Dieser Report wurde vor nahezu vier Jahrzehnten geschrieben. Er ist aktueller denn je. Gewalt gegen Kinder - Kindesmisshandlungen , Kindesmissbrauch, körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene vielerorts; in Familien, Heimen, in Schulen. Dieser Bericht belegt, dass sich in Deutschland nur wenig ändern mag. Die Gesellschaft schaut verschämt weg, die Politik belässt es bei Lippenbekenntnissen, Betroffenheits-Gestik genannt; Finanznot überall, es fehlt an Sozialpädagogen, an Heimplätzen, an Etatzuweisungen. Nichts, so will es scheinen, wendet sich zum Besseren - Menschenrecht ist auch Kinderrecht. Immerhin soll seit 2005 ein so genanntes "Frühwarnsystem" greifen, wonach bei Eskalationsgefahr sofort geholfen werden kann. Entspannung in Sachen Kinderschutz ist jedoch nicht in Sicht: Im Jahre 2008 sind von neun Millionen Kindern in Deutschland insgesamt 1,42 Millionen schwersten Züchtigungen und körperlichen Gewaltattacken ausgesetzt; etwa zwei Kinder sterben wöchentlich an den Folgen ihrer Misshandlungen - weltweit sind es 50.000 - Jahr für Jahr.
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"Ausholen ist so gut wie geschlagen"
Sprichwort: aus Afrika
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Cuxhavener Zeitung
09. November 1969 /
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Cuxhavener Zeitung
09. November 1969 /
20.November 2008
von Reimar Oltmanns
von Reimar Oltmanns
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Was ist das nur - Folter, Kindesmisshandlung - vielleicht sogar Erziehung? Kinderrechte haben in Deutschland immer noch keinen offiziellen, verbindlichen Status. Kinder können wie Freiwild ausgeliefert sein - Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit; von wegen Menschenrechte, Kinderrechte. Das geschieht in diesen Tagen, Monaten und Jahren; einmal, immer wieder - unaufhörlich. Ein "Normalfall" in deutschen Familien. - Wutentbrannt schlägt der 36-jährige Vater Conrad, Zollbeamter in der Seehafenstadt Emden, mit geballten Fäusten auf seinen Stiefsohn ein. Immer wieder stieß er ihn mit dem Kopf gegen die abgedunkelte Wand, riß den scheinbar leblosen Körper empor - schleuderte ihn mit aller Kraft auf den Kokshaufen im Heizungskeller. "Wenn du willst, kannste noch mehr haben, du elender Krüppel." Er fauchte und fauchte - versetzte gleichzeitig dem elfjährigen Kind einen Fausthieb. Bewusstlos lag der Junge Gregor da. Augen zugeschwollen, Lippen aufgeplatzt. Was war geschehen? Gregor hatte gewagt, seinem Stiefvater Conrad zu widersprechen, wollte erst draußen auf den Straßen Fußball bolzen, bevor es an die Schularbeiten geht.
EIN FALL VON HUNDERTTAUSENDEN
Eine klassische Kindes-Misshandlung in diesem Land, die keiner besonderen Erwähnung bedarf. Zu Tausenden, zu Hundertausenden kommen Gewaltausbrüche gegen Jungen wie Mädchen daher- zu alltäglich. Achselzucken vielerorts. Da mag sich kaum einer darüber empören - Alltag in Deutschland, Gewalt-Alltag, Fernseh-Alltag. Weder Nachbarn noch Schule nahmen Anstoß am entstellten, deformierten Gesicht des Jungen. Berührungsängste eines scheinbar intakten Milieus mit Familien, in denen es drunter und drüber geht, wo "Hempel unter dem Sofa schläft". Das Jugendamt schaltete sich erst ein, nachdem schon Jahre vergangen waren. Wiederholungsfälle eingeschlagener Gesichter im Schul-Unterricht, an die man sich dann doch nicht gewöhnen wollte.
MENTALITÄT MIT GERMANEN- RECHT
In Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde mit einer ansonsten ausgeprägten Kultur der Rechtsstaatlichkeit, gilt für Kindererziehung das Recht der Germanen etwa 120 Jahre vor Christus immerfort - unausgesprochener Weise in seiner Mentalität versteht sich. Fernab vom bürgerlichen Gesetzbuch dieser Tage hatte bei den Germanen der Vater die Straf- und Zuchtgewalt gegenüber seinen Zöglingen. Er konnte über Leben und Tod willkürlich entscheiden. Er hatte das Recht, sie nach der Geburt auszusetzen, sie zu verstoßen, zu verknechten, zu verkaufen oder zu töten. Erst mit Übergang von der Groß- zur Individualfamilie sollte sich das grauvolle Gewaltverhältnis ändern, lindern, schrieb die einst profilierte Gerichtsmedizinerin Elisabeth Trube-Becker (*1919+2012) von der Universität Düsseldorf. Die einzige Grande Dame der deutschen Rechtsmedizin hatte sich Zeit ihres erfolgreichen Wirkens der wissenschaftlichen Aufklärungsarbeit auf dem Gebiet der Kindtötungen und - misshandlungen verschrieben. - Lichtblicke.
LEHRER HABEN ANGST
Nachdem der Junge Gregor wieder zu sich gekommen war, quetschte er sich mit blutigem Gesicht, aufgeschlagenen Lippen durch eine Kellerluke, flüchtete aus dem Elternhaus. Gregor rannte durch die halbe Stadt zu seinem Lehrer Edmund Erdmann. Der Junge weinte, redete und weinte. Doch auch dieser hatte Angst, Prügel zu beziehen. Junglehrer war er, gerade von der Pädagogischen Hochschule auf die Schulklasse losgelassen. Erdmann brachte seinen Schüler jedenfalls zum Vater zurück, beschwichtigte den Jungen, bestärkte den Gewalttäter in seinem "Erziehungsauftrag", ganz nach dem Motto "eine Ohrfeige hat noch niemanden geschadet". Für ihn war der "Fall Gregor" damit erledigt, "sonst", so der Edmund Erdmann später, "hätte ich wohl möglich auch noch Kloppe bezogen. Wir sind doch Pädagogen und kein Polizeikommando."
FAMILIEN-DRAMA
Die Mutter indes wollte ihren Ehemann zur Rede stellen. Auf erregte Fragen bekam sie Antworten. - Prügel-Antworten. Ihr Mann schlug wieder zu - dieses Mal Frau wie Kind. Sie kassierte oft Ohrfeigen,ohne Vorgeplänkel, ohne Ansatz, einfach nicht auszumachen wie aus heiterem Himmel. Sie sagte nichts, schminkte sich. Beim Einkauf auf dem Gemüsemarkt am kommenden Tag lächelte sie vorsorglich sehr stolz des Weges entlang. Prügel als Familien-Geheimis. Selbstaufgabe. Seine Mutter war es auch, die Gregor Beruhigungsmittel, Schlaftabletten verabreichte. Denn am nächsten Morgen sollte der Junge ja in der Schulklasse wieder wie gewohnt mit seinem Finger lebendig schnippsen können. Spalierstehen war statt dessen angesagt, neugieriges Spalierstehen für einen gepeinigten Zehnjährigen. Kindergewalt, Gelächter auf dem Schulhof, Gekichere im Klassenzimmer bei solch einem zerdepperten Gesicht. Wo eben der private Sender "TV-Brutal direkt" auf dem Schulhof drehte, da stand irgendwie plötzlich der kleine zerbeulte Gregor mit seiner geschundenen Visage im Mittelpunkt.
AB INS HEIM - DEM LAZARET DER VÄTER
Szenenwechsel - von der Hafenstadt im Ostfriesischen an den Rand des Teutoburger Waldes - mit dem Eilzug von Emden-West nach Osnabrück HBF. Im Rahmen der "freiwilligen Jugendhilfe" war dann doch das Fräulein Pausepohl mit ihrer obligat-akkuraten Knotenfrisur als Fürsorgerin in dieser Epoche aktiv geworden, hatte für Gregor kurzerhand in einem evangelischen Kinder- und Jugendheim ein Plätzchen ergattern können. Heimjahre - das waren keine Kinderjahre, eher schon Bett- oder auch Sexjahre unter kirchlicher Obhut. Das Gebäude, ein H-förmiger Betonkasten in der Größe eines Fußballplatzes mit 98 Fenstern, lag draußen an der Stadt-Peripherie, eingezäunt zwischen Wald und Acker. Weit und breit nur Wiesen, Lehmwege; ein Getto, aus dem es kein Entkommen, kein Abhauen gab. Mit ihrem Fernglas auf dem Balkon hatte Heimleiterin Gertrud Berling (*1919+2009) , ihres Zeichens Psychagogin, das vermeintlich ganze Fluchtareal unter Kontrolle, konnte blitzschnell wegrennende Jungs wie Karnickel ausmachen, aufscheuchen, mit einem dreimonatigen Stubenarrest bestrafen. Da hockten die geschlagenen, geschundenen Kinder nun in ihren eingezäunten Zimmern vom "Haus Neuer Kamp" zu Osnabrück, dem vorzeigbaren, erlesenen Heimneubau der evangelischen Kirche. Meist erzählten sie sich, wenn sie überhaupt redeten, und nicht durch die Verabreichung von Tranquillizer ruhig gehalten wurden, dann redeten sie von ihren Geschichten, den Gewalt-Geschichten, einer obszöner als die andere - der Stephan aus Hannover, der Ronald aus Berlin, die Carin aus Celle oder auch Ilona aus Iserlohn, der Gregor aus Emden, der Lutz aus Düsseldorf; keiner war mal gerade älter als zwölf Jahre.
