Vorwärts, Bonn
22. Dezember 1986
von Jochen Loreck
CDU-Generalsekretär Heiner Geißler wagt sich in schwierigste Berg-Gelände. Im gelangt sogar der Aufstieg zum 6.010 Meter hohen Cotopaxi in Ecuador - dem höchsten tätigen Vulkan. Sein Motto: "Nur wer sich selbst imponiert, imponiert auch anderen." Dass Geißler in der Politik ebenfalls hoch hinaus will, ist die gemeinsame Erkenntnis seiner Freunde und Gegner.
Was halten Sie von Heiner Geißler? Der Journalist Reimar Oltmanns hat die Frage solchen Personen gestellt, die den CDU-Generalsekretär "hautnah" im bundes-deutschen erleben.
Drei Antworten hält Oltmanns für symptomatisch: "Was er sagt, ist ja gut und schön. Ich glaub ihm nur kein Wort." - "Der Mann ist für mich die Schmerzgrenze". - "So einen eiskalten Heuchler sieht man nicht oft im Leben."
Aus einer umfangreichen Materialsammlung über Geißler hat der ehemalige 'stern'-Reporter nun ein Buch mit dem Titel: "Der Intrigant" gemacht. Ende November 1986 wird "Der Intrigant" für zwanzig Mark im Buchhandel zu haben sein.
TREIBHAUS DER BEDEUTUNGSTRÄGER
Vier Jahre lang beobachtete Oltmanns aus der journalistischen Kammerdiener-Perspektive das republikanische Hofleben in Bonn: "das Treibhaus der pathologischen Bedeutungsträger", "das entsinnlichte Staatstheater", "diese von der Öffentlichkeit aus gutem Grund sorgsam versteckte Mätressen-Hochburg". Diagnose der Autors: Es gibt eine tiefe Entfremdung zwischen der Bonner Politiker-Kaste und den "Bürgern draußen im Lande".
Oltmanns: "Es war sicherlich kein Zufall, dass ich mich sehr schnell für den CDU-Generalsekretär interessierte. Immerhin ein konservativer Weltverbesserer mit sozialen Affinitäten. Ein Mann des CDU-Apparats, der einst angetreten war, nicht sich, sondern die Republik umzukrempeln."
Oltmanns vergleicht Geißler mit einer klassischen Theaterfigur - dem "Tartuffe" des französischen Komödien-Dichters Molière aus dem siebzehnten Jahrhundert. So wie Tartuffe durchtrieben und hintersinnig gegen seinen Förderer Orgon vorgeht, so verhält sich Geißler gegenüber Kohl: ein ungleiches Paar, bei dem der Diener immer mächtiger wird und seinen Herrn entmachten kann.
Der beharrliche Bonn-Beobachter Oltmanns spekuliert, dass Geißler als nächstes Ziel den Vorsitz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion anstrebt, also Alfred Dregger beiseite stößt. In einem weiteren Schritt könnte er dann Nachfolger von Helmut Kohl werden - als neuer Parteichef.
Bereits jetzt bezeichnet sich der CDU-Generalsekretär als "geschäftsführender Partei-vorsitzender". Dezent weist er daraufhin, dass er bei der Wiederwahl zum General-sekretär mehr Delegierten-Stimmen erhalten hat als Helmut Kohl bei seiner Be-stätigung im Amt des CDU-Chefs.
ENTRÜCKTES LEBEN
Noch im vergangenen Jahr apostrophierte "Der Spiegel" Geißler als "Kohls Kettenhund". Inzwischen mutmaßt auch das Hamburger Nachrichtenmagazin, der stets angriffslustige Begleiter könnte auf seinen eigenen Herren losgehen.
Die schwarze Eminenz der CDU residiert seit 1977 im Bonner Konrad-Adenauer-Haus. Von dort aus hetzt Geißler - von Termin zu Termin und gegen alles, was sich ihm politisch in den Weg stellt.
Es ist ein entrücktes Leben, das Geißler in Bonn führt. Im zehnten Stock des CDU-Hochhauses hat er sich eingebunkert. Schräg gegenüber wachen zwei Polizisten des Bundeskriminalamtes über seine Integrität - die körperliche.
VIERTAUSENDER ERKLOMMEN
Selbst im Urlaub sucht Geißler die Einsamkeit. Er hat alle Viertausender in den Alpen erklommen. Er unternimmt Ski-Hochtouren, versteht sich auf Eiswand-Besteigungen und Felskletterei. Ein Winterbiwak bei minus vierzig Grad am senk-rechten Hang reizt ihn mehr als jeder Bade-Urlaub.
