht lange, aber nur für den Dienstgebrauch. Dieser wird im Adenauer-Haus von Pietät und Takt diktiert. Keine hautengen Blue-Jeans, klein Blouson, allenfalls zart aufgetupftes Make-up mit blass bemalten Lippen. Vergilbte Benimm-Regu-larien kleinstädtischer Tanzschulen prägen unausge-sprochen Umgang und Beritt, unterscheiden feinsäuber-lich zwischen Empfindung und Empfindsamkeit, zwischen Schüchternheit und Verklemmtheit.
BARBUSIGE BALLETT-DAMEN
Dass auf dem Kieler CDU-Bundesparteitag 1979 barbusige, aus Paris eingeflogene Ballettdamen über die Bühne huschten, war für den Vorsitzenden ohnehin eine "Geschmacklosigkeit sondergleichen", die sich nicht wiederholen dürfe. Dafür halten es die Männer aus Präsidium und Parteibürokratie mit Walther von der Vogelweides "Lieder von der niederen Minne" - verdeckte Techtelmechtel mit "unebenbürtigen Mädchen".
AHNENGALERIE
Der scheinbar endlos lange, schmale Flur im zehnten Stockwerk des Konrad-Adenauer-Hauses ist das vertraute Bonn-Interieur des Dr. jur. Heinrich Geißler
( Jahrgang 1930, CDU-Generalsekretär von 1977 bis 1989, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit von 1982 bis 1985). Geißlers Milieu. Wenn die Fahrstuhltür sich beiseite schiebt, springt dem Ankömmling das stattlich-staatliche Konterfei des Parteivorsitzenden entgegen. Helmut Kohl milde lächelnd im bewährten Dialog mit der wissbegierigen Jugend. Auf dem mit gelben Teppich ausgelegten Flur und im Sitzungszimmer neben den überall präsenten Überwachungsmonitoren hat sich die Ahnengalerie der CDU-Kanzler samt ihrer Wahlplakate wie in einem Museum angesammelt. Konrad Adenauer (*1876+1967, Bundeskanzler 1949-1963), der "keine Experimente" wollte und mit seiner reduzierten Sprache den "Wir-sind-wieder-wer-Konsens" im Nachkriegs-Deutschland einläutete. Ludwig Erhard (*1897+1977, Bundeskanzler 1963-1966), der als "Mister Wirtschaftswunder" den aufbrechenden Widersprüchen einer schnell wachsenden Industrienation mit seiner "formierten Gesellschaft" zu begegnen glaubte. Und schließlich Kurt-Georg Kiesinger (*1904+1988, Bundeskanzler 1966-1969, der schöngeistige Übergangsregierende während der Großen Koalition in den sechziger Jahren.
SCHNÖRELLOSE, TRISTE LEBENSUMSTÄNDE
Heiner Geißlers Räumlichkeiten liegen exakt unter den knalligen CDU-Leuchtbuchstaben. Das U steht fürs Büro, zugleich auch sein Wohnzimmer mit Video, Fern-seher und CD-Spieler. Unterm D sind Sekretariat und Abstellraum für Kühlschrank, Gefrier-Box nebst Pressearchiv platziert. In dieser Aktenkammer isst der Generalsekretär mit Vorliebe zu Abend - und das immer hast, fast immer allein. Ihm ist es allemal angenehmer, sich vom Chinesen in Aluminium-Folien verpackte Platten servieren zu lassen, als sich in Bonner Restau-rants den nur zu bekannten Gesichtern zu nähern. Und unter dem C verbirgt sich sein winziges Schlafverlies. Ein schmales, kärgliches Zimmer, eine Pritsche als Bett, Tisch und Stuhl, ein Spind als Schrank, eingebautes Klo, Dusche. Schnörkellose, triste Lebensumstände, diktiert von der gängigen Vorstellung von Funktionalität und Effizienz. - Bonner Jahre. Junggesellen-Jahre.
