Ärger mit Peter von Oertzen (*1923 + 2008) - Ein politisches Profil, das immer in einer Außenseiter-Rolle war.
DIE ZEIT
vom 30. Juni 1972
von Ulrich Eggert
Die Lage schien ernst, "Ministerpräsident Alfred Kubel (*1909+1990) wollte seinen profiliertesten Mitarbeiter, Kultusminister Peter von Oertzen (*1924+2008) aus dem Kabinett feuern", schrieb Reimar Oltmanns, einst Pressesprecher im niedersächsischen Kultusministerium, im stern über seinen früheren Chef. Bruderzwist im Leineschloss, dem Sitz des niedersächsischen Landesparlamentes?
"Alles Quatsch", kommentierte Regierungschef Kubel. In dessen lag ein Körnchen Wahrheit in Oltmanns "Prügel für den Musterschüler". Ausgelöst durch die Affäre Seifert (siehe DIE ZEIT Nr. 23/72 "Narrenfreiheit") offenbarte sich ein alter Gegensatz zwischen Regierungschef Kubel und Parteichef von Oertzen. Während der Pragmatiker Kubel wenig Sinn in zeitraubenden Diskussionen sieht, grübelt der Professor der Politologie gern über den theoretischen Unterbau seines praktischen Handelns, zuletzt über das Rätesystem, das er verfassungsrechtlich für denkbar hält, politisch aber ablehnt.
HERKUNFT UND LAUFBAHN
Der Gegensatz zwischen den beiden niedersächsischen Spitzenpolitikern beruht nicht nur auf differen-zierenden Persönlichkeitsbildern. Er muss auch von Herkunft und Laufbahn aus gesehen werden. Dem 63 Jahre alten Industriekaufmann Kubel, der nach dem Mittelschulbesuch eine Drogistenlehre absolvierte, wurde das Gesetz des Handelns stets aufgezwungen. Seine politische Aktivität gegen den Nationalsozialis-mus bezahlte er während der Zeit des Dritten Reiches mit Verfolgung und Haft. Nach 1945 begann er mit Gleichgesinnten den Aufbau eines demokratischen Staates. Nach Gründung des Landes Niedersachsen im Jahre 1946 war er in fast allen Ressorts als Minister tätig. Seine Gabe, sich auf das Wesentliche konzen-trieren zu können, ließen ihn alsbald zum Fachmann für Agrarprobleme, Gesundheitsfragen oder Finanzstruk-turen werden. Dass er dabei mit der Zeit langsamer Denkenden gegenüber unduldsam wurde, trug ihn den Spitznamen "Landesschulmeister" ein.
SCHARFER ANALYTIKER
Peter von Oertzen, Jahrgang 1924. wuchs in Berlin auf, studierte in Göttingen und wurde 1963 ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule Hannover. Der scharfe Analytiker ist - so Oppositionsführer Wilfried Hasselmann (*1924+2003) - im nieder-sächsischen Landtag "in seiner Partei eigentlich immer ein Außenseiter gewesen". Der "rote Baron" hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er politisch links von der SPD-Mitte steht und Gruppierungen bevorzugt, die Reformen vorantreiben.
Kubels unterkühltem Charme setzt er ein bisweilen ungezügeltes Temperament entgegen, das ihn im Leineschloss die Opposition als "Lumpenpack" apostro-phieren ließ. Opportunismus ist ihm in jeder Form fremd. So reagierte er auf Vorwürfe, ausgerechnet vor den Landtagswahlen in Niedersachsen das jugo-slawische Modell der Arbeiterselbstverwaltung als diskussionswert bezeichnet zu haben, mit der Fest-stellung: "Meine Meinung ändert sich auch vor Wahlen nicht." Der bärtige Chef des Kulturressorts bietet wegen seines stets gradlinigen Denkens und Handelns viele Angriffsflächen. Die CDU in Niedersachsen hat ihn deshalb als "Buhmann" aufgebaut. In der vergangenen Woche versuchte sie, einen Keil zwischen Kubel und von Oertzen zu treiben. Hasselmann: "Wir haben den Ein-druck, als ob der Kultusminister an das Verfahren gegen Seifert nicht mit dem Verfassungsverständnis des Ministerpräsidenten herangegangen ist."
Kubel, den die Einstellung des Disziplinarverfahrens gegen Jürgen Seifert (*1928+2005) in der Tat gewaltig erbost hat, wiegelt ab: "Unterstellen wir, dass Herr Professor von Oertzen ein stärkeres Gewicht auf die Bedeutung individueller Freiheit legt, auf die Bedeu-tung der Meinungsfreiheit - er hat es selber sehr betont - und unterstellen wir, dass der Kubel ein höheres Maß an Ordnung für nötig hält, um ein hohes Maß an indivi-dueller Freiheit durch solche Ordnung zu schützen ... ... wäre es dann denn gar so undenkbar, dass es unseren Bürgern nützlich ist, wenn diese beiden Überzeu-gungen am selben Tisch sitzend, sich gegenseitig kontrollieren, dafür sorgen, dass vielleicht keine übertrieben wirken kann?"
Kubel forderte die christlich-demokratische Opposition auf, "realistisch jede Hoffnung fahren zu lassen, dass durch Meinungsverschiedenheiten, die nicht die Grund-überzeugung unserer Politik erfassen, jemals eine Spaltung unter uns eintreten kann".
Besser hätte e auch der Politologie von Oertzen nicht formulieren können, der in zweijähriger Regierungs-verantwortung an seinen Aufgaben gewachsen ist. Kubel kann kaum auf ihn verzichten. Er will es auch nicht.
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