MIT "MUNDORGEL" VOR MADAGASKAR
Dabei schilderten sie ihre sexuellen Kinder-Erlebnisse - Ur-Geschehnisse mal eben so mit einer scheinbaren Lockerheit , auch arglosen Unbekümmertheit, als hätten sie sich gerade einen Haribo-Lutscher gekauft. Sie hatten sich sehr oft im Halbkreis aufzusetzen und aus ihrem Liederheftchen "Mundorgel" zu trällern. Da lagen sie "vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord" oder sie sangen "kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unsere weit und breit". Jeden Morgen vor dem Frühstücksgebet, so wollte es das Heim-Ritual, galt es ein besonders zutreffendes Liedchen zu schmettern; "Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König." - Realsatire oder bittere Ironie ausgegrenzter Kinder-Jahre. All abendlich zur Gebets-Andacht vor dem Zubettgehen hatten sie in der Heimhalle ihren Segen mit sauberen Fingernägeln abzuholen und zu summen "Herr erbarme dich" ... ... Das war am Sonnabend immer so, bevor des Nachts schwanzpralle Erzieher während ihres Nachtdienstes zu den Jungs unter die Bettdecken krochen oder sich Kindergärterinnen ihre Nylon-Strumpfhosen von kleinen Mädchen abpellen liessen.
SEELISCHE FUSS-ABDRÜCKE
Verschieden waren ihre Anlässe fürs Heim-Asyl, die Szenerien blieben austauschbar: Gewalteinwirkungen, Handkantenschläge, Fausthiebe und Tritte, sexuelle Abrufbarkeit, sexuelle Beliebigkeit hatten hinlängliche Spuren hinterlassen - seelische Fußabdrücke, auch Bindungslosigkeit des Kommens und Gehens genannt . Und wieder waren es nahezu ausnahmslos Männer mit Klapperholz-Latschen und manierlich blank rasierten Beinen - Frauen mit Knotenfrisuren, wie einst in der Nazi-Zeit, die auch hier noch fortlaufend ihr Kommando im Namen evangelischer Pastoren führten. Ein Knoten beim Wecken, ein Knoten bei der Essensausgabe der Suppenkübel, ein Knoten im Büro, ein Knoten beim Abendlied und letztlich der aufgemachte Knoten im Bett. Die allgegenwärtig plötzlich auftauchende Knotenfrisur in den sechziger Jahren war schon irgendwie ein Synonym für ein fortlebendes Mode-Überbleibsel aus einer braunen Epoche; wenigstens das. - Unbeherrschte , unnahbare, launische Nazi-Fräuleins in Heimen jugendlicher Fürsorge; hin und wieder gibt es einen kurzem Schlag ins Gesicht oder mit dem Bügelbrett-Lineal eins auf die Finger. Scheinbar ewig wirken ihre immer und immer wieder ausbrechenden Brüllereien nach; auf den endlos langen, nie enden wollenden schallgedämpften, abgedunkelten Fluren. Wer hier überleben wollte in diesem ausgegrenzten Kinder-Getto kleiner Mädchen wie Jungs - und das wollten eigentlich alle - hatten sehr schnell im Flüsterton lernen müssen: Wer sich hier von Erzieherinnen oder Erziehern, aber auch abkommandierten Kalfaktoren nicht ficken lässt, der hat schon verloren. Augenzwinkern. Achselzucken. Bedrohung. Punktum.
