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"Du hast keine Chance, aber nutze sie"
Rowohlt Verlag, Reinbek/Hamburg
14. Februar 1982
von Reimar Oltmanns
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>Irgendeinen Sinn wird das
doch schon haben.> (Uli)
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>But it's all right,. Ma, it's
life and life only.< (Bob Dylan)
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Zu Anfang war es ziemlich merkwürdig zwischen Ulli und Anna. Und dieser Anfang dauerte fast über ein Jahr. Sie lernten sich bei Robbi auf der Terrasse kennen. Dort, wo in feierlicher Entspanntheit getrunken, geschnupft und gefixt werden durfte. Bei Robbi traf sich die Clique meistens. Vor allem zum Wochenende, wenn sich seine Eltern mit dem Grill aufs Land verzogen, um aufzutanken. Natürlich konnte nicht jeder bei Robbi vorbeischauen, Die Clique achtete schon darauf, unter sich zu bleiben. Man war viel zu vertraut miteinander, als dass andere Typen noch auf die Terrasse gepasst hätten. Außerdem gab es in Aachen wenige Gestalten, die zu ihnen gepasst hätten das glaubten sie jedenfalls - das glaubten sie jedenfalls. Keiner von ihnen betrachtete sich und den anderen als einen verstümmelten Spießer, als jemanden, der auch nur halbwegs hinter dem vorgegaukelten So-und-nicht-Anders stand, das sie unentwegt zu Hause oder auch in der Schule zu hören bekamen.
MIT VATERS 350-METALLIC-MERCEDES
Robbi galt als Leichtfüßler in der Gruppe, obwohl er sich im Gymnasium schwerer tat als seine ständigen Gäste und schon einmal backengeblieben war. Sein Elternhaus hatte ihn nie wohlbehütet, dafür aber immer wohlbetucht ausgestattet. Schon eine Woche nach der Führerschein-Prüfung, die er genau zu seinem 18. Geburtstag ablegte, kurve "Kind Robbi" mit Vaters 350-Metallic-Mercedes durch Aachens City - Blinkhupe hier, Blinkhupe dort. "Kannste mir mal den Schlüssel geben" war auch die einzige Gesprächsebene, die Robbi mit seinem Stiefvater fand. Sonst war Funkstille, Er kannte seinen neuen Vaters erst seit vier Jahren, - einen Chirurgen, dessen Lebensinhalt hauptsächlich aus Knochen und Geld bestand.
SAUFEN, KIFFEN - FREUNDE FINDEN
Andy, gerade erst siebzehn geworden, zählte jeder zu seinem besten Freund. Ein Gemütskerl, groß, dick, breit, mit vielen Pickeln im Gesicht, lange, strähnige Haare, immer in buntgefleckten und verwaschenen Jeans. Andy, litt unter seinem Fettkomplex, genoss es aber sichtlich, der größte Schluckspecht in der Clique zu sein. "Von nix kommt nix", war sein Standartspruch. "Und du weißt ja, wenn man säuft oder auch kifft, findet man sehr schnell ein paar Freunde." Andy hatte viele Kumpels in der Stadt. Ab und zu kippte er frühmorgens vor der Physikstunde noch schnell einen Flachmann herunter, um seine zittrigen Finger, die ihm oft lästig waren, unter Kontrolle zu bringen. Selbstverständlich vergaß Andy nie sein obligates Kaugummi, wenn er den Klassenraum betrat und allseits mit seinem "Hallo, ah, Hallo" einen guten Morgen wünschte.
VATER IM NATO-HAUPTQUARTIER
Ulli wohnte erst zwei Jahre in Aachen. Er kam als 15jähriger mit seiner Mutter aus Iserlohn angereist, kurz nachdem die Scheidung seiner Eltern ausgestanden war. Seinen Vater sah er alle halbe Jahre einmal, wenn er vom NATO-Hauptquartier in Brüssel, wo er als Bundeswehr-Oberstleutnant diente, in Aachen Zwischenstation machte, bevor er zu seiner Freundin nach Köln weiterfuhr. Die Clique wurde für Ulli, einen entwurzelten Jungen, der schon überall und nirgends gewohnt hatte, ein bisschen sein zu Hause. Sonst lief eben nicht viel. Weder in der Schule noch mit seiner Mutter. Sie war nervlich kaputt, kam abends abgeschlafft vom Krankenhaus und klagte ständig darüber, als Ambulanzschwester kein Blut mehr sehen zu können. Heulkrämpfe und hysterische Schübe lagen bei ihr in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Einsamkeit zermürbte sie, vor allem fehle ihr jemand, mit dem sie sich richtig aussprechen konnte.
ALLES SCHIEN BESSER - NUR RAUS HIER
Und dann waren da noch Gisela und Dorle, denen alles stank, denen alles so eng erschien, langweilig und doof, die richtig Action wollten - und das nicht nur vorm Fernseher. Und die Aachen bei jeder Gelegenheit mit einem Kuhdorf verglichen. Alles schien besser, nur die etwa 250.000 zählende Einwohnerstadt war und blieb beschissen. Zwei Mädchen von sechzehn aus Beamtenhaushalten. Giselas Vater zählt Steuergelder auf dem Finanzamt, Dorles Papa stellt Personalausweise in der Einwohnermeldebehörde aus.
KEINE KINDER VON TRAURIGKEIT
Robbis Terrassen-Clique - das waren keine Kinder von Traurigkeit, Larmoyanz und Selbstmitleid, die über Leistungsdruck klagten und Existenzängste, Verzagtheiten plagten. Zwar gingen sie alle zum Gymnasium "Brüsseler Ring", doch die hart angezogene Schraube des Numerus clausus griff bei ihnen nicht - ein ausgeleiertes Gewinde, nicht mehr und nicht weniger. Ebenso verpufften Sanktionen ihrer Eltern wirkungslos, wenn sie überhaupt noch angedroht wurden. Denn die Alibis funktionierten nach den Wochenend-Eskapaden so fabelhaft, dass die Eltern nur noch selten nachfragten: teils aus Bequemlichkeit, teils aus Gewöhnung. Etwa, als Gisela mitten in der Woche gegen 21 Uhr sich noch mit einem Lehrer treffen wollte, um ein Dia-Projekt für den kommenden Unterricht vorzubereiten. Am nächsten Morgen rief der Vater vorsichtshalber an und erkundigte sich bei dem besagten Geographie-Lehrer ganz dezent, ob solche sicherlich wünschenswerten außerschulischen Veranstaltungen denn so spät stattfinden müssten. Der Pädagoge, selbst erst 32 Jahre alt, konnte mit vielen plausiblen Erklärungen aufwarten. Giselas Vater schien beruhigt. Offensichtlich auch deshalb, weil sich der Pauker lobend über die Leistung seiner Tochter ausließ. So etwas hören Eltern selten und doch allzu gern. Verborgen blieb indes: Die Dia-Geschichte wurde mit Disco-Glimmer vertauscht, bei sanfter Musik zwischen "rain and tears" - fernab von Leistung und Zensuren.
