Samstag, 4. November 1995

Studenten-Aufbruch ins Mittelalter





























































Offiziell werden derlei Initiationsriten - le Bizutage - an den Grandes écoles und Uni-versitäten des Landes totgeschwiegen. Seit 1997 sind derart rüde, mitunter brutale "Auf-nahmepraktiken" sogar ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Gefängnis- wie Geldstrafen sollen Abhilfe schaffen. Dennoch leben jene studentischen "Korpsgeist"-Schikanen seit den zwanziger Jahren ungeahnt fort - Nöti-gungen als "Härtetest", Erniedrigungen der Neuankömmlinge, seelische wie körperliche Gewalt sollen ein Gemeinschaftsgefühl als Kaderschmiede stärken. Für manche Erst-semestler ist die Bizutage mittlerweile zu einem "humoristischen" Willkommensgruß geworden. An so manchen Hochschulen hingegen herrschen weiterhin
Peitsche, Knüppel,
Baseballschläger - gar Schutzgeld-erpressungen.

Nürnberger Zeitung
vom 4. November 1995
von Reimar Oltmanns

Herbst für Herbst herrscht an den 154 Hochschulen Frankreichs ein markanter Ausnahmezustand. Zum Vorlesungsstart heißt es für Zehntausende von Erst- semestlern, sich in Gruppen zu entkleiden, erniedrigen, fortwährend demütigen zu lassen - nahezu acht Tage ohne Unterlass; unfreiwilliger Gruppensex inklusive.

Jeden Oktober werden die etwa 60.000 frisch imma- trikulierten Studenten der prestigeträchtigen Elite- schulen der Republik auf ihren neuen Lebensabschnitt abgerichtet, zugerichtet und "typisch französisch", so die Tageszeitung "Le Figaro", "wieder aufgerichtet". Voilà.


FUCHSTAUFE

"Le Bizutage" nennt sich solch ein Initiierungsritual, das einem Einführungszeremoniell, etwa der Fuchstaufe in schlagenden deutschen Studentenverbindungen ent- spricht, aber wesentlich "härter" ist.

Vornehmlich im Windschatten einer "geistig-mora- lischen Erneuerung" der Nation durch ihren Präsidenten Jacques Chirac ist Frankreichs Bürgertum am Ende des 20. Jahrhunderts zutiefst davon überzeugt, dass die Bizutage nicht etwa ein Überbleibsel verblichener Grande-Nation-Jahre, sondern ein "unverkennbares Gütespiegel der französischen Elite" sei.

Von der französischen Öffentlichkeit nahezu ver- schwiegen, da offiziell zu peinlich, leben in den Tempeln der Republik hinter einer wohlbehüteten Frohsinns- fassade ungeahnt mittelalterliche Bräuche fort.


ELITÄR UND NACKT

In Paris etwa krakeelte nackt eine Gruppe jungen Fran- zosen über den Boulevard Saint- Germain. Ihr Ziel: das Künstler-Café "Le Deux Magots". Die designierte Kunst- elite der École des Beaux-Arts hat hier, so bestimmt es das Aufnahmeritual, im gediegenen Jugendstil-Inte- rieur "sendungsbewusst und unbekleidet" Kaffee zu trinken und natür-lich die Marseillaise zu singen.

In Lyon mussten sich Studentinnen zur Wahl einer "Miss Nympho" nackt ausziehen. Ein Video hielt ihre Entblößung fest. Die Kassetten wurden später heim- lich verkauft. Minderjährige Mädchen wurden an der Universität Lyon III von angetrunkenen Studienkame- raden gezwungen, an einer zwischen Männerbeine geklemmten Banane zu lutschen.

REITPEITSCHEN

Mit Reitpeitschen oder Baseballschlägern sorgen nicht selten Kapuzenstudiker dafür, dass niemand aufzu- mucken wagt; Vergewaltigungen inbegriffen. Heißt es doch neuerdings fast ausnahmslos in allen Begrüs- sungsschreiben des akademischen Neuanfangs eines jeden Jahres: "Scheue weder vor Erniedrigung noch vor totaler Unterwerfung zurück. Wisse, dass jede Rebellion im Keim erstickt wird. Das Tribunal wird dich richten."

In Bordeaux hatten sich alle Mädchen und Jungen zu entkleiden und zur Begutachtung aufzustellen. Bei den Mädchen reichte Schönheit aus, bei den Jungen hin- gegen durften sich nur jene zu den Siegertypen zählen, die die prächtigste Erektion vorzeigen konnten.

In Lille sorgt insbesondere die katholische Fakultät der Universität mit ihren Zutaten zum "Bizutage-Menu" für Furore, das dort alljährlich für jeden Anfänger unter Zwang verabreicht wird; als Beleg "christlicher Ethik", wie es in einem offiziellen Rundscheiben des Dekans verlautbart.

