--------------------------
Süddeutsche Zeitung
vom 8. Oktober 1980
von Robert Hess
---- -------------------
"Werde, was Du bist", befahl vor 70 Jahren Georg Simmel der Jugend des Expressionismus. Leben und Bewegung, letztlich die subjektive Erfahrung, wurden Grundkategorien der Philosophie. Simmel glaubte, dass im 20. Jahrhundert die "mechanische Bewegung" durch das "Leben" abgelöst werde. Heute gibt es einen neuen Begriff, der aber wieder nur einem Mythos zustrebt: Aussteiger. Oltmanns sagt, die "Aussteiger" stehen erst am Anfang, ihre Bewegung schlage stärker durch als die vergangene politische Revolte. Diese jungen Leute seien im Gegenteil die "Einsteiger"; sie fingen an, Lebensweisen zu bilden, die für immer mehr Menschen zur ernstzunehmenden Möglichkeit werden. Recht auf Leben!
"... ihre ahnenden Augen sahen bereits als Ruinen eine wesenslos aufgedunsene
Kultur und eine ganz auf dem Mechanismus und Konventionellen aufgetürmte Menschheitsordnung", schrieb Kurt Pinthus 1920 in seinem Vorwort zur Anthologie "Menschheitsdämmerung". Das Getriebensein, das "Gären ohne Richtung" (Döblin) dieser jungen Generation kreiste um neue Zentralbegriffe: Mensch, Bruder, Welt, Gemeinschaft. Es gab noch kaum Landkommunen und Stadtinitiativen. "Wenn eine Bewegung viel getan hat, hat sie archäologisch gewirkt: sie hat eine Verschüttung beiseitigt", erkannte Alfred Döblin, der über die damalige Alternativ-Szene schrieb: "Die Bewegung ist mit einer Egge zu vergleichen, die den Boden aufreißt, das heißt, sie befruchtet nicht ... Die Bewegung revidiert, bietet mutig Ladenhüter an. Daher die Rückwärtsentdeckung ... Ein Heilungsprozess , der zu einer neuen Gesundheit führt. Es gibt noch Gesunde. Ein Wachstumsprozess. Er geht Erwachsene nichts an. Eine Epidemie. Unbeschadet, daß manche schon aus den Masern heraus sind."
DÄMONISCHE GESTALTEN - FREAKS - SPONTIS
Größenwahnsinnige" und "dämonische Gestalten" damals, Freaks, Alternative, Spontis und Linksradikale heute. Beide Bewegungen erweiterten das Selbstverständnis des Menschen, indem sie das Fühlen, das eigene körperliche Leben und neue Formen des Zusammenlebens, des Naturerlebens tiefer erschlossen.
Oltmanns meint, dass in weiten Kreisen der Jugend keine "Entpolitisierung" stattgefunden hat, sondern nur ein Szenenwechsel: heraus aus dem Universitätsmilieu und hinein in die Stadtteile. Vorläufer der Alternativ-Bewegung seien die Hippies und zum Beispiel die Westberliner Kommune I. Damit soll gesagt werden: Die Alternativen sind nichts Neues und sie gehen auch nicht wie eine Modewelle wieder vorüber.
Oltmanns berichtet von Gruppen und Cliquen, die nicht repräsentativ sind, auch gar progressiv, berichtet von einer "harten Szene", die stolz macht und abhärtet, von emotionalen Chaos und vom Fehlen des verfluchten Geldes. Es sind keine Vorbilder, die da auf einem neuen Weg sind, es sind solche, die ihn gehen, sie gehören zur Vorhut. Und der Intellektuelle Oltmanns mit der verkaufbaren Schreibe, die er in zwei stern-Büchern vorzeigte ("SOS-Freiheit in Deutschland" und "Die Würde des Menschen - Folter in unserer Zeit"), dieser Journalist ist ein Jahr lang mit eingestiegen bei den Alternativen, war dabei, hat mitgedacht, mitgelebt - und auf Tonband mitgeschnitten (aber nicht hopp hopp hopp, hier bin ich und Tonband aufgestellt).
KEIN ZURÜCK IN DIE BÜRGERLICHE WELT
Fünf Stationen hat er 1979 durch die Republik ziehend miterlebt. Dabei schaute er weniger danach, was aus der Utopie dieser Leute geworden war, sondern suchte zu verstehen, warum sie auf einen anderen Weg gegangen sind, was sie dort hält und was ihnen den Weg zurück verstellt. Zurück ist kein Weg für die meisten. Sie sagen sich: Lieber in der alternativen Szene in der Scheiße sitzen als in der bürgerlichen Gesellschaft.
