Montag, 9. November 1970

Eltern misshandeln ... Erwachsene schlagen zu - Dauerzustand in Deutschland













































































Dieser Report wurde vor nahezu vier Jahrzehnten geschrieben. Er ist aktueller denn je. Gewalt gegen Kinder - Kindesmisshandlungen , Kindesmissbrauch, körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene vielerorts; in Familien, Heimen, in Schulen. Dieser Bericht belegt, dass sich in Deutschland nur wenig ändern mag. Die Gesellschaft schaut verschämt weg, die Politik belässt es bei Lippenbekenntnissen, Betroffenheits-Gestik genannt; Finanznot überall, es fehlt an Sozialpädagogen, an Heimplätzen, an Etatzuweisungen. Nichts, so will es scheinen, wendet sich zum Besseren - Menschenrecht ist auch Kinderrecht. Immerhin soll seit 2005 ein so genanntes "Frühwarnsystem" greifen, wonach bei Eskalationsgefahr sofort geholfen werden kann. Entspannung in Sachen Kinderschutz ist jedoch nicht in Sicht: Im Jahre 2008 sind von neun Millionen Kindern in Deutschland insgesamt 1,42 Millionen schwersten Züchtigungen und körperlichen Gewaltattacken ausgesetzt; etwa zwei Kinder sterben wöchentlich an den Folgen ihrer Misshandlungen - weltweit sind es 50.000 - Jahr für Jahr.
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"Ausholen ist so gut wie geschlagen"
Sprichwort: aus Afrika
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Cuxhavener Zeitung
09. November 1969 /
20.November 2008
von Reimar Oltmanns
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Was ist das nur - Folter, Kindesmisshandlung - vielleicht sogar Erziehung? Kinderrechte haben in Deutschland immer noch keinen offiziellen, verbindlichen Status. Kinder können wie Freiwild ausgeliefert sein - Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit; von wegen Menschenrechte, Kinderrechte. Das geschieht in diesen Tagen, Monaten und Jahren; einmal, immer wieder - unaufhörlich. Ein "Normalfall" in deutschen Familien. - Wutentbrannt schlägt der 36-jährige Vater Conrad, Zollbeamter in der Seehafenstadt Emden, mit geballten Fäusten auf seinen Stiefsohn ein. Immer wieder stieß er ihn mit dem Kopf gegen die abgedunkelte Wand, riß den scheinbar leblosen Körper empor - schleuderte ihn mit aller Kraft auf den Kokshaufen im Heizungskeller. "Wenn du willst, kannste noch mehr haben, du elender Krüppel." Er fauchte und fauchte - versetzte gleichzeitig dem elfjährigen Kind einen Fausthieb. Bewusstlos lag der Junge Gregor da. Augen zugeschwollen, Lippen aufgeplatzt. Was war geschehen? Gregor hatte gewagt, seinem Stiefvater Conrad zu widersprechen, wollte erst draußen auf den Straßen Fußball bolzen, bevor es an die Schularbeiten geht.
EIN FALL VON HUNDERTTAUSENDEN
Eine klassische Kindes-Misshandlung in diesem Land, die keiner besonderen Erwähnung bedarf. Zu Tausenden, zu Hundertausenden kommen Gewaltausbrüche gegen Jungen wie Mädchen daher- zu alltäglich. Achselzucken vielerorts. Da mag sich kaum einer darüber empören - Alltag in Deutschland, Gewalt-Alltag, Fernseh-Alltag. Weder Nachbarn noch Schule nahmen Anstoß am entstellten, deformierten Gesicht des Jungen. Berührungsängste eines scheinbar intakten Milieus mit Familien, in denen es drunter und drüber geht, wo "Hempel unter dem Sofa schläft". Das Jugendamt schaltete sich erst ein, nachdem schon Jahre vergangen waren. Wiederholungsfälle eingeschlagener Gesichter im Schul-Unterricht, an die man sich dann doch nicht gewöhnen wollte.
MENTALITÄT MIT GERMANEN- RECHT
In Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde mit einer ansonsten ausgeprägten Kultur der Rechtsstaatlichkeit, gilt für Kindererziehung das Recht der Germanen etwa 120 Jahre vor Christus immerfort - unausgesprochener Weise in seiner Mentalität versteht sich. Fernab vom bürgerlichen Gesetzbuch dieser Tage hatte bei den Germanen der Vater die Straf- und Zuchtgewalt gegenüber seinen Zöglingen. Er konnte über Leben und Tod willkürlich entscheiden. Er hatte das Recht, sie nach der Geburt auszusetzen, sie zu verstoßen, zu verknechten, zu verkaufen oder zu töten. Erst mit Übergang von der Groß- zur Individualfamilie sollte sich das grauvolle Gewaltverhältnis ändern, lindern, schrieb die einst profilierte Gerichtsmedizinerin Elisabeth Trube-Becker (*1919+2012) von der Universität Düsseldorf. Die einzige Grande Dame der deutschen Rechtsmedizin hatte sich Zeit ihres erfolgreichen Wirkens der wissenschaftlichen Aufklärungsarbeit auf dem Gebiet der Kindtötungen und - misshandlungen verschrieben. - Lichtblicke.
LEHRER HABEN ANGST
Nachdem der Junge Gregor wieder zu sich gekommen war, quetschte er sich mit blutigem Gesicht, aufgeschlagenen Lippen durch eine Kellerluke, flüchtete aus dem Elternhaus. Gregor rannte durch die halbe Stadt zu seinem Lehrer Edmund Erdmann. Der Junge weinte, redete und weinte. Doch auch dieser hatte Angst, Prügel zu beziehen. Junglehrer war er, gerade von der Pädagogischen Hochschule auf die Schulklasse losgelassen. Erdmann brachte seinen Schüler jedenfalls zum Vater zurück, beschwichtigte den Jungen, bestärkte den Gewalttäter in seinem "Erziehungsauftrag", ganz nach dem Motto "eine Ohrfeige hat noch niemanden geschadet". Für ihn war der "Fall Gregor" damit erledigt, "sonst", so der Edmund Erdmann später, "hätte ich wohl möglich auch noch Kloppe bezogen. Wir sind doch Pädagogen und kein Polizeikommando."
FAMILIEN-DRAMA