ROBBIS FESTE
So fanden schließlich alle Eltern dieser Clique nichts Außergewöhnliches daran, wenn ihre Söhne übers Wochenende zu Robbi gingen und dort auch nächtigten. Immerhin ist es der Sohn eines angesehenen Chirugen in der Stadt. Eigentlich ein Umgang, der doch nicht besser sein könnte. Und die Mädchen waren zur besagter Zeit gerade immer bei einer Freundin oder umgekehrt. Oder auch bei Oma im Nachbardorf.
AB NACH HOLLAND
Robbis Feste begannen immer dann, wenn der Metallic-Mercedes seiner Eltern hinter der Kreuzung verschwand. Das war oft am Samstag gegen drei. Bis vier Uhr trudelten die meisten ein. Erst einmal ging es im Zweitwagen, einem Alfa-Sud, den wochentags Robbis Mutter fuhr, ins Café Domberg nach Holland. Im Café Domberg aß die Clique manierlich Pflaumenkuchen oder Käsetorte mit Sahne, dazu trank sie ein Kännchen Kaffee. Wenn die Rechnung bezahlt wurde, legte Robbi wie selbstverständlich ein "Trinkgeld" aufs Tablett - einen Fünfzig-Mark-Schein. Café Domberg zeigte sich durch seinen Oberkellner erkenntlich - ganz nach Art des Hauses. An der Garderobe gab's ein Päckchen in Silberfolie - Haschisch. Es versteht sich von selbst, dass Robbi und Co. nicht nur für ein Eigenbedarf einkauften. Denn in Holland ist Haschischkonsum legal und daher weitaus billiger als in der Bundesrepublik auf den Schwarzmärkten. Einmal verhökern sie den begehrten Stoff unter der Woche in Robbis Zimmer oder in Aachens Beton-Vorstädten, zum anderen signalisierte Achim aus dem fernen Emden in Ostfriesland seine Nachschubwünsche. Dann wurde schon für 100 0der 2oo Mark im Café Dornberg geordert. Achim leistete nämlich seinen Wehrdienst beim Heer im Ostfriesischen ab und versorgte auf diesem Weg den frustrierten und ausgeflippten Teil dieser Kompanie.
JEDEN MITTWOCH KASSENSTURZ
Robbi löhnte auch nicht selten allein aus eigener Tasche. Das verbot die Solidarität. Stets schmiss die Clique zusammen oder Achims Überweisungen waren rechtzeitig postlagernd in Aachen eingetroffen. Regelmäßig am Mittwoch machten die fünf Kassensturz. Man konnte ja nie so recht wissen, wie gesättigt oder hungrig Aachen und Umgebung tatsächlich war. Mit dem Alkohol lief das schon einfacher. Den brachte sich jeder selber mit. Nur im Notfall öffnete Robbi Stiefvaters Hausbar. Aber nur im Notfall. Ulli stand auf Lambrusco, Andy schleppte kistenweise seinen Doppelbock an, die Sechserpackung für 3,98 Mark von Tengelmann. Bärbel und Ingrid waren auf Gin aus, den sie sich an der Grenze zollfrei besorgten.
KOLLER - ÜBER AUTOBAHNEN ZISCHEN
Manchmal, vor allem wenn es am Samstag regnete und auf der Terrasse keiner gemütlich durchgezogen werden konnte, kriegten sie einen Koller. Da hatte Andy oder auch der Ulli die spontane Idee, doch mal kurz nach Osnabrück oder sonstwohin zu stochern, einfach mal kurz über die Autobahn belgen, quer durchs Ruhrgebiet, mit der Lichthupe einen Zampano mimen, hart auffahren und sich wieder souverän zurückfallen lassen. In Osnabrück ein Bierchen in der "Quellenburg" zu Sutthausen zu schlucken und im Affentempo sofort wieder nach Hause, möglichst rechtzeitig vor dem Aktuellen Sportstudio. - "Es klingt dumm", sagt Ulli heute. "Wir tobten auf unseren Spritztouren Marlboro- und Reval-Sehnsüchte aus der Werbung aus, die uns Tag für Tag eingehämmert worden sind. Freiheiten, die wir uns gerade erst erkämpft hatten. Abenteuer, die wir suchten, selbst ist der Mann. Geländefahrten, Autobahnen. Wir wussten das alles, aber es gab uns irre viel Selbstbestätigung. Wir glaubten jedenfalls damals, so und nicht anders könnte unsere Freiheit aussehen."
DOPPELBOCK-BÖCKCHEN
Die Sommer-Monate des Jahres 1977 hingegen verliefen ziemlich einsilbig, ja monotan. Trotz Hasch-Umsatz hatte die Robbi-Clique kaum Geld. Gemeinsame Ferien lagen nicht mehr drin. Viel nerviger aber war die schlichte Tatsache, dass Robbis Eltern schon drei Wochen nicht aufs Land rausfuhren. Da konnten keine Feten mehr steigen, die Haschgeschäfte mussten notgedrungen auf öffentlichen Plätzen in der City abgewickelt werden, was natürlich das Riskio maximierte. So im Jugendzentrum Büsch, einer kirchlichen Einrichtung oder auch in der engen Stehkneipe gegenüber dem Theater, wo sonst hauptsächlich Bühnenarbeiter ihr Pils tranken und sich über den Allüren einiger Schauspieler aufregten.
BETTEN FREMDER LEUTE AUFGEWACHT
Der 17jährige Ulli wusste zu jener Zeit oft nicht, wie er nach Hause kam, manchmal wachte er auch verkatert und verquollen in Betten fremder Leute auf, die ihn irgendwo aufgegabelt hatten. "Das ging drei Wochn, bis wir davon runterkamen. Wir haben da Böckchen-Rekorde aufgestelltt, Doppelbock-Böckchen, zwölf Stück mussten es schon in der Regel sein, Der Rekord steht allerdings auf 19, und wir haben es sogar auf 21 gebracht. Wir waren eben eine richtige Clique", meint Ulli. "Damals lief alles gemeinsam ab, saufen gehen, schäkern, blödeln, lachen, gegenseitig verarschen, demoralisieren und wer am längsten durchhält und andere Scherze." Eine richtige Clique bedeutet aber auch, "nicht abseits stehen, keine Schwächen zeigen, alles mitmachen und nachahmen, was Robby und Andy oder auch Alfa junior alles auf der Latte hatten, auch wenn es der letzte Scheiß war. " - Ihr Latte.