RAUFBOLDE, DICKSCHÄDEL
Das einzige Private, das er sich genehmigte, ist eine zwei mal zwei Meter große Fotowand. Schwarz-weiße Bilder, halbmatt, zeigen ferne Gipfel. Es sind die Spitzen des österreichíschen Zillertals. Dort, wo die Geißlers ihre Vorfahren ausfindig gemacht haben, die als berüchtigte Raufbolde und Dickschädel um sich schlugen. Die Zillertal-Zinnen sollen einen direkten Hinweis auf die Gemütswallungen des Generalsekretärs liefern, "nur über den Wolken kann die Freiheit grenzenlos sein". Er präsentiert sich keineswegs nur in der Superrolle à la Henry Kissinger (US-Außenminister 1973-1977), er will darüber hinaus auch noch als Reinhold Messner der CDU gesehen werden. Verwegen, unwiderstehlich, unverwüstlich. Ein Image-Mann mit Image-Gesetzen, der das politische Gewerbe in unmittelbarer Nachbar-schaft schauspielernder Stuntmen ansiedelt, der sich ansonsten kontaktscheu in sich verkröche, sympathisierte das Publikum nicht nachweislich mit seiner Bergsteiger-Pose. Immerhin so beeindruckend nachhaltig, dass selbst die alternative tageszeitung in Berlin ihn ironisch zum "attraktivsten Mann der Politszene" kürte.
UNIONS-KASTELLAN IN DER MÖNCHSZELLE
Auf dem Flur schräg gegenüber wachen nächtens zwei Polizisten des Bundeskriminalamtes über die Unver-sehrtheit dieses Unions-Kastellans in der Mönchzelle. Augenscheinliche Parallelen zu dem früheren BKA-Präsidenten drängen sich auf. Horst Herold (1971-1981) reduzierte sich Privatleben ebenfalls auf Null. Er hatte sich in der Wiesbadener Elektronik-Zentrale nach jahrelanger Terroristenjagd systematisch zugemauert, von der Außenwelt hermetisch abgeschottet. Mit seiner Frau redete der ranghöchste Polizist der Republik nicht mehr, ließ sich schließlich scheiden. DISPOL-, PISA-, LISA, PIOS und der INPOL-Fahndungscomputer waren längst zu seinem alleinigen Bezugspunkt geworden, ein Gegenüber, über das er x-beliebig verfügen, mit dem er sich reibungslos verständigen konnte.
WER MACHT HAT, BRAUCHT KEINEN ORGASMUS
Meistens tief in der Nacht, wenn sich Dr. Geißler von der aufreibenden Tagesroutine entfernt weiß, arbeitet er "für unsere gemeinsame Zukunft, für eine Gesell-schaft mit menschlicherem Gesicht". Er braucht nicht viel Schlaf, er haßt ihn eigentlich. Will er doch seine kostbare Zeit effektiv nutzen, um Visionäres der Wirk-lichkeit ein Stückchen näher zu bringen. Für seine Politikaufrisse benötigt er keine Menschen, er verachtet sie insgeheim. Er liebt die abstrakte Planung. Die Gesellschaft mit empirischen Instrumentarien in Segmente zu zerlegen, weitsichtig Entscheidungsbedarf von morgen und übermorgen vorzubereiten, das fasziniert ihn ungemein - etwa beim Krankenhausbau.
UNIONS-KASTELLAN IN DER MÖNCHSZELLE
Auf dem Flur schräg gegenüber wachen nächtens zwei Polizisten des Bundeskriminalamtes über die Unver-sehrtheit dieses Unions-Kastellans in der Mönchzelle. Augenscheinliche Parallelen zu dem früheren BKA-Präsidenten drängen sich auf. Horst Herold (1971-1981) reduzierte sich Privatleben ebenfalls auf Null. Er hatte sich in der Wiesbadener Elektronik-Zentrale nach jahrelanger Terroristenjagd systematisch zugemauert, von der Außenwelt hermetisch abgeschottet. Mit seiner Frau redete der ranghöchste Polizist der Republik nicht mehr, ließ sich schließlich scheiden. DISPOL-, PISA-, LISA, PIOS und der INPOL-Fahndungscomputer waren längst zu seinem alleinigen Bezugspunkt geworden, ein Gegenüber, über das er x-beliebig verfügen, mit dem er sich reibungslos verständigen konnte.
