Samstag, 20. April 1996

Schmausen und Trinken wie Gott in Frankreich

















In der oft belächelten Provinz stemmen sich lieb gewordene Lebensgewohnheiten und Mentalitäten gegen schrille Zeitläufte des fast food aus Tiefkühltruhen dieser Jahre. Über gesunde Nahrung, Geschmackslüste und den kulinarischen Selbstbehauptungswillen im Département Ain, seinen Fischteichen, Ge- müsemärkten, Restaurants. Stimmungs- momente aus dem Land der feinen Küche zwischen Gourmets und Gourmands der Haute Cuisine.

die tageszeitung, Berlin
vom 20. April 1996
von Reimar Oltmanns

Hell schlagen die Turmuhrglocken der Kirche Notre Dame zu Bourg-en-Bresse. Für Momente liefern Silhouetten noch den Augenschein eines gemächlichen, romantisch verklärten Frankreichs inmitten unbe- achteter Regionen. Jahr für Jahr mit Beginn der Frühlingszeit schieben sich Autokolonnen auf ihren eiligen Reisen gen Süden vorbei am französischen Département Ain im Dreieck zwischen Genf, dem Städtchen Macon und Lyon. Eine intakte Natur in abwechselungsreicher Landschaft mit Wiesen, Wäldern, Bächen, Teichen und Seen - sie bleibt schnurstraks, irgendwie vergessen, am Wegerand liegen.

IM RESTAURANT "LES FRANÇAIS"

Beschaulich döst die pittoreske Altstadt von Bourg-en-Bresse mit ihrem penibel restaurierten Fachwerk und den verborgenen Innenhöfen aus dem 16. Jahrhundert vor sich hin. Am Ende der Avenue der 43.000 Ein- wohner zählenden Kleinstadt schält Monsieur Roland, Kellner im Restaurant "Le Français" aus dem Eis. Sie gilt es zum berühmten Huhn zu servieren - zum Poulet de Bresse à la crème et aux morilles, mit Morcheln und Sahnesauce, versteht sich. Mittagszeit. Hier, im Départe- ment Ain, ist noch das alte, stille, über Jahrhunderte gewachsene, tiefe und ländliche Frank-eich zu Hause, seine Esskultur ohnehin.

Vis-à-vis im Café du Commerce lebt nicht nur die oft belächelte Provinz auf, da stemmen sich lieb gewordene Lebensgewohnheiten, Mentalitäten und Ansichten gegen schrille Zeitläufte unserer Jahre - noch. Eben ein aussterbendes Frankreich der Bistros, von denen jähr- lich im ganzen Land 6.000 verschwinden - um die sechzehn pro Tag. Hier im Café du Commerce zu Bourg-en-Bresse treffen sich noch die Männer mit ihrer Gau- loise im Mundwinkel und dem Baguette unterm Arm. Wie selbstverständlich werden sie vom Patron Jacques in traditioneller Berufskluft mit weißem Hemd und schwarzer Schürze bedient. Schenkt Patron Jacques das Rotweinglas randvoll ein - un petit rouge für Alain, wie gewöhnlich.

SALON FRANZÖSISCHER LEBENSART

Das Bistro-Leben war seit jeher der klassenlose Salon, in dem sich die französische Lebensart vital in Szene setzt. Gelächter vielerorts, Palaver über die Unfähigkeit der Regierung überall, Expertisen zu Pferderennen inbe- griffen; laut und kontaktnah allemal. Aber nicht nur in Frankreich brechen lieb gewordene Eigenheiten jäh zusammen. Ganz nach dem Motto: "den Alten ihr Bistro und Restaurant, den Jungen ihr Fast-Food-Laden McDonald's", sortiert sich die Gesellschaft auffallend an ihren gastronomischen Schauplätzen. "Früher brachten die Amerikaner uns das Kaugummilutschen bei", froh-lockt der Bürgermeister von Bourg, Paul Morin, "heute essen wir sogar schon in Frankreich industriell - wie chemisch gefertigt aus Plastiktüten." Bedächtigen Schrittes weihte Morin den dreihundertfünfzehnten Macdo der Republik ein; sie beschäftigen insgesamt 34.000 Teilzeitkräfte bei einem Jahresumsatz von 760 Millionen Euro. Weltweit soll auf Geheiß des Unter- nehmens künftig alle sechs Stunden ein neues Schnell- restaurant eröffnen.