CLIQUEN-MÄDCHEN: ANNA + GISELA
Am letzten August-Wochenende verschwand der Metallic-Mercedes mit Robbis Eltern endlich wieder hinter der Kreuzung. Gegen vier, so hoffte Robbi, könnten alle da sein. Erst Fahrt nach Holland, dann einen duften Abend mit vielen Spielchen, die jeder kannte, mal Posthörnchen, mal Senftöpfchen. Doch nach der langen, unfreiwilligen Pause ließ es sich an diesem Samstag schleppend an. Schließlich zischten Robbi und Andy allein über die Grenze, mürrisch wie sie waren, aber der Shit musste geholt werden. Ulli kreuzte nach sechs, Dorle noch eine Stunde später auf. Gisela kam erst um halb neun und brachte Anna mit, die allen fremd war, jedoch lebhafte Neugierde auslöste. Anna, obwohl erst vierzehn, fast unscheinbar, klein und zierlich, zog unweigerlich die Blicke auf sich. Vielleicht, weil so gar nichts von ihr ausging, was mit den Cliquen-Mädchen vergleichbar gewesen wäre.
KEINE SCHMINKE, KEINE LIDSCHATTEN
Seltsam, wie das Äußere knirschte. Lagen doch keine zwei Jahre zwischen Annas Pummeligkeit und dem unverkennbaren Anflug von Verhärmtheit bei Gisela und Dorle keine Zwischenstufe mehr - auf dem Weg in die Welt, die sich erwachsen nennen darf. Anna jedenfalls kannte keine Schminke, keinen Lidschatten. Sie trug eine beige Cordhose, einen branen Pulli mit Ärmelschonern, ausgelatschte Knöchelstiefel, einen Umhängebeutel, der selbstgestrickt war und auf dem sie eine Ostermarschierer-Plakette befestigt hatte. Aber nicht als politisches Erkennungszeichen. Als Anna das Ding beim Trödler entdeckte, kam es ihr gar nicht in den Sinn, dass ihre neue Plakette ein politisches Symbol der Protestbewegung in den sechziger Jahren war. Wie sollte sie es auch wissen. Damals, als die Oster-Leute über die breiten Straßen der Großstädte zogen, da war Anna ja erst drei Jahre alt.
WAHL-BELGIER MIT WENIGER STEUERN
Anna und Gisela hatten sich beim Tanztee getroffen. Für Anna war es überhaupt die erste Tanztee-Veranstaltung, zu der sie allein hindurfte. Sie musste zu Hause lange und mit äußerster Beharrlichkeit gegen ihren Vater, einen Berufsschullehrer, drum kämpfen. Anna wollte ihre eigene Freiheit, ihre eigenen Abende - zumindest am Wochende. Sie wollte ihre Scheu abstreifen, die sie zusehends isolierte. Anna wohnte nämlich mit ihrer Familie nicht in Aachens City, sondern zehn Kilometer hinter der belgischen Grenze, wo ihre Eltern vor Jahren gebaut hatten -, aus Preisgründen, wie sie immer sagten. Heute zahlen sie als Wahl-Belgier monatlich 400 Mark Steuern mehr als in der Bundesrepublik.
MÄNNER MACHEN ANGST
Anna spürte schon seit längerem eine innere Unruhe und einige Ungereimtheiten. Schon als kleines Kind hatte der bloße Anblick von Männern sie ängstigen können. Wenn sie bei einer Freundin spielte und der Vater kam nach Hause, lief sie brüllend davon. Spätestens seit der Tanzschule, die ihr generös zugestanden worden war, schwankte Anna zwischen ihrer Scheu und "rosaroten Träumchen". Um so enttäuschter war die 14jährige vom Aachener Tanztee am Samstagnachmittag. Das roch alles zu sehr nach biederem Foxtrott, auch wenn man sich heute nicht mehr artig anfasst. Schüchterne Gehversuche von verklemmten Eintänzern, die mit linkischen Bewegungen ihre Unsicherheit kaum verbergen konnten. Jünglinge, die Annas unterschwelligen Ängste eher verstärkten, statt sie abzubauen. Gisela hingegen, lässig und schnodderig, entsprach schon mehr dem unausgesprochenen Gefühl nach zeitgemäßer Libertinage. Gefühle, die in einen ungewissen und unüberschaubaren Abend mündeten. Nur über eines war sich Anna von vornherein im klaren, als sie mit Gisela zu Robbi ging. Sie würde wohl kaum mit dem letzten Bus nach Hause fahren wollen und einem Riesenkrach mit ihrem Vater entgegensehen.
EHE EIN SCHLACHTFELD
Robbi machte auf Anna einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits konnte er es sich nicht verkneifen, ihr per Wohnungsrundgang alle Insignien der Familie Neureich exemplarisch vorzuführen. Andererseits belustigte sich Robbi über seine Eltern, indem er unaufgefordert ihre Hochzeitskarte aus der Schreibtischschublade holte und über den Leitspruch: "Die Ehe ist ein Schlachtfeld, wir wollen es mit Rosen übersäen", zynisch grunzte. Die Clique saß auf der Terrasse. Als Anna sich dazuhocktem kamen ihr die ersten süßlichen Haschschwaden entgegen, die allmählich die ganze Wohnung durchdrangen. Frank Zappas Rock oder die Rhythmen der Gruppe "Meat-loaf" untermalten den langsamen Abgang in eine sinnliche Besinnungslosigkeit.
UNAUFFÄLLIGE NÄHE ... ...