Die Mutter indes wollte ihren Ehemann zur Rede stellen. Auf erregte Fragen bekam sie Antworten. - Prügel-Antworten. Ihr Mann schlug wieder zu - dieses Mal Frau wie Kind. Sie kassierte oft Ohrfeigen,ohne Vorgeplänkel, ohne Ansatz, einfach nicht auszumachen wie aus heiterem Himmel. Sie sagte nichts, schminkte sich. Beim Einkauf auf dem Gemüsemarkt am kommenden Tag lächelte sie vorsorglich sehr stolz des Weges entlang. Prügel als Familien-Geheimis. Selbstaufgabe. Seine Mutter war es auch, die Gregor Beruhigungsmittel, Schlaftabletten verabreichte. Denn am nächsten Morgen sollte der Junge ja in der Schulklasse wieder wie gewohnt mit seinem Finger lebendig schnippsen können. Spalierstehen war statt dessen angesagt, neugieriges Spalierstehen für einen gepeinigten Zehnjährigen. Kindergewalt, Gelächter auf dem Schulhof, Gekichere im Klassenzimmer bei solch einem zerdepperten Gesicht. Wo eben der private Sender "TV-Brutal direkt" auf dem Schulhof drehte, da stand irgendwie plötzlich der kleine zerbeulte Gregor mit seiner geschundenen Visage im Mittelpunkt.
AB INS HEIM - DEM LAZARET DER VÄTER
Szenenwechsel - von der Hafenstadt im Ostfriesischen an den Rand des Teutoburger Waldes - mit dem Eilzug von Emden-West nach Osnabrück HBF. Im Rahmen der "freiwilligen Jugendhilfe" war dann doch das Fräulein Pausepohl mit ihrer obligat-akkuraten Knotenfrisur als Fürsorgerin in dieser Epoche aktiv geworden, hatte für Gregor kurzerhand in einem evangelischen Kinder- und Jugendheim ein Plätzchen ergattern können. Heimjahre - das waren keine Kinderjahre, eher schon Bett- oder auch Sexjahre unter kirchlicher Obhut. Das Gebäude, ein H-förmiger Betonkasten in der Größe eines Fußballplatzes mit 98 Fenstern, lag draußen an der Stadt-Peripherie, eingezäunt zwischen Wald und Acker. Weit und breit nur Wiesen, Lehmwege; ein Getto, aus dem es kein Entkommen, kein Abhauen gab. Mit ihrem Fernglas auf dem Balkon hatte Heimleiterin Gertrud Berling (*1919+2009) , ihres Zeichens Psychagogin, das vermeintlich ganze Fluchtareal unter Kontrolle, konnte blitzschnell wegrennende Jungs wie Karnickel ausmachen, aufscheuchen, mit einem dreimonatigen Stubenarrest bestrafen. Da hockten die geschlagenen, geschundenen Kinder nun in ihren eingezäunten Zimmern vom "Haus Neuer Kamp" zu Osnabrück, dem vorzeigbaren, erlesenen Heimneubau der evangelischen Kirche. Meist erzählten sie sich, wenn sie überhaupt redeten, und nicht durch die Verabreichung von Tranquillizer ruhig gehalten wurden, dann redeten sie von ihren Geschichten, den Gewalt-Geschichten, einer obszöner als die andere - der Stephan aus Hannover, der Ronald aus Berlin, die Carin aus Celle oder auch Ilona aus Iserlohn, der Gregor aus Emden, der Lutz aus Düsseldorf; keiner war mal gerade älter als zwölf Jahre.
MIT "MUNDORGEL" VOR MADAGASKAR
Dabei schilderten sie ihre sexuellen Kinder-Erlebnisse - Ur-Geschehnisse mal eben so mit einer scheinbaren Lockerheit , auch arglosen Unbekümmertheit, als hätten sie sich gerade einen Haribo-Lutscher gekauft. Sie hatten sich sehr oft im Halbkreis aufzusetzen und aus ihrem Liederheftchen "Mundorgel" zu trällern. Da lagen sie "vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord" oder sie sangen "kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unsere weit und breit". Jeden Morgen vor dem Frühstücksgebet, so wollte es das Heim-Ritual, galt es ein besonders zutreffendes Liedchen zu schmettern; "Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König." - Realsatire oder bittere Ironie ausgegrenzter Kinder-Jahre. All abendlich zur Gebets-Andacht vor dem Zubettgehen hatten sie in der Heimhalle ihren Segen mit sauberen Fingernägeln abzuholen und zu summen "Herr erbarme dich" ... ... Das war am Sonnabend immer so, bevor des Nachts schwanzpralle Erzieher während ihres Nachtdienstes zu den Jungs unter die Bettdecken krochen oder sich Kindergärterinnen ihre Nylon-Strumpfhosen von kleinen Mädchen abpellen liessen.
SEELISCHE FUSS-ABDRÜCKE
Verschieden waren ihre Anlässe fürs Heim-Asyl, die Szenerien blieben austauschbar: Gewalteinwirkungen, Handkantenschläge, Fausthiebe und Tritte, sexuelle Abrufbarkeit, sexuelle Beliebigkeit hatten hinlängliche Spuren hinterlassen - seelische Fußabdrücke, auch Bindungslosigkeit des Kommens und Gehens genannt . Und wieder waren es nahezu ausnahmslos Männer mit Klapperholz-Latschen und manierlich blank rasierten Beinen - Frauen mit Knotenfrisuren, wie einst in der Nazi-Zeit, die auch hier noch fortlaufend ihr Kommando im Namen evangelischer Pastoren führten. Ein Knoten beim Wecken, ein Knoten bei der Essensausgabe der Suppenkübel, ein Knoten im Büro, ein Knoten beim Abendlied und letztlich der aufgemachte Knoten im Bett. Die allgegenwärtig plötzlich auftauchende Knotenfrisur in den sechziger Jahren war schon irgendwie ein Synonym für ein fortlebendes Mode-Überbleibsel aus einer braunen Epoche; wenigstens das. - Unbeherrschte , unnahbare, launische Nazi-Fräuleins in Heimen jugendlicher Fürsorge; hin und wieder gibt es einen kurzem Schlag ins Gesicht oder mit dem Bügelbrett-Lineal eins auf die Finger. Scheinbar ewig wirken ihre immer und immer wieder ausbrechenden Brüllereien nach; auf den endlos langen, nie enden wollenden schallgedämpften, abgedunkelten Fluren. Wer hier überleben wollte in diesem ausgegrenzten Kinder-Getto kleiner Mädchen wie Jungs - und das wollten eigentlich alle - hatten sehr schnell im Flüsterton lernen müssen: Wer sich hier von Erzieherinnen oder Erziehern, aber auch abkommandierten Kalfaktoren nicht ficken lässt, der hat schon verloren. Augenzwinkern. Achselzucken. Bedrohung. Punktum.
GEFÄHRLICHES EIGENLEBEN
Es war die einst in der Schweiz lebende Kindheitsforscherin und Psychoanalytikerin Alice Miller (*1923+2010), die unter anderem in ihrem Buch "Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, 1979) darauf dezidiert hinwies: dass auch ohne vitales Erinnern die Langzeitfolgen von Gewalt, sexuellem Missbrauch latent in Körper und Seele lauern, dort eine bedenkliche Eigendynamik freisetzen können. Pfade am gesellschaftlichen Wegesrand waren somit vorgezeichnet. Mit anderen Worten: Hier sorgte eine wegschauende Gesellschaft dafür, wie sie aus dem Gewalt-Opfer Kind, ausweglos Täter späterer Jahre macht: Gewalt gegen sich selbst, Gewalt gegen andere. Alice Miller meint: Um solche Gefahren-Potenziale zu verhindern sei es für solche Kinder wichtig, im Laufe ihres Erwachsenenwerdens die eigenen authentischen Gefühle von Schmerz in der Kindheit zu erkennen , und vor allem sie zu verarbeiten. Ohne dieses präzise Erinnern, jenes erneute Erlebbare sei ein Bezug zur eigenen Geschichte, zum eigenen Geschehen versperrt. Meist ist eine schonungslose, oft beherzte wie auch schmerzhafte Offenheit zum hastig Verdrängten der Beginn einer langwierigen Entwicklung, die die Seele erstarken lässt. - Kärrnerarbeit. Befreiung. Wer aber hat dafür das Geld, wer mag schon solche seelischen Anstrengungen, Irritationen, mitunter Verzweiflungen aus sich nehmen? - Die wenigsten.
EXTREM HOHE DUNKELZIFFER
Kindesmisshandlungen sind alltäglich, werden als solche kaum wahrgenommen, nur äußerst selten erkannt - und das im allgemeinen auch nur, wenn sie einen tödlichen Ausgang haben. Professor Ulrich Köttgen (*1906+1980), Direktor der Mainzer Kinderklinik, stellte in seinen Untersuchungen fest, dass die Dunkelziffer bei Kindesmisshandlungen, Kindesmissbrauch die Dunkelziffer ungewöhnlich hoch ist und allenfalls etwa fünf Prozent der Fälle vor Strafrichtern landen. In der Regel werden Kinder von Mitgliedern im engsten Familienkreis misshandelt. Die Öffentlichkeit erhält in jene sorgsam kaschierte Grauzone kaum einen Einblick. Günther Bauer, Kriminaloberrat im Bundeskriminalamt in Wiesbaden, analysierte insgesamt 56 Fall-Beispiele. Aus diesen filterte er die Erkenntnisse, dass die Tatbestände der Kindesmisshandlungen weitgehend verschleiert werden. Kinder leben tage- oder wochenlang eingesperrt, damit fremde Personen etwaige Verletzungen nicht bemerken können.
GEWALT - EIN "NATURGESETZ"
Auch wird den Kindern unter Androhung einer schweren Strafe strikt verboten, irgend etwas über die oft zerrütteten häuslichen Verhältnisse draußen etwa in der Schule zu erzählen. Und nicht nur dies: Während der Misshandlungen stellen Eltern oft Radio- und Fernsehgeräte lauter, damit Schreie, Hilferufe, Schmerz-Gestöhne übertönt werden. Ohnmacht der Kinder im Verbund mit einem festen elterlichen Autoritäts-Zugriff führen dazu, dass die Misshandelten selbst nie Anzeigen erstatten - zu eingeschüchtert, zu verängstigt . Kriminalist Günther Bauer resignierte: "Kinder nehmen die fürchterlichen Misshandlungen durch ihre Eltern quasi wie ein Naturgesetz hin."
VORKRIEGS-JAHRE
Eine Vorkriegs-Statistik des "Vereins zum Schutze der Kinder vor Ausnützung und Mißhandlung" belegt
0 dass in 18 Prozent der Fälle den misshandelten Kindern jeder Verkehr mit familienfremden Personen und jede Beantwortung einer an sie gerichteten Frage verboten war;
0 dass in 17 Prozent der Lautsprecher des Rundfunkgerätes angestellt, der Wasserhahn aufgedreht oder der Kopf des Kindes auf ein Kissen gedrückt wurde, damit kein verräterischer Laut nach draußen drang;
0 in 36 Prozent der Fälle wurden die Kinder nicht aus der Wohnung gelassen, solange an ihren Körpern noch Gewalt-Spuren, Blut-Spuren zu sehen waren;
0 und in 22 Prozent der Fälle wurden Kinder derart eingeschüchtert und in ihren Ängsten umgedreht, dass sie selbst im Falle ihrer Wegnahme aus dem Elternhaus leugneten, gequält, geschlagen, misshandelt worden zu sein.
KONTINUITÄT HAT EINEN NAMEN: PRÜGEL
In den Jahren 1955 bis 1965 wurden im Institut für Gerichtliche und Soziale Medizin der Universität Kiel die Leichen von 380 Kinder unter 14 Jahren obduziert; darunter zwölf Fälle aktiver, grober Misshandlungen und sieben Schicksale sträflicher Kinder-Vernachlässigungen. Als Ursachen für Todesfolgen standen Kopfverletzungen an erster Stelle, davon drei in Verbindung mit sicher nachgewiesener Fettembolie. Aber immerhin: Jährlich werden etwa 300 bis 400 Fälle von Gewalt an Kindern in der Bundesrepublik strafrechtlich verfolgt und etwa in der Hälfte der Fälle gerichtliche Urteile gesprochen. Es ist aber gerade die Statistik, die sehr ungenau geführt wird, allgemeine Rückschlüsse verwässert. Viele schwere Vorkommnisse in Sachen Kindesmisshandlungen werden unter der Rubrik "Gefährliche Körperverletzung" oder "Körperverletzung mit tödlichem Ausgang" verbucht. Somit gelingt es immer wieder, die eigentliche Dramatik oder auch den Sprengsatz kindlicher Opfer zu vernebeln. Untaten an Kindern werden nämlich nicht nur nach den Bestimmungen des §223b des Strafgesetzbuches geahndet, sondern sie können sich rechtlich zugleich als schwere Körperverletzung (§ 224 StGB) mit tödlichem Ausgang (§ 226 StGB) sowie auch als Totschlag (§ 212 StGB) darstellen. Gleichwohl kommt es bei derlei Interpretationsspielräumen in erster Linie auf das "Problembewusstsein und die Erkenntnisfähigkeit der Richter an, ob sie eine rohe Misshandlung" konzedierten oder auch nicht", relativiert der Jurist Wilhelm Stille vom Deutschen Kinderschutzbund (gegründet 1953) den Paragraphen-Schutz-Schirm. Stille: "Vielen Juristen ist ihre Weltfremdheit ins Gesicht geschrieben. Wie sollen sie da den Dunst familiärer Zerbrechlichkeiten und ihre Auswüchse an sich herankommnen lassen? Ein Unding."
GEFÄNGNIS - ZUCHTHAUS
Im Rückblick wurden in der Bundesrepublik zwischen 1950 bis 1960 exakt 2.175 Täter wegen Kindesmisshandlung abgeurteilt; mit Geldstrafen, Gefängnis und Zuchthaus. Sicherlich wären zu einer größeren Anzahl von Gerichtsurteilen gekommen, wenn Ärzte nicht der Schweigepflicht unterlägen. Es war der damalige Justizminister Gustav Heinemann (*1899+1976; Bundesminister der Justiz 1966-1969), der die deutsche Mediziner zu mehr Courage aufforderte, in dem er wiederholt auf die gültige Rechtslage verwies. Gustav Heinemann am 17. März 1967 vor dem Deutschen Bundestag: "Ein Arzt darf trotz seiner ärztlichen Schweigepflicht die Polizei oder die Jugendämter über die ihm bekannt gewordenen Kindesmisshandlungen informieren."
UNGENAUE DATEN, KAUM VERGLEICHE
In jedem Fall sind die öffentlich ermittelten Daten sehr ungenau. Sie sind kein zuverlässiger Gradmesser für die Verrohung des Umgangs der Familien in diesem Land. Quantitative Größenordnungen sagen allzuoft wenig über die qualitative Tragweite aus - nämlich einer familiären Erosion, deren Folgewirkungen noch nicht abzuschätzen sind. Kinder-Anwalt Wilhelm Stille notierte im Mitteilungsblatt des Deutschen Kinderschutzbundes: "Aus unserem Bewusstsein ist der Kinder-Klaps, der nicht schaden kann, nicht rauszukriegen. Wenn man aber erkennen muss, dass in einer Reihe von Ereignissen durch ein frühes Eingreifen manches Unheil hätte verhindert werden können, so darf man auch an dem Problem der ärztlichen Schweigepflicht nicht vorbeigehen. ... ...".
TÄUSCHUNGEN, LÜGEN
... ... "Es ist bekannt, dass Eltern und Erziehungsberechtigte versuchen, bei Verletzungen durch Misshandlungen die Ärzte zu täuschen, zu belügen. Es werden die raffiniertesten Mittel benutzt. Schwere Verletzungen werden als Sturz von der Treppe, vom Stuhl oder Fallen auf den Fußboden, Verbrennungen und auch Erfrierungen werden mit unglücklichem Zufall, entschuldbarem Irrtum oder eigenem Verschulden des Kindes erklärt. Es sind Fälle bekannt geworden, in denen Kinder während einiger Monate mehrfach mit Spuren von Misshandlung jeweils in eine andere Klinik eingewiesen wurden, ohne dass man der Sache auf den Grund gekommen war."
DEUTSCHE KINDER-ZUSTÄNDE
Originalton einer Frau, einer Wissenschaftlerin dazu aus den siebziger Jahren. Zeitgeschichte oder Aktualität ? Lang ist es her, Jahrzehnte um Jahrzehnte - geändert hat sich wenig, konstatiert Elisabeth Trube-Becker: "Wahllos wird von grausamen Eltern mit allen nur erreichbaren Gegenständen auf das Kind eingeschlagen, mit Riemen, Peitschen, Stöcken, Kohlenschaufeln, Kochlöffeln, Feuerhaken etc. Unerschöpflich ist die Phantasie beim Ersinnen von Grausamkeiten, um dem gequältem Kind Schmerzen zuzufügen: stundenlanges Stehenlassen, Auf- und Abmaschieren während der Nacht, auf den heißen Ofen setzen, Überbrühen mit heißem Wasser, stundenlanges Haltenlassen von schweren Gegenständen, Halten von brennenden Streichhölzern, bis die Finger schmerzen , Frierenlassen - erfrorene Gliedmaßen sind bei misshandelten Kindern sehr häufig - Tauchen in eiskaltes Wasser bis zum Tod durch Erschöpfung oder Ertrinken, Liegenlassen in Kot, Urin und vieles mehr."
VORBEUGUNG VERSCHLAFEN
Erfahrungen aus Westberlin in den siebziger Jahren zeigten allerdings, dass eine wirksame Vorbeugung gegen Gewalt-Exzesse in Familien, an Schulen, an Frauen und Kindern erfolgsversprechend ist. Es war der Alleingang der Berliner Senatorin Ilse Reichel (*1925+1993; 1971-1981), zuständig für Familie, Jugend und Sport, die das erste Haus in der Bundesrepublik für geschlagene Frauen und verprügelte Kinder eröffnete. Wie kein anderes Mitglied im Berliner SPD-Senat unterstützte und finanzierte Ilse Reichel hilflose Frauen , Eltern-Kind-Gruppen, Kindertagesstätten, Abenteuerspielplätze. Dabei ließ sich Ilse Reichel zentral von einem Grundgedanken leiten: Gewaltausbrüche im Vorfeld durch alternative Aufgaben ,auch Freizeitangebote zu verhindern.
KINDER-FREUNDLICHES KLIMA
In besagten Reichel-Jahren, die nachweislich kinderfreundlichsten, die die Hauptstadt je erleben konnte, war jedenfalls nach Feststellungen der Berliner Kriminalpolizei eine Zunahme der Verfahren bei Kindesmisshandlungen um 300 Prozent zu verzeichnen. Aus diesem Anstieg kann jedoch keine verfehlte Senatspolitik noch ein Mangel an erzieherischen Fähigkeiten der Pädagogen oder Sozialarbeiterinnen abgeleitet werden. Sie sind das offene Ergebnis einer frauen- und kinderfreundlichen Politik - die in eine angstfreie Atmosphäre ausstrahlte, in der sich geschwundene Frauen, auch lädierte Jugendliche erstmals zur Polizei wagten - Anzeige erstatteten.
MAUER DES SCHWEIGENS
Gleichwohl wird das sozialpsychologische Klima - somit die zwischenmenschliche Atmosphäre zwischen Flensburg und Basel eher markiert durch eine undurchlässige Mauer des gefühllosen Schweigens als durch solidarische Anteilnahme. Es sind Berührungsängste, Abgrenzungs-, Distanzierungs- versuche von denen da unten ... ... Mitgefühl ja schön und gut, wenn es um Notopfer-Spenden auf fernen Kontinenten geht, aber bitte schön doch wohl nicht, wenn sich Nachbarn die "Köppe einschlagen". Regierungsdirektor Walter Becker, Vorsitzender des Deutschen Kinderschutzbundes (1969-1972), zeigt auf die zerbrechliche Achillesferse seines Engagements. Er sagt: "Menschen schauen sich aus der Ferne voyeuristisch Kinder-Schicksale an, ohne wirklich helfen zu wollen. Dieser Ohne-Mich-Standpunkt ist alltäglich. Wir brauchen aber Leute, die zupacken, informieren, helfen, Kindesmisshandlungen aufdecken. Wunschdenken?
ARMUT, SCHEIDUNG, ALKOHOLISMUS
Auslösende Faktoren, Initial-Momente , Kindern den Krieg zu erklären, sind zuvörderst Ehekonflikte, Alkoholismus, sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit und Armut. Untersuchungen belegen, dass soziale Zerrissenheiten zu Aversionen gegen das Kind als "Nichtsnutz" bis zum krankhaften Zwang steigern. Im wohlhabenden Deutschland - dem Land der proklamierten sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit auch unterer Schichten - leben mehr als 2.6 Millionen Kinder in Armut. Vornehmlich in Berlin, dem üppigen Hauptstadt-Schaufenster, sind es 200.000 Kinder und Jugendliche. Und die Zahl driftet weiter steil nach oben. Kinder-Armut hat sich im Zeitraum der Jahre 2003-2008 verdoppelt - besonders in Mitleidenschaft gezogen sind Kleinstkinder unter sieben Lebenslenzen - dort, wo Babynahrung ein unschwinglicher Luxus wird, da sind in Berlin Reichstag, Museens-Galerien und Oberschicht-Nippes-Boutiquen nicht fern. Wo das Leben unerschwinglich teuer ist und wenigstens der Tod vom Sozialamt bezahlt wird - auch da ist Berlin.
STIGMATISIERT FÜRS LEBEN
Die Sozialwissenschaftler und Bildungsforscher der Universität Bielefeld, Klaus Hurrelmann und Sabine Andresen, kamen in ihrer ersten umfassenden Milieu-Untersuchung (World Vision Kinder-Studie, 28. Januar 2008) bei Kindern zwischen acht und elf Jahren zu dem Ergebnis, "dass die Klassengesellschaft in Deutschland keine neue Entwicklung ist. Erschreckend ist aber, wie sich in einem reichen Land wie Deutschland die Armut von Kindern 'eklatant' auf ihre Biografien auswirkt. Das bedeute: geistige und kulturelle Armut, soziale Armut, materielle Armut, seelische, emotionale und psychische Armut, schulisches Versagen - und immer wieder Gewalt gegen Kinder;durchgängig Gewalt.
TÄTER-PROFILE
Der Deutsche Kinderschutzbund unterscheidet in seiner Eingruppierung von Gewalttätern drei Kategorien. Eine einheitliche, zweifelsfreie wissenschaftliche Aussage gibt es nicht. Danach sind in der
0 ersten Gruppe arbeitsunwillige, haltlose Akteure, die durch eigene Phlegma in materielle Not geraten. Sie machen in ihren Kindern die Hauptschuldigen ihrer Familien-Misere aus, vergreifen sich an ihnen;
0 zweiten Gruppe dominiert der Tyran. Ein Typus Mann, der herrschsüchtig wie rücksichtslos seine Familie schikaniert, keinen Widerstand duldet, sondern bricht;
0 dritten Gruppe sind sie so genannten Triebtätern zuzuordnen. Männer, die sich mit ihren Gewaltphantasien, Rauschmitteln hemmungslos ausleben; folglich auch für die eigene Frau oder Kinder kein Schamempfinden, keine Schmerzgrenze kennen.
DEUTSCHE ELTERN SCHLAGEN ÖFTER
Als Strafmaßnahmen gegenüber den Nachkömmlingen galten bis Ende der siebziger Jahre körperliche Züchtigungen als das gängigste Mittel. Bemerkenswert ist, dass die meisten Eltern in der alten Bundesrepublik - im Gegensatz zu ihren europäischen Nachbarn - in erheblicher Intensität mit Schlägen zur Sache gehen. Nach Schätzungen des Kinderbundes sollen ungefähr 85 Prozent der Eltern ihre Kinder verprügeln. Davon erhielten im Elternhaus 55 Prozent der Jungen Stockschläge, 37 Prozent der Mädchen. Im Prinzip wurden Körperstrafen mit der flachen Hand, einem Lederriemen, Teppichklopfer oder dünnen Rohrstöcken verabreicht. Im Schulmilieu kamen zudem noch Lineale oder Stöcke zum Einsatz, wurden vorwiegend "Kopfnüsse" ausgeteilt.
"BACKPFEIFEN"-TRENDWENDE
Spätestens seit Ende der siebziger Jahre gelten körperliche Züchtigungen als nicht mehr "gesellschaftsfähig" - werden als ein "typisches verwahrlostes Unterschichts-Verhalten" eingeordnet. Seither sind Körperstrafen vom Gesetzgeber verboten. Auch das sogenannte "Backpfeifen"-Recht der Eltern gegenüber ihren Kindern wurde im Jahre 2000 durch eine Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ausdrücklich abgeschafft. Nach Neufassung des Paragraphen 1631 BGB ist es das Kinderrecht, gewaltfrei aufzuwachsen, erzogen zu werden, auch ohne Demütigungen dem Leben zu begegnen. Im Gesetz heißt es: "Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig." Ein Rechtfertigungsgrund für Prügel gibt es nicht mehr.- Fortschritte in Deutschland.
BEIM NACHBARN IN EUROPA
In zahlreichen Staaten Europas gewann nach Ende des Zweiten Weltkriegs sukzessive die Auffassung Oberhand, dass körperliche Nötigungen schädlich für die Entwicklung der Kinder sind. Nicht zuletzt wissenschaftliche psychologische Erkenntnisse rieten dringend davon ab, weiterhin junge Menschen mit Körperstrafen zu sozialisieren, abzurichten. Danach ist gleichfalls körperliche Gewalt in Ländern wie Schweden, Island, Finnland, Dänemark, Norwegen, Österreich, Italien, Zypern, Kroatien, Israel untersagt. Lediglich in den Vereinigten Staaten von Amerika scheiterten Initiativen auf einen "gewaltfreie Kindererziehung" im Laufe der Jahrzehnte - nicht einmal, sondern immer wieder.
HILFE UND SCHUTZ
Auch wenn die Diskrepanz zwischen Gesetzestext und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit nichts an Schärfe, Dramatik, gar Endzeitstimmungen eingebüßt hat, verfügen mittlerweile deutsche Polizeidienststellen über speziell geschulte Einsatzkäfte. Sie können direkt telefonisch angefordert werden. Mit dem im Jahre 2002 eingeführten Gewaltschutzgesetz wurde den Opfern zudem Schutz ermöglicht. Ein Familiengericht entscheidet mittlerweile darüber, wie eine etwaige Eskalation verhindert werden kann. Wohnungsverbote, Kontaktverbote. Für viele Gewalttäter in ihren Familie bedeutet eine etwa gerichtlich verfügte Trennung Freiheitsstrafe auf lange Sicht oder Therapie. Dort lernen diese Männer - reichlich verspätet - die Dynamik ihre Gewaltexzesse emotional zu begreifen, Folgewirkungen auf ihre Frauen wie Kinder zu verstehen.
MISSHANDLUNGEN UND KEIN ENDE
Nach Erhebungen der im Zeitraum von 2003 bis 2005 verantwortlichen CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen hat es in den letzten drei Jahren (2003-2006) laut Kriminalstatistik 2.900 Ereignisse von Kindesmisshandlungen gegeben, die Dunkelziffer sei allerdings weitaus höher. Es habe "Fälle sträflichen menschlichen Versagens" gegeben. Beherzt und zugleich ein wenig kleinlaut, haucht die Ministerin ins Berliner Hauptstadt-Mikrofon: "Wenn man den Eltern zehn Euro streicht, kriegt das Kind mehr Prügel. - Wir müssen solche Kinder aus den Familien herausnehmen."
VOR 40 JAHREN IST IRGENDWIE HEUTE
Vor 40 Jahren mahnte der damalige Vize-Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Wilhelm Stille in seinem Tätigkeitsbericht eindringlich. Er schrieb: "Es muss angestrebt werden, dass das Kind im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit stärker als Rechtspersönlichkeit, denn als Objekt der Interessen der Erwachsenen angesehen wird. Das Bürgerliche Gesetzbuch besteht seit nahezu 80 Jahren, und viele Begriffe haben sich seither gewandelt. Nach Auffassung vieler ist besonders das derzeitig geltende Recht über die elterliche Gewalt, Erziehungsrecht reformbedürftig." - Auf derlei Reformen der Menschenrechte wartet das Land immer noch - Menschenrechte sind Kinderrechte ... ...

Dienstag, 29. September 1970

"Der Papst sagt nein zur Pille" - Protestsongs mit Franz Josef Degenhardt - Ende der sechziger Jahre

























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Cuxhavener Zeitung
29. September 1969
von Reimar Oltmanns
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Revolutionäre Romantik hatte die Stimmung in der Kurparkhalle erfasst; mythische Stimmung kam auf, Ressentiments gegenüber deutsche Verhältnisse, Aggressionen. Die Protestsongs des APO-Sängers und Liedermachers Franz Josef Degenhardt (*1931+2011) ließen die Gemüter an diesem Herbstabend an der Nordsee-Küste zu Cuxhaven überkochen. Da stand er nun auf der Bühne mit seiner Gitarre als Wegbegleiter, dieser "Väterchen Franz, dieser versoffene Chronist, der weiß, wie es ist". Kein Zweifel: Als Liedermacher ist Franz Josef Degenhardt eine der Stimmen der 68er Bewegung; seine ersten Auftritte waren bei den spektakulären Burg-Waldeck-Festivals in den Jahren 1964-1969; als Signal-Wirkung versteht sich.
LUFT ABLASSEN - BIS FLASCHEN FLIEGEN
An die 500 Jugendliche waren zum Degenhardt-Festival gekommen, um als Oppositionelle "Luft abzulassen", Ressentiments oder auch "Aggressionen rauszulassen" gegen das bundesdeutsche Großkapital, Bourgeoisie, Kirche und SPD. Der Zeitgeist in Deutschland weht, spricht und singt bekanntlich links in diesen nun beginnenden siebziger Jahren. Die klare, akzentuierte Stimme des APO-Sängers, aber vornehmlich die bitter-süffisante Ironie seiner Lieder machten aus diesem Abend aber allerdings alles andere als eine der x-beliebig austauschbaren Konsumverstaltungen verschlafener deutscher Provinzen. Identifikation wurde gesucht und spätestens bei dem Lied "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" gefunden. Ausgrenzung, Ohnmachtgefühle vielerorts.
"WER HAT UNS VERRATEN ?"
Verständlich, dass dieser Degenhardt, der als Rechtsanwalt SPD-Mitglieder oder auch Kommunisten in APO-Strafprozessen verteidigt, auch in seinen Liedern gesellschaftskritische Bezüge herstellt. Da wurde halt eben die Sozialdemokratische Partei nicht nur in seinem Song, gleichfalls auch vom Publikum besonders aufmerksam bedacht, der so lautet: "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" schallte es minutenlang durch die vollbesetzte Halle. Viele dieser Jugendlichen, in Siedlungen oder auch im Fischerei-Hafen groß geworden, sind der Ansicht, dass sozialistische Grundsätze von Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit in der SPD verloren gegangen seien, vor allem eine Partei der Malocher - speziell in Cuxhaven der Fisch-Mehlfabrik-Arbeiter zu sein. Ein Abend mit Franz-Josef Degenhardt wird so unweigerlich zu ihrem Spiel - zum Heimspiel in einer für viele kaum noch zu verstehenden Welt. " ... Aufbauen ,Schritt für Schritt, sagt der alte Sozialdemokrat und spricht und spricht, nur die richtigen, die wilden Streiks, die macht der nicht."
WEISSMACHERN IN LERNFABRIKEN
Gleichwohl glaubt Franz Josef Degenhardt, wenn er da so voller Inbrunst mit seiner Gitarre auf der Bühne wedelt, nicht daran, sein Publikum "politisch zu agitieren". Degenhardt sagt: "Das Singen macht mir Spaß. Früher waren meine Lieder zwar nicht so politisch, doch jeder macht in gewissen Zeiten einen Emanzipationsprozess durch. Aber ich glaube nicht, dass meine Lieder politisch etwas bewirken können. Man kann es vielleicht mit einem Maler vergleichen. Der malt, weil er die Fähigkeit hat, mehr nicht." Nicht von ungefähr stellt Degenhardt die Ballade von den Weißmachern, den aal-glatten Schönrednern ins Zentrums seines Liederabends. In dieser Ballade besingt und betextet er die unreflektierte, auf Angepaßtheit, Duckmäusertum ausgerichtete Systemkonformität des Alltags-Lebens. Ein Vorgriff auf kommende Jahrzehnte, wenn er da singt: " ... und als der fleißige Student hat beendet sein Studium, da zog er aus der Lernfabrik in eine andere um, das war das große Seifenhaus, dort stellte er tagein tagaus die allerfeinste Seife her, die hatte 100 Weißmacher ...".
"WAS SOLLST DU GLAUBEN, CHRIST?"
Und die Katholiken in diesen bewegten Jahren? Was sollen sie glauben, denken, fühlen in einer Ära des Geburten-Überschusses, grassierender bitterer Armut in der Dritten wie Vierten Welt ? Und Franz Josef Degenhardt fragt wieder, "was sollst du glauben Christ, der Papst sagt nein zur Pille und Kondomen, und das ist Gottes Wille. Wen soll dieser Gott beschützen, was ist das für ein Gott? Das sollst du fragen, du glaubensfroher Christ. Die Antwort wird dir sagen, wes lieber Gott das ist ... ... Wem nützt es, wenn die Proleten in Dublin und in Kapstadt nicht kämpfen, sondern beten, dass ihre Not ein End' hat? ... Das ist der Gott der Reichen, die den Gewinn einstreichen und sich die Pillen kaufen. Doch es werden die Proleten beenden ihre Not und kämpfen statt zu beten, dann stirbt auch dieser Gott ... ... dann weiß der fromme Christ, dann weiß die ganze Christenschar, wes lieber Gott das war ...".
LIEDER MIT LANGER LEBENSDAUER
Dieses Papst-Pillen-Lied war charakeristisch für Franz-Josef Degenhardt an diesem seinen Song-Abend. Mit derlei Lieder und ihrer offenkundig langen Lebensdauer will der APO-Anwalt seine Zuhörer aus dem alltäglich dahinsiechenden, einlullenden Milieu herauslösen; im Fall der katholischen Kirche ihre Herrschaftsstrukuren verdeutlichen. Aufklärung ist gefragt. Es ist der künstlerische Versuch eines Mannes, einen Denk- oder auch Befreiungsprozess einzuleiten, der es lautet: Recht auf Selbstbestimmung, die den Menschen zu einen kritischen Denkansatz verhilft - ihn letztendlich von seinem "ausgebeuteten Dasein befreit".
"AUTOBIOGRAFISCHER LEBENSLAUF"
In seinen Liedern über den "autobiografischen Lebenslauf eines westdeutschen Linken" der ihm vorauseilende Gehorsam vornehmlich zu Zeiten der sozialliberalen Koalition (1969-1982). "... ... aus der linken Ecke nur Knurren und Bellen, doch niemals den Klassenfeind stören ...". Der politische Weg des Franz-Josef Degenhardt schien vorgezeichnet. Im Jahre 1961 hatte er sich der SPD angeschlossen, zehn Jahre später wurde ihm dort die "rote Karte " gezeigt. Er ging zur DKP, trat bei ihren UZ-Pressefesten auf. Seinen Liederabend zu Cuxhaven beendete er mit einem Lied, das ihn berühmt gemacht hatte, Einvernehmen erlaubte: "Spiel nicht mit Schmuddelkindern" und "Väterchen Franz, versoffener Chronist, du weißt, wie es ist" - in Cuxhaven und anderswo in diesem Land.

Dienstag, 15. September 1970

FDP will Jungdemokraten rausschmeißen - Reimar Oltmanns: Wir sind gelassen




























Hannoversche Presse
vom 15. September 1970
von Wolfgang Tschechne

Reimar Oltmanns, der am Wochenende in Osterode/Harz neu gewählte Landesvorsitzende der Jungdemokraten (DJD) in Niedersachsen, sieht einem möglichen Ausschlussverfahren, das der Landesverband der FDP gegen ihn anstrengen will, "mit Gelassenheit" entgegen.

Einen Tag nach dem Landesjugendtag der niedersächsischen Jungdemokraten hat der geschäftsführende Landesvorstand der FDP in Hannover beschlossen, "die letzten noch bestehenden Verbindungen zum Landesband der DJD abzubrechen". Dazu ein Sprecher des FDP-Vorstandes: "Die FDP ist der Auffassung, dass die Landesorganisation der Jungdemokraten marxistisch-leninistisch beherrscht ist."

AUFRUF ZUM KLASSENKAMPF

Als besonders schwerwiegend verurteilt der FDP-Landesvorstand einen in Osterode verabschiedeten Antrag zur Ausbildung, in dem es heißt: "Die Diktatur der Bourgeoisie muss zerschlagen werden, um eine Gesellschaftsordnung zu errichten, in der alleine jene bestimmen, die den gesellschaftlichen Reichtum erarbeiten." Die FDP sieht darin einen Aufruf zum Klassenkampf.

Dazu erklärte Reimar Oltmanns: "Bei diesem Antrag handelt es sich um eine Zwischenanalyse. Das Vokabular darin hat mich selbst gestört. Ich habe mich deshalb in Osterode dafür eingesetzt, dass er erst noch weiter bearbeitet wird. Ich betone jetzt dazu ausdrücklich, dass in diesem Antrag zwar sozialistische Analysen mit aufgenommen worden sind, dass sich aber an einer linksliberalen Interpretation des Inhalts nichts geändert hat und nichts ändern wird."

PARTEI DES EIGENTUMS

FDP-Landesvorsitzender Rötger Groß (*1933+2004) erläuterte seine Stellungnahme als Angrenzung zu den möglichen marxistischen Strömungen so: "Die FDP ist eine Partei des Eigentums. Die soziale Verpflichtung des Eigentums ist die liberale Antwort auf jede Form des Sozialismus. Wer glaubt, sozialistische Vorstellungen vertreten zu müssen, möge sich nach einer anderen politischen Heimat umsehen."

GENERATIONENFRAGE

Jungdemokrat Reimar Oltmanns sieht in der aufgetretenen Kontroverse weniger sachliche Spannungen, sondern vielmehr Schwierigkeiten der Verständigung zwischen den Generationen: "Wir müssen dahinkommen, die gesellschaftliche Lage der Gegenwart mit anderen Begriffen zu bezeichnen, weil das Vokabular des 19. Jahrhundert ungeeignet ist, unsere unverändert linksliberalen Vorstellungen deutlich zu machen. Wir sind nicht, wie es heißt, marxistisch-leninistisch beherrscht, aber wir beziehen selbstverständlich auch marxistische Wirtschaftstheorien in unsere Überlegungen ein, um unseren eigenen Standpunkt zu finden. Die Wirtschafts-theorie hat doch nicht bei Friedrich Naumann (*1860+1919) aufgehört."

Formell könnte die Trennung zwischen den Landesverbänden der FDP und DJD am 19. September 1970 vom Gesamtverband der niedersächsischen FDP besiegelt werden. Oltmanns: "Ich denke, dass bis dahin mögliche Missverständnisse ausgeräumt werden können. Zur Zeit jedenfalls bin ich noch als Vertreter der Jungdemokraten Mitglied des FDP-Landesvorstandes."

"SONDERBÜNDELEI"

Landesvorsitzender Rötger Groß sorgt sich derweil nicht nur um die Jugend seiner Partei, sondern auch mit den "Rechtsabweichlern" der National-Liberalen Aktion (NLA). Er wirft den NLA-Mitgliedern "Sonderbündelei" vor und erklärt: "Eine Zweigleisigkeit in der Mitgliedschaft wird es nicht mehr lange geben können." FDP-Bundesgeschäftsführer Volrad Deneke (*1920+2006) vertrat jedenfalls dezidiert Ansicht, wonach die Programmatik der FDP-"Rechtsabweichler" den Aussagen der NSDAP und der NPD ähneln.

Wenigstens in diesem Punkt gibt es Einigkeit zwischen FDP und den Jungdemokraten in Niedersachsen: der Landesjugendtag in Osterode hat die FDP aufgefordert, den Unvereinbarkeitsbeschluss und die gleichzeitige Mitgliedschaft in der FDP und der deutsch-nationalen schnell herbeizuführen.










Freitag, 20. März 1970

Der "andere" Deutsche vor fast leeren Rängen































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Cuxhavener Zeitung

vom 20. März 1970
von Reimar Oltmanns
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In Gedenken an Bernt Engelmann (
*1921+1994). Der Journalist und Schriftsteller war der "andere" kritische Deutsche. Ein Landsmann mit einem intellektuell feinfühligem , messerscharfem Verständnis, der mit seinen "Anti-Geschichtsbüchern" Verdrängung samt Lebenslügen Paroli bot. Er schrieb vielbeachtete Werke über Reichtum, Armut, Recht und Gerechtigkeit; von oben und unten in diesem Land. ( "Großes Bundesverdienstkreuz" - "Meine Freunde die Millionäre). Gegen Ende der Nazi-Diktatur schloss sich Engelmann einer Wider-standsgruppe an, wurde im KZ Dachau inhaf-tiert. Nach dem Krieg wirkte er als Journalist, verfasste insgesamt über 50 Sachbücher wie Romane mit einer Gesamtauflage von über 15 Millionen Exemplaren. Sein Credo war, sich "von niemanden instrumentalisieren" zu lassen. Daran änderten auch seine zeitwei-ligen Kontakte zur DDR-Staatssicherheit nichts. Unermüdlich bereiste Engelmann deutsche Provinzen, las auch zu kleinsten Veranstaltungen - oft ohne Entgelt - aus seinen Werken, als gelte es - hier und heute, an Ort und Stelle - Korrekturen in diesem Deutschland vorzunehmen.



Auf dieser Erde wäre genügend Platz und Essen für alle Menschen. Die Verhältnisse sind aber nicht danach. Wie lange können wir noch warten?" Mit dieser Frage been-dete der Publizist Bernt Engelmann seinen Vortrag vor nur einer Handvoll Zuhörern in der leer gefegt wirken-den Aula der Wichernschule. Die Volkshochschule hätte für diesen Engelmann-Auftritt auch getrost ein Kneipen-Hinterzimmer reservieren können. Dabei hatte gerade der Autor Bernt Engelmann in den letzten Jahren durch sein zeitkritisches Engagement unverkennbar bundes-deutsches Profil gewonnen. Achselzucken in diesen scheinbar politisch bewegten Jahren.

REICHE UND SUPER-REICHE

Wer vielleicht schon zuvor einmal einen Blick in Engelmanns Werke ("Meine Freunde, die Millionäre" oder "Großes Bundesverdienstkreuz") riskiert hatte,
für den war es nachvollziehbar, dass der frühere Fernseh-Journalist und Buch-Autor Engelmann zu-weilen bissig, hämisch und sarkastisch sich mit der allgegenwärtigen "Raffgier" der Reichen und Super-reichen auseinander setzte. Fast resignierend fügte er hinzu: "Mit der gesellschaftspolitischen Entwicklung des hastig wachsenden Wohlstands sind wir nicht fertig ge-worden. Diese Zivilisation kann zugrunde gehen, weil die Reichen auf dieser Welt die Pille verbieten, aber das Geld scheffeln, um es zu horten."

WIE IM MITTELALTER

Es versteht sich von selbst, dass Engelmann jene gesellschaftlichen Gruppen in der Bundesrepublik vorführte, die über einen Großgrundbesitz verfügen, der sich in einer Dimension von 34.000 Hektar, das sind 340 Millionen Quadratmeter, bewegt. Es versteht sich weiter von selbst, dass sich ein Gesamtvermögen dieser Größen-ordnung nicht exakt benennen, allenfalls nur grob schätzen lässt - sich demnach auf etwa drei Milli-arden Mark belaufen soll. Der von Bernt Engelmann geschilderte "Fall" der Thurn und Taxis sei jedoch keine Ausnahme, kein Betriebsunfall auf einer ansonsten intakten Bühne. "Ich könnte Ihnen 50 Familien benennen, deren Kapital sich in dieser Größenordnung beziffern lässt. Denn für fast alle Menschen, für den einfachen Bürger von nebenan, ist die gesellschaftliche Tragweite, das politische Ausmaß dieses oft versteckten Reichtums nicht vorstellbar". Engelmann nannte Namen, erzählte und zählte auf. "Ja", so sein Fazit, "an der Verteilung des Grundbesitzes hat sich seit dem Mittelalter nicht geändert. Dieser Besitz rekrutiert sich aus den entsprechenden Erbschaftsgesetzen, die längst reformiert werden müssten. Aber wer mag sich von der Politiker-Klasse schon mit Reichen und Superreichen anlegen?" Im Nachkriegs-Deutschland Fehlanzeige.