Verständlich, dass in Frankreich, im Land der feinen Küche und großen Köche, die Gourmets und Gour- mands für ihre Haute Cuisine eng zusammenrücken. Und das vor allem in einer Region, die Essen und Trinken für den ältesten Kulturbeitrag der Menschheit schlechthin hält. In diesem Landstrich liefern 600 Klein- und Mittelbetriebe jährlich 1,5 Millionen hochwertige volailles de Bresse. Jenes schneeweiße Luxusgeflügel ist hier zu Hause, wo jedem Huhn nach einem Gesetz vom 1. August 1957 eine Mindestfläche von zehn Quadrat- metern, eine Lebensdauer von vier Monaten in voller Freiheit und natürliche Nahrung zu garantieren sind. Zudem ist es weltweit das einzige Geflügel mit dem Siegel der Appellation d'Origine Controlée (AOC) - der kontrollierten Herkunftsbezeichnung also. Ob Hühner oder auch Truthähne - sie führen zwar nur ein kurzes, aber wohl glückliches Leben. Nur die ersten und letzten vierzehn Tage bleiben sie eingesperrt, sonst scharren sie im weitläufigen Gelände der Bresse.

HEIMAT DES KARPFENS

Das Département Ain ist aber auch die Heimat des Karpfens, der sich in vielen Jahr hundert Teichen in den angrenzenden Dombes üppig züchten lässt. Unbe- stimmt verlieren sich die Blicke in dieser angrenzenden Sumpfgegend - nur das Wasser und hier wie dort ein kleines, schmuckes Dorf im Visier. Exakt 1.000 Seen auf 10.000 Hektar ermöglichen einen jährlichen Karpfen- ertrag von nahezu 2.000 Tonnen. Die Dombes ist Frankreichs erster Platz in der Teichfischproduktion. Nur - die essende Gesellschaft verabschiedet sich zunehmend vom natürlichen Mahl - wissenschaftlich-künstlich und chemisch-sensorisch kombinierte Industrieprodukte scheinen gefragter denn je.

GESCHMACKS-AUSBILDUNG

Frühlingstage im Département Ain - das sind gleichsam Wochen des kulinarischen Selbstbehauptungswillens. Einmal wöchentlich schaut Meisterkoch Jean-Pierre Bouvier nach Schulschluss im Café du Commerce auf einen Aperitif vorbei. In rankreich zählt die Geschmacks- ausbildung in den Grundschulen längst zum Unterricht. Und der maître cuisinier Jean-Piere Bouvier aus Villars-Les-Dombes gehört zu den 600 Köchen, die Kindern erstmals Geschmacksnuancen einschärfen wollen. "Die können doch eine frische Ananas von einer Dosenfrucht nicht mehr unterscheiden, alles nur die Gurgel hinunter- befördern, ohne Sinn und Verstand", urteilt Monsieur Bouvier. "Doch nur wer schmeckt, differenziert, kann wählen, auswählen, will nicht alles schlucken. Im Ge- schmack spiegelt sich Zivilisation wider."