WER MACHT HAT, BRAUCHT KEINEN ORGASMUS
Meistens tief in der Nacht, wenn sich Dr. Geißler von der aufreibenden Tagesroutine entfernt weiß, arbeitet er "für unsere gemeinsame Zukunft, für eine Gesell-schaft mit menschlicherem Gesicht". Er braucht nicht viel Schlaf, er haßt ihn eigentlich. Will er doch seine kostbare Zeit effektiv nutzen, um Visionäres der Wirk-lichkeit ein Stückchen näher zu bringen. Für seine Politikaufrisse benötigt er keine Menschen, er verachtet sie insgeheim. Er liebt die abstrakte Planung. Die Gesellschaft mit empirischen Instrumentarien in Segmente zu zerlegen, weitsichtig Entscheidungsbedarf von morgen und übermorgen vorzubereiten, das fasziniert ihn ungemein - etwa beim Krankenhausbau.
VERTRACKTE RAUMKAPSEL
Schon seit 1977 macht Heiner Geißler aus Koffern Politik. Sich in Bonn für die angepeilte Jahrzehnte ein bisschen einzurichten, sich womöglich lebensfroh ein-zugestehen, dass diese Stadt keineswegs nur aus ver-qualmten Buden, Aktenböcken und flanellgarnierten Prestigefiguren besteht - solch naheliegende Gedanken rührten sich in ihm bisher nicht. Bonn sei nolens volens eine vertrackte Raumkapsel, in der viel schwadroniert werde, die geschwätzige Verlogenheit sich von der einen in die andere Alltagspathologie transferiere. Nein, beschied Geißler, dies sei nun wirklich nicht seine Um-gebung. Er wolle ja schließlich das neue Deutschland bauen, zukunftsweisende Perspektiven entwerfen. Deshalb könne ihn auch niemands zu den Cocktail-Empfängen locken, wo Gewichtiges und Nettes sich augenzwinkernd in seltener Noblesse mit ihren ewigen Déjà-vu-Erlebnissen therapieren.
VIERECKS-VERHÄLTNIS
Seine Welt, sein Milieu ist ein Betonkasten aus zehn Etagen - das Konrad-Adenauer-Haus. Dort - managt er mit monotoner Beharrlichkeit ein Vierecks-Verhältnis, seinen Lebensinhalt: Politik und nochmals Politik, Taktik und nochmals Taktik, Strategie und nochmals Strategie, Macht und nochmals Macht.
Überall surrt es auf Geißlers Etage zu Bonn.. Überall arbeiten die kleinen Reißwölfe vor sich hin. Im Kopier-raum neben der Kaffeeküche, in den Sekretariaten unter den Schreibtischen. Immer, wenn vertrauliche Informa-tionen übers Telefon den Leitungsstab erreichen, werden sie aufgeschrieben und unverzüglich den jeweiligen Adressaten ausgehändigt. Die speichern dann ihre exklusive Neuigkeit im Kopf, und der Reißwolf zerhackt das Papier. Spione vielleicht, Misstrauen überall.
Schon seit 1977 macht Heiner Geißler aus Koffern Politik. Sich in Bonn für die angepeilte Jahrzehnte ein bisschen einzurichten, sich womöglich lebensfroh ein-zugestehen, dass diese Stadt keineswegs nur aus ver-qualmten Buden, Aktenböcken und flanellgarnierten Prestigefiguren besteht - solch naheliegende Gedanken rührten sich in ihm bisher nicht. Bonn sei nolens volens eine vertrackte Raumkapsel, in der viel schwadroniert werde, die geschwätzige Verlogenheit sich von der einen in die andere Alltagspathologie transferiere. Nein, beschied Geißler, dies sei nun wirklich nicht seine Um-gebung. Er wolle ja schließlich das neue Deutschland bauen, zukunftsweisende Perspektiven entwerfen. Deshalb könne ihn auch niemands zu den Cocktail-Empfängen locken, wo Gewichtiges und Nettes sich augenzwinkernd in seltener Noblesse mit ihren ewigen Déjà-vu-Erlebnissen therapieren.
VIERECKS-VERHÄLTNIS
Seine Welt, sein Milieu ist ein Betonkasten aus zehn Etagen - das Konrad-Adenauer-Haus. Dort - managt er mit monotoner Beharrlichkeit ein Vierecks-Verhältnis, seinen Lebensinhalt: Politik und nochmals Politik, Taktik und nochmals Taktik, Strategie und nochmals Strategie, Macht und nochmals Macht.