RÜDE ATTACKEN

Röchelnd wie würgend versucht der halb nackte Theologiestudent Gilbert Descours seinen älteren Kommilitonen zu entkommen. Doch kräftige Hände halten ihn nieder, sperren ihm den Mund auf und schütten ihm mit einer Kelle die gefürchtete "Suppe" in den Schlund - ein Gebräu aus Rotwein und Urin, Öl und Erbrochenem. Nach jener obligatorischen Drangsal gibt es immerhin - Katzenfutter als Dessert.

In keinem anderen Land Europas sind junge Menschen auf dem Weg in die Universitäten derlei mittelalterliche Initiationsriten ausgesetzt wie in Frankreich. Aber auch in keiner Nation wird dem Hochschuldiplom eine solch lebensbestimmende Karriererolle zugewiesen, wie in eben diesem Frankreich.


NAPOLÈON III.

In früheren Jahrzehnten war die Bizutage, die seit der Zeit von Napoléon III. (1852- 1870) existiert, quasi eine Taufe; nichts anderes als ein angeblich hübscher Scha- bernack, den ältere Studenten mit den Neuankömm- lingen erlesener Lernanstalten trieben. Dabei wurden derlei entwürdigende Ausschreitungen oft beschrieben, kritisiert, sogar mit "Nazi-Bräuchen" verglichen, so von der sozialistischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal (2007). Das Magazin "Le nouvel Observateur" titelte gar: "Tyrannei der Dreckskerle". Die Tages- zeitung "Le Monde" geißelte die Bizutage "als einer zivilisierten Nation unwürdiges Brauchtum".

Und ganz allmählich schien die Bizutage, seit dem Jahre 1928 ohnehin offiziell als Unsitte per Ministererlass gebrandmarkt, durch den 68er Rebellengeist vom Campus endgültig verbannt zu sein. Lediglich die elitären Grandes Écoles mochten sie nicht von ihren erprobten Mannbarkeits-Auswüchsen trennen.

Doch auf einmal waren sie wieder da, die Bizutages, als Renaissance französischer Tradition belobigt. Klima- wandel. Selbst kleine Handelsschulen in den Provinzen oder auch private Gymnasien vielerorts in der Republik wetteifern nunmehr ihren fragwürdigen "Vorbildern" nach. Auf diese Weise hoffen sie, sich etwas vom Flair der Großen ans Revers heften zu können.

SOS BIZUTAGE

"Das Dilemma ist", bemerkt Jean-Claude Delarue als Präsident des Bundes gegen Beamtenwillkür, "unsere Schüler lernen, dass sie im Land der Menschenrechte leben, und als Studenten erleben sie einen Albtraum." In seinen Pariser Büroräumen ließ er schon vor Jahren vorsorglich einen Telefonnotdienst "SOS Bizutage" einrichten. Aber selbst dort wollen traumatisierte Opfer allenfalls anonym auspacken. Oft melden sich aufge- brachte Eltern anstelle ihrer gerupften Kinder. "Die Studenten", weiß der Pariser Psychiater Samuel Lepastier, "plagt ein Zielkonflikt. Entziehen sie sich der Erniedrigung, werden sie verstoßen. Passen sie sich an, haben sie mit unendlichen Schuldgefühlen zu kämpfen."

STRAFVERFOLGUNG

Ergo kommt es zur Anzeige, zur Strafverfolgung fast nie. Ein "Gesetz des Schweigens durchzieht das Land", kon- statiert die Tageszeitung "Liberation". Ausnahmslos ängstigt die Opfer, von der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, die Korpskarriere in Wirtschaft oder Ver- waltung zu verbauen, wenn sie als Opfer solche pervers-verächtlichen "Elitepraktiken" publik machen.

Ein gewiss nicht nur ungeschriebenes französisches Gesetz besagt, dass Abweichler oder Petzer nach Studierende nicht mit der Förderung durch die Ver- bände der ehemaligen Kameraden qua Empfehlung rechnen können. Und das will etwas heißen. Denn ohne Protektion war und ist in Frankreich nun mal kein ein- träglicher beruflicher Aufstieg zu haben.

STAATSPRÄSIDENT ALS HUHN

Bizutage-Zeit in Paris - ob an den Grandes Écoles oder auch in den privaten Schulen der Provinzen. Unter- schiedlich sind Herkünfte, Qualifikationen, Erwar- tungen, Versagerängste und natürlich angestrebte Zukunftsprofile. Als Paradebeispiel gilt die Begebenheit mit Giscard d'Estaing. Sie wird Jahr für Jahr auch ungefragt erzählt, als sei sie erst gestern passiert. Ex-Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing (1974-1981) musste sich als Neuling an der "École des mines" splitter- nackt mit Leim und Federn in ein riesiges Huhn verwandeln lassen.

Die Konsequenz schien zwingend. Einmal im Elysée, hievte er seinen einstigen "bizuteur"André Giraud gleich auf den Posten des Industrieministers - Französische Bizutage-Karrieren. Und die beruhigen allemal.


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