Zwei Teile hat das Buch: Im ersten wird resümiert und aufgerechnet: Blickwinkel diagnostisch. Stil: Plakativ, grob und plausibel in den Schlüssen. So kommt er noch auf die plastischen Überschriften "Der Sozialstaat entläßt seine Kinder" und "Der Kalte Krieg im Inneren", aber im zweiten Teil, der fünf Reportagen enthält, sind Schlagworte und anschauliche Schreibweise weg. Einer, der ein Jahr miterlebt hat, weiß , dass sie nicht taugen. Jetzt beginnt der Buch sich zu öffnen, es fasziniert mit Blicken in Personen und Gruppen. Oltmanns gelingt es ziemlich gut, die Perspektive der Leute beizubehalten, über die er schreibt. Die Schilderung wird stimmig.
SELBST TEIL DER GRUPPE
Die Mittel seiner Schilderung sind ebenso ungewöhnlich wie es selten ist, dass einer ein Jahr lang für fünf Storys recherchiert. Oltmanns fragt Motive nach, das heißt: Gefühle bei Entschlüssen, Konstellationen. Und er lässt die Personen lange schildern, hört zu und denkt sich hinein. Das ist keine konventionelle Interviewsituation. Im Buch führt das zu mehren Stellen mit inneren Monologen aus der Sicht der erzählenden Person, verfasst aber vom Autor und deshalb ohne Anführungsstriche.
Oltmanns vermeidet das Schreiben in der "Ich"-Person. Lebt der Reporter zwischen den Menschen, gleichberechtigt mit ihnen, dann ist die "Ich"-Person Beschränkung, dann ist man selbst Teil der Gruppe, ist man eine Person wie jeder und hat keinen Grund mehr, seine Position mit "ich" anzudeuten. Eher ist es möglich, sich einen Namen zu geben und im Beziehungsgeflecht der Gruppe sich zu beobachten und auch zu schildern.
Dialoge werden an vielen Stellen original abgedruckt. Als Teil der Reportage. Wie in einem Roman, nur dass hier die Wirklichkeit redet. Der längste Dialogeinschub geht von Seite 203 bis 213. Auffallend wenig interessiert sich der Autor für die Ursachen, für Gründe nd psychologische Verstrickungen. Knapp und nüchtern schildert er bloß, wer Vater und Mutter waren und wie es in der Heimat aussah. Dann springt die Schilderung jedesmal wieder in die Spannung der Aktualität. Wie sich die Personen auseinandersetzen, welche Dinge sie austragen. Darin liegt das hauptsächliche Reporterinteresse von Reimar Oltmanns.
Der Autor fühlt auch etwas mit sich passieren. Ihm ist das widerfahren, was einer vergleichsweise erlebt, der sich zum Studieren, Lernen oder intensiven Beschäftigen/Genießen an einen nicht vertrauten (wenn auch vertraulichen) Ort, sei es ins Ausland, sei es in eine fremde Landschaft, zurückzieht. Denn werden die Gedanken andere, die Konzentrationsphasen und die Erkenntnisse tiefer.
"... ihre ahnenden Augen sahen bereits als Ruinen eine wesenslos aufgedunsene
Kultur und eine ganz auf dem Mechanismus und Konventionellen aufgetürmte Menschheitsordnung", schrieb Kurt Pinthus 1920 in seinem Vorwort zur Anthologie "Menschheitsdämmerung". Das Getriebensein, das "Gären ohne Richtung" (Döblin) dieser jungen Generation kreiste um neue Zentralbegriffe: Mensch, Bruder, Welt, Gemeinschaft. Es gab noch kaum Landkommunen und Stadtinitiativen. "Wenn eine Bewegung viel getan hat, hat sie archäologisch gewirkt: sie hat eine Verschüttung beiseitigt", erkannte Alfred Döblin, der über die damalige Alternativ-Szene schrieb: "Die Bewegung ist mit einer Egge zu vergleichen, die den Boden aufreißt, das heißt, sie befruchtet nicht ... Die Bewegung revidiert, bietet mutig Ladenhüter an. Daher die Rückwärtsentdeckung ... Ein Heilungsprozess , der zu einer neuen Gesundheit führt. Es gibt noch Gesunde. Ein Wachstumsprozess. Er geht Erwachsene nichts an. Eine Epidemie. Unbeschadet, daß manche schon aus den Masern heraus sind."
DÄMONISCHE GESTALTEN - FREAKS - SPONTIS
Größenwahnsinnige" und "dämonische Gestalten" damals, Freaks, Alternative, Spontis und Linksradikale heute. Beide Bewegungen erweiterten das Selbstverständnis des Menschen, indem sie das Fühlen, das eigene körperliche Leben und neue Formen des Zusammenlebens, des Naturerlebens tiefer erschlossen.