GEFÄHRLICHES EIGENLEBEN
Es war die einst in der Schweiz lebende Kindheitsforscherin und Psychoanalytikerin Alice Miller (*1923+2010), die unter anderem in ihrem Buch "Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, 1979) darauf dezidiert hinwies: dass auch ohne vitales Erinnern die Langzeitfolgen von Gewalt, sexuellem Missbrauch latent in Körper und Seele lauern, dort eine bedenkliche Eigendynamik freisetzen können. Pfade am gesellschaftlichen Wegesrand waren somit vorgezeichnet. Mit anderen Worten: Hier sorgte eine wegschauende Gesellschaft dafür, wie sie aus dem Gewalt-Opfer Kind, ausweglos Täter späterer Jahre macht: Gewalt gegen sich selbst, Gewalt gegen andere. Alice Miller meint: Um solche Gefahren-Potenziale zu verhindern sei es für solche Kinder wichtig, im Laufe ihres Erwachsenenwerdens die eigenen authentischen Gefühle von Schmerz in der Kindheit zu erkennen , und vor allem sie zu verarbeiten. Ohne dieses präzise Erinnern, jenes erneute Erlebbare sei ein Bezug zur eigenen Geschichte, zum eigenen Geschehen versperrt. Meist ist eine schonungslose, oft beherzte wie auch schmerzhafte Offenheit zum hastig Verdrängten der Beginn einer langwierigen Entwicklung, die die Seele erstarken lässt. - Kärrnerarbeit. Befreiung. Wer aber hat dafür das Geld, wer mag schon solche seelischen Anstrengungen, Irritationen, mitunter Verzweiflungen aus sich nehmen? - Die wenigsten.
EXTREM HOHE DUNKELZIFFER
Kindesmisshandlungen sind alltäglich, werden als solche kaum wahrgenommen, nur äußerst selten erkannt - und das im allgemeinen auch nur, wenn sie einen tödlichen Ausgang haben. Professor Ulrich Köttgen (*1906+1980), Direktor der Mainzer Kinderklinik, stellte in seinen Untersuchungen fest, dass die Dunkelziffer bei Kindesmisshandlungen, Kindesmissbrauch die Dunkelziffer ungewöhnlich hoch ist und allenfalls etwa fünf Prozent der Fälle vor Strafrichtern landen. In der Regel werden Kinder von Mitgliedern im engsten Familienkreis misshandelt. Die Öffentlichkeit erhält in jene sorgsam kaschierte Grauzone kaum einen Einblick. Günther Bauer, Kriminaloberrat im Bundeskriminalamt in Wiesbaden, analysierte insgesamt 56 Fall-Beispiele. Aus diesen filterte er die Erkenntnisse, dass die Tatbestände der Kindesmisshandlungen weitgehend verschleiert werden. Kinder leben tage- oder wochenlang eingesperrt, damit fremde Personen etwaige Verletzungen nicht bemerken können.
GEWALT - EIN "NATURGESETZ"
Auch wird den Kindern unter Androhung einer schweren Strafe strikt verboten, irgend etwas über die oft zerrütteten häuslichen Verhältnisse draußen etwa in der Schule zu erzählen. Und nicht nur dies: Während der Misshandlungen stellen Eltern oft Radio- und Fernsehgeräte lauter, damit Schreie, Hilferufe, Schmerz-Gestöhne übertönt werden. Ohnmacht der Kinder im Verbund mit einem festen elterlichen Autoritäts-Zugriff führen dazu, dass die Misshandelten selbst nie Anzeigen erstatten - zu eingeschüchtert, zu verängstigt . Kriminalist Günther Bauer resignierte: "Kinder nehmen die fürchterlichen Misshandlungen durch ihre Eltern quasi wie ein Naturgesetz hin."
VORKRIEGS-JAHRE
Eine Vorkriegs-Statistik des "Vereins zum Schutze der Kinder vor Ausnützung und Mißhandlung" belegt
0 dass in 18 Prozent der Fälle den misshandelten Kindern jeder Verkehr mit familienfremden Personen und jede Beantwortung einer an sie gerichteten Frage verboten war;
0 dass in 17 Prozent der Lautsprecher des Rundfunkgerätes angestellt, der Wasserhahn aufgedreht oder der Kopf des Kindes auf ein Kissen gedrückt wurde, damit kein verräterischer Laut nach draußen drang;
0 in 36 Prozent der Fälle wurden die Kinder nicht aus der Wohnung gelassen, solange an ihren Körpern noch Gewalt-Spuren, Blut-Spuren zu sehen waren;
0 und in 22 Prozent der Fälle wurden Kinder derart eingeschüchtert und in ihren Ängsten umgedreht, dass sie selbst im Falle ihrer Wegnahme aus dem Elternhaus leugneten, gequält, geschlagen, misshandelt worden zu sein.