KÄUFLICH UND KORRUMPIERBAR

Eine der Konsequenzen aus diesen festgezurrten Strukturen sei, so Bernt Engelmann, dass das Großkapital einen nicht von der Hand zu weisenden Einfluss im politischen Leben habe. Viele Menschen, Manager, Macher und natürlich viele Politiker seien in einem unvorstellbaren Ausmaß "käuflich, korrumpier-bar, manipulierbar". Es sei nun einmal eine Tatsache, dass die Bankkonten zahlreicher Parlamentarier Nullen aufweisen, die für den Bürger unvorstellbar sind. Aus dieser Perspektive, unter diesem zentralen Aspekt, müsse sich die Bundesrepulik einmal grundlegend betrachtet werden. Engelmann folgerte: " Es ist doch kein Zufall, dass nur 5,6 Prozent aller Arbeiterkinder eine höhere Schule besuchen. Mit dieser Bildungspolitik sollen die Privilegien, die sich machtpolitisch auszahlen, aufrecht erhalten werden."

SYSTEMKRITISCHES ENGAGEMENT

Die Moral der Geschichte: Um eine gesellschaftliche Umstrukturierung, Umverteilung, letztlich um einen Umbau, werde man auch in der Bundesrepublik nicht umhin kommen. Schließlich wolle man für sich in An-spruch nehmen, in einer Demokratie zu leben, in der soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden soll. Der Druck werde über Jahrzehnte betrachtet zusehends heftiger, somit sei eine Explosion nicht mehr aufzu-alten. Gemeint seien damit Krisenszenarien, Armut, Hunger, mangelnde gesundheitliche Versorgung, mangelnde Bildung in der Dritten Welt. Gleichfalls werde sich aber auch in den sogenannten Industrie-ländern das "systemkritische Engagement" junger Menschen diesen Aufbruch verkrusteter Strukturen in der parlamentarischen Demokratie beschleunigen. "Das alles muss recht schnell geschehen", bedeutete Bernt Engelmann seinem Auditorium , weil es sonst zu spät scheint, "diese Auswüchse grotesken Unrechts auch nur halbwegs zu entschärfen", bemerkte er und lud seine zwölf Zuhörer in die Kneipe ein - zum Nachttrunk sozusagen.










Donnerstag, 1. Januar 1970

Neue Schulen, anderer Unterricht, Demos - Liberaler Schülerbund droht mit Streiks




Hannoversche Allgemeine/
Neue Osnabrücker Zeitung
vom 26. Februar 1968


HANNOVER (lni). - Der Liberale Schülerbund (LS) will in Niedersachsen zu "schärferen Mitteln" greifen und notfalls zu "Schulstreiks" aufrufen, falls das niedersächsische Kultus-ministerium seine Arbeiten zur Schulreform künftig nicht intensiviert. Das kündigte der Vorsitzende des LS-Landesverbandes Niedersachsen, Reimar Oltmanns am Sonntag in Hannover an. Obwohl das Ministerium bereit sei, mit den Schülern zu diskutieren, habe es noch keine "anderen wesentlichen Schritte" zur Verwirklichung der Reform in Sachen Demokratisierung, Mitbestimmung unternommen.

FÖDERALISMUS GESCHEITERT

Während einer zweitägigen Verbandstagung sprachen sich die Delegierten aus achtzehn niedersächsischen Städten in scharfer Form gegen den Föderalismus auf bildungspolitischer Ebene aus und forderten Bundestag und Bundesregierung auf, eine Rahmengesetzgebung für schulische Angelegenheiten auszuarbeiten. Das gegenwärtige Schulsystem sei den Anforderungen einer demokratischen Gesellschaft nicht mehr gewachsen. Deshalb trete der Liberale Schülerbund für die Überführung des zur Zeit vertikal gegliederten Schulsystems in ein horizontal gegliedertes ein. Den Haupttyp dieses neuen Schulsystems bildet nach Ansicht des LS die Gesamtschule.

Unter dem Thema "Warum liberale Schüler?" ging der redegewandte Gymnasiast zunächst auf die heutige Situation von Schule und Schülern ein und erläuterte anschließend einzelne Punkte des Aktionsprogramms der liberalen Schüler.

FEHLERSUCHSYSTEM

Reimar Oltmanns betonte, dass eine durchgreifende Schulreform erforderlich sei, wenn - wie es in der Niedersächsischen Verfassung heißt - Schülerinnen und Schüler zu selbstständig denkenden Menschen erzogen werden sollen. Das zur Zeit bestehende Bewertungs-system in der Schule sei ein Fehlersuchsystem. Und eine Institution, die Fehler so überbewerte, fördere die Bereitwilligkeit, ein Ziel auf dem Wege des geringsten Widerstands zu erreichen. Der Liberale Schülerbund ist der Meinung, dass eine Schule über ihre Funktion als Bildungs- und Ausbildungsstätte hinaus für die Ent-wicklung der Schüler zu demokratisch denkenden und verantwortungsbewussten Staatsbürgern zuständig sei.

MITSPRACHE-RECHTE

Die Schülermitverantwortung (SMV) sei in ihrer jetzigen Form keine mit selbstständige Rechten versehene Organisation, die in ihrem Handeln von autoritären Diktatoren abhängig ist und von den Schülern kaum unterstützt wird. Zu den Zielen des LS gehört die weitgehende Unterstützung der SMV, um die not-wendige Schulreform möglichst schnell voranzutreiben. Als eine von Lehrern und Direktoren unabhängige Organisation verfüge der Liberale Schülerbund über einen größeren Aktionsradius als die örtlichen Schülermitverwaltungen. In Verhandlungen mit Parteien, Direktoren und dem Kultusministerium will der LS sein Hauptaugenmerk auf ein zeitgemäßes Schulsystem richten. Schüler sollen Mitspracherechte bei der Stoffverteilung bekommen. Schüler sollen gleichberechtigt an Schul- und Klassenkonferenzen teilnehmen. Die Schülerpresse-Freiheit soll gesetzlich verankert werden.

AUTORITÄRE GESPRÄCHE

Gleichfalls gilt es, dass etwaige Beschlüsse der Kultus-ministerkonferenz - trotz der Kultur- und Bildungs-autonomie - für alle Bundesländer rechtsverbindlich sind. Und zu guter Letzt, dass Schuldirektoren von den Lehrerkollegien zu wählen seien. Es sei dringend geboten, dass Lehrer, Direktoren, Schul- und Ministerialräte angehalten werden, autoritäre Formen der "Gesprächsführung" zu überwinden. Reimar Oltmanns: "Sonst sitzen sie bald allein in ihren Schulen. Wir streiken."