In seinem Bonner Büro erinnert eine Foto-Wand, zwei mal zwei Meter groß, an seine Hochgebirgs-Extratouren.Die Bilder symbolisieren seinen Hang nach Größe. Das Organisations-Genie Geißler, das Propaganda-Genie Geißler, alles das ist nicht genug. Er will, urteilt Oltmanns, "auch noch als Reinhold Messner der CDU gesehen werden".
"SCHLAFVERLIES" IN CDU-ZENTRALE
Geißlers "Schlafverlies" beschreibt Oltmanns so: "Ein schmales, kärgliches Zimmer, eine Pritsche als Bett, Tisch und Stuhl, ein Spind als Schrank, eingebautes Klo, Dusche. Schnörkellose, triste Lebensumstände, diktiert von der gängigen Vor-stellung von Funktionalität und Effizienz. Das hat die Geißlerische Existenz nach-giebig geprägt, wohl mehr als seine legendären Abenteuer-Blenden aus der dolomitischen Bergwelt."
Mit "normalen" Menschen, mit dem deutschen Durchschnittsbürger kommt der konservative Machthaber kaum noch in Berührung. Das Leben im Bonner Hochsicherheitstrakt nimmt ihn vollends gefangen. Seine Frau Susanne mokiert sich über "Emanzen-Heiner". Einkaufen mag er nicht. Und kochen, kann er überhaupt nicht."
SYMPATHIEKURVEN
Im Blickwinkel des Heiner Geißler sind die Millionen Otto Normalverbraucher zu statistischen Ziffern geschrumpft. Was das deutsche Volk denkt und diskutiert, erfährt er aus den demoskopischen Erhebungen von Elisabeth Noelle-Neumann. Deren Analysen, das Auf- und Ab der Sympathiekurven, Diagramme und Zahlen studiert Geißler mit so viel Gründlichkeit wie andere die Bundesliga-Tabelle am Montag in der Zeitung.
Aus dem Hamburger Wahlergebnis filtert er heraus: eine Verfestigung der Streitmacht der Grünen, bei der FDP eine schlechte Moral der Truppe. Die Christ-demokraten erzielen Geländegewinne auf Kosten der Sozialdemokraten. Aber strategisch bedeutet das nicht viel: In einem neuen Drei-Parteien-System ohne FDP liegt nämlich die Mehrheitsbeschaffer-Rolle bei der SPD.
Der kriegswissenschaftlichen vorgehende Geißle hat als Beinahe-Pazifist begonnen. In seiner Doktorarbeit - 1960 eingereicht an der Juristischen Fakultät der Tübinger Universität - singt er das hohe Lied der Kriegsdienstverweigerung: Auch ein Ver-teidigungkrieg bedeute, dass der demokratische Staat Gewissensfreiheit und Menschenwürde nicht mehr sichern könne, weil er "selbst das schützende Gut angreift und verletzt". Dagegen Geißler am 15 Juni 1983 im Deutschen Bundestag. "Der Pazifismus der dreißiger Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht."
WENDIGE UND WINDIGE
Über das Wendige und Windige bei Geißler urteilt Oltmanns: "Seine Wandlungs-fähigkeit ist von einer selten-genialen Unbekümmertheit. Ausdruck seiner macht-fixierten Verbonnung."
Als Sozialminister von Rheinland-Pfalz (1967 bis 1977) startete er einen Aufsehen erregenden Angriff von links gegen die Regierung Helmut Schmidt. Knapp sechs Millionen, so rechnete er Ende 1975 vor, leben in Armut: Berufsanfänger, kinder-reiche Familien, Alte. - Geißler erfand die "neue soziale Frage".
Ab 1982 organisierte er am Bonner Kabinettstisch als Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit die Umverteilung von unten nach oben. Verschlechterung für Alte, Kranke, Rentner, Arbeitslose.
Nachdem der "Sparkurs" bei den Landtagswahlen im Saarland und in Nordrhein-Westfalen ein CDU-Desaster ausgelöst hatte, schwenkte Geißler wieder um: Plötzlich war wieder Geld da für notleidende Bauern, junge Mütter und die Trümmerfrauen.
Einst wetterte er gegen deutsche Waffenlieferungen für die Dritte Welt: "Sozial-demokraten und Freie Demokraten sind zu Parteien geworden der Rüstungsexporte geworden. Wir müssen hier wieder zu klaren Verhältnissen zurückfinden." Heute schweigt der scharfzüngige Partei-General zu diesem Thema, obwohl die Waffen-Ausführungen steigen.
PROPAGANDA-TECHNIK
Geißlers ausgefeilte Propaganda-Technik folgt historischen Vorformen. Dr. G. sagt: "Derjenige, der die Ideen hat und der auch die richtigen Begriffe wählt, hat die Macht auch über das Denken der Menschen."
Ein anderer Dr. G. - Hitlers Propandaminister Joseph Goebbels - sagte: "Was Propaganda ist, welche Macht sie darstellt, mit welchen Mitteln und Methoden sie betrieben wird, das wissen wir. Wir sind ihre Meister geworden."
SOZIALDEMOKRATEN ALS "MOSKAU-FRAKTION"
Der in Bonn amtierende Dr. G. knüpft an Feindbilder an, die der verblichene Dr. G. schon kräftig "gepflegt" hat: Sozialdemokraten als "Moskau-Fraktion", Sozial-demokraten als "fünfte Kolonne", Sozialdemokraten in einem Atemzug mit "Betrügern" und "unanständige Deutschen". Geißlers Propaganda-Technik ist also keineswegs originell.
Einst war er noch der uneigennützige Helfer seines Förderers Helmut Kohl. Die beiden kennen sich seit den frühen sechziger Jahren, als sie in der Jungen Union ihren politischen Aufstieg vorbereiteten. Kohl, seit 1959 Landtagsabgeordneter in Rheinland-Pfalz empfahl dem alternden und ahnungslosen Ministerpräsidenten Peter Altmeier das Multi-Talent Heiner Geißler als Sozialminister.
Fortan verfügte Jung-Helmut über einen Horch- und Vorposten am Mainzer Kabinettstisch. Schon zwei Jahre später war Altmeier mit Geißlers Hilfe aufs Altenteil abgeschoben. Kohl regierte im Land der Reben und Rüben.
Dankbar förderte fürderhin Kohl seinen Geißler. Nachdem 1973 Kohl Rainer Barzel aus dem CDU-Vorsitz verdrängt hatte, sollte Geißler neuer Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz werden. Doch der Kohl-Gehilfe unterlag gegen Bernhard Vogel.
Als der Oggersheimer vor zehn Jahren von Mainz nach Bonn ging, wollte er Geißler zum neuen Ministerpräsidenten küren lassen. Aber erneut zog Geißler gegen Vogel den kürzeren.
PARTEI-ZENTRALE : US-VORBILDER
Die Berufung zum CDU-Generalsekretär war als "Trostpflaster" für Geißler gedacht. Tatsächlich leitete sie die Emanzipation des Heiner Geißler vom Gönner ein.
Geißler knüpft im Konrad-Adenauer-Haus an die Konzepte seines Vorgängers Kurt Biedenkopf an: Ausbau des CDU-Hauptquartiers zu einer organisatorischen Kommandozentrale.
Die CDU wird wie eine moderner Konzern nach amerikanischen Vorbild geführt. Der faltenreiche Mann mit dem Spitzbuben-Lächeln orientiert sich an dem ameri-kanischen Soziologen Daniel Bell: "Politik ist in der heutigen Gesellschaft gleich be-deutend mit Management der Gesellschaftsstruktur."
Kühl kalkulierende Polit-Produktmanager suchen nach neuen Marktnischen für die Ware CDU, Semantiker arbeiten an einer kieselsteinglatten Sprache. Das Wort "Problem" ist durch "Herausforderung" zu ersetzen. Statt "Atomkraft" muss es "Kernenergie" heißen. Das Wort "Neutralität" ist positiv zu besetzt, deshalb ist stets "Neutralismus" zu verwenden.
Der Redakteur Peter Grafe bescheinigt Geißler in seinem Buch über die CDU, der Partei ein zukunftsorientiertes Image verpasst zu haben. Grafe: "Die CDU hat es sich zur Aufgabe gemacht, 'Zukunft zu gestalten' und 'Partei des Fortschritts' zu werden. Die Modernisierung ist kein Ergebnis von Forderungen der Parteibasis, sondern eher der Versuch, von oben Bewegung nach unten zu vermitteln."
NEUE BEGRIFFE - NEUE WÄHLER
Geißler analysiert, dass die CDU nicht mehr - wie noch zur Zeit Adenauers - über-wiegend von Frauen gewählt wird. Vor allem die jüngeren Frauen sind der C-Partei von der schwarzen Fahne gegangen.