KONTINUITÄT HAT EINEN NAMEN: PRÜGEL
In den Jahren 1955 bis 1965 wurden im Institut für Gerichtliche und Soziale Medizin der Universität Kiel die Leichen von 380 Kinder unter 14 Jahren obduziert; darunter zwölf Fälle aktiver, grober Misshandlungen und sieben Schicksale sträflicher Kinder-Vernachlässigungen. Als Ursachen für Todesfolgen standen Kopfverletzungen an erster Stelle, davon drei in Verbindung mit sicher nachgewiesener Fettembolie. Aber immerhin: Jährlich werden etwa 300 bis 400 Fälle von Gewalt an Kindern in der Bundesrepublik strafrechtlich verfolgt und etwa in der Hälfte der Fälle gerichtliche Urteile gesprochen. Es ist aber gerade die Statistik, die sehr ungenau geführt wird, allgemeine Rückschlüsse verwässert. Viele schwere Vorkommnisse in Sachen Kindesmisshandlungen werden unter der Rubrik "Gefährliche Körperverletzung" oder "Körperverletzung mit tödlichem Ausgang" verbucht. Somit gelingt es immer wieder, die eigentliche Dramatik oder auch den Sprengsatz kindlicher Opfer zu vernebeln. Untaten an Kindern werden nämlich nicht nur nach den Bestimmungen des §223b des Strafgesetzbuches geahndet, sondern sie können sich rechtlich zugleich als schwere Körperverletzung (§ 224 StGB) mit tödlichem Ausgang (§ 226 StGB) sowie auch als Totschlag (§ 212 StGB) darstellen. Gleichwohl kommt es bei derlei Interpretationsspielräumen in erster Linie auf das "Problembewusstsein und die Erkenntnisfähigkeit der Richter an, ob sie eine rohe Misshandlung" konzedierten oder auch nicht", relativiert der Jurist Wilhelm Stille vom Deutschen Kinderschutzbund (gegründet 1953) den Paragraphen-Schutz-Schirm. Stille: "Vielen Juristen ist ihre Weltfremdheit ins Gesicht geschrieben. Wie sollen sie da den Dunst familiärer Zerbrechlichkeiten und ihre Auswüchse an sich herankommnen lassen? Ein Unding."
GEFÄNGNIS - ZUCHTHAUS
Im Rückblick wurden in der Bundesrepublik zwischen 1950 bis 1960 exakt 2.175 Täter wegen Kindesmisshandlung abgeurteilt; mit Geldstrafen, Gefängnis und Zuchthaus. Sicherlich wären zu einer größeren Anzahl von Gerichtsurteilen gekommen, wenn Ärzte nicht der Schweigepflicht unterlägen. Es war der damalige Justizminister Gustav Heinemann (*1899+1976; Bundesminister der Justiz 1966-1969), der die deutsche Mediziner zu mehr Courage aufforderte, in dem er wiederholt auf die gültige Rechtslage verwies. Gustav Heinemann am 17. März 1967 vor dem Deutschen Bundestag: "Ein Arzt darf trotz seiner ärztlichen Schweigepflicht die Polizei oder die Jugendämter über die ihm bekannt gewordenen Kindesmisshandlungen informieren."
UNGENAUE DATEN, KAUM VERGLEICHE
In jedem Fall sind die öffentlich ermittelten Daten sehr ungenau. Sie sind kein zuverlässiger Gradmesser für die Verrohung des Umgangs der Familien in diesem Land. Quantitative Größenordnungen sagen allzuoft wenig über die qualitative Tragweite aus - nämlich einer familiären Erosion, deren Folgewirkungen noch nicht abzuschätzen sind. Kinder-Anwalt Wilhelm Stille notierte im Mitteilungsblatt des Deutschen Kinderschutzbundes: "Aus unserem Bewusstsein ist der Kinder-Klaps, der nicht schaden kann, nicht rauszukriegen. Wenn man aber erkennen muss, dass in einer Reihe von Ereignissen durch ein frühes Eingreifen manches Unheil hätte verhindert werden können, so darf man auch an dem Problem der ärztlichen Schweigepflicht nicht vorbeigehen. ... ...".
TÄUSCHUNGEN, LÜGEN
... ... "Es ist bekannt, dass Eltern und Erziehungsberechtigte versuchen, bei Verletzungen durch Misshandlungen die Ärzte zu täuschen, zu belügen. Es werden die raffiniertesten Mittel benutzt. Schwere Verletzungen werden als Sturz von der Treppe, vom Stuhl oder Fallen auf den Fußboden, Verbrennungen und auch Erfrierungen werden mit unglücklichem Zufall, entschuldbarem Irrtum oder eigenem Verschulden des Kindes erklärt. Es sind Fälle bekannt geworden, in denen Kinder während einiger Monate mehrfach mit Spuren von Misshandlung jeweils in eine andere Klinik eingewiesen wurden, ohne dass man der Sache auf den Grund gekommen war."
DEUTSCHE KINDER-ZUSTÄNDE
Originalton einer Frau, einer Wissenschaftlerin dazu aus den siebziger Jahren. Zeitgeschichte oder Aktualität ? Lang ist es her, Jahrzehnte um Jahrzehnte - geändert hat sich wenig, konstatiert Elisabeth Trube-Becker: "Wahllos wird von grausamen Eltern mit allen nur erreichbaren Gegenständen auf das Kind eingeschlagen, mit Riemen, Peitschen, Stöcken, Kohlenschaufeln, Kochlöffeln, Feuerhaken etc. Unerschöpflich ist die Phantasie beim Ersinnen von Grausamkeiten, um dem gequältem Kind Schmerzen zuzufügen: stundenlanges Stehenlassen, Auf- und Abmaschieren während der Nacht, auf den heißen Ofen setzen, Überbrühen mit heißem Wasser, stundenlanges Haltenlassen von schweren Gegenständen, Halten von brennenden Streichhölzern, bis die Finger schmerzen , Frierenlassen - erfrorene Gliedmaßen sind bei misshandelten Kindern sehr häufig - Tauchen in eiskaltes Wasser bis zum Tod durch Erschöpfung oder Ertrinken, Liegenlassen in Kot, Urin und vieles mehr."
VORBEUGUNG VERSCHLAFEN
Erfahrungen aus Westberlin in den siebziger Jahren zeigten allerdings, dass eine wirksame Vorbeugung gegen Gewalt-Exzesse in Familien, an Schulen, an Frauen und Kindern erfolgsversprechend ist. Es war der Alleingang der Berliner Senatorin Ilse Reichel (*1925+1993; 1971-1981), zuständig für Familie, Jugend und Sport, die das erste Haus in der Bundesrepublik für geschlagene Frauen und verprügelte Kinder eröffnete. Wie kein anderes Mitglied im Berliner SPD-Senat unterstützte und finanzierte Ilse Reichel hilflose Frauen , Eltern-Kind-Gruppen, Kindertagesstätten, Abenteuerspielplätze. Dabei ließ sich Ilse Reichel zentral von einem Grundgedanken leiten: Gewaltausbrüche im Vorfeld durch alternative Aufgaben ,auch Freizeitangebote zu verhindern.
KINDER-FREUNDLICHES KLIMA
In besagten Reichel-Jahren, die nachweislich kinderfreundlichsten, die die Hauptstadt je erleben konnte, war jedenfalls nach Feststellungen der Berliner Kriminalpolizei eine Zunahme der Verfahren bei Kindesmisshandlungen um 300 Prozent zu verzeichnen. Aus diesem Anstieg kann jedoch keine verfehlte Senatspolitik noch ein Mangel an erzieherischen Fähigkeiten der Pädagogen oder Sozialarbeiterinnen abgeleitet werden. Sie sind das offene Ergebnis einer frauen- und kinderfreundlichen Politik - die in eine angstfreie Atmosphäre ausstrahlte, in der sich geschwundene Frauen, auch lädierte Jugendliche erstmals zur Polizei wagten - Anzeige erstatteten.
MAUER DES SCHWEIGENS
Gleichwohl wird das sozialpsychologische Klima - somit die zwischenmenschliche Atmosphäre zwischen Flensburg und Basel eher markiert durch eine undurchlässige Mauer des gefühllosen Schweigens als durch solidarische Anteilnahme. Es sind Berührungsängste, Abgrenzungs-, Distanzierungs- versuche von denen da unten ... ... Mitgefühl ja schön und gut, wenn es um Notopfer-Spenden auf fernen Kontinenten geht, aber bitte schön doch wohl nicht, wenn sich Nachbarn die "Köppe einschlagen". Regierungsdirektor Walter Becker, Vorsitzender des Deutschen Kinderschutzbundes (1969-1972), zeigt auf die zerbrechliche Achillesferse seines Engagements. Er sagt: "Menschen schauen sich aus der Ferne voyeuristisch Kinder-Schicksale an, ohne wirklich helfen zu wollen. Dieser Ohne-Mich-Standpunkt ist alltäglich. Wir brauchen aber Leute, die zupacken, informieren, helfen, Kindesmisshandlungen aufdecken. Wunschdenken?
ARMUT, SCHEIDUNG, ALKOHOLISMUS
Auslösende Faktoren, Initial-Momente , Kindern den Krieg zu erklären, sind zuvörderst Ehekonflikte, Alkoholismus, sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit und Armut. Untersuchungen belegen, dass soziale Zerrissenheiten zu Aversionen gegen das Kind als "Nichtsnutz" bis zum krankhaften Zwang steigern. Im wohlhabenden Deutschland - dem Land der proklamierten sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit auch unterer Schichten - leben mehr als 2.6 Millionen Kinder in Armut. Vornehmlich in Berlin, dem üppigen Hauptstadt-Schaufenster, sind es 200.000 Kinder und Jugendliche. Und die Zahl driftet weiter steil nach oben. Kinder-Armut hat sich im Zeitraum der Jahre 2003-2008 verdoppelt - besonders in Mitleidenschaft gezogen sind Kleinstkinder unter sieben Lebenslenzen - dort, wo Babynahrung ein unschwinglicher Luxus wird, da sind in Berlin Reichstag, Museens-Galerien und Oberschicht-Nippes-Boutiquen nicht fern. Wo das Leben unerschwinglich teuer ist und wenigstens der Tod vom Sozialamt bezahlt wird - auch da ist Berlin.
STIGMATISIERT FÜRS LEBEN
Die Sozialwissenschaftler und Bildungsforscher der Universität Bielefeld, Klaus Hurrelmann und Sabine Andresen, kamen in ihrer ersten umfassenden Milieu-Untersuchung (World Vision Kinder-Studie, 28. Januar 2008) bei Kindern zwischen acht und elf Jahren zu dem Ergebnis, "dass die Klassengesellschaft in Deutschland keine neue Entwicklung ist. Erschreckend ist aber, wie sich in einem reichen Land wie Deutschland die Armut von Kindern 'eklatant' auf ihre Biografien auswirkt. Das bedeute: geistige und kulturelle Armut, soziale Armut, materielle Armut, seelische, emotionale und psychische Armut, schulisches Versagen - und immer wieder Gewalt gegen Kinder;durchgängig Gewalt.
TÄTER-PROFILE
Der Deutsche Kinderschutzbund unterscheidet in seiner Eingruppierung von Gewalttätern drei Kategorien. Eine einheitliche, zweifelsfreie wissenschaftliche Aussage gibt es nicht. Danach sind in der
0 ersten Gruppe arbeitsunwillige, haltlose Akteure, die durch eigene Phlegma in materielle Not geraten. Sie machen in ihren Kindern die Hauptschuldigen ihrer Familien-Misere aus, vergreifen sich an ihnen;
0 zweiten Gruppe dominiert der Tyran. Ein Typus Mann, der herrschsüchtig wie rücksichtslos seine Familie schikaniert, keinen Widerstand duldet, sondern bricht;
0 dritten Gruppe sind sie so genannten Triebtätern zuzuordnen. Männer, die sich mit ihren Gewaltphantasien, Rauschmitteln hemmungslos ausleben; folglich auch für die eigene Frau oder Kinder kein Schamempfinden, keine Schmerzgrenze kennen.
DEUTSCHE ELTERN SCHLAGEN ÖFTER
Als Strafmaßnahmen gegenüber den Nachkömmlingen galten bis Ende der siebziger Jahre körperliche Züchtigungen als das gängigste Mittel. Bemerkenswert ist, dass die meisten Eltern in der alten Bundesrepublik - im Gegensatz zu ihren europäischen Nachbarn - in erheblicher Intensität mit Schlägen zur Sache gehen. Nach Schätzungen des Kinderbundes sollen ungefähr 85 Prozent der Eltern ihre Kinder verprügeln. Davon erhielten im Elternhaus 55 Prozent der Jungen Stockschläge, 37 Prozent der Mädchen. Im Prinzip wurden Körperstrafen mit der flachen Hand, einem Lederriemen, Teppichklopfer oder dünnen Rohrstöcken verabreicht. Im Schulmilieu kamen zudem noch Lineale oder Stöcke zum Einsatz, wurden vorwiegend "Kopfnüsse" ausgeteilt.
"BACKPFEIFEN"-TRENDWENDE
Spätestens seit Ende der siebziger Jahre gelten körperliche Züchtigungen als nicht mehr "gesellschaftsfähig" - werden als ein "typisches verwahrlostes Unterschichts-Verhalten" eingeordnet. Seither sind Körperstrafen vom Gesetzgeber verboten. Auch das sogenannte "Backpfeifen"-Recht der Eltern gegenüber ihren Kindern wurde im Jahre 2000 durch eine Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ausdrücklich abgeschafft. Nach Neufassung des Paragraphen 1631 BGB ist es das Kinderrecht, gewaltfrei aufzuwachsen, erzogen zu werden, auch ohne Demütigungen dem Leben zu begegnen. Im Gesetz heißt es: "Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig." Ein Rechtfertigungsgrund für Prügel gibt es nicht mehr.- Fortschritte in Deutschland.