Überall surrt es auf Geißlers Etage zu Bonn.. Überall arbeiten die kleinen Reißwölfe vor sich hin. Im Kopier-raum neben der Kaffeeküche, in den Sekretariaten unter den Schreibtischen. Immer, wenn vertrauliche Informa-tionen übers Telefon den Leitungsstab erreichen, werden sie aufgeschrieben und unverzüglich den jeweiligen Adressaten ausgehändigt. Die speichern dann ihre exklusive Neuigkeit im Kopf, und der Reißwolf zerhackt das Papier. Spione vielleicht, Misstrauen überall.
160 PRESSE-ORDNERGleich neben seinem Schlafverlies stapeln sich über 160 vollgepfropfte Presseordner, die mir mir quasi cool nebenbei zeigt. Sie füllen seine Aktenschränke. Selbst für den CDU-Generalsekretär eine bemerkenswerte Anzahl. Von einem durchschnittlichen Parlamentarier erst gar nicht zu sprechen, der in vier Jahren im Bundes-hausarchiv etwa eine halbe Leitzmappe zusammenbringt. - Unausgesprochen und dennoch ausnahmslos machen sich am Gedruckten Leistungskriterien fest. - Geißler Gipfel.
Pressedokumentationen entpuppen sich Knall auf Fall als untrügerische Bonn-Seismografen. Sie zeigen Zugehörigkeit oder Außenseitertum an. Die Teilhabe an der Macht spiegelt sich in der Quantität angehäufter Zeitungsstapel und Agenturmeldungen wider.
Heiner Geißler hat kein Zuhause mehr. Freunde kann er auch keine benennen. Allesamt sind sie ihm entrückt. Schemenhaft blieben ein paar Namen in Erinnnerung - aus Schule, Studienzeit und Junger Union. Lang ist es her, zu lang für politische Charaktere seines Kalibers.
Pressedokumentationen entpuppen sich Knall auf Fall als untrügerische Bonn-Seismografen. Sie zeigen Zugehörigkeit oder Außenseitertum an. Die Teilhabe an der Macht spiegelt sich in der Quantität angehäufter Zeitungsstapel und Agenturmeldungen wider.
Heiner Geißler hat kein Zuhause mehr. Freunde kann er auch keine benennen. Allesamt sind sie ihm entrückt. Schemenhaft blieben ein paar Namen in Erinnnerung - aus Schule, Studienzeit und Junger Union. Lang ist es her, zu lang für politische Charaktere seines Kalibers.
DIAGNOSE: SUCHTKRANKUnd heute? "Das lässt der Job nicht zu", murrt er knapp. Wenn, dann sind die pflegsam behandelten Bekannt-schaften allenfalls "politischer Natur". Seine alltäglichen Kontakte kappte er schon in jungen Jahren, damals, als er aufbrach, die politische Spitze zu erobern. Wäre er kein hochkarätiger CDU-Politiker, sondern ein medizinischer Fall der Drogenberatung in Bonn. Diagnose: suchtkrank. Ursache Politik in Bonn. Keine Frage, viele Symptome würden den Verdacht innerer Verwahrlosung erhärten.
CAMPING-SOZIALISTEN
Im ordentlichen Mainzer Vorort Gonsenheim lebt seine Familie - ist auch er dort polizeilich gemeldet. Von außen Eigenheim, von innen Villa mit acht Zimmern, Schaffellteppiche, Atrium, Goldfische im kleinen Teich. Für ihn gibt das Ambiente nichts her, ist Attrappe, die sich beziehungsarm aneinanderfügt. Schaublind-packung. Kein hospitalistischer Blick, sondern die Sichtweise des einstigen Familienministers, der auszog, den Deutschen wieder heimatfühlende Nestwärme, Geborgenheit und Familiensinn einzuschärfen, der gegen "die Camping-Sozialisten" unentwegt zu Felde zieht, "weil der Sozialismus entwurzelte Menschen braucht, damit er ihn manipulieren kann".
