Samstag, 20. April 1996

Schmausen und Trinken wie Gott in Frankreich

















In der oft belächelten Provinz stemmen sich lieb gewordene Lebensgewohnheiten und Mentalitäten gegen schrille Zeitläufte des fast food aus Tiefkühltruhen dieser Jahre. Über gesunde Nahrung, Geschmackslüste und den kulinarischen Selbstbehauptungswillen im Département Ain, seinen Fischteichen, Ge- müsemärkten, Restaurants. Stimmungs- momente aus dem Land der feinen Küche zwischen Gourmets und Gourmands der Haute Cuisine.

die tageszeitung, Berlin
vom 20. April 1996
von Reimar Oltmanns

Hell schlagen die Turmuhrglocken der Kirche Notre Dame zu Bourg-en-Bresse. Für Momente liefern Silhouetten noch den Augenschein eines gemächlichen, romantisch verklärten Frankreichs inmitten unbe- achteter Regionen. Jahr für Jahr mit Beginn der Frühlingszeit schieben sich Autokolonnen auf ihren eiligen Reisen gen Süden vorbei am französischen Département Ain im Dreieck zwischen Genf, dem Städtchen Macon und Lyon. Eine intakte Natur in abwechselungsreicher Landschaft mit Wiesen, Wäldern, Bächen, Teichen und Seen - sie bleibt schnurstraks, irgendwie vergessen, am Wegerand liegen.

IM RESTAURANT "LES FRANÇAIS"

Beschaulich döst die pittoreske Altstadt von Bourg-en-Bresse mit ihrem penibel restaurierten Fachwerk und den verborgenen Innenhöfen aus dem 16. Jahrhundert vor sich hin. Am Ende der Avenue der 43.000 Ein- wohner zählenden Kleinstadt schält Monsieur Roland, Kellner im Restaurant "Le Français" aus dem Eis. Sie gilt es zum berühmten Huhn zu servieren - zum Poulet de Bresse à la crème et aux morilles, mit Morcheln und Sahnesauce, versteht sich. Mittagszeit. Hier, im Départe- ment Ain, ist noch das alte, stille, über Jahrhunderte gewachsene, tiefe und ländliche Frank-eich zu Hause, seine Esskultur ohnehin.

Vis-à-vis im Café du Commerce lebt nicht nur die oft belächelte Provinz auf, da stemmen sich lieb gewordene Lebensgewohnheiten, Mentalitäten und Ansichten gegen schrille Zeitläufte unserer Jahre - noch. Eben ein aussterbendes Frankreich der Bistros, von denen jähr- lich im ganzen Land 6.000 verschwinden - um die sechzehn pro Tag. Hier im Café du Commerce zu Bourg-en-Bresse treffen sich noch die Männer mit ihrer Gau- loise im Mundwinkel und dem Baguette unterm Arm. Wie selbstverständlich werden sie vom Patron Jacques in traditioneller Berufskluft mit weißem Hemd und schwarzer Schürze bedient. Schenkt Patron Jacques das Rotweinglas randvoll ein - un petit rouge für Alain, wie gewöhnlich.

SALON FRANZÖSISCHER LEBENSART

Das Bistro-Leben war seit jeher der klassenlose Salon, in dem sich die französische Lebensart vital in Szene setzt. Gelächter vielerorts, Palaver über die Unfähigkeit der Regierung überall, Expertisen zu Pferderennen inbe- griffen; laut und kontaktnah allemal. Aber nicht nur in Frankreich brechen lieb gewordene Eigenheiten jäh zusammen. Ganz nach dem Motto: "den Alten ihr Bistro und Restaurant, den Jungen ihr Fast-Food-Laden McDonald's", sortiert sich die Gesellschaft auffallend an ihren gastronomischen Schauplätzen. "Früher brachten die Amerikaner uns das Kaugummilutschen bei", froh-lockt der Bürgermeister von Bourg, Paul Morin, "heute essen wir sogar schon in Frankreich industriell - wie chemisch gefertigt aus Plastiktüten." Bedächtigen Schrittes weihte Morin den dreihundertfünfzehnten Macdo der Republik ein; sie beschäftigen insgesamt 34.000 Teilzeitkräfte bei einem Jahresumsatz von 760 Millionen Euro. Weltweit soll auf Geheiß des Unter- nehmens künftig alle sechs Stunden ein neues Schnell- restaurant eröffnen.