BEIM NACHBARN IN EUROPA
In zahlreichen Staaten Europas gewann nach Ende des Zweiten Weltkriegs sukzessive die Auffassung Oberhand, dass körperliche Nötigungen schädlich für die Entwicklung der Kinder sind. Nicht zuletzt wissenschaftliche psychologische Erkenntnisse rieten dringend davon ab, weiterhin junge Menschen mit Körperstrafen zu sozialisieren, abzurichten. Danach ist gleichfalls körperliche Gewalt in Ländern wie Schweden, Island, Finnland, Dänemark, Norwegen, Österreich, Italien, Zypern, Kroatien, Israel untersagt. Lediglich in den Vereinigten Staaten von Amerika scheiterten Initiativen auf einen "gewaltfreie Kindererziehung" im Laufe der Jahrzehnte - nicht einmal, sondern immer wieder.
HILFE UND SCHUTZ
Auch wenn die Diskrepanz zwischen Gesetzestext und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit nichts an Schärfe, Dramatik, gar Endzeitstimmungen eingebüßt hat, verfügen mittlerweile deutsche Polizeidienststellen über speziell geschulte Einsatzkäfte. Sie können direkt telefonisch angefordert werden. Mit dem im Jahre 2002 eingeführten Gewaltschutzgesetz wurde den Opfern zudem Schutz ermöglicht. Ein Familiengericht entscheidet mittlerweile darüber, wie eine etwaige Eskalation verhindert werden kann. Wohnungsverbote, Kontaktverbote. Für viele Gewalttäter in ihren Familie bedeutet eine etwa gerichtlich verfügte Trennung Freiheitsstrafe auf lange Sicht oder Therapie. Dort lernen diese Männer - reichlich verspätet - die Dynamik ihre Gewaltexzesse emotional zu begreifen, Folgewirkungen auf ihre Frauen wie Kinder zu verstehen.
MISSHANDLUNGEN UND KEIN ENDE
Nach Erhebungen der im Zeitraum von 2003 bis 2005 verantwortlichen CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen hat es in den letzten drei Jahren (2003-2006) laut Kriminalstatistik 2.900 Ereignisse von Kindesmisshandlungen gegeben, die Dunkelziffer sei allerdings weitaus höher. Es habe "Fälle sträflichen menschlichen Versagens" gegeben. Beherzt und zugleich ein wenig kleinlaut, haucht die Ministerin ins Berliner Hauptstadt-Mikrofon: "Wenn man den Eltern zehn Euro streicht, kriegt das Kind mehr Prügel. - Wir müssen solche Kinder aus den Familien herausnehmen."
VOR 40 JAHREN IST IRGENDWIE HEUTE
Vor 40 Jahren mahnte der damalige Vize-Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Wilhelm Stille in seinem Tätigkeitsbericht eindringlich. Er schrieb: "Es muss angestrebt werden, dass das Kind im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit stärker als Rechtspersönlichkeit, denn als Objekt der Interessen der Erwachsenen angesehen wird. Das Bürgerliche Gesetzbuch besteht seit nahezu 80 Jahren, und viele Begriffe haben sich seither gewandelt. Nach Auffassung vieler ist besonders das derzeitig geltende Recht über die elterliche Gewalt, Erziehungsrecht reformbedürftig." - Auf derlei Reformen der Menschenrechte wartet das Land immer noch - Menschenrechte sind Kinderrechte ... ...
1 Kommentar:
Die Strafen sind auch lächerlich! Wer Kindern böses tut, gehört weggesperrt (richtig aus dem Vekehr gezogen) für Jahrzehnte. Wäre ich Richter, bei mir würde keiner unter 20 Jahren davon kommen. Jede Chance auf Frühzeitige Entlassung im Vorfeld erstickt. Daneben benehmen im Kanst = 5 Jahre drauf im Widerholungsfall 10 Jahre! Diese Menschen hätten bei mir keine Chance mehr. Leider bin ich nur ein kleiner Steuerzahler und kann mich ärgern. Es wird aber die Zeit kommen da werden die Gesetze auf der Straße gemacht und dann hat von denen keiner mehr etwas zu lachen! Wenn der Staat sowas nicht wegsperrt, muss sich das Volk eben selber helfen zum Schutz der Kinder und für gerechtere Strafen.
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