ENTFREMDET, VERFREMDET
Dabei ist es Heiner Geißler selber, der nach den Jahren in Bonn seiner Familie fremd geworden ist. Wo die Entfremdung begann, was der eigentliche Auslöser dafür war, wer will das im Nachhinein noch auseinanderhalten, zumal Politiker-Erfolge die Schatten überstrahlen und für lichte Momente vorsorglich eine Dunkelkammer reserviert ist. Entfremdung vollzieht sich ja meist unmerklich, achselzuckend, läßt in den seltensten Fällen ohnmächtige Aggressionen heraus-kommen. Jedenfalls wollte der "Bonn-Geißler" seine Familie aus dem "mörderischen Hauptstadt-Geschäft" unbedingt heraushalten, die Pressemeute von seiner Haustüre in Gonsenheim verscheuchen.
CAMPING-SOZIALISTEN
Im ordentlichen Mainzer Vorort Gonsenheim lebt seine Familie - ist auch er dort polizeilich gemeldet. Von außen Eigenheim, von innen Villa mit acht Zimmern, Schaffellteppiche, Atrium, Goldfische im kleinen Teich. Für ihn gibt das Ambiente nichts her, ist Attrappe, die sich beziehungsarm aneinanderfügt. Schaublind-packung. Kein hospitalistischer Blick, sondern die Sichtweise des einstigen Familienministers, der auszog, den Deutschen wieder heimatfühlende Nestwärme, Geborgenheit und Familiensinn einzuschärfen, der gegen "die Camping-Sozialisten" unentwegt zu Felde zieht, "weil der Sozialismus entwurzelte Menschen braucht, damit er ihn manipulieren kann".
ENTFREMDET, VERFREMDET
Dabei ist es Heiner Geißler selber, der nach den Jahren in Bonn seiner Familie fremd geworden ist. Wo die Entfremdung begann, was der eigentliche Auslöser dafür war, wer will das im Nachhinein noch auseinanderhalten, zumal Politiker-Erfolge die Schatten überstrahlen und für lichte Momente vorsorglich eine Dunkelkammer reserviert ist. Entfremdung vollzieht sich ja meist unmerklich, achselzuckend, läßt in den seltensten Fällen ohnmächtige Aggressionen heraus-kommen. Jedenfalls wollte der "Bonn-Geißler" seine Familie aus dem "mörderischen Hauptstadt-Geschäft" unbedingt heraushalten, die Pressemeute von seiner Haustüre in Gonsenheim verscheuchen.
BERICHT AUS BONN
Vor dem kleinen Sitzungssaal im Konrad-Adenauer-Haus wartet ein Fernsehteam des Westdeutschen Rundfunks mit ihrem Berichterstatter Ernst-Dieter Lueg (*1930+2000) schon über eine halbe Stunde auf den CDU-Generalsekretär. Eingeschnürt vor stickiger Casino-Atmosphäre aus Gummibaum, Rundlampen und Bohnerwachsgeruch fläzen sich die Kamera- und Ton-männer in den Garnituren. Endlich. Ein Posten-steher öffnet die Türe. Heiner Geißler kurvt um die Ecke. Hektik und Gestik haben jedweden Zweifel weggefegt. Keine Frage, "zu Geißler drängt's, an Geißler hängt's". - "Wie viel Minuten", will er wissen. "Drei", ist die Ant-wort. "Um was geht es eigentlich noch?", fragt er nun. Stichwort: Kriegsdienstverweigerung. Kommando: Kamera läuft, Ton ab, Klappe. Nach drei Minuten und zwanzig Sekunden: "Hat ja prima hingehauen. Macht es gut Jungs, bis zum nächsten Mal". sagt er, weg ist er. An diesem Tag hatte schon früh morgens der Bayerische Rundfunk die Aufwartung im Ministerium gemacht. Ein Termin beim NDR steht noch aus. Und in Kürze wird Geißler als Winzer verkleidet mit Bauern aus der südlichen Pfalz frisch gekelterten Wein auf einem Bollerwagen zu Helmut Kohl ins Kanzleramt karren - selbstverständlich für den "Bericht aus Bonn" am Freitagabend.