Anna suchte die unauffällige Nähe von Ulli, der ihr auf Anhieb gefiel. Er war groß und blond, sein Gesicht war nicht so schmierig-verschmitzt wie das der anderen, sondern hatte noch Konturen. Auch Ulli fand Anna frischer als die Alkoholikerinnen, mit denen er sonst seine Abende verflüssigte. Ulli kiffte auch nicht in einem fort. Er verordnete sich zwischendurch schon einen Schluck Lambrusco. Eigentlich sei er ja Amateurfunker mit starken Frequenzen. erzählte er ihr. Er würde gerne durch Tunnel spazieren und mit Leidenschaft Gras schnuppern. Je länger sich die beiden unterhielten, je einvernehmlicher sie kicherten, desto unwilliger schaute Gisela drein, die sich zu Recht verdrängt fühlte. Dorle störte das nicht weiter, sie hatte genug mit Andy und Robbi zu tun. Aber Gisela war an diesem Abend auf Ulli abgefahren. Hätte sie beim Tanztee geahnt, dass sie quasi eine Konkurrentin mit anschleppt, sie hätte den Teufel getan und der Anna noch zugeredet, doch mitzukommen.
JEDER MIT JEDEM
Nur war es allerdings nicht so, dass Ulli und Gisela fest miteinander gingen. So etwas gab es in der Clique nicht. Die zwischen-menschlichen Beziehungen schienen nach außen unkomplizierter zu sein. Sie nannten ihre Partnerschaften "Senftöpchen-Spiel": da konnte jeder mal mit jedem, je nach Zufall, Laune und momentaner Sympathie. Darüber wurde auch nicht groß geredet oder gar gestritten. Meist war es schon sehr spät - Gedanken und Sinne bereits im Jenseits. Für Gisela spielten auch nicht so sehr ihre Empfindungen zu Ulli eine Rolle als vielmehr der Versuch einer Fremden, sie zu relativieren.
CARIBIC-RUM EX GETRUNKEN
Nachdem sie ein 0,2 Liter-Glas Caribic-Rum ex getrunken hatte, lag Gisela eine Viertelstunde später wie scheintot da. "Wir haben alle möglichen Wiedererweckungs-Versuche unternommen", erinnert sich Ulli. "Wir hatten Angst, dass sie ins Koma fällt," Dann kriegte Gisela einen Anfall und nur Ulli durfte sie im Arm halten. Wollte er sich langsam zurückziehen, weil er glaubte, sie schliefe nun tief, fing sie hysterisch an zu schreien. Erst als sich Ulli zu ihr im Nebenzimmer ins Bett legte, wurde Gisela friedfertig und döste ein.
BLASSE TYPEN - NUR KLAMOTTEN GLÄNZEN
Anna saß für ein paar Augenblicke da und überlegte, was diese Gisela-Inszenierung sollte und ob es doch nicht besser sei, wenn sie jetzt nach Hause führe. Das war es mittlerweile zu spät. Sie kehrte auf die Terrasse zurück, auf der man Obacht geben musste, nicht über ein leeres Flaschen-Arsenal zu stolpern. Zwischenzeitlich bekam Robbi auch noch von einem Alfred unerwarteten Besuch. Ein Typ, der so blass und klebrig wirkte, dass nur seine Lederklamotten glänzten. Der wollte schnell zwei "Zwanziger" holen und blieb dann einfach. Robbi und Andy hingen ganz schön in den Seilen . Sie hatten plötzlich etwas Vergreistes und Zerfressenes an sich. Auf Anna machten beide den Eindruck wie junge Versuchskaninchen, denen man das Gehirn ausgeknipst hat, um sie unter Alkohol- und Drogeneinfluss langsam beim Altern zu beobachten. So verging Stunde um Stunde. Richtige Sätze brachten sie gar nicht mehr heraus. Ein Gelalle und Gestammele war das, nur ab und zu von einer Schmusemusik unterbrochen, die Dorle als "Nachtprogramm" bezeichnete.
"AUF EINMAL SCHLIEF DER MIT MIR"
Es muss so gegen fünf Uhr morgens gewesen sein, als sich die Robbi-Gesellschaft auflöste. Dorle, inzwischen ebenfalls arg weggetreten, spielte noch halbwegs die Hausdame und zeigte Anna ein Gästezimmer, wo sie sich hinlegen konnte. Doch Anna hatte kaum die Decke über sich gezogen, da stand dieser Alfred im Zimmer. Anna: "Ich wusste überhaupt nicht mehr, wie mir geschah. Ich kriegte überhaupt nichts geregelt. Diese Spannung. Ich wusste überhaupt nicht, was das war. Dann hat der die ganze Zeit versucht, mit mir zu schlafen, das hat mir unheimlich weh getan. Und auf einmal schlief der mit mir. Und ich fragte ihn hinterher, hör mal, wie denkst du dir das eigentlich. Du wusstest doch überhaupt nicht, ob ich das wollte. Sagte der, das wäre ihm scheißegal. Man könnt auch zuviel über was reden und deshalb würd' man am besten überhaupt ruhig sein. Da war ich fertig. Und ich habe gedacht, jetzt bringst du dich um. Ich verging vor schlechtem Gewissen. Ich fühlte mich einfach unheimtlich beschissen."
STRAFKATALOGE
Anna schleppte sich um acht Uhr zum ersten Bus. An Ulli, der noch mit Gisela im Nebenraum schlief, wagte sie nicht zu denken. Kaum zu Hause angekommen, setzte es Dreizehn. Nicht etwa, dass Annas Vater brüllte oder sie schlug. Das macht ein Pädagoge doch nicht. Er verhängte statt dessen einen "Strafkatalog", wie er seine notwendig erscheinenden Maßnahmen auf eine Formal brachte. Hausarrest acht Wochen, davon vier Wochen im eigenen Zimmer. Taschengeldkürzung von 35 auf 20 Mark monatlich, Fernsehverbot ebenfalls vier Wochen, striktes Verbot zu telefonieren oder Gespräche anzunehmen. Der Vater hatte gesprochen, die Mutter nickte stumme, Anne zitterte und weinte.
FERNBLEIBEN AUS OPPOSITION
Sie verzog sich auf ihr Zimmer, was blieb ihr auch anderes übrig. Nun starrte sie in ihrer kleinen Butze auf den alten auf den alten Kleiderschrank. der vor ein paar Jahren noch das Schlafzimmer ihrer Eltern schmückte, schaute auf ihr Lundia-Regal, in dem sich Kafka, Beckett und Walser aneinanderreihten. Anna lag auf ihrer Matratze und versuchte ihre Gedanken zu bündeln, was ihr aber nicht gelang. Sie fühlte sich elend, kotzübel, wenn sie an die zurückliegenden Stunden dachte. Und sie hatte eine unbändige Wut auf ihren Vater, der sich da hinstellte, quasi als Inquisitionsrichter, und nur noch subtil seine Straferlasse herunterratterte. War ihr nächtliche Fernbleiben nicht Opposition genug? Musste er noch eins draufsetzen? Aber er war ihr ja schon längst einige Erklärungen schuldig.
