Die Mörder sind unter uns, auch wenn sie nicht getötet haben. Ob als Hitlerjungen gegen die Juden, etwa im SA-Parteilokal "Schwarzer Adler" im niedersächsischen Schöningen (siehe Bild oben), oder später als Polizisten gegen Protestierer etwa der Rote-Punkt-Demonstration in Hannover Ende der sechziger Jahre - selbst Familien vermochten sich vorm Polizeiknüppel nicht zu schützen. Kinder erhängten sich.
von Reimar Oltmanns
Zum 41. Jahrestag der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in Deutschland. - Er war noch sehr jung an Jahren, damals während der spontanen Demonstrationen, der Straßenschlachten, auch der "Rote Punkt"-Blockaden gegen unbotmäßige Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr. Mein weitaus jüngerer Cousin Ralf Liehr* in Hannover an der Leine schien noch unberührt vom jugendlichen Protest, nicht einmal 16 Jahre war er alt. Scheu war diese Junge, sehr sensibel zudem. Er redete nicht viel, blieb eher unnahbar, las lieber still in sich hinein. Wenn er sprach, dann meist bedacht und leise. Ich kannte ihn recht gut, früh hatten wir Freundschaft geschlossen, spielten in den ersten Jahren auf der Nordsee-Insel Borkum an den tosenden Stränden "Huckepack".
HITLER-JUNGE
Ralfs Schicksal war sein Vater Lothar, der sich mein Onkel nennen durfte. Ein Mann, der mit dem Knüppel aufgewachsen, durch den Knüppel sozialisiert worden ist. "Privatunterricht" oder auch "Erklärungsmuster" für Braun-Röcke, wie man es auch nennen mag, das hatte er als HJ-Pimpf auch vom Polizeihauptmann und zeitweiligen KZ-Kommandanten zu Moringen Karl Stockhofe (Juni 1933) in den Wäldern des Elm bekommen. Da hockte HJ-Heißsporn Lothar mit seiner Schwester Lilli (Schöningens adrette BDM-Kassiererin) im Wiesengrund. Elm-Idylle: Schwester Lilli* fütterte einen beseelten KZ-Aufseher, Bruder Lothar lauschte wohlbedacht Stockhofes Aphorismen zu Lebensweisheiten des neuen "Herren-Volkes", beim Picknick versteht sich. Das Tausendjährige Reich zerfiel gottlob recht bald, Deutschland wurde befreit.
FOTO-IDYLLE ÜBERLEBTE
Die Fotos aus damaliger Zeit und nicht nur diese überlebten noch mehr als sechs Jahrzehnte. Es war halt für die Liehr-Familie mit ihrem weit verzweigten Familienanhang "die schönste Zeit ihres Lebens" (Schwester Lilli) - eine Jugend in Deutschland der Nazis." ... ... BDM-Dienst, weiße Bluse, schwarzer Rock, Turnhemd mit Harkenkreuz-Rhombus auf der Brust , natürlich die schwarzen Leinen-Turnschuhe auf den Füßen und einen allgegenwärtigen Bruder im Agitations-Gepäck; einem unverbesserliches Braun-Hemd-Jüngelchen, dem offenkundig zentral nur eines im Gedächtnis haften geblieben ist: Die "Bewunderung" seiner Schwester in schneidiger Uniform. "Was waren das doch für prächtige, unwiederbringliche Momente, Schwesterlein."
KZ MORINGEN
Im südniedersächsischen Camp Moringen (später Frauen-KZ) wurden seinerzeit vornehmlich Kommunisten, Arbeiter, Intellektuelle - unisono Juden interniert. Im kleinstädtisch geprägten Kleinbürger-Milieu deutsch-nationaler Gesinnung ging es seinerzeit zuvörderst darum, wie etwa der Hitler-Junge Liehr mit seinen Kumpanen im einst rot angehauchten Schöningen gegen örtliche Juden "zur Sache " zu gehen hat. Schließlich war er bereit, "für Deutschland zu sterben". Das wiederholte er gern und auch immer wieder - auch ungefragt. Da wurden überall in den blank gewienerten Gassen des Städtchens jüdische Läden kurzerhand ausgeräumt, Scheiben zerdeppert, Kassen geplündert, Frauen mit zerrissenen Kleidern auf den Marktplatz gezerrt, ihre Männer in SA-Gewahrsam nächtens gefoltert.
KLEINBÜRGERLICHE RADIKALITÄT
Im Südosten Niedersachens , in Braunschweig und seinem Umland,etwa Schöningen, tritt seit jeher "kleinbürgerliche Radikalität an die Stelle des ländlichen Konservativismus", orakelte schon beizeiten Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann (*1925+2008). Die Braunschweiger ließen sich schon oft von extremen Bewegungen mitreißen. In der Stadt Heinrich des Löwen zwangen 1918 die Bürger den Welfen-Herzog Ernst August (*1897+1953) zum Thronverzicht. Und dort, wo der sozialdemokratische Krankenkassen-Angestellte und spätere DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl (*1894+1964) zum Justizminister ernannt wurde. marschierten 1931 riesige SA-Kolonnen stundenlang durch das Stadt-Zentrum. 1932 wurde der Österreicher Adolf Hitler bekanntlich vom Braunschweiger Innenminister zum Regierungsrat ernannt, damit er deutscher Staatsbürger wurde und somit für die Reichstagswahl 1933 kandidieren konnte.