FERNSEH-MATTSCHEIBEN
Fernseh-Mattscheiben sozialisierten Geißler zu einem Zeitgenossen des eingefrorenen Dauerlächelns. Sein nonverbales Repertoire meidet spontane, unkon-trollierte, intensive Affekte, da diese mitunter Nervo-sität, Zynismus, Kontaktschwäche, Unverbindlichkeit freilegten. Sein Gesichtsausdruck verrät kaum Auf-fallendes - außer dem gezielten Steuerung des ewigen Dauerlächelns. Langsam zieht Geißler sein Mundwinkel hoch, langsam rasten seine Lachfalten auf dem ge-wünschten Charmepegeln ein. Im Zeitlupentempo dreht er seine Mimik behutsam zurück. Ein Ausbund von Freundlichkeit, ein Vorbild möchte er in seiner Wunsch-vorstellung abgeben, Identifikationen glaubt er so auf sich zu vereinen.
Diese kraftzehrende, nach außen gerichtete Theatralik begräbt individuelle Bedürftigkeit, persönlliche Konturen zerfließen allmählich ins Unkenntliche. Das Magnetfeld allgegenwärtiger Sachlogik und politischer Zweckmäßigkeit geht einher mit der Abstraktion des Ichs. Unaufgefordert, beinahe beflissen unterdrückt da ein jeder seine persönliche menschliche Anteilnahme: elementare Lebensgefühle verdorren.
Vor dem kleinen Sitzungssaal im Konrad-Adenauer-Haus wartet ein Fernsehteam des Westdeutschen Rundfunks mit ihrem Berichterstatter Ernst-Dieter Lueg (*1930+2000) schon über eine halbe Stunde auf den CDU-Generalsekretär. Eingeschnürt vor stickiger Casino-Atmosphäre aus Gummibaum, Rundlampen und Bohnerwachsgeruch fläzen sich die Kamera- und Ton-männer in den Garnituren. Endlich. Ein Posten-steher öffnet die Türe. Heiner Geißler kurvt um die Ecke. Hektik und Gestik haben jedweden Zweifel weggefegt. Keine Frage, "zu Geißler drängt's, an Geißler hängt's". - "Wie viel Minuten", will er wissen. "Drei", ist die Ant-wort. "Um was geht es eigentlich noch?", fragt er nun. Stichwort: Kriegsdienstverweigerung. Kommando: Kamera läuft, Ton ab, Klappe. Nach drei Minuten und zwanzig Sekunden: "Hat ja prima hingehauen. Macht es gut Jungs, bis zum nächsten Mal". sagt er, weg ist er. An diesem Tag hatte schon früh morgens der Bayerische Rundfunk die Aufwartung im Ministerium gemacht. Ein Termin beim NDR steht noch aus. Und in Kürze wird Geißler als Winzer verkleidet mit Bauern aus der südlichen Pfalz frisch gekelterten Wein auf einem Bollerwagen zu Helmut Kohl ins Kanzleramt karren - selbstverständlich für den "Bericht aus Bonn" am Freitagabend.
FERNSEH-MATTSCHEIBEN
Fernseh-Mattscheiben sozialisierten Geißler zu einem Zeitgenossen des eingefrorenen Dauerlächelns. Sein nonverbales Repertoire meidet spontane, unkon-trollierte, intensive Affekte, da diese mitunter Nervo-sität, Zynismus, Kontaktschwäche, Unverbindlichkeit freilegten. Sein Gesichtsausdruck verrät kaum Auf-fallendes - außer dem gezielten Steuerung des ewigen Dauerlächelns. Langsam zieht Geißler sein Mundwinkel hoch, langsam rasten seine Lachfalten auf dem ge-wünschten Charmepegeln ein. Im Zeitlupentempo dreht er seine Mimik behutsam zurück. Ein Ausbund von Freundlichkeit, ein Vorbild möchte er in seiner Wunsch-vorstellung abgeben, Identifikationen glaubt er so auf sich zu vereinen.
Diese kraftzehrende, nach außen gerichtete Theatralik begräbt individuelle Bedürftigkeit, persönlliche Konturen zerfließen allmählich ins Unkenntliche. Das Magnetfeld allgegenwärtiger Sachlogik und politischer Zweckmäßigkeit geht einher mit der Abstraktion des Ichs. Unaufgefordert, beinahe beflissen unterdrückt da ein jeder seine persönliche menschliche Anteilnahme: elementare Lebensgefühle verdorren.
