Vorwärts, Bonn
vom 28. Februar 1987
SPIEGEL-BUCH, Hamburg
vom 02. September 1981
von Reimar Oltmanns
Märkte geöffnet, neue Konsum-Tempel gebaut, riesige Büroflächen hochgezogen. Arme, Arbeitslose und Alte umgesiedelt - im Umland "versteckt". Bankfurt, Krankfurt, Zankfurt. Das CDU-Vermächtnis einer maroden Metropole; für Profite optimal, für Menschen seelenlos. Alle 23 Sekunden passiert ein Verbrechen. Jeden dritten Tag bringt sich ein Mensch um. Jeden Tag werden Frauen wehrlose Opfer einer Vergewaltigung. Hinter neureichen Fassaden nistet Wut, Verzweiflung, Hass. Frankfurt Ende der achtziger Jahre - das sind Ereignisse in einer durch Ohnmacht und Gewalt gekennzeichneten Wirklichkeit - Bilder einer deutschen Metropole.
Vom Taunus betrachtet gleicht Frankfurt einer panoptischen Filmvision des kom- menden Jahrhunderts. Silhouetten liefern den Aufriss einer schnörkellosen Metropole der scharfen Spiegelglas-Kanten, die mehr Digitaluhren als Bäume, dem- nächst vielleicht auch mehr Brunnen als Parkflächen, mehr Grashalme als Arbeitsplätze kennt. In Spiegelglas verkleidete Wolkenkratzer überragen wahllos ein mausgraues Häuser-Gekrümel. An die drei Dutzend Beton-Bananen prägen die so genannte "städtebauliche Dominanz" für Versicherungen, Banken, Gewerkschaften, Konzerne - und natürlich fürs Fernsehen mit seinem 331 Meter hohen Turmschaft. An den ausgefransten Stadträndern haben sich wachstumsbesessene Industriegiganten festgebissen. Riesenkrebse, die Flüsse verseuchen, Wiesen vergiften und trickreich eine Schneise nach der anderen in die angrenzenden Wälder schlagen.
TEUERSTE METROPOLE EUROPAS
Frankfurt am Main, das ist die Metropole für die Wirtschafts- und Finanzwelt in diesem Land, ein Banken- und Börsenimperium mit 338 Kreditinstituten. Über 600.000 Mitarbeiter im In- und Ausland lassen sich aus dieser Stadt steuern. Der Umsatz ihrer Produkte kletterte erst 1986 auf mehr als 50 Milliarden Mark. Frankfurt am Main - das ist auch der Verkehrsknotenpunkt der Republik. Allein der Flughafen: Über 235.000 Starts und Landungen, über 17 Millionen Menschen schnaufen jährlich über die computergesteuerten Verladerampen. Frankfurt am Main ist schließlich die teuerste Stadt in Europa. Einer Expertise des Europäischen Management-Zentrums zufolge muss ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz zwischen 36 bis 72 Millionen Mark für den Unterhalt eines Verkaufsmanagers und dessen Büro in Frankfurt rund 231.000 Mark per anno aufwenden. Frankfurt am Main - das ist teuerste Stadt in Europa. Einer Expertise des Europäischen Management-Zentrums zufolge muss ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz zwischen 36 bis 72 Millionen Mark für den Unterhalt eines Verkaufsmanagers und dessen Büro in Frankfurt rund 231.000 Mark per anno aufwenden.
STARS AND STRIPES
Frankfurt am Main - das ist aber auch der Kristallisationspunkt der ausgebufften Werbebranche zwischen Glanz und Glimmer, zwischen Empfindungen und Befindlichkeiten, zwischen Stars und Stripes - eben ein Warentextmarkt für Deutschland. Übersättigt und ausgelaugt ist er allemal, auf dem es aber stets neue Konsumgier und Kauflust zu entfachen gilt. Ob Marlboro, Camel oder West, ob Durchbruch oder Aufbruch, nicht weniger als 300 Werbeagenturen proben hier produktbezogene Enthemmungsstrategien.
BANKFURT - KRANKFURT
Tatsächlich sind Bankfurt, Zankfurt, Krankfurt längst zu Synonymen für Frankfurt geworden. Eine Stadt, die sich selber frisst, die Lebensräume ab gekappt und Nischen zuschüttet. Hier wurden schon Häuser besetzt, als noch nirgendwo von Hausbesetzungen die Rede war. Hier wurde demonstriert, spekuliert, kaputtgemacht, gewuchert, vergeudet, radikaler, brutaler, besinnungsloser als in irgendeiner vergleichbaren Stadt.
"HASTE WAS, BISTE WAS"
Zum Dunstkreis der sattsam Arrivierten dieser Rhein-Main-Region zählen ihre exquisiten Klubs: Rotary Club, Union Club, Handelsclub, einflussbesessene Inzucht-vereinigungen. Eine vornehmlich konservative Welt ist das, die den Frankfurter Sparkassen-Werbeslogan aus den fünfziger Jahren zum Credo erhob. "Haste was, biste was." Einst Walter Wallmann (1977-1986) als Oberbürgermeister, dann Wolfram Brück (1986-1989) seit 1995 beinahe zwei Jahrzehnte die CDU-Kommunalpolitikerin Petra Roth finden in diesen diskreten Kapital-Klubs ihre fundamentale Stütze, seit sie mit einem Erdrutschsieg im Jahre 1977 die absolute Mehrheit im Stadtparlament gewonnen haben. Schon damals sagte sich erst zaghaft, dann immer vehementer der CDU-Staat dieser Tage an; stets auf der Suche nach Alternativen zu den Alternativen.
GEGEN-MILIEU
Denn früher, krasser, auch gewalttätiger als anders wo in Deutschland, Berlin ausgenommen, hatte sich hier ein aufgetan: Stadtindianer, Stadtguerillas, einfache RAF-Sympathisanten aus Folterkomitee und Roter Hilfe, Sponti und Grüne, Homos und Heteros, Frauengruppen und Gastarbeiterkinder, arbeitslose Mädchen und Jungen, heimatlose Mischlinge aus amerikanischen Kasernen, Rocker und Punks - eine kunterbunte Verweigerungs-Gesellschaft, die alles oder nichts ist, die kein einheitliches Gesicht hat, die ihre Vitalität aus eigenen und fremden Widersprüchen bezieht und sich nur in einem Punkt einig weiß: in der Negativ-Abgrenzung gegenüber der Wirklichkeit.
NEUROSEN-GMBH
Dieses Gegenkultur, von der bürgerlichen Welt oft als "Neurosen- und Exhibitionismus-GmbH" belächelt, arbeitet sich seit einem Jahrzehnt am Widerstrebenden ab. Ständig auf der Suche nach sich selbst, absprungbereit zu einer lang herbeigesehnten, neuen Identität. Frankfurt ist für die Spontis ihr Schauplatz, für den sie Hass und Verachtung empfinden, der sie zu Gegnern dieses Staates werden ließ, ohne den aber ihr Weltbild erst recht lädiert wäre. Eine Hassliebe, die keinen Stillstand kennt, immer neue Nahrung findet.
ZENTRALORGAN: PFLASTERSTRAND
So steht's im PflasterStrand (1976-1990), dem Zentralorgan der Spontis, geschrieben: " Frankfurt - eine erotische Stadt. In Berlin ist alles so halbseiden, selbst die Subkultur lebt von der Staatskrediten. In Hamburg gibt es mehr Häuser im englischen Stil, dafür sind die Leute stämmig und wetterfest. In Berlin machen die Punks das, was hier vor zehn Jahren die Anarchos gemacht haben. In Frankfurt weigern sich die Punks, das kaputtzumachen, was uns kaputtmacht. Sie machen lieber das kaputt, was sie kaputtmacht. Alle Leute fragen sich, was machen Hunderttausende in Poona, aber niemand fragt sich, was machen Fünfzigtausende in Höchst. München ist auch eine schöne Stadt, von Dachau aus gesehen.
