Die Orgie mittelalterlichen Gestanks setzte Gott den Duft entgegen. Er ließ das proven-zalische Grasse entstehen, das mit seinen 23 Riechfabriken zur Weltmetropole des Parfums wurde.
die tageszeitung, Berlin
vom 20. April 1996
von Reimar Oltmanns
Der Blick aus der Ferne auf das südfranzösische Städtchen Grasse streift grau rote Dächer und weiße Glockentürme, geht über kleine Täler hinunter zum blauen Saum der Côte d'Azur, über Orangenbäume und Pflanzenkulturen, Brunnen und Plantanen. Ein Genuss surrealistischer Momente. Wechselnde Duftschwaden aus Magnolien, Rosen, Seidelbast, Veilchen, Mimosen und Lavendel begleiten die Reisenden bis in die einstige Weltmetropole des Parfüms.
DER REICHEN AM IMMERGLEICHEN
Mehr als eine halbe Millionen Besucher zählt die Stadt. Und es werden Jahr für Jahr immer mehr Menschen, die assoziative Sehnsüchte ihrer Sinne im Hier und Jetzt erleben wollen. Unmerklich ist Grasse zu einem Parfümtempel geworden. "Stellen Sie sich vor", sagt der Bürgermeister Hervé de Fontmichel, "viel ist von der Wirtschaftskrise, dem sozialen Druck, schließlich vom Überdruss der Reichen am Immergleichen die Rede. Aber wir hier in Grasse mit unseren 40.000 Einwohnern verzeichnen die größte Zuwachsrate an Jugendlichen, haben den höchsten Umsatz im Lande und die höchste Exportrate. Wir sind hier durch die Bank au parfum" (auf dem laufenden).
ES STANK, STANK UND STANK ... ...
Unaufdringlich signalisiert Grasse heitere Offenheit, eben ein Flair vom Leben mit einem Quäntchen Unbe- kümmertheit. Auf dem Place du Cours in Grasse - dort, wo die Busse einzuparken haben - steht Hostess Mireille mit einem Köfferchen. Vornehmlich an die deutschen Busfahrer hat die 23jährige Germanistik-Studentin Tonbandkassetten oder CDs auszuhändigen. So will es eine neuerliche Touristik-regie, die es vor dem Ausstieg abzuspielen gilt. Vor dem Singen ist die Besinnung gefragt. Aus nahezu allen Bus-Recordern oder auch CD-Playern tönt es frei nach Patrick Süskinds Roman "Das Parfüm" unisono: "Es stanken die Flüsse, es stanken die Plätze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brücken und in den Palästen. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die Meisterfrau. es stank der gesamte Adel, ja sogar der König stank, wie ein Raubtier stank er, und die Königin wie eine alte Ziege, sommers wie winters. Diese Orgie von Gestank setzte Gott den Duft entgegen, und er ließ Grasse ent- stehen." Kulturelle Wendezeiten. "Voilà, hier ist das Musée Internationale de la Parfumerie." Und Hostess Mireille strahlt wegweisend mit einem Fläschen "No 5" vom berühmten Chanel in ihrer Hand.
LEGENDEN MIT IHREN DUFTMARKEN
In einem roten Backsteinbau liegt vis-à-vis nämlich das Internationale Parfüm-museum - das Mekka der Duft- extraktionen, die Heimstatt alter Flacons; essence absolute, Blütenöle, Tinkturen, Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes - ein Stück Zivilisationsgeschichte mit ihren mehreren tausend Büchern und Dokumen- tationen schlechthin. Mit als 1.000 über Jahrhunderte alte Parfüms sind hier zusammengetragen worden. Auf 1.500 Quardatmeter leben Legenden verblichener Jahre samt ihre Duftmarken ungeahnt fort. Ob das Parfüm no. 5 der Mademoiselle "Coco" Chanel aus dem Jahre 1924 oder auch der 80 Kilogramm schwere Toiletten- koffer der im Jahre 1792 hingerichteten Königin Marie-Antoinette.
SECHS PROZENT VOM WELTMARKT
Es ist kaum zu ahnen, dass sich in diesem kleinen Städt-chen der Provence ein hochkarätiges Handelskarussell in Sachen Parfüm drehte, das immerhin sechs Prozent des Weltmarktes ausmachte. In seiner besten Woche wurden zudem drei von vier im Warenverkehr ange- botenen Parfüms aus der in Grasse gewonnenen Essenzen hergestellt. Seinerzeit lebten die Grassois hauptsächlich von ihrer Duftproduktion, hatten sie doch mit ihren 23 familiären Riechfabriken 50 Prozent des französischen Aroma-Marktes erobert.