"LANGER EUGEN"
Auf dem Sportplatz Gronau am Rhein im Bonner Regierungsviertel gleich neben dem Abgeordneten-Hochhaus Langer Eugen wartet im Dunkel ein Bundes-wehr-Hubschrauber auf seinen Passagier. Von hier ist das Bundeshaus kaum mehr als einen Steinwurf entfernt, das Kanzleramt liegt unmittelbar dahinter. Es ist ein grauslig-diesiger, nasskalter Dezember-Abend. Böige Winde und anhaltende Regenfälle haben schon einige Tage zuvor den Rhein über die Ufer getrieben, die Promenade weitflächig überspült, die Bänke aus ihren Halterungen fortgerissen, Treibgut klatscht ans Gemäuer der Uferstraße. Auch der Fußballplatz, auf dem in freundlicher Jahreszeit Ex-Nationalspieler Wolfgang Overrath bierrunden Parlamentariern das Ballkullern lehrt, suppt unter lehmig aufgewühltem Wasser.
"GESINDEPFLEGE"
Nicht weit vom Anstoßpunkt steht der Helikopter. Die Piloten vom BMVg, wie das Bundesministerium für Verteidigung im Kürzel heißt, warten gelangweilt , Frau Dorothea Göbel, Geißlers treu ergebene Assistentin, bibbert dem Abflug entgegen. Die "Bundeswehr-Männer", sagt Frau Göbel, waren ausgesprochen hilfsbereit, verstauten flugs die Geißler'schen PR-Sektflaschen, die sie resolut über den triefenden Rasen geschleppt hatte. Die Bundeswehr ist für diesen Abend und für den nächsten Morgen geordert worden, weil nach dem Terminplan "Gesindepflege" auf dem Pro-gramm steht - Kurzvisite des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit und Generalsekretär der Christlich Demokratischen Union in seinem Wahlkreis 161, Landau, Südliche Weinstraße.
Ein Direktmandat, das Geißler schon 1980 im ersten Anlauf eroberte und seither bequem hält. Verein-barungsgemäß hatten auch die beiden Limousinen ihre Stellungen bezogen. Die aus dem Ministerium vor dem Kanzleramt, aus dem Heiner Geißler abgeholt werden soll, die aus dem Adenauer-Haus in der Pfalzklinik Landeck, wo Geißler landen soll.
Die Bonner "Schedule", was soviel wie Zeittafel bedeutet, ist mittlerweile durcheinander geraten; Geißler "taucht und taucht nicht auf - fährt und fährt nicht vor". Die Maschinerie steht still.
PANZERSPÄHWAGEN
Stille zieht auch durchs Regierungsviertel. Vom Langen Eugen schimmern nur vereinzelt Lichter aus Bürofenstern. Nur wenige Bundestagsabgeordnete harren noch in ihren Dienstzimmern. Sie haben eine sitzungs-freie Woche. Die Straßen menschenleer, hin und wieder ein paar Autos, Panzerspähwagen der Polizei. Irgendwo versteckt piepsen Sprechfunkgeräte des Objektschutzes. Scheinwerfer liefern die Silhouetten von Amtsgebäuden, hinter denen sich Kakteen oder Gummi-baumgewächse abwechseln und endlose Flure verbergen. Lediglich der Lange Eugen überragt dieses lieblos dahingestoppelte Häusergekrümel aus den Nachkriegsjahren - Bonn ein Provisorium.
Die Ruhe und die frische Brise am Rhein erinnern an ein ausgestorbenes Seebad zur Winterzeit. So mitten drin, so eng auf Tuchfühlung mit der politischen Macht, umgeben von ihrer dumpfen Alltäglichkeit, da sind die Mächtigen entrückter unnahbarer, austauschbarer denn je. Gleichbleibende Sterilität trocknet Gefühle aus, kappt Bezugspunkte, zermürbt Fantasie. In Frankfurt am Main, Hamburg, München, Berlin, in den Ballungszentren des Ruhrgebiets, dort, wo die Menschen sich in ihrer Widersprüchen an konkreten Widerständen wund reiben, dort sind die Mächtigen des Landes fassbar. Im eingeweckten Regierungsviertel, noch dazu aus der Hubschrauberperspektive vor dem Abflug, verlieren sich verlässliche Konturen in eine geordnete Unkenntlichkeit.
Der Generalsekretär konferiert mit seinem Helmut Kohl bereits seit mehreren Stunden; Gespräche, die nicht enden wollen ... ...
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