FRISCHE NATURPRODUKTE

Als Meisterkoch bevorzugt der 48jährige Jean-Pierre Bouvier sein Leben auf dem Lande. Hier kann er mit seinem Sohn Grégory - auch er ist ein junger cuisinier - frische Naturprodukte auf den heimatlichen Märkten begutachten, den gerade gefangenen Karpfen sogleich bestellen. Abends im Restaurant von Jean-Pierre Bouvier in Villar-les-Dombes - zumindest hier leben noch alte Sitten und bedächtige Rituale fort. Hier wie dort, vor Jahrzehnten im Département Ain, begrüßt Madame Bouvier die Gäste, führt sie zu ihrem eigens reservierten Platz und fragt nach ihrem Befinden. Während Madame den Aperitif als Appetitanreger reichen lässt, tranchiert ihr Mann in der Küche den vor zwei Stunden gefangenen Karpfen. Sohn Grégory bereitet als Dessert frische Himbeeren zu. Er sagt: "Ich weiß auch nicht warum, aber die Menschen sind plötzlich närrisch danach" - Frankreich im Frühling alter Esskulturen.

Im Mekka der Düfte - Grasse mon amour




































Die Orgie mittelalterlichen Gestanks setzte Gott den Duft entgegen. Er ließ das proven-zalische Grasse entstehen, das mit seinen 23 Riechfabriken zur Weltmetropole des Parfums wurde.


die tageszeitung, Berlin
vom 20. April 1996
von Reimar Oltmanns

Der Blick aus der Ferne auf das südfranzösische Städtchen Grasse streift grau rote Dächer und weiße Glockentürme, geht über kleine Täler hinunter zum blauen Saum der Côte d'Azur, über Orangenbäume und Pflanzenkulturen, Brunnen und Plantanen. Ein Genuss surrealistischer Momente. Wechselnde Duftschwaden aus Magnolien, Rosen, Seidelbast, Veilchen, Mimosen und Lavendel begleiten die Reisenden bis in die einstige Weltmetropole des Parfüms.

DER REICHEN AM IMMERGLEICHEN

Mehr als eine halbe Millionen Besucher zählt die Stadt. Und es werden Jahr für Jahr immer mehr Menschen, die assoziative Sehnsüchte ihrer Sinne im Hier und Jetzt erleben wollen. Unmerklich ist Grasse zu einem Parfümtempel geworden. "Stellen Sie sich vor", sagt der Bürgermeister Hervé de Fontmichel, "viel ist von der Wirtschaftskrise, dem sozialen Druck, schließlich vom Überdruss der Reichen am Immergleichen die Rede. Aber wir hier in Grasse mit unseren 40.000 Einwohnern verzeichnen die größte Zuwachsrate an Jugendlichen, haben den höchsten Umsatz im Lande und die höchste Exportrate. Wir sind hier durch die Bank au parfum" (auf dem laufenden).

ES STANK, STANK UND STANK ... ...

Unaufdringlich signalisiert Grasse heitere Offenheit, eben ein Flair vom Leben mit einem Quäntchen Unbe- kümmertheit. Auf dem Place du Cours in Grasse - dort, wo die Busse einzuparken haben - steht Hostess Mireille mit einem Köfferchen. Vornehmlich an die deutschen Busfahrer hat die 23jährige Germanistik-Studentin Tonbandkassetten oder CDs auszuhändigen. So will es eine neuerliche Touristik-regie, die es vor dem Ausstieg abzuspielen gilt. Vor dem Singen ist die Besinnung gefragt. Aus nahezu allen Bus-Recordern oder auch CD-Playern tönt es frei nach Patrick Süskinds Roman "Das Parfüm" unisono: "Es stanken die Flüsse, es stanken die Plätze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brücken und in den Palästen. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die Meisterfrau. es stank der gesamte Adel, ja sogar der König stank, wie ein Raubtier stank er, und die Königin wie eine alte Ziege, sommers wie winters. Diese Orgie von Gestank setzte Gott den Duft entgegen, und er ließ Grasse ent- stehen." Kulturelle Wendezeiten. "Voilà, hier ist das Musée Internationale de la Parfumerie." Und Hostess Mireille strahlt wegweisend mit einem Fläschen "No 5" vom berühmten Chanel in ihrer Hand.