BLÜTEN IM BILLIGLOHN
Noch in den siebziger Jahren waren 20.000 Menschen damit beschäftigt, jährlich fast vier Millionen Kilo- gramm Blüten und Duftpflanzen im Pays de Grasse zu gewinnen. Pflückten auf den angrenzenden Feldern Arbeiterinnen aus Italien und Nordafrika im Billiglohn- akkord Blüten, aus denen es das sogenannte "Aroma des Zeitgeistes"zu komponieren galt. Um etwa einen Liter Rosenessenz zu erhalten, müssen rund vier Tonnen Blütenblätter gepresst und destilliert werden. Da wundert es kaum, wenn jene Essenzen zwischen 5 und 15.000 Euro kosten. Früher kamen die meisten Blüten aus Grasse und Umgebung.
Heute hingegen werden die Rohstoffe für die Parfüm- herstellung größtenteils aus Dritte-Welt-Ländern im- portiert; in Grasse wird allenfalls weiterverarbeitet.
DUFTKELLER GROSSER COUTURIER-DAMEN
Vorbei sind die Weltläufe, in denen die Nasen hoch- bezahlter Duftkellermeister großer Couturier- damen wie der Arden, der Rubinstein oder auch der Betrix mit ihrer Sensormotorik Geschmäker wie Marktgeschehen diktierten. Ihre Unternehmen sind von Multis wie Unilever oder L'Orèal längst einverleibt worden. Das ehedem poetisch umschwärmte Verhältnis zwischen Blüte und Parfüm ist unwiederbringlich dahin.
DUFTSTOFFE DURCH SYNTHETIK ERSETZT
Ein ausgereiftes Computersystem hat nicht nur die Dosierung der Düfte entzaubert, sondern gleichfalls auch die Wirkung der Parfümsubstanzen mitberechnet. Auch ist die Biotechnik nunmehr imstande, pflanzliche Strukturen naturgetreu zu kopieren, eben Pflanzen- gewebe statt ganzer Pflanzen zu züchten. Zwei Drittel der ehedem natürlichen Duftstoffbestandteile werden mittlerweile durch synthetische Substanzen ersetzt. Ein Millionenheer mit billigen, häufig überdosiert ein-balsamierten Chemiekeulen läßt grüßen in Grasse und anderswo: neuzeitlich auch noch Parfüm genannt.
PARFÜMERIEN WIE BRAUEREIEN
Folgerichtig wich zuvörderst in Grasse jene beschauliche Atmosphäre alter eingesessener Parfümbrennereien. Heutzutage sehen die Produktionshallen der Parfüme- rien wie Brauereien aus. In mächtigen, zimmerhohen Metallkesseln und riesigen Destillierkolben werden die natürlichen, noblen Essenzen aus vielerlei Pflanzen gewonnen. Und zwar für Waschpulverhersteller und Suppenproduzenten. Längst sind sie zum Hauptab- nehmer der Aromastoffe geworden - und sichern somit dem Städtchen Grasse zwischen Nizza und Cannes sein wirtschaftliches Überleben.
LEGENDE UM LEGENDE
"Zarte Düfte". bedeutet Bürgermeister Hervé de Font- michel, "sind zwar allzu oft erotisch, ihre Wirkung ist rational nicht auszumachen. Auszurechnen hingegen ist der Legendenreiz, den das Parfüm nach Grasse brachte." Gewiss, die aktuelle industrielle Parfümkultur ist fort. Dafür stehen nunmehr eine Kongresshalle, Drei-Sterne-Hotels, weitläufige Sportanlagen mit Golf- und Tennis- plätzen, neue Schulen, erlesene Restaurants mit Schwimmbäder in diesem viel zitierten Städtchen der Blumen und Blumenmärkte am Mittelmeer. Wenn es allein nach dem Bürgermeister ginge, so würde er demnächst eine kleine Seitengasse nach dem Erfolgs- autor des Parfüms, Patrick Süskind, benennen. "Schon allein wegen der vielen deutschen Urlauber, die sich hier in ihrer sommerlichen Nostalgie nicht satt sehen und vermeintlich wohl auch nicht satt riechen können." Ein Quäntchen Hochgefühl, ein bisschen Selbstbewusstsein als Referenz für gemeisterte Umbruchzeiten sozusagen.
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