ERNST BLOCHS UNGLEICHZEITIGKEIT
Gewiss, Frankfurt ist nicht Deutschland und die Sponti-Szene auch die viel zitierte deutsche Jugend. Aber wenn Ernst Blochs (*1885+1977) These von der Ungleichzeitigkeit zutrifft, dann zwischen Frankfurt und dem Rest des Landes. Frankfurt, Mitte der achtziger Jahre ist eventuell die Bundesrepublik von übermorgen. Parallelen, die nicht augenscheinlich verlaufen, oft erst durch Zeitlupentempo im nachhinein greifbar werden. Tatsächlich ist Frankfurt eine Metropole, die Verwirrung stiftet, gedankliche Grenzüberschreitungen auslöst; eben eine Metropole der bewussten Missverständnis und unbewussten Genauigkeiten, Alles, was in Frankfurt passiert, ist missverständlich und genau. Schon allein deshalb wäre Frankfurt nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) die ehrlichere Hauptstadt für dieses Land gewesen. Ein Missverständnis ist schon die Außenausstattung der Stadt. Menschen wurden entwurzelt, an ihren Rand ausgebürgert und vom Beton verschluckt. Urbane Viertel mit alter Bausubstanz und Parks wurden achtlos dem Erdboden gleichgemacht. Beton entstand, Banken und Bonzen zogen dort ein.
LEBENSZIEL: PROFIT + SPEKULATION
Genau sind dagegen Profite oder auch Spekulations-Gewinne an der Börse zu kalkulieren, scheinbar. Grund und Boden sind im Zentrum ausverkauft, bei Quadratmeterpreisen bis zu 14.000 Mark. Genau ist auch die Zahl derer, die eine Wohnung bitter benötigen: 20.500, wobei 1.000 Luxuswohnungen leer stehen. Genau ist die Zahl von 153 Häusern mit insgesamt 430 Wohnungen, die zuletzt den Bulldozern und Speku-lanten zum Opfer fielen. Genau sind auch die Manager, die in ihren klimatisierten Hochhäusern den Panorama-Blick ihr eigen nennen und die Stadt unter sich wissen. Kaum eine Dollar-Talfahrt ohne Intervention der Deutschen Bundesbank, kein Metallarbeiter-Streik ohne Eugen Loderer (1972-1983; *1920+1995) und später Franz Steinkühler (1989-1992) samt der Bank für Gemeinwirtschaft, keine Hoffnung auf sichere Arbeitsplätze im Norden und Süden des Landes, wenn Banken mit Sitz in Frankfurt, kränkelnde Unternehmen Kredite oder Bürgschaften entziehen.
DEUTSCHES MISSVERSTÄNDNIS - SPD
Ein deutsches Missverständnis ist auch die Sozialdemokratie in dieser Stadt, die programmatisch und emotional abgewirtschaftet hat. Eine Orts-SPD, weil links von der Bundespartei, trägt die Hauptverantwortung für Zockerprofite, City-Zerstörung und Mietwucher. Genau sind dafür Skandale und Affären, bis auf Heller und Pfennig, Euro und Cent. Millionen-Verluste der Hessischen Landesbank (Helaba) bei merkwürdigen Investitionen unter SPD-Aufsicht. Spenden-Geschichten, die in Wirklichkeit Schmiergelder waren.
POLIZISTEN: RAUS AUS DIESER STADT
Ein weiteres Frankfurter Missverständnis ist ferner, dass jeder vierte Polizeibeamte ein Versetzungsgesuch eingereicht hat. Vielen ist es egal, wohin, nur raus aus dieser Stadt. Genau waren und sind aber ihre paramilitärischen Aufmärsche und ihre Knüppelaktionen - gegen alles, was nach Demonstrant riecht und nach Hausbesetzer aussieht.
DER PSYCHIATER ALS "HAUS-FREUND"
Missverständnisse über all die Jahre, das macht nervös, so viel Genauigkeit und Geschäftigkeit macht sarkastisch. Denn die viel zitierte Betroffenheit ist offenkundig nur eine winzige Nische, die noch bleibt, um sich in einem hoffnungsvollen Rest zurechtzufinden. Sie ist die Maxime der Spontis und Frankfurt ihre Hochburg. So wie es Daniel Cohn-Bendit, der Studentenführer vom 68er Pariser Pflaster von einst, meinte: "Beim Bau der Barrikaden wurden die Grundlagen für die Entstehung neuer emotionaler Beziehungen gelegt. Diese Barrikaden-Gemeinschaft verkörperte den großen Einbruch der Zukunft in die Gegenwart. Diese Nacht hat viele Psychiater arbeitslos gemacht."
WARTELISTEN: LUFTHANSA + FREUD
Es sind vornehmlich die Psychotherapeuten, die in Frankfurt einer ungeahnten Hochkonjunktur entgegensehen. Wie die Lufthansa legte auch das Sigmund-Freud-Institut (1960 gegründet, seit 1995 Forschungseinrichtung) eine allerdings auf Jahre währende Warteliste an. Hunderte von Menschen halten ihren Grundwiderspruch zwischen Denken und Fühlen, zwischen Kopf und Bauch zusehends schwerer aus. Der Besuch beim Psychiater gerät zur all wöchentlichen Routine; zählt im Bildungsbürgertum und einer arbeitslosen akademischen Jugend zum gesellschaftsfähigen, ichbezogenen Gesprächsstoff dieser Jahre.
VERFASSUNGSSCHUTZ
Das Bundesamt für Verfassungsschutz schreibt über die Spontis: "Die schwer überschaubare undogmatische links-extremistische Bewegung besteht nach wie vor aus zahlreichen meist kleinen Gruppen - oft nur lockere, kurzlebige Zusammenschlüsse ohne feste Mitgliedschaft und Programm - , die die bestehende soziale und politische Ordnung revolutionär beseitigen wollen. Sie lehnen die marxistisch-leninistische Konzeption ab und treten für Autonomie, Spontaneität und Selbstorganisation der 'Unterdrückten' ein, von denen sich einige deshalb auch ausdrücklich Spontan-Gruppen oder 'Spontis' nennen."
MARKETING-SPRÜCHE
Linksextremistisch, wenngleich undogmatisch im Sinne Lenins, trotzdem revolutionär, auch wenn es sich oft nur um kurzlebige, lockere Zusammenschlüsse handelt? Ein Sponti , der solche Verfassungsschutz-Weisheiten ernst nimmt, ist in Wirklichkeit kein Sponti. Selbst Revolution, dieses rote Wörtchen, ist heute stumpf geworden. Zumindest für den Autokonzern BMW, der mit ihr wirbt, um seine schnellen Renner unters Volk - auf die Autobahnen zu bringen.
LINKS-RECHTS-VOKABULAR
Sponti-Betroffenheit kennt ganz andere Varianten - sie ist für Außenstehende in der Tat schwer zu überschauen. Vor allem reicht das verschlissene politische Links-Rechts-Vokabular nicht mehr aus, um sie zu erfassen. Auf eine ideologische Größenordnung ist sie ohnehin nicht mehr zu bringen. Hinter der Sponti-Wahrnehmung verbirgt sich, wie es Heinz Stephan Herzkas in der Zeitschrift psychosozial formulierte, der neue "Empfindungsmensch". Er ist misstrauisch gegenüber Institutionen, organisierten Gruppen und durchgeplanten Aktionen. Seine Lebensphilosophie ist vielmehr von dem Grundgefühl getragen, "dass die Organisiertheit der Gesellschaft den eigenen Grundwerten zuwiderlaufen und auf ihn verstümmelnd wirke" (Herzka). So glauben die meisten Jugendlichen, den Grundwiderspruch zwischen Denken und Fühlen, zwischen Kopf und Bauch nur in einem alternativen Lebenszusammenhang auflösen zu können. Ein Lebenszusammenhang, der die bürgerlichen Spielregeln außer Kraft setzt, in dem rationales Handeln nicht konträr zu den Gefühlen abläuft.
"VOLK OHNE TRAUM"
Der PflasterStrand berichtet in jenen Jahren vom "Volk ohne Traum" am Main und schreibt: "Der große Traum von 1968 ist ausgeträumt, der alte schreckliche Traum der Deutschen der 50er,ein Leben in Frieden und eigenem Häuschen, wird nostalgisch wieder aufgewärmt, erreicht uns auch, aber ist noch zu schwach, um wirksam zu werden. Unsere Armut ist, keine Träume zu haben. Dass wir damit wieder dem übrigen Volk näherstehen als noch vor Jahren, macht die Lage nicht erträglicher. Der gemeinsame Mangel stärkt nicht, er hetzt gegeneinander auf."
POMPÖS UND HOCHKARÄTIG
Frankfurt in diesen Tagen, Szenen aus dieser Stadt. Im Blumen geschmückten Dekor der Paulskirche, jenem historischen Gemäuer republikanischer Tradition, haben sich Manager, Minister, Stadtväter und Universitäts-Professoren eingefunden. Ein pompöser akademischer Festakt ist angesagt. Drei hochkarätigen Industriellen soll aus Dankbarkeit und Anerkennung die Ehrensenatorenwürde der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität verliehen werden. Unter den Geehrten: Rolf Sammet (*1920+1997), Präsident des Chemieverbandes und Vorstands-Vorsitzender der Hoechst AG. Gerade dieser multinationale Konzern hat es in jüngster Zeit verstanden, einen Umweltskandal nach dem anderen zu inszenieren. Und nach einer Studie der Arbeitsgemeinschaft Rhein-Wasser-Werke gilt die Hoechst AG als der größte Wasserverschmutzer der Bundesrepublik. Mitte der 50er Jahre überschritt der Jahresumsatz des Konzerns erstmals eine Milliarde Mark. Ende der achtziger Jahre erreichte der Konzern mit über 170.000 Beschäftigten einen Jahresumsatz von 46 Milliarden Mark. Im Jahre 1994 wurde der Frankfurter Chemiekonzern in die französische Holding Rhône-Poulenc zur Aventis S.A. überführt. Der Name Hoechst verschwand 2004 ganz aus der Öffentlichkeit.
VIVALDIS "CONCERTO GROSSO"
Im Festsaal der Paulskirche im achtziger Jahrzehnt jedenfalls intonierte das Kammerorchester der Musikhochschule für den Hoechst-Manager Rolf Sammet noch Vivaldis "Concerto grosso", draußen vor der Tür kreischten Polizei-Sirenen, rotierten Hubschrauber im Niedrigflug, fegten Wasserwerfer den Paulsplatz menschenleer. Etwa 300 Jugendliche waren dem Demonstrationaufruf des Allgemeinen Studentenausschusses (ASTA) der Universität gefolgt, um gegen die zu kürenden Ehrensenatoren zu protestieren. Auf ihre Transparente hatten sie in großen Lettern gepinselt: "Die Schweine von heute sind die Braten von morgen." - "Umweltschutz ist wichtiger als de Gewinne der Farbwerkbosse." - "Aus Liebe zu den Senatoren kauft Schweineschwänzchen und Schweineohren."
WASSERWERFER - REITERSTAFFELN
Von Sperrgittern und Wasserwerfern verbarrikadiert, von Polizeihundertschaften nebst Reiterstaffeln eingekreist, doziert im Kirchen-Interieur Uni-Ehrensenator Hartwig Kelm über die "schweigenden Mehrheiten" von Studierenden und Lehrenden, die sich aus der "Umklammerung von brutaler Gewalt und rücksichtsloser Missachtung demokratischer Gesetzmäßigkeiten" befreien wollen.
BANKIERS ORAKELN
Privatbankier Johann Philipp Freiheit von Bethmann (*1924+2007), der der hessischen CDU mit ihrem rechtslastigen Landeschef Alfred Dregger (*1920+2002) orakelt in seinem Festvortrag über die von Vertraueskrisen geschüttelten westlichen Demokratien. Ihm fehle es insbesondere an politischer Führung in diesem Land. Vor allem sei es aber "der alles regelnde Wohlfahrtsstaat, der als riesig umverteilende Sozialbehörde mehr und mehr den Charakter der beschützenden Herrschaft- und Ordnungseinrichtung verliere." Politik und Perspektive, Akkuratesse im Gesicht und am Zwirn - in Frankfurt kommt und geht ein Ehrensenator selten allein. Draußen auf dem Paulsplatz fliegen Eier, Farbbeutel, Jauchetücher, Schweineschwänze, Stinkbomben, verdrecktes Main-Wasser wird kübelweise ausgekippt. Und immer wieder stimmen Jugendliche ihr eigens für diesen Tag getextetes Liedchen an: "In einer Kirche sitzen zu Frankfurt am Main Leute, die nichts nützen, und lassen keinen rein. Sie schwingen große Reden von ihrem Bürgerglück und schmieden schon die Waffen der Giftmüll-Republik."
ZWEI WELTEN, ZWEI MILIEUS
Zwei Welten, zwei gegensätzliche Milieus knallen aufeinander, die einander nichts zu sagen haben, die sich gegenseitig abstoßen, die folglich kaum noch Berührungspunkte kennen, die sich im Grunde aber gegenseitig bedingen. Frankfurt in diesen Tagen, der achtziger Jahre, Szenen aus dieser Stadt. Wie an jedem Samstag schieben sich Menschentrauben über den Eisernen Steg, eine schmale Fußgängerbrücke, die über den Main führt. Am Sachsenhäuser Ufer ist Flohmarkt-Zeit. Ein Treffpunkt für Trödler und Gaukler, für professionelle Schausteller und Schüler, die Nippes und Comis anpreisen. Aber auch Alternativler aus den umgebenden Landkommunen haben da ihre makrobiotischen Stände, heimgepilgerte Poona-Jünglinge treten im Pulk auf und lassen den plötzlichen Exodus aus dem transzendentalen indischen Jenseits erahnen. Und dann gibt's noch die Punks, die Angehörige des sogenannten "Schwarzen Blocks". Ihr Äußeres: Lederklamotten, Stiefel und Sporen, Bürstenschnitt mit Ohrringen. Ihr Habitus: Sie trinken schon frühmorgens Bier wie Limo und geben einen dummen Spruch nach dem anderen zum Besten. "Kein Schwanz ist so hart wie das Leben" - "Auch Flöhe husten manchmal".
"ISOLATIONSFOLTER"
VON Flöhen und Hustinetten wollte jedenfalls keiner mehr etwas wissen, als an die 50 Jugendliche in der routinierten Manier einer Klebekolonne ihre Transparente und Plakate befestigten. "Wir lassen uns nicht einschüchtern", flattert es auf einmal vom Eisernen Steg. Ein durchgestrichenes 129a deutet an, dass es sich um die vom Staat unter Strafe gestellte Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dreht. Auslöser für diese Aktion war eine bereits Wochen zurückliegende Demonstration gegen "Isolationsfolter" gewesen. Auf den Flugblättern heißt es nunmehr: "Das Kleben dieses Plakats wurde zum Anlass genommen, um gegen Jürgen D. und Miriam G. Haftbefehl zu erlassen ! In der Begründung des Ermittlungsrichters Kuhn (Bundesgerichtshof) steht: 'Die Forderung um Zusammenlegung von politischen Gefangenen stellt den Tatbestand der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dar.' "
VISIERE RUNTER, KNÜPPEL GEZOGEN
Polizei rückt an, Visiere runtergeklappt, Knüppel gezogen, Wasserwerfer in der obligaten Lauerstellung. Ihrer Aufforderung, die Straße unverzüglich zu räumen, folgen nur schaulustige Passanten und verängstigte Trödler. Zurück blieben etwa 150 Demonstranten. Ein seltsames Gemisch aus Punks, RAF-Sympathisanten und Hausbesetzern baut sich da spontan gegen die Staatsmacht auf. Aus Müllkasten werden Barrikaden, aus Bierflaschen gefährliche Wurfgeschosse. Für die Wohlsituierten dieser Stadt erlebt der "Bürgerkrieg" eine Neuauflage. Ihr Leitspruch: "Das Maß der jetzt aber voll." Doch für die distanzlosen Jugendlichen ist ihre Straßenschlacht "ein Rodeo auf hessisch, ein High noon in Frankfurt". Denn "wir gehen hier kaputt, und du gehst mit", lautet ihre Maxime. Über vier Stunden dauert die Massenschlägerei. Knüppel um Knüppel, Flasche um Flasche. Die Folgen: kilometerlange Autostaus auf den breiten Ausfallstraßen nach Süden, Verkehrschaos in die City, krankenhausreife Polizisten, Landfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewelt, Körperverletzung etc. etc.
"RADIO ISNOGUD" (IS NIX GUT)
Frankfurt im Sommer 1981, Szenen aus dieser Stadt. Aus dem Radio scheppert der Sechzigerjahre-Evergreen des Schlagersängers Drafi Deutscher (*1946+2005 "Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht ...". Auf dem UKW-Kanal 100 bis 104 meldet sich der 25-Watt-Sender "Radio Isnogud" (zu deutsch: is nix gut). Ein Sprecher verkündet: "Wir brauchen keine Konzession, und wir machen auch keine." Denn "Radio Isnogud" lebt und überlebt im Schatten der Frankfurter Hochhäuser. Pfeilschnelle Gestalten sausen über die Dachböden. Sie zerren Antennen und Kabel hinter sich her und senden, was das Zeug hält. Heimlich. Und dabei wird ihnen langsam klamm. "Radio Isnogud" trifft sich an verborgenen Orten und heckt flüsternd finstere Pläne aus. Die Peiler von Post und Polizei heften sich verstohlen an seine Fersen. Kurzum, alles wie im Krimi und "einfach zum Kotzen".
TUPAMAROS EINST IN URUGUAY
Jeden ersten und dritten Montag im Monat strahlt "Radio Isnogud" sein Programm aus, das sich nach einem bösen Comic-Wicht nennt. Terminhinweise für Demonstrationen, ob verboten oder genehmigt, Veranstaltungskalender aus dem Alternativen-Zentrum Batschkapp, dem Café Größenwahn oder aus "Inder-City", einer leerstehenden Eisenbahnhalle. Seit Monaten peilten Post und Polizei die Stadt nachdem ominösen Piratensender aus. Stets Fehlanzeige. Wie einst die Tupamaros (1963-1985) im fernen Uruguay, hatte nunmehr die "Isnogud-Intendanz" zu einem Geländespiel auf dem verwaisten Fabrik-Areal der Seifenfirma Mouson ("Die mit der Postkutsche") geladen, und alle kamen. Den Journalisten folgte die Polizei und ihr natürlich der grüne Peilwagen. Von den "Isnogud"-Leuten jedoch keine Spur, nur der Sender tönte irgendwo.
SCHWARZ-SENDER
Ganz im Stil einer hautnahen Kojak-Inszenierung hechelten Polizisten trotz offener Tore über den Zaun. Über eine Stunde gestikulieren, rätseln 15 Zivilbeamte und 3o Uniformierte, wo der Schwarzsender nun eigentlich steckt. Sie durchkämmen Hof und Häusertrümmer, latschen durch Pfützen und krabbeln unter Kellertreppen. Als nur noch der verrottete Fabrikturm übrigblieb, muss erst einmal die Feuerwehr um Amtshilfe gebeten werden. Schließlich fährt die Leiter aus, Beamte kletten hinauf, schlagen Scheiben ein. Mit Suchscheinwerfern geht's in die Räume. Für Radio "Isnogud" kein Grund, Funkstille einzulegen. "Our fantasy is your desaster", tönt es da. Eine Stunde später. Der Polizisten-Troß stapft die Feuerwehrleiter hinunter. Ein Beamter von der Spurensicherung bringt eine Angel mit, ein anderer eine Plastiktüte. Im Beutel: ein Kassettenrecorder, Transitoren und Spulen. Die "Isnogud"-Freaks waren längst ausgeflogen. Der Feierabend hatte seine Beamten wieder.
GEWÖHNUNG ANS UNGEWÖHNLICHE
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht solche oder ähnliche Vorfälle registriert werden, mal dramatisch, mal weniger spektakulär. Längst hat sich die breite Mehrheit daran gewöhnt. Es ist ein schleichender Gewöhnungsprozess ans Ungewöhnliche in dieser Stadt, der das ohnehin nicht stark verankerte Unrechtsbewusstsein trübt, gleichzeitig aber noch von den hohen Postulaten unantastbarer Freiheits- und Lebensrechte ausgeht - Paradoxien dieser Zeit.
SELBSTFINDUNG IM DICKICHT
Aber nicht die Gewalt, nicht die para-miliärischen Konfrontation mit dem Polizeiapparat ist ein erklärtes Sponti-Ziel. Vielmehr treffen Happing artige Proteste, künstlerische Clownerie und private Muße als Selbstfindung sein eigentliches Lebensgefühl. Doch nur wenige wussten um den schmalen Pfad, auf dem sie sich bewegten. Denn wann und wo lassen sich eindeutig die Grenzlinien ziehen, etwa zwischen kleinfamiliären Verhaltensweisen und tatsächlich neuen Formen des Miteinanders, wo endet die unterdrückende Grupppennorm, wo beginnt die befreiende Solidarität, wann hat jemand eine Neurose, wann sagt man, ja, endlich, das ist die neue Identität, wann ist die zu leistende Arbeit nicht entfremdet, sondern selbstbestimmt, inwieweit muss man sich noch kapitalistischen Marktzwänge unterordnen?
FLUCHTWEGE DER ACHTUNDSECHZIGER
Die Grenzen sind oft fließend. Lehrlinge, Schüler und Studenten, Arbeitslose, Freaks un freiwillige Aussteiger zogen Ende der siebziger Jahre den aus der Ferne endlos erscheinenden Fluchtweg entlang, den andere, meist aus der Achtundsechziger-Generation bereits vorausgegangen waren: ob nach Nepal, Poona oder zur Landkómmune in Niederbayerm bleibt dabei einerlei. Doch nun ist ein Umkehrtrend erkennbar. Vorsichtig ertasten sie sich die Rückkehr ins städtische Getto. "Ach", stöhnt Uwe Döhn nach leidvollen Wanderjahren stellvertretend für die Frankfurter Szene, "hätte diese Erde doch einen Notausgang! Doch wohin ich auch schau, sehe ich doch nichts als Ausweglosigkeit. Nichts geht mehr, die letzte Kugel rollt im Todesroulette der Zivilationm." Frankfurt galt ihnen früher nur noch als ein "Hundeklo", neuerdings ist von "Heimat" und "Lebensraum" die Rede.
VERWEIGERER-KULTUR
"Wer nicht kämpft geht unter, wer kämpft reibt sich auf " - dieses Sponti-Grunddilemma hat sich in all den Jahren nicht auflösen lassen. Gleichwohl ist der stille Rückzug aus der Wirklichkeit einer erneuten Abrechnung mit ihr gewichen. Darin mag einer der Gründe liegen, warum die Konfrontation zwischen dem Staat mit seiner strukturellen Gewalt und der Verweigerer-Kultur mit ihren ungesetzlichen Widerstand an Härte zunimmt, in den achtziger Jahren sogar brenzlig eskalieren wird.
AUSSTIEG AUS ALLEM
Was der neuen Jugendbewegung ihre übergreifende Dimension gibt ist die Tatsache, dass die Aussteiger-Philosophie weit ins Lager der so genannten politischen Mitte reicht. Ausstieg aus der Kernenergie, Ausstieg aus dem Konsum, Ausstieg aus der Wegwerf-Gesellschaft. Gerade das Rhein-Main-Ballungszentrum mit seiner kaputten Metropole Frankfurt hat die Schwelle von Wachstum und Vernichtung längst überschritten. Trotzdem jagen Staat und Wirtschaft atemberaubende Modernisierungsprozesse im beginnenden Zeitalter der Globalisierung hemmungsloser durch denn je. Sie zerstören natürliches Leben, um künstliches Lebeb zu schaffen, von dem keiner eine Vorahnung hat, wie es einmal tatsächlich aussehen dürfte.
WOHLSTAND UND WACHSTUM
Schnellstraßen, Hochhäuser, Abgase, Smogalarm, Trinkwasser, das teilweise ungenießbar ist, Flüsse, die zu Kloaken vergammeln. In den vergangene 30 Jahren wurden bereits 3.700 Hektsr Wald, das entspricht rund 6.000 Fußballplätzen, für Wachstum und Wohlstand abgholzt. Über drei Millionen Bäume sollen 1981 für die neue Startbahn des Flughafens gekappt werden - und im Jahre 2009 für eine weitere Land- und Startpiste wieder und wieder werden intakte Grünreseravate dem Erdboden gleich gemacht. Massiver Widerstand war und ist bereits angesagt: "Wir sind keine Hippies oder Landstreicher, sondern Menschen, die trotz Androhung von Knast und Prügel dem Staat trotzen", so steht's auf der Gemeinschafts-Pinwand. Rund um die Uhr kreist ein Wachdienst, mit Handys ausgestattet, ums Besetzer-Dorf.
KIRCHLICHER WIDERSTAND
Vorzeitige Schulabgänger, Studenten, Jugendliche, die nur gelegentlich jobben, Arbeitslose - das ist der Stamm der 40 Dauerbewohner. Hier dreht es sich kaum um alternative Lebensformen, auch nicht um die dienstbeflissene politische Feinabstimmung, hier wird Widerstand praktiziert. Pfarrer Wulf Boller aus dem Örtchen Walldorf ließ bei einer kleineren Holzfälleraktion vorsichtshalber schon einmal seine evangelischen Glocken bimmeln. "Wir handelten wie im Bauernkrieg", erklärte Pfarrer Boller, "ein kirchliches Zeichen in einer revolutionären Situation, in der alle gegen einen übermächtigen Gegner zusammenstehne müssen." Der 21jährige Alexander, eín ehemaliger Theologie-Student, hockt vor der provisorischen Holzkapelle, die für ökonomische Gottesdienste hergerichtet wurde. Er liest in dem Buch "Zärtlichkeit und Schmerz". Eine gelassene und zugleich doch sehr gespannte Atmosphäre durchdringt das Besetzerdorf, so, als ob es zwischen technologischen Fortschritt und der Rückbesinnung auf die Urwüchsigkeit, die Bewahrung der Lebenslust keine Zwischentöne mehr gäbe. - In Minuten-Abständen dröhnen überm Dorf im Tiefflug Jumbos und Airbusse aus anderen Kontinenten ihrer Landbahn entgegen.
HAUSPOSTILLE IM "CORPORATE DESIGN"
"Wussten Sie, dass Frankfurt menschlich gesehen heute Vorbild ist?" tönte es einst in der Hauspostille des Oberbürgermeisters Walter Wallmann - einer anheimelnden Informationsbroschüre mit feinstem "Corporate Design", ein Glanzpapier, das mit 230.000 Exemplaren den Weltstadt-Habitus herausposaunt. "Nirgendwo in Europa können Sie so gut Geschäfte machen wie in Frankfurt", empfahlen sich die Rathaus-Herren auf dem englisch-sprechenden Markt.
VERGANGENHEIT WIRD VERDRÄNGT
Die zerrissenen, grau belegten Zustände von ehedem, die kaum zufälligen Parallelen mit den Kloaken von New York, Liverpool und Berlin, damals, als Frankfurt in der Beliebtheitsskala mit Wanne-Eickel konkurrierte - all das scheint ignorant verdrängte Vergangenheit. Der Schriftsteller Ernst Herhaus (Kapitulation, Aufgang eienr Krankheit, 1977) ein Chronist verflossener Tage, skizzierte "Frankfurt als ein Paradies und Canossa des Denkens, eine Symbiose aus Raubritterei, Schwerstarbeit und skrupelloser Theorie, berühmt durch den Ungehorsam und seinen Pessimismus, entschlossener als je zuvor, dem Rest seiner Zukunft abzutrotzen ...". Und Herhaus-Kollege Gerhard Zwerenz, der mit dem Rücken zur Stadt lebt, fürchtet, "dass auf die besinnungslose Ausbautätigkeit der sozialdemokratischen Stadt Frankfurt nun ein Rückschlag erfolgt, und dieser Rückschlag versucht, alte, überholte Strukturen wieder herzustellen. Wenn das gelingt, wird es sehr teuer werden, zweitens wird man damit Klassenstrukturen, die mit der demokratischen Grundordnung nicht übereinstimmen, auch restaurieren müssen. Davon abgesehen, fürchte ich, dass sich neue Konfliktfelder auftun, von denen die Baumeister des neuen restaurativen Frankfurts sich noch keine Vorstellung machen".
GELD NUR NOCH GELD-GIER
"Nein, nein", sagt der Oberbürgermeister. "Ach, Sie können Ihren Notizblock einmal beiseite legen." Eine Stadt, in der die höchsten Umsätze, Gewinne und Steuererträge erwirtschaftet werden. Eine Stadt, die zur internationalen Drehscheibe für Waren und Güter avancierte. "Nein", erklärt Wolfram Brück, "die Stadt ist immer Kultur-träger gewesen, die Stadt ist Freiheit, die Stadt bedeutet Kultur, die Stadt ist westliche Zivilisation und Rationalität. Die Stadt heißt auch permanenter intellektueller Konflikt. Wer Stadt entwickeln wollte im Sinne von Disneyland, der irrt sich. Stadtluft macht frei, und hier in Deutschland steht Frankfurt in der allerersten Reihe der bürgerlichen Städte mit einer Freiheitsgewährung, die draußen auf dem Land nie hätte errungen werden können."
AUFFÄLLIG LAUT "MENSCHELN"
Harmoniebeseelte Künstlichkeit, verkrampfte Anstrengungen nach neudeutscher Wohligkeit prägen trotz solcher kalenderreifen Lippenbekenntnisse die Rathaus-Herren und ihre emsigen Plakat-Schausteller. Schließlich darf sich die Frankfurter Zeil berühmteste und umsatzkräftigste Einkaufsstraße der Republik nennen. Über 80.000 Passanten, mehr als eine Milliarde Umsatz jährlich - und das auf nur 600 Metern. Fast 700 Plantagen wurden auf den Beton der U-Bahn-Röhren gepflanzt, an ein künstliches Bewässerungssystem angeschlossen. Dazu Hunderte von Parkbänken aufgestellt, ein paar Brunnen und Pavillons mit surrealen Effekten hergerichtet: eben ein artifizieller und scheinbar doch richtiger Wald mitten in der Stadt der Türme und Banken, im Aktionsradius der Manager und Bonzen.
BILDUNGS-BÜRGERLICHE AMBIENTE
Vordergründig menschelt es auffällig laut in dieser Stadt. Gerade deshalb will sich ihr Oberbürgermeister künftig noch weitaus augenscheinlicher, weitaus "menschlicher" verausgaben, keimfrei und klug dazu. Frankfurt sei wieder "in", auch sein Renommée wüchse über die Stadtgrenzen hinaus, murmelt "Der Spiegel" gedanken-verloren. Das mag sicherlich fürs bildungsbürgerliche Ambiente und seine aufgemöbelten Großvillen am Museumsufer zutreffen. "Identifikationsbauten" heißen die umstrittenen Prestige-Projekte in der unverkennbaren Amtsdiktion. Über sechs Milliarden Mark pumpte die Verwaltung über Rücklagen und Kredite in Neubauten und Stadtsanierung. Allein die Alte Oper, dieser restaurierte Musen-Tempel früherer Epochen verschlang 200 Millionen Mark.
AGGRESSIONEN DER ANGST
Tatsächlich zerfressen aber unbändige Aggressionen die so herausgeputzte Innen-stadt. Aggressionen der Angst, Aggressionen der gemeinsam erlebten Einsamkeit, der Isolierung, Aggressionen der Selbstbehauptung, Aggression der Triebe. Alle 23 Sekunden passiert ein Verbrechen. Jeden dritten Tag beendet ein Frankfurter freiwillig sein Leben. Ob nun Selbstmord oder Verkehrstod, ob äußere oder innere Aggression, die Grenzen sind fließend, längst nehmen sich die Zahlen nicht mehr viel.
PISTOLEN ALS WEGBEGLEITER
Immer häufiger wird die Schusswaffe zum unentbehrlichen Wegbegleiter. Schon in der City gelingen all monatlich zwei Morde. An die 25 Brandanschläge registriert die Feuerwehr in derselben Zeitspanne. Allein bei Rauschgiftdelikten klettert die Statistik auf 6,7 Fälle täglich. Gemeinhin teilt die Polizei Rauschgifttote nur noch unter fortlaufender Nummerierung mit. Halb resigniert, halb ohnmächtig spult sie ein Fahndungssonderprogramm nach dem anderen ab - immer mit der elegischen Gewissheit, "dass die Szene von uns nicht zu säuber ist", wie der Polizeipräsident bekennt.
ZERSTÖRUNGS-WUT
Alle 24 Stunden werden in Frankfurt Frauen Opfer einer Vergewaltigung. Und jeder Schüler tobt seine Wut im Durchschnitt für 35 Mark an PC-Rechnern oder Projek-toren aus. Immerhin schlagen derlei Demolierungen im Stadt-Haushalt mit insge-samt 2,4 Millionen Mark zu Buche. Einmal stündlich, exakt 8.951 Mal im vorigen Jahr, reagieren sich irgendwelche Bürger irgendwo an Telefonzellen, Mülleimern, Wasserhäuschen oder Autos ab. Dabei handelt es sich nur um offizielles, meist frisiertes Zahlenmaterial. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher; sie übertrifft um ein Fünf- bis Zehnfaches die amtlichen Prozentsätze. Dieses Frankfurt steigerte binnen zehn Jahren seine Kriminalitätsrate um hundert Prozent und dieses Frankfurt steht vor allen anderen deutschen Großstädten einsam, beinahe unerreichbar an der Spitze. Und das, obwohl seine Einwohnerzahl nicht im entferntesten an Berlin, Hamburg oder München heranreicht.
ZEITGEIST IN POLIZEIBERICHTEN
Der Zeitgeist quetscht sich in die Polizeiberichte, die in ihrer unnachahmlichen Diktion zwar keinen Rauschgifttoten, kein Phantombild auslassen. Die Motive jugendlicher Selbstmörder indes bleiben in der Grauzone. So wird in Frankfurt am Main mit seinem geschmeidigen Wachstums-Konservatismus die Erosion verwaltet, werden Tote akkurat mitgeschrieben, Statistiken als Selbstzweck angereichert. Frankfurt in diesen Tagen - bedrückende Ereignisse, Befindlichkeiten in einer durch Aggressionen gekennzeichneten Wirklichkeit.
X-BELIEBIGE TATORTE
Tatort EINS: Dreieichstraße in Sachsenhausen. Mittagszeit. Die 14jährige Anita hat sich nach Schulschluss auf den Heimweg gemacht. Drei Mädchen, darunter Anitas Freundin Katrin, lauern ihr entgegen. Katrin ist nämlich empört über Anita. Sie hat angeblich die "Freundespflicht" verletzt, gar "Geheimnisse" über den Freund Edgar verraten.Deshalb sei nunmehr ein Denkzettel unumgänglich.
VON BRENNENDEN ZIGARETTEN ... ...
Katrin und Kumpaninnen packen sich die arglos Anita. Zwei halten sie fest, die Dritte schlägt hemmungslos zu. Erst mit den Fäusten, dann mit Füssen, schließlich mit einem Stock. Selbst Anitas Weinen und Bibbern kann nicht verhindern, dass die drei ihr brennende Zigaretten in die Arme drücken und den Pullover versengen. "Wir verbrennen dir auch noch das Gesicht", soll Katrin in ihrem ungestillten Zorn der einstigen Freundin angedroht haben. Die fünf Mark, die Anita bei sich trug, musste sie rausrücken. Eine Dreiviertel Stunde dauerte für Anita die Qual auf der belebten Dreieichstraße zur Mittagszeit. Viele Passanten zogen ihres Weges - keine Reaktion. Für die erpressten fünf Mark kauften sich Katrin und Helferinnen übrigens eine Packung Zigaretten.
ALS KIND: 21.000 MORDE IM TV ERLEBT
Schließlich am späten Nachmittag, schnappte die Polizei die jungen Peinigerinnen. Die Kripo meint: Dieses seien die Resultate der Fernseh- und Videoerziehung. Die Boulevard-Zeitungen klotzten mit gewohnten Gewalt-Instinkt: Das sind die "Folter-Mädchen". Eine neues US-Untersuchung besagt: Das amerikanische Durchschnitts-kind sieht bis zu seinem 15. Lebensjahr die Totalvernichtung von 21.000 Menschen. Im Unterhaltungsprogramm flimmern alle dreizehn Minuten realistische Brutalität. im Kinderprogramm hingegen schon alle elf Minuten über die Mattscheibe.
JOHNNY CASH'S "THE STREETS OF LAREDO"
Tatort zwei: Frankfurt-Sachsenhausen. In einer der typischen Kneipen geht die Post ab. Aus der Musikbox hämmert Johnny Cash's "The Streets of Laredo". An der Theke hängt der 41jährige Toni. Von Beruf eigentlich Arbeiter. Doch schon seit geraumer Zeit, wie insgesamt 32.000 Frankfurter, ohne Job, ohne Aufgabe, ohne Selbstbe-stätigung. Toni kippt Biere und Körner in sich hinein. Irgendwann, so gegen Mitternacht lallt er apathisch: "Ich hab' die Rosi umgebracht." Mehr bringt er nicht über seine Lippen, da der schwere Seegang ihn schon längst überwältigt hat.
ERWÜRGTE FRAU - MANN SCHÄFT DANEBEN
Dieser karge Satz reicht indes für seine Mitsäufer aus, die Polizei zu benachrichtigen. Als die Beamten in der Wohnung eintreffen, regt sich nichts. Sie müssen die Tür aufbrechen. Im Schlafzimmer finden die Männer des 8. Reviers die offensichtlich erwürgte Rosi. Daneben schläft Toni. Er hat zum Alkohol sich auch mit Schlaf-tabletten vollgepumpt. Über Jahre litt Toni an der als Bedrohung empfundenen Einsamkeit in dieser Stadt. Schneidend wie bedrückend empfand er sie. Aus diesem Grunde war er ja einen Monat zuvor mit Rosi zusammengezogen. Ein Neubeginn sozusagen. Doch die innere Aggressionen, der Alkohol hatten ihn schon schon längst hingerichtet, bis zur Besinnungslosigkeit mit ihm Fußball gespielt. Aber immer wieder schienen Toni Biere wie Körner ein probates Mittel, leichtfüßig die nagenden Depressionen mit der ersehnten Euphorie zu vertauschen. Er suchte eine Nähe, die er nicht kannte, die ihn zudem restlos überforderte. Der inneren Aggressionen folgte die äußere, dann wieder die innere - zu guter Letzt der Knast.
ARMUT - BETTELEIEN
Des Abends wagt sich die 70jährige Rentnerin Johanna Richter aus dem bürgerlichen Dornbusch-Viertel ohnehin nicht mehr auf die Straße. Aber sie traut sich wenigstens zur Mittagszeit auf die Zeil. Dort tätigt die rüstige Dame meist ihre Lebensmittel-einkäufe. Jedenfalls bis zu besagtem Freitag. Soeben will Johanna Richter zum Fleischerstand gehen, als ihr Timo, 16, und Harald,17, einen Handkantenschlag in Richtung Kniekehle versetzen. Johanna Richter stürzt zu Boden. Die beiden Jungen entreißen ihr die Tasche. Die Beute 6.000 Mark. Die Inflation in den zwanziger Jahren, die Geldabwertung nach dem Zweiten Weltkrieg haben Johanna Richter gegenüber den Banken unsäglich misstrauisch gemacht. Tragisch für die betagte Renterin, die auf diese Weise ihr gesamtes Bargeld verlor.
VOM WOHLSTAND AUSGESCHLOSSEN
Timo und Harald - das sind Wohlstandskinder unserer Zeit, die der Wohlstand dieser Tage rigoros ausgeschlossen hat. Sie wuchsen in der Nordweststadt, also in Beton auf. Timo und Harald, zwei Jugendliche ohne Leerstelle, ohne Job, die ohne Selbstwertgefühl vor sich hinleben. Ihre Familien leiden unter arger Zerrüttung. Früher prügelte sie der Vater, damit sie nicht prügeln. Dann schlug sie die Mutter, damit ihnen die Schlägereien ein für allemal vergehen. Heute ist der Vater arbeitslos und Bierdosentrinker, Mutter laufend schwanger. An Streitereien mangelt es nie - nur am Geld. So zählen sie zu den 36.000 Sozialhilfeempfängern dieser Stadt, Menschen, die sich ihrer Not schämen und ihr Dasein an der Armutsschwelle fristen.
BEGOSSENE VORSTADT-KÖTER
Jugendliche,die seit ihrer Kindheit machen konnten, was sie wollten. Sie blieben doch die begossenen Vorstadt-Köter, eben Straßenkläffer, die keiner hören will und keiner ernst nimmt. Vom aggressiven Betteln in den U-Bahnschächten ("He Oma, mal ganz schnell fünf Mack rüber, sonst gibt's eins auf die Nuss") hatten beide genug, wegen der Kleckerbeträge und so. Deshalb spezialisiert sie sich kurz entschlossen auf die Handtaschen der Omis. Schließlich wollen Timo und Harald ihre Sehnsüchte nach Freiheit, Autobahn, Disco und Mädchen nicht vermasseln lassen, nicht nur mit einer lumpigen Mark dastehen, um abermals eine weitere Abfuhr zu riskieren. In Zahlen: Insgesamt zwei Drittel aller Raubüberfälle auf deutschen Straßen gehen auf die Gruppe der 16 bis 25jährigen.
HERREN DES IMPONIER-GEHABE
Tatort drei: Gutbürgerliches Milieu, Kneipen-Milieu im Westend zu Frankfurt am Main. Hier rekeln sich nach Dienstschluss die Herren des Imponiergehabes, der Rücksichtslosigkeit, die Männerwelt der Schwänze, umgarnt von Flanell nebst Yves Saint Laurent Rive Gauche. Wer hier als Marketing-Manager etwas verkaufen , Umsatz machen will - der muss sich Geltung verschaffen. Und Geltung kommt in dieser Gesellschaft nun einmal von der potenziellen Möglichkeit einer Vergeltung.
SELBSTBEHAUPTUNG: GEWALT-PROTZEREI
An einem der hinteren Tische mit trügerischen Kerzenlicht hocken Bernhard, Eddy und Werner. Allesamt sind sie schon etwas älteren Kalibers, Profis genannt. Der Arbeitstag ist längst passé, dennoch können sie von ihm nicht lassen. Ihr Bordmittel in den Jobs zu überleben, das heißt noch und nöcher Geldscheine zu ziehen, bedeutet aggressive Selbstbehauptung - und das Tag für Tag.Die spärlichen Stunden des Abends gelten sozusagen der seelischen Nachbereitung der als völlig normal empfundenen Gewaltprotzerei. Vielleicht eint die Drei auch eine Art Hass-Liebe. Sie konkurrieren heftig miteinander, können aber nicht ohne den anderen. Sonst breitete sich ja eine gefährliche Stille aus. Das bindet sie, das treibt Bernhard, Eddy und Werner in ihren stärkenden Männerbund.
KEINE WEICHSPÜLER
Bernhard hat vor zwei Wochen eine neue Sekretärin angeheuert, "ne frische", wie er glaubt. "Bald werde ich sie über den Tisch ziehen. Hab ihr ja schon bei der Ein-stellung gesagt, 3.500 brutto und einen Bums inklusive." Eddy will am nächsten Morgen seinem Texter "eins kräftig zwischen die Augen geben. You know, der Mann ist unfähig, der hat das Schreiben mit den Füssen gelernt, you know". Und Werner würde solche Pfeifen am liebsten sofort die Gehälter kürzen. Statt dessen "decke ich die jetzt so mit Arbeit ein, dass die auch am Wochenende ihre faulen Ärsche nicht pflanzen können. Wir sind doch keine Weichspüler, Mensch noch mal".
VORBILD: US-ARMEE KOREA-KRIEG
Aber nun reicht ja der Gesprächsstoff über die allgegenwärtige Agentur kaum für eine ganze Nacht. Und außerdem wollen die Drei sich hin und wieder über weniger brisante Themen streiten dürfen. Ihr zündender Funke ist dieses Mal die stramme Uniform. Eddy kämpfte für die US-Armee schon in Korea."Die Jungs waren einfach nicht hart genug." Bernhard steht auf den israelischen Geheimdienst: "Hoch-intelligent, stählerne Nerven." Der etwas jüngere Werner schwärmt von Mogadischu von der GSG9-Elitetruppe des Bundesgrenzschutzes: "Eine Präzisionsarbeit par exellence". Derlei Heroensprüche regen Hermann sichtlich an. Er hütet schon seit etwa zwei Stunden einsam die Aperitif-Bar. Mit der Bemerkung, dass er Kampfflieger der Bundesluftwaffe gewesen sei, bringt sich der kurz geschorene Hermann in die trinkfeste Runde ein. Hermann bedeutet, dies könne jeder Kenner schon daran sehen, "weil ich niemals mit den Wimpern zucke und dem Feind zuallererst in die Augen schaue." Die Uhr zeigt auf eins. Die erfolgreichen Herren wollen aufbrechen, aber noch hören sie sich einen Halbsatz von diesem Hermann neugierig an, nämlich den, "dass ich auch ein Killer war". Ein ganz gewöhnlicher Abend in einer Kneipe im Westend zu Frankfurt am Main.
DEUTSCHE VORURTEILE, RASEREIEN ... ...
Frankfurt-Ginnheim, die beschauliche Idylle der Klein-gärtner. Gartenzwerge, eingelassene Springbrunnen, Radieschen, Tulpen und Äppelwoi. Hier hat auch der 41jährige Bahner Heinz Schröder sein eingezäuntes Refugium. Hier will er vom Alltag abschalten, im ärmellosen Unterhemd Holzhacken, Laube streichen, Beete ziehen. Hier bei Schröder dominiert aber ebenfalls die deutsche Gründlichkeit, die deutsche Ordnung, die deutschen Vorurteile, die deutsche Raserei.
TÜRKEN - "RUNTER VOM ACKER"
An diesem Sonntag erdreisten sich zwei Türken mit ihrer kleinen Tochter zu einem Spaziergang in der Nähe des Kleingarten-Vereins. Und statt des Feldweges erlauben sie sich gar, quer über den Acker zu laufen, der an Schröders beäugten Refugium angrenzt. So etwas mag Bahner Heinz Schröder nun gar nicht. Ganz nach dem Motto, im Hauptbahnhof so viele Türken und jetzt noch hier auf dem Acker. Zunächst schreit er nur: "Ihr Türken-Säue, runter vom Acker!" Als der eine daraufhin den Kopf schüttelt, der andere bloß lacht, holt Schröder ein etwa zwei Meter langes Kantholz, rennt hinter den nunmehr flüchtenden Türken her und drischt unentwegt auf sie ein.
VERSTÄRKUNG VON DEN NACHBARN
Derweil holt Anneliese Romberger, die die Auseinandersetzung beobachtet hatte, von der Nachbar-Parzelle Verstärkung. Frau Romberger befürchtet nämlich, "der Herr Schröder kann das gegen die Kanaken nicht allein durchstehen". Stets hilfsbereit, wenn es sich im solche Fälle dreht, rennt der 47jährige Siegfried Osten los, macht flugs den Konflikt zu seiner ureigensten Angelegenheit. Nach circa siebzig Metern springt er den einen Türken direkt an. Der wiederum wehrt sich jetzt mit seinem Taschenmesser, stößt Siegfried Osten in den Bauch. Alltag in Frankfurt am Main.
OBEN UND UNTEN
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht solche oder ähnliche Vorfälle notiert werden. Längst hat sich die Mehrheit auch an die Street Gangs "Ducky Boys" und "Atomic Duke Kamerun", an Rauschgift, Waffenhandel , Zuhälterei gewöhnt. Von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen, von der verantwortlichen Institutionen geflissentlich heruntergespielt, steht dieses schöne CDU-Frankfurt vor einer neuen Dimension der Brutalisierung. Statistiken waren selten ein zuverlässiger Gradmesser, den qualitativen, unterschwelligen Wandel zu erfassen. Den Wandel der Werte und Normen, die irreparable Zerklüftung in eine Oben- Unten-Gesellschaft.
FFM - EIN HOFFNUNGSLOSER FALL
Dieses Frankfurt - das ist ein hoffnungsloser Fall. Die alten Leute haben sich in den unwirtlichen Wohngettos versteckt, schlucken nicht selten ihre Todesangst in seelenlosen Altenheimen mit Aufmunterungsliedern wie "Gloria, Viktoria, Schnaps ist gut gegen Cholera" herunter. Sie wollen einfach nicht ins Stadtbild aus Profit, angestrengte Nettigkeit und hastiger Superlative passen. Anneliese Müller-Alt, eine 93jährige Dame, lebte 42 Jahre im selben Haus. Zwei neue Eigentümer verboten ihr über zwei Jahre, Wäsche zu waschen, Besucher zu empfangen. Sie rissen Leitungen heraus, sperrten der betagten Frau den Zugang zur Speisekammer. Dann hatten sie Anneliese Müller-Alt endlich in eines der Altenheime verfrachtet, in denen bekanntlich "eine erfüllte und mitgestaltete Lebensphase be-ginnt", und konnten endlich mit riesigen Profitmarge die Miet- in Eigentums-wohnungen umwandeln.
PUFFS UND BÜRGERTUM
In kürzester Zeit sollen nunmehr auch noch die 3.000 Nutten vertrieben werden, Bordell- und Pornobetriebe will die Stadt-Union zurückerobern, ein gutbürgerlicher Wohn- und Geschäftsbezirk soll entstehen. Das Bahnhofsviertel ist das letzte bizarre Relikt aus Frankfurts wilder Zeit - eben eine Bannmeile, innerhalb der sich die Extremen hautnah berühren: Puffs und Bürgertum, Religion und Kommerz, Deutsche und Exoten, Arme und Reiche, Gläubige und Ungläubige. Hier gibt es Massagesalons neben Asylantenheimen. Aussteiger residieren im selben Haus wie die Wohngemeinschaft der Callgirls. Pelzeinkäufer nisten neben den berüchtigten Umschlagplätzen für Heroin. Hier finden sich Moscheen in Hinter-häusern, indische Tempel in Garagen ind Koranschulen neben dem sogenannten Badehaus mit Sauna-Service -und das alles auf engstem Raum. Das Bahnhofsviertel ist ein verwegener, widersprüchlicher Bezirk. Vielleicht überhaupt das kunter-bunteste, irrste Stadtviertel Deutschlands - jedenfalls eine ungemeine Provokation für Stadtplaner konservativer Prägung.
WOHIN MIT DEN AUSLÄNDERN ?
Wohin mit den Prostituierten, wohin mit den Ausländern, die im Bahnhofsviertel siebzig Prozent der Bevölkerung ausmachen? Keiner weiß es genau, keiner will es genau wissen. Vielleicht ins unbehauste Gewerbegebiet am Osthafen, vielleicht an den Gleiskörper der Deutschen Bundesbahn, vielleicht nach Offenbach oder Hanau, Großgerau oder Dreieich. Achselzucken. Spätestens in zwei Jahren soll "das Herzstück der Stadt" puff-frei sein. Dann bliebe schließlich noch genügend Zeit, "in eindrucksvoller Weise die Organisationskraft der Stadt zu beweisen" und sich für die Olympischen Spiele im Jahre 2004 zu bewerben. Jedenfalls sind dafür bereits 250.000 Mark veranschlagt worden. "Frankfurt am Main - das ist ein hoffnungsloser Fall ... ... Den Frankfurtern ist nicht mehr zu helfen, allenfalls kann man Mitleid haben mit den Bewohnern einer so armseligen, vom Reichtum zerstörten Stadt", bemerkte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schon vor mehr als einem Jahrzehnt.
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