BRAUNE "KLEINSTADT-ELITE"
Zu jener Zeit versammelte sich die "Kleinstadt-Elite" um den Hitler-Jungen Liehr im Städtchen Schöningen am Elm , all abendlich zum Fanfaren-Stoß vor dem stattlichen SA-Uniformgeschäft seiner Tante Grete Schloms auf dem Markt; ein Fanfaren-Stoß auf das "Tausendjährige Reich" - "Nun lasset die Fahnen fliegen", schallte das Liehr-Kommando in jenen Jahren in die Gassen hinein. Und zum Tanzen ging Hitlers Herrenrasse natürlich in den Legenden geschmückten "Schwarzen Adler" mit seinen prächtig ausstaffierten Parkettsaal - abends. Denn tagsüber schlugen SA-Mannen in seinen Kellerräumen auf den Kegelbahnen jüdische Mitbürger zum KZ-Abtransport in Viehwagen windelweich.
"SCHWARZER ADLER"
Der Historiker Burkhard Jäger schrieb: "Viele ältere Schöninger kennen den 'Schwarzen Adler' noch aus eigener Anschauung. In den frühen sechziger Jahren ein Bauwerk (siehe Bild oben), dessen repräsentative Architektur in einem eigentümlichen Kontrast zu den Indizien für Verfall und Niedergang stand: blinde, teilweise eingeworfene Fenster, ein abblätternder grauer Fassadenanstrich. Im Jahre 1963 fiel das Gebäude der Spitzhacke zum Opfer, um Platz für das neue Rathaus zu schaffen. ... Es war das ehemalige NS-Parteilokal in Schöningen, eines der Folterzentrum der Nationalsozialisten, wie sie nach der Machtübernahme auch im Freistaat Braunschweig eingerichtet wurden.
PROTOKOLLE ... ...
"Zum Schluss der Vernehmung fragte mich ..., ob ich Schläge bekommen hätte. Als ich ja sagte, bekam ich Schläge.
Er fragte mich, ob ich es noch zu sagen wagte, ich hätte Schläge bekommen, Als er mich wieder fragte, antwortete ich mit nein-
Jetzt bekam ich Schläge, weil ich fälschlicherweise nein gesagt hatte.
Als er mich wieder fragte, wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Jetzt bekam ich Schläge, weil ich nicht geantwortet habe."
"Am 1. Mai 1933, einem Tage, als im Schwarzen Adler öffentlicher Tanz stattfand. wurden mein Bruder H. , ich und ein gewisser K. ... in den Tanzsaal geführt und von dem ... Söllingen dem tanzenden Publikum vorgeführt mit den Worten: 'Dies sind die größten Verbrecher aller Zeiten!' Die Tanzenden machten sich über uns lustig."
ABTRANSPORTE ... ...
Erinnert sei hier an den Schöninger Einzelhändler Abraham Lauterstein - an Familie Kurt und Helene Heinemann, an den Lebensmittelhändler Kurt Gölsch oder an den Spediteur Hugo Kugelmann und viele Namenlose dieser Stadt. Private Dramen haben sich abgespielt, immer wieder Gewaltausbrüche, schlimmste Misshandlungen, bis endlich, ja endlich ein Viehtransporter die Malträtierten abholte. Atempause. Verschnaufpause. - Bus ins KZ, in den Tod. Wenn HJ-Pimpf Liehr noch nicht direkt am Folter-Einsatz beteiltigt sein durfte, sondern "nur" am Portal Wache stand, so hatte Ralfs Vater Lothar , den sie als "Löthchen" liebkosten, immerhin eines in die Nachkriegszeit mit "hinüberretten" können. Der Knüppel als Drohgebärde, der Knüppel als Ordnungsfaktor, als wegweisende moralische Instanz sozusagen.
WENDEHALS
Zweifelsfrei war Hitler-Junge-Liehr, selbst in seiner Familie zuweilen als Knüppel-Liehr gescholten, auch nach dem Kriege ein Mann der ersten Stunde; zunächst als nächtlicher Kohlen-Dieb auf den Abstellgleisen des Bahnhofs, wo er mit Briketts beladenen Waggons seine Säcke füllte. Sodann ganz nach den Roman-Motto des Gottfried Keller (*1819+1890) "Kleider machen Leute", in der frischen eingepassten Ausgeh-Uniform der neu sortierten Ordnungshüter für den freiheitlichen Rechtsstaat: mit Koppel, Knüppel, Helm und Stiefel, Motorrads-Montur; Wendehälse mit hehren Lippenbekenntnissen.