TUNNEL-SPAZIERGÄNGE
Plötzlich erinnerte sie sich wieder an Ulli und seine Tunnelspaziergänge. Das empfand sie als witzig. Doch der Tunnel reichte nicht aus, um sie aus ihrem Tief herauszuholen. Sie wollte ihre eigene Freiheit, ihre eigenen Abende. Und das ist beim erstermal daraus geworden? Sie mochte Ulli. Und was machte der? Er ging vor ihren Augen zu einer durchgedrehten Gisela ins Bett, die doch sonst so auftrumpfte, zuletzt beim Tanztee. Und was machte sie? Sie schaute sich Stunde um Stunde kaputte Typen an. Sie hatte dagesessen, neugierig und angewidert zugleich, um hinterher von jemanden angegangen zu werden, den sie nicht kannte, der nicht mir ihr redete, der noch nicht enmal seine Lederjacke auszog. Für einen Moment fiel Anna ihre Freundin Katja ein, die eine Klasse über ihr war. Katja, die natürlich Annas Hemmungen gegenüber Jungen längst bemerkt hatte und daraus schon des öfteren ihre heimliche Überlegenheit ableitete, sagte stets: "Wat willste, dat is eben so." Das war meist ihr Schlussspruch nach ausgiebigen Unterhaltungen, um über den eigenen bitteren Nachgeschmack hinwegzutäuschen.
SKRUPELLOSER HEUCHLER
Anna lag auf ihrer Matratze und konnte nicht einschlafen, obwohl sie sich hundemüde fühlte. Ihr ging einfach ihr Vater nicht mehr aus dem Sinn. Nicht etwa, weil er mit drakonischen Strafen aufwartete, als sie nach Hause kam. Sie hielt ihn vielmehr schon seit längerem für absolut unglaubwürdig, besser gesagt, für einen skrupellosen Heuchler, Er, der sich da in Sachen Disziplin und Moral aufplustert, hat jahrelang der Familie vorgelebt, wie man es nach seiner eigenen Auffassung doch angeblich unter keinen Umständen machen sollte. Er ist eben doch nur ein Mann des kategorischen Konjunktivs, dachte sich Anna im stillen. Sie versuchte sich alles noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Ihr schien das schon eine Ewigkeit her, dabei lag der verhängnisvolle Anfang keine fünf Jahre zurück.
LIEBSCHAFTEN GLEICH MIT GEBRACHT
Ein Kuraufenthalt ihres Vaters in Badenweiler veränderte das Familienleben auf einem Schlag. Er kam nämlich nicht, wie alle erwartet hatten, allein nach Hause, sondern brachte seine neue Liebschaft gleich mit. Paula, die acht Jahre jünger als Mutter war, arbeitete zwar noch für eine geraume Zeit als Bibliothekarin in Bremen, zog dann aber ganz zur Familie nach Aachen. Anna und ihre vier jüngeren Geschwister konnten mit Paula zuächst nichts Rechtes anfangen. Bis sie merkten, dass sich die ganze Angelegenheit zu einem Dauerzustand entwickelte.
PAULA - DIE SICH TANTE NANNTE
Paula, zu der die Kinder später Tante sagen durften, erhielt ihre zwei eigenen Räume im neuerbauten Haus, ihre Eltern richteten sich zwei getrennte Schlafzimmer ein. Ob an Feiertagen oder an gewöhnlichen Wochenenden - Paula hatte ihren festen Platz am Familientisch. Anna fand es als Neunjährige zwar seltsam, dass eine alleinstehende Frau bei ihnen den direkten Anschluss suchte. Aber es gab in der ersten Zeit keinen Grund zum Misstrauen. Denn selbst ihre Mutter, eine frühere Volksschullehrerin, ließ sich - zumindest den Kindern gegenüber - nichts anmerken. Nun war ja ihr Heim vom Architekten von vornherein auf Zuwachs entworfen worden. Warum sollte Paula nicht dort mitwohnen. Wegen Miete und so. Sonst hätten sie die Zimmer vielleicht andersweitig vergeben. Doch nicht einmal in einer verhältnismäßig kleinen Ferienwohnung im Südschwarzwald, wo Paula selbstverständlich mit hinfuhr, wurden die Kinder hellhörig. So nach dem Mittagessen, wenn Mutter mahnte, Anna solle beim Abtrocknen nicht so laut quasseln. Papa und Paula hätten sich ein bisschen hingelegt.
BABY VON DER MÄTRESSE
Die über Jahre vorgetäuschte familiäre Harmonie nahm jedoch ein schnelles Ende. Geschockt standen die Kinder eines Abends am Küchentisch auf und verkrochen sich in ihre Zimmer. Dabei hatten sie wenige Minuten zuvor noch "au ja, das ist ja toll" gejubelt. Ihr Vater fragte sie ganz in der Art des Pädagogen, was sie denn davon hielten, noch ein kleines Geschwisterchen zu bekommen. Und die Kinder schauten wie auf Kommando zu ihrer Mutter hinüber. Aber nicht ihre Mutter, sondern Paula brachte Julia zur Welt.
GEZETER, GEZERRE - FAMILIENKRIEG
Als der kleine Wurm von Julchen, wie sie den Nachzügler liebkosten, erst einmal da war, wollte ihn keiner wieder hergeben. Doch mit Julias Geburt, das hatten sich die Erwachsenen vorher offentsichtlich nicht vorstellen können, funktionierte ihr abgekartetes Spiel vor den Kindern nicht mehr. Ein Säugling legt Emotionen frei, auch in der Partnerbeziehung. Anna überlegte sich in diesem Moment: Konnten sich Paula und Mutter ihren Vater noch teilen, um Julia krachte es ständig zwischen den beiden. Ein Kampf, der schäbig, fies und rücksichtslos ausgetragen wurde. Die Kinder, bislang kaum lautstarke Konflikte gewöhnt, erlebten nunmehr ein Gezeter und Geschreie wie nie zuvor. Der Streitpunkt war immer derselbe. Paula musste tagsüber arbeiten. Mutter versorgte die kleine Julia. Paula glaubte, Mutter wolle Julia vergiften oder sonst irgendwie raffiniert umbringen. Mutter sagte, Paula sei irre und hysterisch. Das Ende der Geschichte: So plötzlich, wie Paula nach der Kur des Vaters auftauchte, so plötzlich verschwand sie dann nach fast fünf Jahren auch wieder. Sie nahm natürlich Julia mit und lebt heute irgendwo im Westerwald. In Aachen ist sie jedenfalls seither nicht mehr gesehen worden. Das Thema Paula war und blieb tabu, an Julia wagt keiner zu rühren.
SELBSTAUFGABE DER MUTTER
Als Anna die ganzen Ereignisse noch einmal Revue passieren ließ, rückte ungewollt das Verhalten ihrer Mutter inden Vordergrund. Sie konnte sich an keine Situation erinnern, in der sich ihre Mutter jemals beklagt oder gar geheult hätte. Anna hatte Schwierigkeiten, ihre Mutter richtig und gerecht einzuschätzen. Sicherlich besaß Mutter stärkere Nerven als Paula. War es aber nicht ein Stück Selbstaufgabe, nur um der Kinder willen? Oder mehr Angst, den Mann sonst ganz zu verlieren? Es lag noch gar nicht so lange zurück, da sprachen beide kurz über die unrühmliche Vergangenheit. Mutter meinte, sie solle sich nicht zu viel Gedanken machen, zwischen Vater und ihr sei alles so weitergelaufen. Auch in intimer Hinsicht hätte es während der Paula-Ära keine Unterbrechung gegeben. Wie auch immer, zumindest vertraute Anna ihrer Mutter noch. Was sie von ihrem Vater nicht mehr behaupten konnte. Wenn sich nur die Gelegenheit bot, ging sie ihm aus dem Weg. Und sie spürte tiefe Beklemmungen, musste sie mit ihm alleine reden.
KEIN RAUSSCHMISS - HILFE
Aber reden musste Anna. Insbesondere in ihrer jetzigen Lage. Sie überwand sich dennoch nicht. zu ihrer Mutter zu gehen. Sie hatte das Gefühl, ihr den Schock ersparen zu müssen, erzählte sie ihr, was sich wirklich in der vergangenen Nacht ereignet hat. Sie wollte ihr nicht weh tun. Das hätte sie ja bereits getan, würde sie ihr offen gestehen, dass sie schon seit längerem das Rauchen angefangen hatte. Deshalb vershwieg Anna ihr auch das. Anders wäre es, bekäme sie plötzlich ein Kind, Da würde Mutter sie nicht rausschmeißen. Sie würde ihr helfen. Ganz sicher. Anna vertraute sich niemanden an. Nicht mehr an diesem Sonntag, sondern während ihres Arrests kritzelte sie zwei kleine Verse in ihr Tagebuch, von denen sie sich Stärke und Klarheit erhoffte, aber nicht bekam.
ANNAS VERS ÜBER ILLUSIONEN
"Was macht es so schwer zu verlieren,
was einem ja doch nicht gehört,
Träume vom und und wollen erhalten,
was längst ist zerstört.
Was macht es so schlimm zu vergessen,
was aus war, bevor es begann,
Träume vom und setzen fort,
was niemals fing an.
Träume gehören in die Nacht,
wie Vampire zerfallen sie bei Tageslicht."
ANNAS ZEILEN ÜBER DIE EINSAMKEIT
Kommunikation, wir stehen nebeneinander
und tun so, als sprächen wir miteinander,
doch im Grunde reden wir aneinander vorbei,
Ich würd diese Wand so gerne durchbrechen
und dir zeigen, was ich fühle."
MELANCHOLIE
Aus dem melancholischen Tief zog sich Anna relativ schnell raus. Ihr Einsamkeitsgefühl dagegen, ihr Eindruck, unverstanden vor sich hinzuleben, und die Ohnmacht , dem anderen nicht vermitteln zu können, was man eigentlich meint, das hielt nach wie vor an. Eine innere Leere, die der gleichförmige Alltag mit seinen fest eingeteilten Zeiten und Abläufen nicht auszufüllen vermochte. Gut, Ablenkungen gab es, aber eben nur Ablenkungen . Anna hatte Ulli schon fast verdrängt oder vergessen, als dieser etwa nach einem halben Jahr in ihrem Blickwinkel wieder auftauchte. Ulli versuchte erst gar nicht, den starken Cliquen-Maxen zu mimen. Sie hatte auch nichts an sich, was ihn dazu hätte ermuntern können. Ganz im Gegenteil: Anna kapierte intuitiv, wie zerbrechlich und haltlos dieser Uli war, wie krampfhaft er sich nach einem ruhende Pol sehnte, an dem er sich auf- und hochrichten konnte, wie krampfhaft er von seiner Schule, seiner Clique und seiner Funkanlage sprach: all das, möglichst in einem Satz untergebracht. Ein Ulli in dieser seelischen Verfassung, das war Annas Stunde.
MINDERWERTIGKEITS-KOMPLEXE
Sie besuchte ihn einfach zu Hause. Oft stand sie zwei Mal in der Woche nachmittags vor seiner Wohnungstür. Manchmal klingelte sie auch vergeblich. Nicht Ulli, sondern Anna war über sich am meisten erstaunt, wie sie ihre Minderwertigkeitskomplexe langsam, aber erfolgreich abtrug. So verbrachten sie Nachmittag für Nachmittag: keine Abende oder Nächte, die Anna zu Hause ein musste. Es waren Gespräche zwischen zwei Heranwachsenden, die keine Kinder mehr sein wollten, auch wenn sie zuweilen noch als solche behandelt wurden, für die aber das Erwachsenendasein etwas Chaotisches verhieß und sie immer wieder in ihren Gedanken und Empfindungen in ihre Kindheit zurückfielen, weil sie diese unaufgeräumt hinterlassen hatten. Eine Unordnung, für die sie nichts konnten, die sie damals auch nicht richtig wahrnahmen und jetzt um so deutlicher nachvollzogen. Es war ein Unbehagen, diese Vergangenheit am liebsten ganz schnell noch vergangener zu machen, sie einfach auszuradieren.
ABLÖSUNG VON DEN ELTERN
Und es waren Gespräche, die offenlegten, dass im wesentlichen daraus ihre Dynamik und Unruhe resultierten, dass der Ablösungsprozess vom Elternhaus dadurch gekennzeichnet was, dass sie beide versucht hatten, auftausenden Erinnerungen möglichst davonzulaufen. Es war aber auch die Erkenntnis, dass diese Freiheit, die sie sich soeben mühevoll erkämpft hatten und nunmehr vorfanden, nicht ihre Freiheit sein konnte. Dass diese Freiheit ihnen nicht weiterhalf, sich selbst zu suchen und ihre Identität zu finden. Eine aufgestülpte, künstliche und vermarktete Freiheit, die keinerlei Spielräume für Antworten und Orientierungen schuf; weder auf das, ws sie getrennt erlebt hatten, noch für das, was Ulli und Anna vielleicht gemeinsam erreichen wolltn. Diese Freiheit überließ einen jeden sich selbst, isoliert und stumm wie eh und je, seinen Ängsten ausgeliefert.
FREIHEIT, DIE SIE MEINEN
Diese Freiheit gönnte keinem eine Atempause, schnelllebige Ereignisse zu begreifen, einzuordnen. Schon war wieder etwas anderes da, auf das man vordergründig reagierte. Mit dieser Freiheit psychisch klar zu komme, hieß für Ulli und Anna zunächst, in der Vergangenheit zu leben, auch wenn man erst 17 Jahre alt ist. Denn in dieser Freiheit kann nur der unbekümmert agieren, der ihre Regeln ohne ein Körnchen Nachdenklichkeit übernimm. Aber dann ist diese frisch erkämpfte Freiheit schon eine tote Freiheit, getragen vom Stumpfsinn und Langeweile.
GEMEINSAM ERLEBTE EINSAMKEIT
So empfanden Ulli und Anna. Eine Gefühlsebene, die sie eng zusammenschmiegelte. Ulli erzählte von seinen Disco-Abenden: "Das war echt monoton, mit irgendwelchen Weibern rumalbern über belanglose Sachen und so. Nach zwei Wochen hat mir das gestunken und ich fing wieder an, Elektronik zu basteln." Anna ergänzte: "Wenn ich in eine Discothek durfte, wurde ich dort immer traurig. Es ist eine gemeinsa erlebte Einsamkeit. Die warten alle darauf, dass irgend etwas passiert, dass sie irgendeinen Kontakt kriegen. Aber es passiert nichts. Keiner fängt an. Dabei tun sie immer so locker, doch in der Beziehung zu anderen tun sich alle unheimlich schwer." - Ängste, Verlustängste.
KAPUTT UND ÜBERDRÜSSIG
Die gemeinsam erlebte Einsamkeit sieht Anna nicht nur in Discotheken. Sie vermutet sie überall dort, wo Jugendliche sich treffen. Anna meint: "Die meisten sind überhaupt nicht mehr motiviert. Die haben keine Lust mehr, die haben ja alles, ihr technisches Spielzeug, Fernseher, Computer, Handy, Laptop, M3 usw. Viele sind so kaputt und überdrüssig von allem." Auch sei es ein ständiges Warten darauf, dass etwas Neues passiert, worauf alle erst wie wild aus sind, um sich schon bald wieder gelangweilt abzuwenden. Anna über ihre Klasse: "Gruppenarbeit und Diskussionen finden viele bescheuert. Die wollen lieber den Frontalunterricht wie früher. Die sagen immer, sie wüssten gar nicht, warum sie eine Begründung abgeben sollen, wenn sie etwas blöde fänden. Soll doch der Lehrer erzählen." Und in der Berufsschule hätten junge Lehrerinnen sogar Angst, verprügelt zu werden. Schulalltag vielerorts.
VATER ALS FEUERWEHR
Laufend würde Annas Vater als Feuerwehr in solche Klassen gerufen. "Die kommen besoffen in die Schule und schlagen sich da die Köpfe ein. Oft wissen sie nicht einmal, warum sie sich keilen. Geht ein Lehrer dazwischen, kriegt der auch gleich eine gewischt. Dann sind da noch Prostituierte, immer zwei oder drei in jeder Klasse, die werden dann schon mit 16 und 17 Jahren schwanger. Kein Lehrer will eigentlich in solche Klassen gehen. Auf den Konferenzen streiten sie sich nicht selten darum, wer das rein muss. Von wegen Disziplinierungsmaßnahmen. Wenn die Zeugnisse kriegen, nehme sie das und schmeißen es zerrissen in den Papierkorb. Das ist ihnen scheißegal, Die Verhältnisse sid einfach katastrophal."
BLA-BLA-BLA - SCHEISS-EGAL
Ulli kann die Aggressionen verstehen. "Die müssen dauernd etwas leistem. Das geht mir auch gegen den Strich. Wir wissen doch gar nicht mehr, wofür wir das machen. Wir stagnieren alle und merken es nicht einmal. Wenn mein Alter mal bei mir vorbeischaut und mir sagt, , dann sage ich dem, nichts muss ich, bla-bla-bla. Der ist nur durch den Krieg was geworden, Stunde Null und so. Sonst wäre der heute nie Oberstleutnant, wen die an solchen Heinis keinen Nachholbedarf gehabt hätten."
SEELISCHER MÜLL
Ohne dass sih Ulli und Anna dessen bewusst waren, sortierten sie ihren seelischen Müll, den se schon über Jahre mit sich herumschleppten. Ulli löste sich auch mehr und mehr von seiner Clique. Äußere Anlässe halfen ihm dabei. Achim, der Bundeswehr-Soldat in Emden mit den Haschsendungedn, hatte einen Selbstmordversuch hinter sich. Robbi lag nach einem selbstverschuldeten Autounfall mit einer Oberschenkelhalsfraktur im Krankenhaus und Gisela sagte dem Gymnasium gerade geräuschlos ade. Aber noch etwa anderes kam hinzu. Ulli hatte sich eingestehen müssen, dass ihn die regelmäßige Sauferei kaputtmachte - noch nicht einmal so sehr körperlich, vielmehr seelisch. Seine Depressionsschübe kamen jedenfalls in immer kürzeren Abständen. Auch bereitete es ihm Mühe, sich aus seinem Tran-Zustand wachzurütteln. "Erst vier Monate vor dem Abi wurde mir klar, dass ich demnächst gar nicht mehr zur Schule gehe. Da fing bei mir die Motorik zu laufen an." Vielleicht war es auch seine Furcht, in einer jugendlichen Halbwelt zu versacken und irgendwann nicht mer die erforderlichn Reserven mobilisieren zu können, um sich daraus zu befreien. Ulli berichtete Anna in allen Einzelheiten, was er und die Clique auf ihren Touren schon alles erlebt hatte.
LIEFERWAGEN ALS PUFF
Eine Clique, die wochentags in Aachen Hasch verhökert, gerät schnell in ein Milieu, in dem Gesetzmäßigkeiten herrschen, die sich kaum von der Unterwelt unterscheiden. In Aachen-Kronenberg, einer Satelliten-Vorstadt, gibt es keine Puffstraße und keine illuminierte Geschäftigkeit. Da steht irgendwo an irgendeiner Ecke ein Lieferwagen. Passanten, die da vorbeigehen, können nicht wissen, dass der VW-Bus oder Ford-Transit mit Matratzen polsterweich ausstaffiert ist. Sie können auch nicht ahnen, dass es 13 oder 14jährige Schülerinnen sind, die sich darin verdingen, nachdem sie ihre Freier auf der Straße oder in der Kneipe aufgegabelt haben.
Ulli lernte damals eine 13jährige Angela kennen, die im herumhing. Keiner hätte im Lokal vermutet, dass Angela noch so jung war. Sie hatte schon die vielleicht unfreiwillige Reife einer 23jährigen. Sie wollte Hasch, konnte es aber nicht bezahle. Ulli ist mit ihr gegangen, bis er drei Kreuzungen weiter vor einem Lieferwagen mi Kölner Kennzeichen stand. Für einen wollte Angela mit ihm m Laderaum "abbumsen gehen", sich "kurz durchvögeln lassen", wie sie es nannte. "Der Lieferwagen-Trick", meinte Ulli, "ist eine todsichere Sache. Die MEK, ein mobiles Einsatzkommando, sozusagen. Die Mädchen sparen viel Zeit, verdienen dabei, die Zuhälter natürlich noch mehr, und alle werden kaum geschnappt. Das ist doch viel risikoloser, als wenn sie in Aachen in der Promenadenstraße stehen, gleich hinter C & A, und von der Polizei erwischt werden."
BABYSTRICH DRÜCKT PREISE
Wenn Ulli der Anna so erzählte, dann hielt sie seine Darstellung schon für glaubwürdig. Auch sie hatte schon einiges in der Schule gehört. Was sie ein wenig störtem war seine schnörkellose Routine. Etwa wenn er ihr die Philosophie des Babystrichs verklickerte: "Die ganzen Babystriche sind nur für einen geraume Zeit ertragreich, weil die Professionellen dagegen kämpfen. Denn der Babystrich drückt die Preise. Aber die 14- bis 16jährigen Mädchen sind schon nach zwei Jahren verbraucht. richtig ausgeluscht, die sind null und haben für den Zuhälter keinen Gebrauchswert mehr. Allein dadurch, dass sie forciert worden sind, diesen Job zu machen, quasi von der Schulbank runter. Denn viele wollen lieber etwas Junges als was Älteres. Wer zwei oder drei Jahre auf dem Babystrich war", glaubt Ulli , "der hat keinen Willen mehr. Der verschwindet in einem der üblichen Bordelle oder kippt nach Marokko in Alis Bettenlager runter."
JUNG-ZUHÄLTER AUS KÖLN
In der Puff-Gegen von Köln, da sind sie mal mit Robbi einige Wochen regelmäßig hingefahren. Da haben Robbi , Andy den Larry gespielt und so getan, als seien sie die Jung-Zuhälter aus der Provinz. Verhandelt haben sie auch, in einer Kaschemme am Billardtisch, beim Kugelstoßen und Picolotrinken. Der eine Lude, so um die 25 muss er gewesen sein, stellte sich als Migo vor und hatte offenkundiges Interesse. Nachschub aus den Dörfern und Kleinstädten zu bekommen. Robbi trat in solchen nicht ungefährlichen Gesprächen immer am abgeklärtesten auf, so als habe er in seiner Region vierzehn Vierzehnjährige laufen, von denen er alsbald drei "in Pension" schicken müsse. Erst als der Migo "Ware für die Beschauung und Besamung" sehen wollte, mied die Clique das Puff-Revier zu Köln - Todestypen nannten sich Robbi und Co. zu jener Zeit.
SCHIZOPHRENES LEBEN
Aber all das ist inzwischen für Ulli Vergangenheit. "Ich führte ein schizophrenes Leben. Ich suchte Action, dann bastelte ich wieder an meiner Elektronik, und in Wirklichkeit brauchte ich jemanden, mit dem ich mich richtig unterhalten konnte." Pendelschläge von einem extremen Punkt zum anderen. Früher gab ihm die "Action-Macker-Phase" Halt, heute ist es Anna. Nach zweijähriger Freundschaft spricht Ulli schon von einer "praktischen Ehe, die wir führen". Anna ist für ihn zum Programm geworden. Kaum ein Satz, den er ausspricht, in dem Anna nicht vorkäme. Dabei beurteilen beide ihre Zukunft so ziemlich konträr.
KÜHLSCHRÄNKE FÜR ESKIMOS
Anna ist davon überzeugt, dass es in der Bundesrepublik im nächsten Jahrzehnt zum "großen Knall" kommt. "Es flippen immer mehr Menschen aus - und nicht nur Jugendliche. Ich frag mich manchmal, was für wen eigentlich da ist. Sind die Maschinen , Computer für uns da, damit unser Leben leichter wird, oder sind wir nur noch da, dass die Maschinen laufen, Profite um Profite ? Aber die werden auch noch Kühlschränke zu den Eskimos transportieren." Weil alles so ungewiss ist, will Anna auch keine Kinder haben; selbs von Ulli nicht, der das gerne möchte. Er sagt dann meistens: "Zum großen Knall kann es schon allein deshalb nicht kommen, weil alle dazu erzogen worden sind, gar keinen großen Knall zu machen."
GLEICHGÜLTIGKEIT
Ulli und Anna schimpfen nicht auf die Gesellschaft, auf Parteien oder Verbände, Die sind ihnen fast gleichgültig. Sie äußern lediglich Empfindunen. Es ist so schwer, überhaupt einen Sinn in dem Ganzen zu sehen. Und sie beruhigen sich mit der Feststellung: "Irgendeinen Sinn wird das doch alles schon haben."
AKKORDFRITZE AM FLIESSBAND
Vielleicht wird Ulli mal ein guter Taxifahrer oder auch ein Akkordfritze am Fließband, vielleicht wird er es schaffen, als Geographielehrer vor einer Klasse zu stehen, was sein Berufsziel ist. Er weiß es nicht, denn seine Schulnoten sind zu schlecht, und genügend Lehrer gibt es allemal. So schiebt Ulli mit seiner Anna die Ungewissheit vor sich her. Am liebsten verkriechen sich die beiden unter der Bettdecke und schmusen, laufen durch die Wälder, schauen Filme oder versinken in Büchern. Ungeachtet, was auf sie noch zurollt, an einem wollen Ulli und Anna bedingungslos festhalten - an ihrer Heirat: "Aber erst muss Anna noch ihr Abi machen, und bis dahin vergeht noch ein ganzes Jahr."
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