Verständlich, dass in Frankreich, im Land der feinen Küche und großen Köche, die Gourmets und Gour- mands für ihre Haute Cuisine eng zusammenrücken. Und das vor allem in einer Region, die Essen und Trinken für den ältesten Kulturbeitrag der Menschheit schlechthin hält. In diesem Landstrich liefern 600 Klein- und Mittelbetriebe jährlich 1,5 Millionen hochwertige volailles de Bresse. Jenes schneeweiße Luxusgeflügel ist hier zu Hause, wo jedem Huhn nach einem Gesetz vom 1. August 1957 eine Mindestfläche von zehn Quadrat- metern, eine Lebensdauer von vier Monaten in voller Freiheit und natürliche Nahrung zu garantieren sind. Zudem ist es weltweit das einzige Geflügel mit dem Siegel der Appellation d'Origine Controlée (AOC) - der kontrollierten Herkunftsbezeichnung also. Ob Hühner oder auch Truthähne - sie führen zwar nur ein kurzes, aber wohl glückliches Leben. Nur die ersten und letzten vierzehn Tage bleiben sie eingesperrt, sonst scharren sie im weitläufigen Gelände der Bresse.

HEIMAT DES KARPFENS

Das Département Ain ist aber auch die Heimat des Karpfens, der sich in vielen Jahr hundert Teichen in den angrenzenden Dombes üppig züchten lässt. Unbe- stimmt verlieren sich die Blicke in dieser angrenzenden Sumpfgegend - nur das Wasser und hier wie dort ein kleines, schmuckes Dorf im Visier. Exakt 1.000 Seen auf 10.000 Hektar ermöglichen einen jährlichen Karpfen- ertrag von nahezu 2.000 Tonnen. Die Dombes ist Frankreichs erster Platz in der Teichfischproduktion. Nur - die essende Gesellschaft verabschiedet sich zunehmend vom natürlichen Mahl - wissenschaftlich-künstlich und chemisch-sensorisch kombinierte Industrieprodukte scheinen gefragter denn je.

GESCHMACKS-AUSBILDUNG

Frühlingstage im Département Ain - das sind gleichsam Wochen des kulinarischen Selbstbehauptungswillens. Einmal wöchentlich schaut Meisterkoch Jean-Pierre Bouvier nach Schulschluss im Café du Commerce auf einen Aperitif vorbei. In rankreich zählt die Geschmacks- ausbildung in den Grundschulen längst zum Unterricht. Und der maître cuisinier Jean-Piere Bouvier aus Villars-Les-Dombes gehört zu den 600 Köchen, die Kindern erstmals Geschmacksnuancen einschärfen wollen. "Die können doch eine frische Ananas von einer Dosenfrucht nicht mehr unterscheiden, alles nur die Gurgel hinunter- befördern, ohne Sinn und Verstand", urteilt Monsieur Bouvier. "Doch nur wer schmeckt, differenziert, kann wählen, auswählen, will nicht alles schlucken. Im Ge- schmack spiegelt sich Zivilisation wider."

FRISCHE NATURPRODUKTE

Als Meisterkoch bevorzugt der 48jährige Jean-Pierre Bouvier sein Leben auf dem Lande. Hier kann er mit seinem Sohn Grégory - auch er ist ein junger cuisinier - frische Naturprodukte auf den heimatlichen Märkten begutachten, den gerade gefangenen Karpfen sogleich bestellen. Abends im Restaurant von Jean-Pierre Bouvier in Villar-les-Dombes - zumindest hier leben noch alte Sitten und bedächtige Rituale fort. Hier wie dort, vor Jahrzehnten im Département Ain, begrüßt Madame Bouvier die Gäste, führt sie zu ihrem eigens reservierten Platz und fragt nach ihrem Befinden. Während Madame den Aperitif als Appetitanreger reichen lässt, tranchiert ihr Mann in der Küche den vor zwei Stunden gefangenen Karpfen. Sohn Grégory bereitet als Dessert frische Himbeeren zu. Er sagt: "Ich weiß auch nicht warum, aber die Menschen sind plötzlich närrisch danach" - Frankreich im Frühling alter Esskulturen.

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