Praktisch im Alleingang stülpt Geißler binnen Wochen der CDU eine neue Begrifflichkeiten über. Er propagiert die "neue Partnerschaft zwischen Mann und Frau" und formt daraus die "Essener Leitsätze".
Zwar wird der Anteil der Frauen in der Bundestagsfraktion der CDU/CSU nach der Wahl nur ganz geringfügig ansteigen, aber was zählt, ist etwas anderes: Die Union erweckt den Anschein, es gut mit den Frauen zu meinen. Und dieser Anschein ist unendlich viel wichtiger als die Wirklichkeit, hat Geißler bei der Lektüre des mittelalterlichen Machttheoretikers Niccoló Machiavelli gelernt.
ENTCHRISTLICHUNG DER CDU
Geißler analysiert die schleichende Entchristlichung der CDU. Er sucht deshalb nach einem neuen ethischen Fundierung konservativer Politik. Das Zauberwort heißt Menschenrechte.
Publikumswirksam jettet Geißler im Juli 62.000 Flug-Kilometer um die Welt, besucht Süd-Koera, Chile und die Philippinen. Starke Worte findet er immer dann gegen regierungsamtliche Brutalität, wenn dies nicht dem Kurs der USA zuwider-läuft.
Geißler kritisiert Apartheid in Südafrika, Unterdrückung in Nicaragua. Er käme allerdings nie auf die Idee, sich öffentlich zur Folter in Mexiko oder der Türkei zu äußern. Hauptsache: Der Klingel-Begriff Menschenrechte führt die CDU ein paar neue Mitglieder aus der jungen Generation zu.
SCHWARZ-ROT-GOLDENES FÄHNCHEN
Geißler analysiert die Probleme der CDU am rechten Rand ihres Wählerspektrums. Wenn die "Republikaner" von Franz Schönhuber trotz rechtslastiger CSU bei den bayerischen Landtagswahlen auf drei Prozent kommen, wie mag da erst der reaktionäre Randbereich der CDU-Anhängerschaft gestimmt sein? Also lässt Geißler bei seiner Pressekonferenz in Bonn ein schwarz-rot-goldenes Fähnchen auf den Tisch stellen.
In der CDU sucht sich die neue Rechtsaußen-Strömung einen Abzugskanal durch den Ruf nach Verschärfung des Schwangerschaftsabbruch-Paragraphen 218. Als dieser Konflikt beim Mainzer Parteitag aufflackert, ist Geißler sofort mit der Feuerpatsche zur Stelle: bloß kein Partei-Knatsch vor der Bundestagswahl am 25. Januar 1987.
In einem 'stern'-Interview tönte Geißler vor vier Jahren: "Wir haben nur dann eine echte Chance beim Wähler, wenn die Leute uns zwei Dinge abnehmen: Die CDU kann's mit den Gewerkschaften und mit den Russen."
Wäre das Geißler-Wort wahr, müsste die Union die Winterwahl verlieren. Auf jeden Fall zeigt das Zitat, dass der Generalsekretär ungeheuer variantenreich agitieren kann - je nach Meinungskonjunktur.
KEIN MANN DES KAPITALS
Im Gegensatz zu vielen seiner mächtigen Mitstreiter ist Geißler kein Mann des Kapitals. Kohl verdankt seine Karriere dem Pegulan-Chef Fritz Ries. Biedenkopf verdingte sich als Henkel-Mann. Albrecht wuchs an der Seite des Keks-Giganten Bahlsen. Stoltenberg diente bei Krupp. Dregger war Assistent beim Arbeitgeberver-band.
Dagegen Geißler: ein katholisches Kleinbürger-Kind aus der schwäbischen Kleinstadt Oberndorf am Neckar. Als 23jähriger Student ist Geißler in die CDU eingetreten: "Ich bin nicht mit dem Fallschirm in die CDU gekommen", sagt er selbst.
Aber hoch hinaus will er - getreu seinem Motto "Nur wer sich selbst imponiert, imponiert auch anderen."
Für die Bundestags-Wahlschlacht plant Geißler Gigantisches: über 20.ooo Versammlungen, sechs Millionen Hochglanzbroschüren, fünfzig gemietete Groß-hallen, die Zeitung Deutschland am Wochenende in einer Auflage von zwölf Millionen Exemplaren.
Wenn die Union siegt, wird es der Sieg von Heiner Geißler sein - nicht von Helmut Kohl.
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