AUSGEH-UNIFORM
Naheliegend, dass Ralfs Vater sein "Knüppeltalent" nach dem Krieg nicht verkümmern ließ und bei der Bereitschaftspolizei zunächst in Wuppertal seinen sozialen Aufstief dingfest machte. Alle freuten sich, waren richtig stolz auf ihn, wenn er mit der frischen, pellfeinen Ausgeh-Uniform eines Polizisten Schöningens Niedernstraße, dem Geschäftsboulevard, hoch- und runter-, runter- wie hochmarschierte. "Siehe, da läuft doch "unser Löthchen", tönte es vom Butzenfenstersims des Fahrradhändlers Kröckel. Endgültig vergangen, vergessen schienen auch jene unliebsamen Momente, in denen sich "uns Löthchen" im verwaschenen "Blaumann" eines Elektriker-Lehrlings zu zeigen hatte. "Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre", weissagte er da.
SDS-REBELLEN
In Hannover an der Leine hingegen, in der weitläufigen Großstadt, in den offenbar verwegenen roten Gassen von einst - der Harmänner und jener "unappetitlicher SDS-Rebellen um den Klub Voltaire - ja da war Ralfs Vater Lothar Liehr mit Schlagstock, mit Schlagring in all den Jahren ein gefragter, ein erfolgreicher Mann; Herrenjahre. Beförderung um Beförderung kletterte er in der Rangskala eins rauf: Einsatz um Einsatz, Straßenzug um Straßenzug haute er im Trommeltakt auf Köpfe junger Menschen; auch zwei Mal, wenn es sein musste und alle "so erregt schienen" . gar bis an die Einfahrt-Schranke zum Krankenhaus. Immer "druff, feste druff. Heidewitzka Herr Kapitän", konnte er sich auch Tage danach noch aufbrausend ereifern.
RUTE FÜR RUTE
Irgendwie nachvollziehbar, dass sich solch gewissenhafte "Ordnungshüter" unter SPD-Regie auch noch Dienstschluss von ihren Schlagstöcken nicht trennen mochten; dieser "Talisman" für Liehr wohlbedacht zum Küchenbesteck am Esstisch mitzählte. Familienvater Liehr hatte ihn jedenfalls gleich griffbereit neben seinem Stuhl platziert, vorsorglich. Mutter Ramona* war deprimiert. Auch diese Rute hatte sie ja schon zu spüren bekommen. Sie reichte alsbald die Scheidung ein und schloss sich einem anschmiegsamen Schoko-Bäcker an. Immer, wenn Sohnemann Ralf beim Essen vergaß, seinen Arm zu heben, "gab es vom Vater mit dem Knüppel eines auf die Rübe". - "Wer nicht hören woll, muss fühlen", bollerte er lapidar. Jedenfalls bis zu jenem denkwürdigen Abend, an dem nach einem gezielten Tränengas-Einsatz gegen Jugendliche am "Aegi" in der niedersächsischen Metropole", auch der Junge Ralf am Tafelgedeck noch sein Schlagquantum verabreicht wurde. Ralf rannte aufgebracht schreiend, brüllend, weinend aus dem Mietshaus in der Dietrichstraße 10. Seither war er für seinen Vater "irgendwie verschwunden", nicht mehr ansprechbar - bis zum Stankt-Nimmerleinstag, verlautbarte es da.
SELBSTMORD
Einige Jahre später erhängte sich Sohnemann Ralf an einem Baum in Hannovers Innenstadt. Prügel, Zerrüttungen in der Familie, Leistungsdruck, Vereinsamung - Langzeitfolgen. Ralf Liehr*, geboren am 15. Mai 1957, gestorben am 1. Dezember 1976. Seit nunmehr vier Jahrzehnten ist mein Cousin Ralf "Persona non grata" - kein Bild, keine Briefe, keine Gespräche, keine Erinnerungen. Ausradiert. - Friedhof, wenn überhaupt, unbekannt.
DEUTSCHE VERHÄLTNISSE
"Aus Lügen, die wir glauben, werden Wahrheiten, mit denen wir leben",dichtete der Kabarettist Oliver Hassencamp (*1921+1988). Spuren verwischen, damals wie heute. Ich denke auch nach Jahrzehnten noch an ihn und an seine bedrückenden Verhältnisse, in denen er zu leben hatte, mein Cousin Ralf. - Deutsche Verhältnisse.
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*) Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig, vom Verfasser nicht beabsichtigt.
*) Literatur: Burkhard Jäger: Nationalsozialismus in Schöningen - Spuren. Ereignisse. Prozesse. ISBN: 3-932082-18-4, Schöningen, 2006
*) Literatur Wolfgang Benz und Barbara Distel (Hrsg): Der Ort des Terrors - Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager Band 2. ISBN: 3 406 52962 3, München, 2005
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