LEGENDEN MIT IHREN DUFTMARKEN

In einem roten Backsteinbau liegt vis-à-vis nämlich das Internationale Parfüm-museum - das Mekka der Duft- extraktionen, die Heimstatt alter Flacons; essence absolute, Blütenöle, Tinkturen, Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes - ein Stück Zivilisationsgeschichte mit ihren mehreren tausend Büchern und Dokumen- tationen schlechthin. Mit als 1.000 über Jahrhunderte alte Parfüms sind hier zusammengetragen worden. Auf 1.500 Quardatmeter leben Legenden verblichener Jahre samt ihre Duftmarken ungeahnt fort. Ob das Parfüm no. 5 der Mademoiselle "Coco" Chanel aus dem Jahre 1924 oder auch der 80 Kilogramm schwere Toiletten- koffer der im Jahre 1792 hingerichteten Königin Marie-Antoinette.

SECHS PROZENT VOM WELTMARKT

Es ist kaum zu ahnen, dass sich in diesem kleinen Städt-chen der Provence ein hochkarätiges Handelskarussell in Sachen Parfüm drehte, das immerhin sechs Prozent des Weltmarktes ausmachte. In seiner besten Woche wurden zudem drei von vier im Warenverkehr ange- botenen Parfüms aus der in Grasse gewonnenen Essenzen hergestellt. Seinerzeit lebten die Grassois hauptsächlich von ihrer Duftproduktion, hatten sie doch mit ihren 23 familiären Riechfabriken 50 Prozent des französischen Aroma-Marktes erobert.

BLÜTEN IM BILLIGLOHN

Noch in den siebziger Jahren waren 20.000 Menschen damit beschäftigt, jährlich fast vier Millionen Kilo- gramm Blüten und Duftpflanzen im Pays de Grasse zu gewinnen. Pflückten auf den angrenzenden Feldern Arbeiterinnen aus Italien und Nordafrika im Billiglohn- akkord Blüten, aus denen es das sogenannte "Aroma des Zeitgeistes"zu komponieren galt. Um etwa einen Liter Rosenessenz zu erhalten, müssen rund vier Tonnen Blütenblätter gepresst und destilliert werden. Da wundert es kaum, wenn jene Essenzen zwischen 5 und 15.000 Euro kosten. Früher kamen die meisten Blüten aus Grasse und Umgebung.

Heute hingegen werden die Rohstoffe für die Parfüm- herstellung größtenteils aus Dritte-Welt-Ländern im- portiert; in Grasse wird allenfalls weiterverarbeitet.

DUFTKELLER GROSSER COUTURIER-DAMEN

Vorbei sind die Weltläufe, in denen die Nasen hoch- bezahlter Duftkellermeister großer Couturier- damen wie der Arden, der Rubinstein oder auch der Betrix mit ihrer Sensormotorik Geschmäker wie Marktgeschehen diktierten. Ihre Unternehmen sind von Multis wie Unilever oder L'Orèal längst einverleibt worden. Das ehedem poetisch umschwärmte Verhältnis zwischen Blüte und Parfüm ist unwiederbringlich dahin.

DUFTSTOFFE DURCH SYNTHETIK ERSETZT

Ein ausgereiftes Computersystem hat nicht nur die Dosierung der Düfte entzaubert, sondern gleichfalls auch die Wirkung der Parfümsubstanzen mitberechnet. Auch ist die Biotechnik nunmehr imstande, pflanzliche Strukturen naturgetreu zu kopieren, eben Pflanzen- gewebe statt ganzer Pflanzen zu züchten. Zwei Drittel der ehedem natürlichen Duftstoffbestandteile werden mittlerweile durch synthetische Substanzen ersetzt. Ein Millionenheer mit billigen, häufig überdosiert ein-balsamierten Chemiekeulen läßt grüßen in Grasse und anderswo: neuzeitlich auch noch Parfüm genannt.

PARFÜMERIEN WIE BRAUEREIEN

Folgerichtig wich zuvörderst in Grasse jene beschauliche Atmosphäre alter eingesessener Parfümbrennereien. Heutzutage sehen die Produktionshallen der Parfüme- rien wie Brauereien aus. In mächtigen, zimmerhohen Metallkesseln und riesigen Destillierkolben werden die natürlichen, noblen Essenzen aus vielerlei Pflanzen gewonnen. Und zwar für Waschpulverhersteller und Suppenproduzenten. Längst sind sie zum Hauptab- nehmer der Aromastoffe geworden - und sichern somit dem Städtchen Grasse zwischen Nizza und Cannes sein wirtschaftliches Überleben.

LEGENDE UM LEGENDE

"Zarte Düfte". bedeutet Bürgermeister Hervé de Font- michel, "sind zwar allzu oft erotisch, ihre Wirkung ist rational nicht auszumachen. Auszurechnen hingegen ist der Legendenreiz, den das Parfüm nach Grasse brachte." Gewiss, die aktuelle industrielle Parfümkultur ist fort. Dafür stehen nunmehr eine Kongresshalle, Drei-Sterne-Hotels, weitläufige Sportanlagen mit Golf- und Tennis- plätzen, neue Schulen, erlesene Restaurants mit Schwimmbäder in diesem viel zitierten Städtchen der Blumen und Blumenmärkte am Mittelmeer. Wenn es allein nach dem Bürgermeister ginge, so würde er demnächst eine kleine Seitengasse nach dem Erfolgs- autor des Parfüms, Patrick Süskind, benennen. "Schon allein wegen der vielen deutschen Urlauber, die sich hier in ihrer sommerlichen Nostalgie nicht satt sehen und vermeintlich wohl auch nicht satt riechen können." Ein Quäntchen Hochgefühl, ein bisschen Selbstbewusstsein als Referenz für gemeisterte Umbruchzeiten sozusagen.











Samstag, 6. April 1996

Sinnlich und lebendig - dezent und dekorativ - Lyon






Reisende zum Mittelmeer kennen oft Lyon nur mit Tunnelblick. Die Nord-Süd-Verbindung Autoroute du Soleils unterquert die Rhône-Metropole an der Westseite der Altstadt. Dabei ist Lyon ein Klassiker unter den französ- ischen Kulturzentren mit Oper, Theater, Museen, Marionetten, Bibliotheken, Licht- festivals, weltberühmter Gastronomie und einer Alt- stadt, die die UNESCO zum Welt- kulturerbe erklärte. Nirgendwo erschließt sich die französische Seele mit ihrer Lebensart wahrhaftiger als in dieser Stadt - dem "Vieux Lyon".

STRAUBINGER TAGBLATT

vom 6. April 1996

von Reimar Oltmanns



Ein diffuses Mittagslicht malt Lyon in weichen Pastell- tönen. Anmutige Renaissance-Bauten aus dem 16. Jahr- hundert liefern zwischen den Flüssen Rhône und Saône ein dichtes Architektur-Panorama aus zwei Jahrtausen- den. Geradewegs spiegelt sich Antlitz der einstigen Seiden-Metropole Lyon - zwischen Ile de France und Provence, zwischen Alpen und Atlantik - das verborgen gehaltene französische Savoir-vivre wider. Romantisch angehaucht pulsiert auf kleinen Plätzen diskretes Eigen- leben. Lauschig sind die Winkel, verschwiegen die Gassen, edle Fassaden. Vielleicht nirgendwo erschließt sich dem Fremden die französische Seele und Lebensart ruhigen Blickes wahrhaftiger als in dieser Stadt - dem "Vieux Lyon".

TRABOULES

Durch Gänge und Treppenhäuser gehen die Menschen durch ein labyrinthisches Gewirr der Traboules, deren Passagen sich hinter ganz normalen Haustüren ver- bergen. Allzu leicht kann man sich verlaufen. Traboules - aus dem Lateinischen "transambulare" - hinüber- spazieren - sind Durchgänge zwischen zwei parallelen Straßen. Sie offenbaren zudem ein Quäntchen der Identität dieser Stadt, die vor allem während der deut- schen Besatzung im Zweiten Weltkrieg die Résistance zu nutzen verstand.
MYSTISCH - UNTER DENKMALSCHUTZ
Eben die Treppe, die in ein Kellerloch zu führen scheint, mündet in die nächste Straße. Der Gang, auf dem man dem Tageslicht zustrebt, endet vor einem verrosteten Eisengitter. Das wahre oder auch mystische Lyon - ein Labyrinth unter Denkmalschutz seit 1962 - verbindet auf raffinierteste Weise nicht nur Haus mit Haus und Hof mit Hof, sondern auch Gasse mit Gasse.
LYON - LINKS LIEGEN GELASSEN
Nur den meisten deutschen Reisenden ist auf ihren Urlaubswegen gen Süden Lyon allenfalls als Verkehrs- hindernis auf der "Autoroute du Soleil" haften ge- blieben. Ganz nach der Faustregel: Lyon muss eben passiert werden, wenn die Ferienzeit am Mittelmeer hastig von Norden nach Süden oder von Osten nach Westen drängt. Vorbei durch Unterführungen und den obligatorischen Stunden-Stau vor den zigfachen Tunnellöchern, etwa dem längsten namens "de Four- vière". Eiligst vorbei an den hässlichen Vorstädten, an Ölraffinerien und verschmutzten Rangierbahnhöfen samt erkaltetem Gewerbegebiet. Nun endlich, Stund' um Stund' - das Verkehrshindernis Lyon ist gemeistert: der Urlaub kann beginnen.
REPUTATIONS-PROFIL
Noch nie hat Lyon im Reputations-Profil der Massen-Gesellschaft mit ihrem Massen-Geschmack einen Anflug von Attraktivität besessen. Lange döste die Kapitale der Region Rhône-Alpes mit ihren 1,3 Millionen Menschen im Dornröschenschlaf. Mit insgesamt 420.000 Stadt-Einwohnern ist Lyon nach Paris und Marseille Frank- reichs dritte Metropole. Aber all zu lange stattete die Pariser Meinungsindustrie privater Medien, Verlage und Werbeagenturen - wohl bedacht aus Konkurrenz- gründen - Lyon mit dem festgezurrten Imagebefund einer arglosen Magd aus; eben langweilig, genügsam, nichtssagend, farblos ohnehin.
MARIONETTEN-THEATER
Dabei erlebt Lyon gerade mit seinem vitalen Lebens- gefühl in den neunziger Jahren einen steilen Aufstieg - mitunter auch einen lang ersehnten, verborgenen Durch- bruch. Da gibt es Freilichtkinos auf den Plätzen der Stadt, im Musée des Baux-Arts eine Filmreihe mit Sujets aus der Kunstgeschichte, Vorträge zu Filmtechnik, Sym- posien mit Konzerten zu Filmmusik und -tanz, oder eine eigenwillige Adaption zur Kinokomödie im Marionetten- theater "Le Guignol de Lyon". Sogar die Opéra präsen- tiert sich unter dem Titel "24 Bilder in der Sekunde" - ein eigens zu Ehren der "Lumière 95" kreiertes Ballett.
CITÉ INTERNATIONAL
Da entsteht am Ufer der Rhône mit dem Kongresspalast der Cité International ein markanter Baustein der multi- funktionalen Kommunikationsgesellschaft mit seinen zweitausend zusätzlichen Arbeitsplätzen. Industria- lisierung, Kunst und Touristen-Komfort haben in Lyon zu einem seltsamen dynamischen Wachstum, zu einer neuartigen, bislang verpönten, da arg fremden Sym- biose beigetragen. "Dieses Konzept, Arbeitsplätze aus der High-Tech-Fabrikation und dem Pharma-Sektor mit einer Urlauber-Infrastruktur zu verbinden, das ist unser Erfolgsgeheimnis", schmunzelt Lyons Bürgermeister Raymond Barre (*1924+2007).
ZEUGNIS STOLZER VERGANGENHEIT
Die malerische Altstadt Lyons ist eingefasst von den Flüssen Rhône und Saône. Sie gilt als Europas größtes, fast vollständig intaktes Renaissance-Quartier. Der Stadtkern besteht aus vier Flussufern, zwei Hügeln und einer Halbinsel. Auf der langen Landzunge beim Zu- sammenfluss von Rhône und Saône, der "Presqu'ile" stehen hohe, stattliche Wohnhäuser aus einer Zeit, als Lyon Europas Seidenmetropole war. Bis heute ist sie das Zentrum mit prachtvollen Bauwerken an geräumigen Straßenzügen und weiten Plätzen wie der "Place Belle- cour" mit 60.000 Quadratmetern eines der schönsten und größen Europas, als Zeugnisse einer reichen und selbstbewussten Vergangenheit. Vielerorts umschließen Kirchen oder auch Kathedralen eine nahezu über Jahrhunderte fast unberührt gebliebene Bausubstanz. Allen voran das Rathaus (Place Terreaux) und der Palast Saint Pierre, in dem das Museum der Schönen Künste residiert (Rue du Président Edouard Herriot).
HEIMAT DES TUCHES
Vom 15. bis 19. Jahrhundert reiste vornehmlich die feine Gesellschaft Europas nach Lyon, wenn sie sich standes- gemäß einkleiden wollte. Denn hier - und nicht etwa in Paris - liegen die Wurzeln weltberühmter französischer Tücher. Mittlerweile sind Mode und Seide nach Paris oder zu verbilligten Massenproduktion nach Hongkong ausgewandert. Etwa 80 Prozent der angeblichen Lyoner Seide werden heute in Hongkong oder China hergestellt. Lediglich das edle Material etwa für die Tücher von Hermes oder Garn für Yves Saint Laurent (*1937+2008) kommt noch aus Lyon - noch.
WELT-METROPOLE DER GASTRONOMIE
Aber immerhin in einem hat die Stadt an der Rhône ihre Kontinuität bewahren können - mit einem unverkenn- baren Gaumen als Weltmetropole der Gastronomie. Wer vorhaben sollte, sich in Lyon und Umgebung durch die Sterne-Restaurants zu essen, benötigt dafür min- destens vierzehn Tage. Keine andere Region Frankreichs kann auf derart viele Auszeichnungen des Restaurants-Führers "Michelin" verweisen.
CHARMANTE BOUCHONS
Gleichwohl besteht die Lyoner Küche keineswegs nur aus den sinnlichen Kreationen eines Paul Bocuse, George Blanc, Alain Chapel oder auch Philippe Cha- vent. Zu den Besonderheiten von Lyon gehören ins-geheim die kleinen Kneipen, "Bouchons" genannt. Sie haben sich über all die Generationen kaum verändert. Früher stärkten sich da die Kutscher, heute verkehren in den "Bouchons" eilige Geschäftsleute und Touristen. Es ist nur der Patron, der seinen Gästen scheinbar Selt- sames empfehlen darf - Kutteln, Würste oder auch Innereien vom Schwein zählen zweifellos zu den Deli- katessen á la lyonnaise - bei gutem Wein.
BEAUJOLAIS, CHARONNAY
Dabei wissen Reben-Kenner längst, dass Lyon nicht nur aus dem renommierten Wein der Marke Beaujolais besteht. Nördlich von Lyon breiten sich nicht nur seine Weinberge aus. Goldgelb leuchtet der steinige Boden dieser Gegend. Unverändert besteht hier fürs Lyoner Kneipiers die Sitte, beim Weinbauern zu degustieren und die bevorzugten Flaschen an Ort und Stelle zu kaufen. Dort, wo noch nach Möglichkeit die hölzernen Traubenpressen und die großen Fässer den hoch- modernen Apparaten trotzen - etwa beim Weinbauern Alain Trischetti im nördlich gelegenen Örtchen Seillon- naz an den steilen Hängen im Alpen-Vorland. Seine uralte Sitte des Kelterns ist plötzlich in den Lyoner Bars gefragter denn je, "weil unser Geschmack vom Pinot oder Chardonnay einen unwiderstehlichen Atem hat."