Oltmanns meint, dass in weiten Kreisen der Jugend keine "Entpolitisierung" stattgefunden hat, sondern nur ein Szenenwechsel: heraus aus dem Universitätsmilieu und hinein in die Stadtteile. Vorläufer der Alternativ-Bewegung seien die Hippies und zum Beispiel die Westberliner Kommune I. Damit soll gesagt werden: Die Alternativen sind nichts Neues und sie gehen auch nicht wie eine Modewelle wieder vorüber.
Oltmanns berichtet von Gruppen und Cliquen, die nicht repräsentativ sind, auch gar progressiv, berichtet von einer "harten Szene", die stolz macht und abhärtet, von emotionalen Chaos und vom Fehlen des verfluchten Geldes. Es sind keine Vorbilder, die da auf einem neuen Weg sind, es sind solche, die ihn gehen, sie gehören zur Vorhut. Und der Intellektuelle Oltmanns mit der verkaufbaren Schreibe, die er in zwei stern-Büchern vorzeigte ("SOS-Freiheit in Deutschland" und "Die Würde des Menschen - Folter in unserer Zeit"), dieser Journalist ist ein Jahr lang mit eingestiegen bei den Alternativen, war dabei, hat mitgedacht, mitgelebt - und auf Tonband mitgeschnitten (aber nicht hopp hopp hopp, hier bin ich und Tonband aufgestellt).
KEIN ZURÜCK IN DIE BÜRGERLICHE WELT
Fünf Stationen hat er 1979 durch die Republik ziehend miterlebt. Dabei schaute er weniger danach, was aus der Utopie dieser Leute geworden war, sondern suchte zu verstehen, warum sie auf einen anderen Weg gegangen sind, was sie dort hält und was ihnen den Weg zurück verstellt. Zurück ist kein Weg für die meisten. Sie sagen sich: Lieber in der alternativen Szene in der Scheiße sitzen als in der bürgerlichen Gesellschaft.
Zwei Teile hat das Buch: Im ersten wird resümiert und aufgerechnet: Blickwinkel diagnostisch. Stil: Plakativ, grob und plausibel in den Schlüssen. So kommt er noch auf die plastischen Überschriften "Der Sozialstaat entläßt seine Kinder" und "Der Kalte Krieg im Inneren", aber im zweiten Teil, der fünf Reportagen enthält, sind Schlagworte und anschauliche Schreibweise weg. Einer, der ein Jahr miterlebt hat, weiß , dass sie nicht taugen. Jetzt beginnt der Buch sich zu öffnen, es fasziniert mit Blicken in Personen und Gruppen. Oltmanns gelingt es ziemlich gut, die Perspektive der Leute beizubehalten, über die er schreibt. Die Schilderung wird stimmig.
SELBST TEIL DER GRUPPE
Die Mittel seiner Schilderung sind ebenso ungewöhnlich wie es selten ist, dass einer ein Jahr lang für fünf Storys recherchiert. Oltmanns fragt Motive nach, das heißt: Gefühle bei Entschlüssen, Konstellationen. Und er lässt die Personen lange schildern, hört zu und denkt sich hinein. Das ist keine konventionelle Interviewsituation. Im Buch führt das zu mehren Stellen mit inneren Monologen aus der Sicht der erzählenden Person, verfasst aber vom Autor und deshalb ohne Anführungsstriche.
Oltmanns vermeidet das Schreiben in der "Ich"-Person. Lebt der Reporter zwischen den Menschen, gleichberechtigt mit ihnen, dann ist die "Ich"-Person Beschränkung, dann ist man selbst Teil der Gruppe, ist man eine Person wie jeder und hat keinen Grund mehr, seine Position mit "ich" anzudeuten. Eher ist es möglich, sich einen Namen zu geben und im Beziehungsgeflecht der Gruppe sich zu beobachten und auch zu schildern.
Dialoge werden an vielen Stellen original abgedruckt. Als Teil der Reportage. Wie in einem Roman, nur dass hier die Wirklichkeit redet. Der längste Dialogeinschub geht von Seite 203 bis 213. Auffallend wenig interessiert sich der Autor für die Ursachen, für Gründe nd psychologische Verstrickungen. Knapp und nüchtern schildert er bloß, wer Vater und Mutter waren und wie es in der Heimat aussah. Dann springt die Schilderung jedesmal wieder in die Spannung der Aktualität. Wie sich die Personen auseinandersetzen, welche Dinge sie austragen. Darin liegt das hauptsächliche Reporterinteresse von Reimar Oltmanns.
Der Autor fühlt auch etwas mit sich passieren. Ihm ist das widerfahren, was einer vergleichsweise erlebt, der sich zum Studieren, Lernen oder intensiven Beschäftigen/Genießen an einen nicht vertrauten (wenn auch vertraulichen) Ort, sei es ins Ausland, sei es in eine fremde Landschaft, zurückzieht. Denn werden die Gedanken andere, die Konzentrationsphasen und die Erkenntnisse tiefer.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen