Sonntag, 17. Dezember 1972

Am Vorabend der Emanzipation - Konzessionsdamen in der Politik: Eine Frau zum Vorzeigen




















Besondere Eigenschaften: MdB und weiblich. Hauptsache eine Frau. Das Ungehagen zwischen "Traditionsdamen" und Feministinnen in der Sozialdemokratie. Im Vorabend der Frauen-Emanzipation in den siebziger Jahren gelang es einer ehemaligen Sekretärin und Lebensgefährtin des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumachers (*1895+1952 ) der stille Aufstieg ins zweithöchste Staatsamt - zur Präsidentin des Deutschen Bundestages - Annemarie Renger (*1919+2008)
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stern, Hamburg
17. Dezember 1972
von Reimar Oltmanns
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"Ich kam, sah und siegte", beschrieb Annemarie Renger ihren Eintritt in die Politik; als sie, die Kriegerwitwe, 1945 mit ihrem damals siebenjährigen Sohn auf der Suche nach einem Job im Zentralbüro der SPD in Hannover vorsprach - und ganz plötzlich Assistentin des Parteivorsitzenden Kurt Schumacher (*1895+1952) wurde. Ein Foto aus dieser Schutt-und-Asche-Ära zeigt, wie Annemarie Renger den wegen seiner Bein- und Armamputation behinderten Kurt Schuhmacher stützt - ein Bild der Zeitgeschichte.
KÜCHENMAGD IM LAZARETT
Damals in den entsagungsreichen Nachkriegs-Wirren lebte die 26jährige junge Frau in der Lüneburger Heide. Hier arbeitete sie als Küchen-Magd in einem Lazarett. Ihren Ehemann und drei Brüder, ja praktisch die ganze Familie, hatten im Krieg ihr Leben lassen müssen. Annemarie Renger, von Beruf kaufmännische Gehilfin, wurde zunächst die Schreibkraft des von jahrelanger KZ-Haft gezeichneten Kurt Schumacher; später noch viel mehr: Lebensgefährtin, Privatsekretärin, Reisebegleiterin, Haushälterin, engste Vertraute in den Aufbau-Jahren. - Blitz-Karriere.
STEILER AUFSTIEG AUS DEM NICHTS
27 Jahre später siegte Annemarie Renger, 53, nicht, sondern wurde zur Siegerin erklärt. Schon in der Wahlnacht hatten sich die SPD-Führungsmänner darauf verständigt, dass Annemarie Renger am 13. Dezember 1972 als erste Frau und als erste Sozialdemokratin zur Bundestagspräsidentin gewählt sollte. Zwar hatte keiner einen so großen SPD-Sieg erwartet (SPD wurde erstmalig mit 45.8 Prozent und 230 Mandaten) und damit gerechnet, dass die Sozialdemokraten als jetzt stärkste Parlamentsfraktion Anspruch auf das zweithöchste Amt im Staat haben würden, Doch dann schlugen Kanzler Willy Brandt (1969-1974) und Fraktionschef Herbert Wehner (1969-1983) mit der Beförderung der dreifachen Großmutter auf den Präsidentenstuhl "gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe" (SPD-MdB Günter Wichert 1969-1974).
ETIKETTEN-HANDEL
Sie konnten endlich einer Frau ein hohes Staatsamt geben - und damit wenigstens als Etikette ein wenig verkleistern, dass im neuen Bundestag noch weniger Frauen sitzen als im vorigen. Und Willy Brandt blieb es erspart, die seit langem auf einen Posten hoffende Genossin Renger als Nachfolgerin von Käte Strobel (*1907+1996) ins Kabinett aufrücken zu lassen. Denn mit der Ernennung der überaus ehrgeizigen und prestigebedachten Dame Renger zur Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit hätte Kanzler Brandt viele Genossen verärgert: die Jusos, von denen die SPD-Rechte Renger nichts wissen will; die Frauen, die in ihr nicht mehr die Anwältin ihrer Interessen sahen; und manche alte Genossen, die Annemarie Renger seit Jahren als Nachlassverwalterin des Nachkriegschefs Schumacher und als wandelndes Gewissen, Herrschaftswissen der Partei erleben mussten.
MÄDCHEN DER MÄNNER
Mit dem Namen Renger verbindet sich durch Amt und Würden schon Frauen-Aufbruch, Frauen-Mitbestimmung, Frauen-Partizipation in diesen Jahren. Nebelkerzen. Bei näherer Betrachtung richten sich die Röntgenblicke auf eine wohldosierte Schönwetter-Rhetorik. Denn seit Bestehen der Bundesrepublik hält Annemarie Renger für das feminine Selbstbewusstsein vor Frauenverbänden "nur schöne Reden ", (SPD-MdB Lenelotte von Bothmer 1969-1980; *1915+1997) "ohne jemals ernsthaft auch nur für die kleinste Konzeption zur Emanzipation der Frauen einzutreten, Konflikte gegen die Männer durchzustehen." Schon zu jener Zeit beginnen SPD-Frauen erst zaghaft, dann zusehends vehementer ein neues Gruppenbewusstsein zu entwickeln, heißen sie nun von Bothmer, Anke Brunn (NRW-Ministerin für Wissenschaft und Forschung 1985-1988)oder Dorothee Vorbeck (hessische Staatssekretärin im Kultusministerium 1982-1984).
WEG VOM ERLEBNIS-KLUB
Sie wollen weg von der Annemarie-Renger-AsF (Arbeitsgemeinschaft Sozialdemkratischer Frauen) - dort, wo in "Geselligkeits- und Erlebnis-Klubs" beim "Kochen und Schminken" sozialdemokratisch gedacht, gefühlt, gehofft und gestrickt wird.Sie sagen: "Wir wollen über die Beseitigung der kapitalistischen Klassengesellschaft die volle Emanzipation erstreiten." Annemarie Renger entgegnet: "Ich wundere mich darüber, dass Frauen eine Sonderrolle spielen müssen."
"LEICHEN IM KELLER"
Annemarie Renger, die 1953, ein Jahr nach Schumachers Tod, ins Parlament eintrat (und damals sich artig "Miss Bundestag" nennen lassen durfte), sieht sich selbst so: "Das, was ich bin, bin ich durch Kurt Schumacher. Aus dieser Zeit schöpfe ich meine Kraft." Manche Genossen zum Willy Brandt beobachteten Annemarie Rengers politischen Ehrgeiz vor allem deshalb mit Unbehagen, weil die Schumacher-Vertraute Vieles über viele Sozialdemokraten weiß - vor allem wo so manche "Leichen im Keller versteckt worden sind", sagte sie einmal und führte an anderer Stelle fort, "ich habe da sieben Jahre an der Quelle gesessen." - Renger-Jahre.
ZU VIEL GEQUATSCHE
Und Helmut Schmidt (Kanzler 1974-1982) sagte einem Ministerkollegen schon vor der Wahl in seiner direkten Art, warum er die Sportwagenfahrerin und Tennisspielerin lieber nicht im Kabinett haben möchte: "Die quatscht mir zu viel." Herbert Wehner indes hatte andere, machtpolitische Gründe, Annemarie Renger zur Nachfolgerin der Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers (1950-1954; *1904+1954), Eugen Gerstenmaier (1954-1969; *1906+1986), Kai-Uwe von Hassel (1969-1972; *1913+1997) aufsteigen zu lassen. Im internen Wehner-Zirkel war auch von Frauen-Aufbruch, Gleichberechtigung, Signalwirkung keine Rede. Machtpolitik war angesagt - Politik auf den Schachbrettern der Männer, auf denen Frauen als Läuferinnen ihre Rochaden zu pararieren haben. Freilich nur durch eine Frau, so Wehners Kalkül, konnte er seinem Intim-Feind, dem schwergewichtigen Hermann Schmitt-Vockenhausen, HSV genannt (SPD-MdB 1953-1979; *1923+1979) den Weg zum Präsidentenstuhl verbauen, auf den dieser, Vizepräsident seit 1969, schon ein Anspruch zu haben glaubte.
SCHACHERN UM STAATSÄMTER
Aus gutem Grund hatte Herbert Wehner in der Wahlnacht zuerst - vor der Einigung mit Parteichef Willy Brandt - dem FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick (1978-1982; *1921+2002) gegenüber bereit erklärt, der SPD-Fraktion die Freidemokratin Lieselotte Funcke (Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages (1969-1979) für dieses Amt schmackhaft zu machen. Sie hatte sich als Vizepräsident bewährt, und eine Frau sollte es auf jeden Fall sein. Denn jeder männliche SPD-Kandidat - wie zum Beispiel Ex-Finanzminister Alex Möller (*1903+1985) - hätte gegen "HSV" einen schweren Stand gehabt. Nachdem Wehners Schachzug geglückt war, konnte der körperlich schwer-gewichtige Hermann-Schmidt-Vockenhausen seinen Verdruss, seine Enttäuschung nicht verbergen: "Ich bin maßlos enttäuscht über die Ämter-Schacherei."
PREMIERE EINES HOSENANZUGES
Enttäuscht über die Hintergründe dieser Wahl sind auch Mitglieder des Bundesfrauenausschusses der SPD, deren Vorsitzende Annemarie Renger seit 1967 ist. So die SPD-Abgeordnete Lenelotte von Bothmer, die warnte davor, dass sich Frauen in der Politik wieder und abermals als "Mode-Puppen" vermarkten lassen. Sie hatte damit hinreichende, leidvolle Erfahrungen machen können. Damals an jenen Vorabenden der Emanzipation, als sie im Jahre 1970 wagte, mit einem Hosenanzug ans Rednerpult zu treten. Vizepräsident Richard Jäger polterte, er werde es keiner Frau erlauben, in Hosen im Plenum zu erscheinen, geschweige sogar eine Rede zu halten. - Ein Verstoß gegen die Kleiderordnung. Im Saal johlten unisono Männer, fröhliche Zurufe, Gelächter wie am Schießstand - Ziel: Frau mit Hosenanzug als Politik-Ereignis. Immerhin war diese Mode-Schau zu Bonn der 20-Uhr-Tageschau in Hamburg eine übergeordneter Film-Bericht wert. Dabei war es gerade Lenelotte von Bothmer, die in ihren Empfindungen, Wahrnehmungen " frauen-feindliche Gesinnungen aufzuspüren trachtete. Sie sagte: "Diese Art, das weibliche Geschlecht der Lächerlichkeit preiszugeben, durch die Manege zu jagen und dann eine andere, eine Männer-Freundin, brav auf einen Posten zu hieven, ist anti-emanzipatorisch. Eine Frau muss auf Grund ihrer Qualifikation vorgeschlagen werden und nicht, weil sie gut aussieht."
MIT FRAUEN WENIG AM HUT
So manche SPD-Genossinnen finden ohnehin, dass sich Annemarie Renger zu wenig für Frauen - dafür aber viel für ihre Mode verausgabt. Ganz plötzlich, verändert sie mal ihr Aussehen, Haarfrisur mit Föhnaufsatz samt Schminke und letztlich ihren Boutiquen- Fummel derart häufig, dass sie selbst von langjährigen Zeitungskorrespondenten in Bonn nicht mehr ohne weiteres erkannt wird. - Eine Neue in Bonn? "Nein, nein - das ist doch Frau Renger. Wirklich?" Frauen als Schönheitssymbol. - Nur beim Streit um die Reform des Abtreibungsparagraphen 218 machte sich Annemarie Renger erst für die Fristenlösung stark, als sie erkannte, dass die Mehrheit dafür war. Noch 1970 predigte sie auf dem Bundesfrauenausschuss der SPD in Nürnberg "Zurückhaltung in der Öffentlichkeit." Kurz danach attackierte sie Lenelotte von Bothmer, weil sich die Mutter von sechs Kindern statt der Frauen-Vorsitzenden Renger in einem Fernsehinterview über die Fristenregelung profiliert hatte. - Ein Image-Profil, das offenkundig nur ihr zuzustehen scheint. Frauen-Soldarität.
DRUCK DES ELLENBOGENS
Dass es der selbstbewussten Parlamentarierin, die seit 1966 mit dem jugoslawischen Kaufmann Alexander Loncarevic (+1973) verheiratet ist, an der nötigen Energie für ihr Amt fehlen könnte, ist nicht zu befürchten. Als auf dem gleichen Frauenkongress eine Jungsozialistin gegen die Beschränkung der Redezeit protestierte, sprang die SPD-Lady auf und entriss ihr einfach das Mikrofon. Eine Energie, für die die "Süddeutsche Zeitung" die Formulierung fand, dass Frau Renger "oft mangelnde Schärfe des Arguments mit dem Druck der Ellenbogen kompensierte".
PARLAMENTS-REFORM
Die Sozialdemokratin von Bothmer hält die Freidemokratin Lieselotte Funcke deshalb auch für die geeignetere Kandidatin, weil "Annemarie sich zum Beispiel über die Parlamentsreform noch keine Gedanken gemacht hat". Den Unterschied zwischen Qualifikation und Karriere sieht Annemarie Renger selber: "Die FDP zieht eben intellektuelle Frauen an, bei der SPD kann man nur durch Partei die Position erwerben." Das ist die Karriere der "Konzessionsfrauen", gegen die sich viele engagierte Sozialdemokratinnen energisch wehren - wie die hessische Landtagsabgeordnete Dorothee Vorbeck: "Wir wollen doch keine Politik auf der Spielwiese betreiben, die uns die Männer zuweisen."
POLITIK AUF SPIELWIESEN
An diese "Spielwiese" war die bisherige Parlamentarische Staatssekretärin Katharina Focke (SPD-MdB 1969-1989) , die eine Zeitlang als Kandidatin für das Parlamentspräsidenten-Amt im Gespräch war, nicht interessiert. Sie will auch in der neuen Regierung für Europa-Fragen zuständig bleiben. Und die Berliner Schulrätin Marie Schlei (*1919+1983), die ebenfalls als Anwärterin genannt worden war, hatte schon vor der Bundestagswahl erklärt: "Ich habe Annemarie versprochen, dass sie zuerst was wird, und ich halte mich daran."
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POSTSCRIPTUM. - Auch wenn ihr die 68er Generation fremd geblieben und der Frauen-Aufbruch suspekt war, wurde Annemarie Renger nach einhelliger Auffassung zahlreicher Beobachter mit viel Geschick, Würde und Durchsetzungskraft zu einer bemerkenswert beachteten Präsidentin des Deutschen Bundestages. Bereits 1973 war sie laut Meinungsforschungsinstitute die bekannteste Politikerin in der Bundesrepublik. Am Ende ihrer Amtszeit 1976 sagte sie: "Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann." Wenig später fügte Annemarie Renger noch hinzu: "Ich habe in dieser Zeit erreicht, was ich wollte."

Donnerstag, 10. August 1972

Niedergang des SPD-Imperiums



















































































In der bundesdeutschen Nachkriegs-Gesellschaft Ende der sechziger /Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wollte Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) "mehr Demokratie" wagen. Pressefreiheit - innere wie äußere - zählte zum Identitätskern einer rebellierenden APO-Jugend, vornehmlich gegen den Springer-Konzern mit seinem Massenblatt "Bild". Nur im sozialdemokratischen Parteiapparat nahm man vom sogenannten "Demokratie-Protest" draußen auf der Straße kaum Notiz. Dort herrschte Kadavergehorsam, Zensur, Parteilinie samt Friedhofsruhe, wenn es um die SPD-eigenen Zeitungen ging. Wer nicht spurte, flog oder mit dem Rausschmiss wurde sogleich die ganze Zeitung dichtgemacht - wegen Misserfolgs, Hauptsache das Partei-Profil stimmt.

Der Mann, der Zeitungen sterben ließ, und einen Teil der westdeutschen Pressekonzentration zu verantworten hatte, hieß Alfred Nau (*21. 11. 19o6+18. 5. 1983). Er war Schatzmeister oder auch Kassenführer einer Partei, die insgeheim mit Boulevard- Macharten von Springers "Bild"-Zeitung liebäugelte und ihre Manager inständig hofierte. Versteckte Rollenspiele, verzerrte Lebensprofile
- Rückblicke. Zeitgeschichte


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Frankfurter Rundschau
02. November 1971
stern, Hamburg
10. August 1972
von Reimar Oltmanns
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Er kleidet seine Pförtner in grün-weiße Trikots und formuliert höchst persönlich Werbetexte fürs eigene SPD-Blatt: etwa "Der Mief ist weg". In den Rotationshallen der "Neuen Hannoverschen Presse" (Auflage 91.000 ) reichte Zeitungsmacher Peter Krohn werbewirksam einbestellten Rentnern Kaffee wie Kuchen. Im Hochzeitstaxi ließ er Jungvermählte zur Kirche chauffieren - posierte mit Pärchen und Pastoren vorm Kirchenportal. Er kaufte erlesene Möbel fürs Haus, lässt seine Zeitung des Nachts wie die traditionelle Marktkirche illuminieren. Keine Frage, ob Feuerwerk-Spektakel, Beatveranstaltungen, Leserparlamenten und einem in den Traditionsfarben von Hannover 96 getünchten Verlagshaus - das sind die kernigen "Marketing-Elemente", mit denen ein frühere Manager im Axel-Springer-Verlag "den Geruch des Parteiblattes" vertreiben, Parteibuch-Journalisten den Garaus machen will. Die einst biedere SPD-Zeitung rutscht von einem Extrem ins andere - nunmehr ohne Gesinnung, aber mit viel Spektakel oder x-beliebigen Boulevard knüppeldicker Schlagzeilen.
NEUE FAHNEN, NEUE GESINNUNG
Seit einem halben Jahr ist Peter Krohn (Haus-Jargon. "Dr. Peter Kroenisch"; in Anlehnung an den "Bild"-Zeitungs Chefredakteur Peter Boenisch; *1927+2005) dabei, von einem Extremen in das andere zu rotieren - aus einem biederen SPD-Ja-Sager-Blatt ein verkitschtes, entpolitisierten Familienblatt zu zaubern - unter SPD-Regie. Seit dem neue Fahnen auf dem Dach des Verlagshauses wehen, haben sich Redakteure, Reporter und Fotografen in ihre Schützengräben verkrochen. Angst um Arbeitsplätze treibt sie umher, Courage, gar Demokratie sind Fremdbegriffe aus einer fremden Zeit - und das in Jahren des SPD-Aufbruchs. Das einst hart umkämpfte Redaktionsstatut, das die Unabhängigkeit der Journalisten vor Partei-Direktiven sichern sollte, ist ganz in Vergessenheit geraten. Gefragt sind nicht etwa Pressefreiheit, Meinungsvielfalt, Informationsdichte, sondern ausschließlich ein betriebswirtschaftlich ausgetüfteltes "Gesamtmarketing-Konzept". Eben ein Plan, mit dem sich über Anzeigen, Werbung samt Vertrieb Geld verdienen lässt; viel Geld. Da werden halt Artikel im redaktionellen Teil für solvente Kunden geschrieben. - PR-Freiheit in einer schönen SPD-Welt, die sich noch Zeitung nennen darf - noch.
IMMER NUR LÄCHELN
Etwa ein Dutzend Redakteure hat sich inzwischen nach einem anderen Arbeitsplatz umsehen müssen. Der zweite Schub von Entlassungen soll in absehbarer Zeit möglichst unauffällig folgen. Jedenfalls ist der Anfang schon gemacht - eingebettet in die Krohn'sche Philosophie - immer nur lächeln, "wenn ich hinlange"... Ganz klar für Peter Krohn, den die Sozialdemokratie mit diesem Posten betraute, gilt nicht Quantität, sondern ausschließlich die Qualität, die sich in breit angelegten Boulevard-Geschichten niederzuschlagen hat. "Wir müssen aus der Redaktion die Luft herauslassen", ist die Meinung des Verlagsleiters zu den plötzlichen Rausschmissen.
RAUSSCHMISSE
Redakteure, Redakteurinnen hingingen sind arg verunsichert, weil keiner so recht weiß, wer und wann als nächster auf der Straße steht. Seltsam, sie schweigen und ängstigen sich bei einer Zeitung, die der SPD gehört. "Von Mitbestimmung kann hier keine Rede mehr sein", wagt sich Redaktionsvolontär Dirk Busche aus der Deckung.

Ein halbes Dutzend Berufsjournalisten wollte nicht mit dem allgegenwärtigen Krohn'schen Damokles-Schwert etwaige Rausschmisse leben und kündigte. "Das kommt davon, wenn man Journalisten wie den letzten Dreck behandelt", erregt sich der Landesvorsitzende der Deutschen Journalisten-Union Peter Leger (*1924+1991 ). Der Karikaturist, seit 22 Jahren für das SPD-Blatt tätig, wechselte mit Jahresbeginn zur gutbürgerlichen "Hannoverschen Allgemeinen" (Auflage: 227.000).
PROZESSE, ARBEITSGERICHTE
Ein weiterer, der stellvertretende Chefredakteur Konradjoachim Schaub, im Alter von 62 Jahren, soll als nächster gefeuert werden. Schaub selbst bestreitet aus Angst vor Repressalien seine Kündigung. Doch für den Journalistenverband (DJV) sehen die Fakten anders aus. Sein Vorsitzender, Hans-Günther Metzger, erhärtet: "Seit einigen Tagen liegt uns eine Kopie des Kündigungsschreibens der 'Neuen Hannoverschen Presse' an Herrn Schaub vor. Er hat uns beauftragt, dagegen juristisch vorzugehen.
UNBEHAGEN IN DER SPD
Auch in der Sozialdemokratie ist mittlerweile das Unbehagen an dieser "Politik der Rausschmisse" gewachsen. In der Landeshauptstadt wird die Kritik am deutlichsten artikuliert. Ganz nach dem Motto, "was sollen wir mit diesem auf Harmonie getrimmten Familien-Boulevard. Wir bestellen dann lieber die eher konservative 'Hannoversche Allgemeine'." Sie böte uns mehr Informationen als unsere abgewirtschaftete Partei-Presse. Der niedersächsische Bundestagsabgeordnete Günter Wichert ( 1969-1974) zeigte sich weniger erschüttert: "Ich habe die Entwicklung kommen sehen und die zuständigen Parteigremien deutlich gewarnt. Leider ohne Erfolg."
NEUE LEUTE VON "BILD"
Insgesamt fünf Redakteure, darunter ein Ressortleiter, haben mittlerweile von sich aus Konsequenzen gezogen. Sie werden sich in naher Zukunft für Konkurrenzblätter engagieren. Doch an Nachfolgern wird es beim "Krohn"-Blatt kaum mangeln. Hermann Ahrens, zuvor Redaktionsleiter der "Bild"-Zeitung in Bremen, hat just zu diesem Zeitpunkt seinen Job in der einst traditionsreichen Zeitung der Sozialdemokratie angetreten.
SPD- BLÄTTER STERBEN MUNTER WEITER
Aber es sind immer neue Gerüchte, die fortwährend unvermutet Nahrung suchen. Der Branchendienst "text intern" prophezeit gar die Einstellung weiterer SPD-Zeitungen - trotz aller hastig vorgetragenen Dementis: der "Neuen Hannoverschen" und der in Dortmund erscheinenden "Westfälischen Rundschau". Natürlich widersprechen die SPD-Verlage. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Nur die Kritik an SPD-Schatzmeister Alfred Nau wächst. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn (*1912+1992) über Nau: "Er denkt immer an das Wohl der Partei. Die SPD wäre mit ihrer Pressepolitik besser gefahren, wenn Nau einmal an etwas anderes gedacht hätte."
DER PARTEI-KASSIERER
Nau nennt sich bescheiden "Partei-Kassierer". Doch Eingeweihten gilt er als der mächtigste Mann in der SPD. Seit 26 Jahren verwaltet Alfred Nau in der Bonner "Baracke" unangefochten die Millionen, die in die Parteikasse fließen. Er ist die Symbolfigur des treuen Funktionärs, ein Mann der ersten Stunde nach 1945, der sich "für die Partei in Stücke reißen lassen" würde, wie Willy Brandt schrieb.
VIERT-GRÖSSTE PRESSE-KONZERN
Manager Nau steuert das viertgrößte Presseunternehmen in der Bundesrepublik, die "Konzentrations GmbH" mit einem Jahreumsatz von zuletzt 509 Millionen Mark. Er kontrolliert Zeitungsverlage, die täglich nahezu 700.000 Exemplare auf den Markt bringen. Er ist für 10.000 Arbeitsplätze verantwortlich. - Der Schatzmeister, Manager und Verleger ist außerhalb der Parteizentrale kaum bekannt. Nau tritt nicht ins Rampenlicht, Ministerämter haben ihn nie gereizt. Er ist die "graue Eminenz" in der Bonner Baracke, wortkarg, zurückhaltend, sich aber immer seiner Schlüsselposition bewusst.
MACHTMONOPOL IM APPARAT
Alfred Nau, 65, seit 50 Jahren SPD-Mann, verteidigt entschlossen sein Machtmonopol im Parteiapparat. Er vereitelte, dass der frühere Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Wischnewski (*1922+2005) einen eigenen Verfügungsetat erhielt und so selbständig Mitarbeiter hätte engagieren können. Als "Ben Wisch" daraufhin 1971 seine direkte Wahl durch den Bundesparteitag anstrebte, um seine Position zu stärken, brachte Nau genügend Stimmen dagegen zusammen. Der Antrag erhielt nicht die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit. Resigniert nahm "Ben Wisch" seinen Hut.
TREUHÄNDER VON HUNDERTTAUSENDEN
Zu Naus 65. Geburtstag schrieb Parteichef Willy Brandt (1964-1987): "Er genoss und genießt das Vertrauen, Treuhändler von Hunderttausenden zu sein. Gerade dies begründet auch seine besondere Stellung im Parteivorstand und im Präsidium." - Ein dreiviertel Jahr später aber ist der "Treuhänder von Hunderttausenden" mit seiner Pressepolitik ins Zwielicht geraten. Immer mehr sozialdemokratische Zeitungen sind zum Sterben verurteilt. Kaum waren die Berliner Tageszeitungen "Telegraf" (1946-1972) und "Nachtdepesche" eingestellt und 230 Mitarbeiter gekündigt, meldet der Branchendienst "text intern" Gerüchte über das bevorstehende Ende der "Neuen Hannoverschen" und der in Dortmund erscheinenden "Westfälischen Rundschau". Ende September 1972 muss die parteieigene "Kieler Druckerei" schließen. SPD-Druckereien in Köln und Hannover können sich nur über Wasser halten, indem sie über ihre Rotationen Springers Bild-Zeitung laufen lassen.
SPD LÄSST PORNOS DRUCKEN
Der SPD-eigene "Auerdruck" in Hamburg druckt einen Großteil der bundesdeutschen Porno- und Regenbogenpresse. Die SPD-eigene Wochen- zeitschrift "Die Zwei" (Startauflage: 650.000) mit Schnulzen über Romy Schneider, Farah Diba und Soraya fand zu wenig Leser und musste drei Monate nach ihrem Erscheinen eingestellt werden. Die Berliner Zeitungseinstellungen hatten peinliche Begleiterscheinungen. Zur selben Zeit, als die Springer-Presse die SPD zum Prügelknaben der Nation machte, verhandelte der sozialdemokratische Schatzmeister mit dem Springer-Verlag wegen der "Nachtdepesche". Als die Angelegenheit publik wurde, wollte Alfred Nau die Verhandlungen als "unverbindliche Gespräche" abtun. Darauf Springer: "Es ist unzutreffend, dass lediglich unverbindliche Gespräche über eine Übernahme der 'Nachtdepesche' durch den Axel-Springer-Verlag stattgefunden haben. Es handelte sich vielmehr um ... konkrete Verhandlungen."
MILLONEN HINEINGEPUMPT
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Alfred Nau exakt 40 Millionen in "Nachtdepesche" und "Telegraf" hineingepumpt. Außerdem steuerte der Berliner Senat 1971 ein zinsloses Darlehen von 2,5 Millionen Mark bei. Dabei war die Lage dieser Blätter schon hoffnungslos, als 1962 Herausgeber und Chefredakteur Arno Scholz (*1904+1971) die SPD ab beiden Zeitungen beteiligte. Der ehemalige Geschäftsführer der SPD-Konzentrations GmbH und Nau-Intimus Fritz Heine (*19o4+2002) schrieb kürzlich an Fritz Sänger (*1901+1984), den früheren Chefredakteur der Deutschen Presse-Agentur, über diese Transaktion: "Damals war im Grunde genommen die wirtschaftliche Entwicklung schon so weit vorangeschritten, dass es keine Möglichkeit mehr gab, das Unternehmen erfolgreich weiterzuführen."
PRALL GEFÜLLTE BANK-KONTEN
In jener Zeit allerdings war für die SPD, die von den Millionen Wiedergutmachungszahlungen für während der Nazi-Zeit geraubtes Eigentum zehrte, Geld noch kein Problem. Zum Pressekonzern zählten in seiner Hochblüte über 26 Zeitungen und 30 Druckereien mit 15.000 Beschäftigten, die Gesamtauflage betrug 1,4 Millionen Exemplare. Alfred Nau verkündete noch 1964 stolz: "Fünf Millionen deutsche Bürger lesen SPD-nahe Zeitungen - doppelt so viele wie 1933."
BLUMEN AUF DIE GRÄBER
Derselbe Alfred Nau hat aber seit 1949 Blumen auf die Gräber von über 20 SPD-nahen Zeitungen lesen müssen, davon auf sieben allein in den letzten anderthalb Jahren. Um den Restbestand zu retten, die bisher innerhalb der "Konzentration" unwirtschaftlich und führungslos für sich arbeitenden SPD-Unternehmen zu rationalisieren und konkurrenzfähiger zu machen, gab der Parteivorstand Ende Dezember 1971 grünes Licht für eine Zusammenfassung aller SPD-Zeitungen und Druckereien unter einem zentralen Management: der "Deutschen Druck- und Verlags GmbH". Die Partei schuf damit einen straffen Konzern - zur gleichen Zeit, als Parteilinke und Jungsozialisten die Entflechtung der Pressekonzerne forderten.
DUMME UND SPD-FUNKTIONÄRE
Während diese SPD-Presse-Holding prüft, welche Zeitungen noch zu retten sind, mehren sich in der Partei die Stimmen, die Alfred Nau die große Pleite anlasten. Holdung-Geschäftsführer Alois Hüser: "Der liebe Gott schuf Kluge, Dumme, ganz Dumme und SPD-Funktionäre, die für die Presse verantwortlich sind." SPD-MdB Professor Günter Slotta (*1924+1974): "50.000 Jungsozialisten können in einem Jahr nicht so viel Quatsch produzieren, wie Alfred Nau an einem Tag." SPD-Vize Herbert Wehner (*1906+1990): "Wenn wir selbstkritisch die Entwicklung unserer sozialdemokratischen Presse betrachten, so fehlen unternehmerischer Geist und unternehmerische Fähigkeiten, um in der Konkurrenz mit anderen sich durchzusetzen."
REDAKTIONELLE FREIHEIT
Und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn (1966-1978): "Nau ist ein guter Parteikassierer, aber von Pressepolitik hat er keine Ahnung. Es gibt nur noch einen Weg: readaktionelle Unabhängigkeit von der Partei, Schluss mit der Bevormundung und gute Journalisten in die SPD-Redaktionsstuben. Allzuoft war bei der Besetzung von Führungspositionen die Gesinnung ein Alibi für Leistung und Qualifikation."
BEWÄHRTE GENOSSEN: "Herr Konsul"
"Bewährte Genossen aus der Weimarer Zeit", die keine Ahnung vom Zeitungsmachen hatten, waren mit der Führung von Zeitungsverlagen beauftragt worden. Ein typisches Beispiel: Gustav Schmidt-Küster (*1902+1988), vor dem Zweiten Weltkrieg kleiner Buchhändler in Magdeburg, übernahm das Management der Hannoverschen Druck und Verlagsgesellschaft mbH, in der die "Hannoversche Presse" erschien. Einige Jahre später wurde Gustav Schmidt-Küster Honorarkonsul von Malta, Am Verlagshaus wurde das Konsulatsschild angeschraubt, und die Redakteure mussten ihren Chef mit "Herr Konsul" anreden.
PARTEI-ZENSUR
Die Herausgeber, Bundesminister Egon Franke (*1913+1995) und der frühere hannoversche Bezirksgeschäftsführer Hans Striefler (*1907+1998) kümmerten sich in ihrer Eigenschaft als "Zensoren" nur darum, dass die Redakteure und Redakteurinnen in ihrer Berichterstattung auch stets SPD-freundlich waren. Selbstbewusste Journalisten, etwa der einstige "Panorama"-Chef des Norddeutschen Rundfunks, Peter Merseburger musterten ab, weil sie sich nicht ständig von zeitungsfremden Parteileuten vorschreiben lassen wollten, wen sie zu kritisieren hatten und wie sie eine Zeitung gestalten müssten. - Schere im Kopf.
PANIK PUR IN DER BARACKE
Obwohl die "Hannoversche Presse" (1949 mit 260.000 Auflage noch eine der führenden deutschen Tageszeitungen) schon anno 1965 tief in den roten Zahlen steckte, griff Alfred Nau nicht ein. Er handelte erst, als Gustav Schmidt-Küster in den Ruhestand trat und das Blatt heruntergewirtschaftet war. Nun fiel Nau in der andere Extrem; Panik pur in der Baracke. Er engagierte als Blattmacher den ehemaligen Springer-Manager Dr. Peter Krohn. Dessen erste Amtshandlungen: Er entließ mehr als 30 Redakteure, stellte ein Dutzend Bezirksausgaben ein, setzte den Chefredakteur ab und machte sich selbst zum Redaktionsleiter, kündigte die Mitbestimmungsrechte der Redaktion (Redaktionsstatut) und änderte den Titel der Zeitung zweimal innerhalb kürzester Zeit. Erfolg: 1972 hat die "Neue Hannoversche" nur noch eine Auflage von rund 92.000.
PARTEI-KREDIT - OFFENBARUNGSEID
Zudem: Ein zinsloser Parteikredit von zwei Millionen Mark für die Zeitungsrenovierung ist schon verbraucht. Neu-Manager Krohn: "Wir brauchen einen finanziell potenten Partner." Der ist noch nicht in Sicht. Krohn gesteht freimütig: "Meine kaufmännische Lieblingslösung heißt Springer." Dieses Wort eines SPD-Managers kommt einem Offenbarungseid gleich. Jahrelang hat Alfred Nau aus den SPD-Verlagen Gelder herausgepumpt, anstatt sie sinnvoll zu investieren. Verleger und Konsul Schmidt-Küster musste sechs Prozent seines Rohgewinns abführen. Der ehemalige Geschäftsführer der in Dortmund erscheinenden "Westfälischen Rundschau", Paul Sattler, schätzte den Betrag, den er in den Jahren 1947 bis 1953 der Parteizentrale überwies, auf rund zwei Millionen Mark. 1953 stellten die SPD-Zeitungen zusätzlich eine Million Mark für den Wahlkampf zur Verfügung.
KEINE QUALIFIZIERTEN LEUTE
Der Bochumer Zeitungswissenschaftler Professor Kurt Koszyk sieht für die noch vegetierenden SPD-Zeitungen keine Überlebenschance. "In der SPD-Parteizentrale gibt es für diese schwierige Aufgabe keine qualifizierten Leute. Alfred Nau und seine Mitarbeiter haben es versäumt, zur rechten Zeit eine Zukunftsperspektive für ihre Zeitungen zu entwickeln. Sie haben weder eine Meinungs- noch eine Marktforschung betrieben, was bei den anderen Verlagen selbstverständlich ist. Die SPD-Zeitungen haben den Kontakt zum Leser verloren, ohne dass sie es merkten. Das Kind ist nun im Brunnen."

Sonntag, 2. Juli 1972

Bundeswehr-Universitäten: Extrawurst für Offiziers-Elite






Ein Staat im Staate - der Elite-Nachwuchs mit Privilegien nur für die deutsche Armee . Bundesminister und Universitäts-Rektoren wehrten sich gegen Helmut Schmidts Pläne als Verteidigungsminister nach einer Bundeswehr-Hochschule - erfolglos
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stern, Hamburg
02. Juli 1972 / 19. März 2009
von Reimar Oltmanns
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"Die Schule der Nation ist und blieb die Schule",sagte Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974; *1913+1992) in seiner Regierungserklärung im Jahre 1969 und setzte sich damit von seinem Vorgänger Kurt-Georg Kiesinger (1966-1969; *1904+1988) ab, der die Bundeswehr als Schule der Nation pries.
NORMALE UNIS NICHT GUT GENUG
Mittlerweile sind Willy Brandts Verteidigungsminister Helmut Schmidt (1969-1972) die Hochschulen der Nation für seine Offiziere nicht gut genug. Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt fordert für die Ausbildung der Truppenführer Bundeswehr eigene Elite-Universitäten - quasi einen Staat um Staate - und legt sich deshalb mit den bestehenden 391 deutschen Hochschulen und seinen Kabinettskollegen an. Ihm geht es dabei nicht nur im die Offiziersausbildung. Er möchte vielmehr zugleich dem gesellschaftspolitischen Um- wie Aufbruch der Außerparlamentarischen Opposition (APO) Paroli bieten. Der Bundeswehr-Chef will damit auch den "zivilen" Studenten vormachen, was eine Harke ist: "Wenn wir es nicht schaffen, dass wir den aus den Fugen geratenen Universitäten zeigen, wie eine militärische Uni einwandfrei arbeiten kann - wer denn dann?"
DRILL UND STUDIUM
Schon im Oktober 1973 sollen 500 Offiziere an den zu Hochschulen beförderten bisherigen Offiziersschulen in Hamburg und München zu büffeln beginnen. Im Mai 2008 hatten sich bereits an der sich nunmehr "Helmut-Schmidt-Universität" nennende militärischen Bildungsinstitution insgesamt 2.623 Bundeswehr-Studenten und Studentinnen eingeschrieben (insgesamt über 7.000 Studierende). Wie die Soldaten-Uni arbeiten soll, das hatten Generäle in ihrem Referenten-Entwurf des Verteidigungsministeriums beizeiten zementiert: "Militärische Ausbildung und Studium gehören zusammen. Das Studium übernimmt Teil der bisherigen militärischen Ausbildung der erleichtert andere Teile durch die vorbereitende Grundlegung." Immerhin dürfen die Studenten noch selbst darüber entscheiden, ob sie währen des Studiums auf dem Campus Uniform tragen. Die Jahrzehnte alten Hörsäle, etwa an der Soldaten-Uni in Münchens angegrauten Kasernengebäuden sind frisch saniert. Nur die deutsche Flagge am Eingangs-Tor signalisiert, dass auf diesem Gelände militärische Tugenden gefragt sind. Deshalb haben jene Studenten auch ihre eigentliche Bestimmung nicht zu vergessen, müssen regelmäßig Leistungsmärsche und Schießübungen absolvieren. - "Augen gerade aus" usw. usf.
DIPLOME ÜBERALL ANERKANNT
Die Studenten in Uniform dürfen ihr Fachstudium - Betriebswirtschaft, Pädagogik, Informatik, Maschinenbau, Luft- und Raumfahrttechnik, Elektrotechnik und Bauingenierwesen, Verkehrswissenschaft, Umweltkunde - nur auf Sonderuniversitäten absolvieren, die dem Verteidigungsministerium unterstehen. Ihre nach dreijährigem Studium erworbenen Diplome aber sollen auch für zivile Berufe anerkannt werden. Bis zum Examen sind die Studienbedingungen im Vergleich zum Massenandrang an anderen Hochschulen geradezu ideal-typisch. Das bedeutet: auf einen Professor betreut durchschnittlich mal gerade 28 Studenten. Die meisten Jungakademiker leben auf dem Campus in bestens eingerichteten Wohnheimen. Und sie verdienen als Soldaten des Staates Deutschland ein monatliches Salär von 1.500 € netto.
KEINE DEMOKRATIE
Wer heute sich für die Offizierslaufbahn als einen wichtigen Eckpfeiler seines Berufsweges entscheidet, verbringt die ersten 15 Monate seiner mindestens 13 Jahre dauernden Dienstzeit im Soldaten-Rock; will heißen Drill und Schliff bei der Truppe meist unter Flecktarn. Sodann geht es an die Bundeswehr-Universität in Hamburg oder München, wo der studierende Soldaten spätestens nach vier Jahren ein Diplom sein eigen nennen muss. Dann geht's zurück zur Truppe; oft zu Auslands-Einsätzen der deutschen Armee. Die Demokratisierung, die für zivilen Universitäten inzwischen selbstverständlich geworden ist, kann und soll auch künftig für Militärhochschulen nicht gelten: Nach einem vertraulichen Ministeriums-Dokument bekommen weder Studenten noch Assistenten in den entscheidenden Fragen Mitbestimmungs- oder auch nur Mitspracherechte. Über Forschungsaufträge und Hochschullehrerberufung entscheidet ein Professoren-Gremium wie an der längst überholten, längst verstaubten Ordinarien-Universität vergilbter Jahre - und natürlich das Ministerium für Verteidigung.
MITBESTIMMUNG VERLETZT
Damit verletzte der Sozialdemokrat Helmut Schmidt die Mitbestimmungsforderungen der SPD-Bildungspolitiker, die sich gerade wieder im Wissenschaftsausschuss des Bundestages mit der CDU/CSU-Opposition über ein Kernstück der Mitbestimmung bei der Hochschullehrer-Berufung streiten. "Die Professoren", heißt es im SPD-Vorschlag, "sollten nicht von vornherein eine Mehrheit gegenüber den beiden Gruppen haben, auch in kleinen Gremien Assistenten und Studenten wirksamer mitarbeiten können." - Wunschdenken.
RECHTSÜBERHOLER SCHMIDT
In Wirklichkeit überholte Helmut Schmidt - von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt - mit der Uni in Uniform sogar das bayerische Hochschulgesetz des ultra-konservativen Kultusministers Hans Maier (1970-1986) - und zwar von rechts. Hans Maier, der die absolute Mehrheit der Professoren im Berufungsausschuss der Universität fordert, lässt Studenten und Assistenten wenigstens mitreden. Bei der Bundeswehr-Uni darf dagegen der Geheimdienst mitbestimmen: Professoren werden nur dann durch den Verteidigungsminister auf einen Lehrstuhl berufen, wenn der Militärische Abschirmdienst (MAD) seine Genehmigung erteilt hat.
AN BUNDESLÄNDER VORBEI
Damit die Bundeswehr-Universitäten überhaupt gegründet werden können, soll Minister Helmut Schmidt an den originären Rechten der Länder-Parlamenten vorbeiregieren. Hochschulen können eigentlich nur durch Gesetze der Länder gegründet werden, bei denen die "Kultur-Hoheit" liegt. Bildungsexperten des Verteidigungsministeriums haben deshalb ihrem Chef empfohlen, die Länderrechte mit einen "Organisations-Erlass" zu umgehen, weil "ein Bundesgesetz verfassungsrechtlich bedenklich und politisch nicht realisierbar" ist.
NICHTS BEWUSST - ABER BESCHLOSSEN
Von derlei Rochade-Plänen wussten die Hamburger Sozialdemokraten freilich nichts, als Helmut Schmidt mit ihnen über die Anerkennung der Bundeswehr-Diplome durch den Senat verhandelte. Die SPD-Bürgerschafts-Fraktion empfahl dem Senat, "die Einrichtung und die Arbeit der Hamburger Bundeswehr-Hochschule zu fördern". - Punktum.
PROFESSOREN-KRITIKER
Nur die Westdeutsche Rektoren-Konferenz (WRK) ließ sich vom Verteidigungsministerium nicht überzeugen. Schon im Januar 1972 hatten die Universitätschefs angeboten, an neun Hochschulen zusätzliche Studienplätze für Offiziere einzurichten. Sie konnte darauf verweisen, dass seit Gründung der Bundeswehr 1.830 Offiziere während der Dienstzeit an Universitäten Examen abgelegt haben. Zusätzliche Studienplätze würden außerdem viel weniger kosten als Militärhochschulen. Allein die Vorbereitungskosten bis zum Lehrbeginn der Bundeswehr-Universitäten in München und Hamburg werden auf 100 Millionen Mark geschätzt. Als es im Juni 1972 auf Drängen der Rektoren endlich zu einem Gespräch mit dem Minister auf der Bonner Hardthöhe kam, ging Helmut Schmidt auf solche Angebote überhaupt nicht mehr ein. Der Hamburger Uni-Präsident Dr. Peter Fischer-Appelt (1970-1991): "Die Sache war ja schon längst entschieden. Der Schmidt wollte seine eigene Universität."
BAZILLUS-ÜBERGRIFF
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) indes hält ebenfalls nichts von Schmidts Uni-Plänen. Dr. Dieter Wunder, Landesvorsitzender in Hamburg (Bundesvorsitzender 1981-1997): "Es ist doch nicht einzusehen, warum zum Beispiel pädagogische Fragestellungen für Bundeswehr-Angehörige anders dargestellt werden müssen als bei normalen Studenten. Der Schmidt fürchtet nur, dass der so genannte Bazillus an den Universitäten auf die Offiziere übergreift. Vorerst muss Helmut Schmidt viel mehr fürchten, dass ihm seine eigenen Minister-Kollegen das Konzept verderben. Finanzminister Karl Schiller (1971-1972) will kein Geld rausrücken. und Innenminister Hans-Dietrich Genscher (1969-1974) meldet "beamtenrechtliche Bedenken" wegen des Sonderstatus der Uni in Uniform an. Derweil bastelt Helmut Schmidt schon an den ersten Professoren-Listen. Eines steht bereits fest: Präsident der Münchner Bundeswehr-Universität wird ein General.
DISZIPLIN UND KEIN CHAOS
Momentaufnahmen an der Hamburger "Helmut Schmidt Universität" nach mehr als als drei Jahrzehnten. Studentinnen und Soldatinnen wie Gloria Axthelm, 25, sind voll des Lobes. Hier herrsche "Disziplin", sagt sie, "nicht solch ein Chaos während der Semester wie vielerorts an den normalen, zivilen Universitäten". Und ihre Kommilitonin Eva-Maria Kern ergänzt: "Die Studenten sind hier durchgehend pünktlich, fleißig, höflich, gewissenhaft, voll und ganz auf ihr Examen konzentriert." Und das Kommando an beiden Unis in Uniform haben Zivilisten - Professoren, die in ihrem Leben nie in NATO-Oliv steckten und mit dem Leopard eher eine Großkatze als den Panzer assoziieren. - Aber wohin geht's dann mit dem Universitäts-Examen, wo doch "Deutschland mittlerweile im Hindukusch verteidigt" wird ?

Freitag, 30. Juni 1972

Verdeckter Bruderzwist im Leineschloss


















Ärger mit Peter von Oertzen (*1923 + 2008) - Ein politisches Profil, das immer in einer Außenseiter-Rolle war.


DIE ZEIT
vom 30. Juni 1972
von Ulrich Eggert


Die Lage schien ernst, "Ministerpräsident Alfred Kubel (*1909+1990) wollte seinen profiliertesten Mitarbeiter, Kultusminister Peter von Oertzen (*1924+2008) aus dem Kabinett feuern", schrieb Reimar Oltmanns, einst Pressesprecher im niedersächsischen Kultusministerium, im stern über seinen früheren Chef. Bruderzwist im Leineschloss, dem Sitz des niedersächsischen Landesparlamentes?

"Alles Quatsch", kommentierte Regierungschef Kubel. In dessen lag ein Körnchen Wahrheit in Oltmanns "Prügel für den Musterschüler". Ausgelöst durch die Affäre Seifert (siehe DIE ZEIT Nr. 23/72 "Narrenfreiheit") offenbarte sich ein alter Gegensatz zwischen Regierungschef Kubel und Parteichef von Oertzen. Während der Pragmatiker Kubel wenig Sinn in zeitraubenden Diskussionen sieht, grübelt der Professor der Politologie gern über den theoretischen Unterbau seines praktischen Handelns, zuletzt über das Rätesystem, das er verfassungsrechtlich für denkbar hält, politisch aber ablehnt.

HERKUNFT UND LAUFBAHN

Der Gegensatz zwischen den beiden niedersächsischen Spitzenpolitikern beruht nicht nur auf differen-zierenden Persönlichkeitsbildern. Er muss auch von Herkunft und Laufbahn aus gesehen werden. Dem 63 Jahre alten Industriekaufmann Kubel, der nach dem Mittelschulbesuch eine Drogistenlehre absolvierte, wurde das Gesetz des Handelns stets aufgezwungen. Seine politische Aktivität gegen den Nationalsozialis-mus bezahlte er während der Zeit des Dritten Reiches mit Verfolgung und Haft. Nach 1945 begann er mit Gleichgesinnten den Aufbau eines demokratischen Staates. Nach Gründung des Landes Niedersachsen im Jahre 1946 war er in fast allen Ressorts als Minister tätig. Seine Gabe, sich auf das Wesentliche konzen-trieren zu können, ließen ihn alsbald zum Fachmann für Agrarprobleme, Gesundheitsfragen oder Finanzstruk-turen werden. Dass er dabei mit der Zeit langsamer Denkenden gegenüber unduldsam wurde, trug ihn den Spitznamen "Landesschulmeister" ein.

SCHARFER ANALYTIKER

Peter von Oertzen, Jahrgang 1924. wuchs in Berlin auf, studierte in Göttingen und wurde 1963 ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule Hannover. Der scharfe Analytiker ist - so Oppositionsführer Wilfried Hasselmann (*1924+2003) - im nieder-sächsischen Landtag "in seiner Partei eigentlich immer ein Außenseiter gewesen". Der "rote Baron" hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er politisch links von der SPD-Mitte steht und Gruppierungen bevorzugt, die Reformen vorantreiben.

Kubels unterkühltem Charme setzt er ein bisweilen ungezügeltes Temperament entgegen, das ihn im Leineschloss die Opposition als "Lumpenpack" apostro-phieren ließ. Opportunismus ist ihm in jeder Form fremd. So reagierte er auf Vorwürfe, ausgerechnet vor den Landtagswahlen in Niedersachsen das jugo-slawische Modell der Arbeiterselbstverwaltung als diskussionswert bezeichnet zu haben, mit der Fest-stellung: "Meine Meinung ändert sich auch vor Wahlen nicht." Der bärtige Chef des Kulturressorts bietet wegen seines stets gradlinigen Denkens und Handelns viele Angriffsflächen. Die CDU in Niedersachsen hat ihn deshalb als "Buhmann" aufgebaut. In der vergangenen Woche versuchte sie, einen Keil zwischen Kubel und von Oertzen zu treiben. Hasselmann: "Wir haben den Ein-druck, als ob der Kultusminister an das Verfahren gegen Seifert nicht mit dem Verfassungsverständnis des Ministerpräsidenten herangegangen ist."

Kubel, den die Einstellung des Disziplinarverfahrens gegen Jürgen Seifert (*1928+2005) in der Tat gewaltig erbost hat, wiegelt ab: "Unterstellen wir, dass Herr Professor von Oertzen ein stärkeres Gewicht auf die Bedeutung individueller Freiheit legt, auf die Bedeu-tung der Meinungsfreiheit - er hat es selber sehr betont - und unterstellen wir, dass der Kubel ein höheres Maß an Ordnung für nötig hält, um ein hohes Maß an indivi-dueller Freiheit durch solche Ordnung zu schützen ... ... wäre es dann denn gar so undenkbar, dass es unseren Bürgern nützlich ist, wenn diese beiden Überzeu-gungen am selben Tisch sitzend, sich gegenseitig kontrollieren, dafür sorgen, dass vielleicht keine übertrieben wirken kann?"

Kubel forderte die christlich-demokratische Opposition auf, "realistisch jede Hoffnung fahren zu lassen, dass durch Meinungsverschiedenheiten, die nicht die Grund-überzeugung unserer Politik erfassen, jemals eine Spaltung unter uns eintreten kann".

Besser hätte e auch der Politologie von Oertzen nicht formulieren können, der in zweijähriger Regierungs-verantwortung an seinen Aufgaben gewachsen ist. Kubel kann kaum auf ihn verzichten. Er will es auch nicht.






















Freitag, 28. April 1972

Kirche im Nationalsozialismus: Entzauberung einer Legende. Ein Denkmal wankt - "Der Krieg als geistige Leistung" - Bischof Hanns Lilje (*1899+1977)

































Die Kirchen in Deutschland waren tief in die Nazi-Diktatur verstrickt. Nur wenige Christen fanden Courage zu widerstehen. Zu ih
nen soll Hanns Lilje (*1899+1977) , Hannovers Protestanten-Bischof, gezählt haben; ein emphatischer "Prediger des inneren Widerstands", als "kühnster Sprecher der Bekennenden Kirche" gegen Hitler-Deutschland hieß es landauf, landab in all den Jahren. Tatsächlich war Hanns Lilje im Nachkriegs-Deutschland eine der wenigen weltgewandten Persönlichkeiten des Protestantismus im 20. Jahrhundert. Ein Theologe, an dem sich viele aufrichteten, Orientierung suchten, ein Märytrer. Letzte Forschungen belegen zweifelsfrei, Liljes Opposition gegen die Nazis ist Legende - zwischen wohldosierter Dichtung und unterdrückter Wahrheit. Wie konnten derlei Verklärungen über all die Jahrzehnte funktionieren? Propaganda-Tricks , Vertuschungen ? Begegnung mit einem Mitläufer. Zeitgeschichte
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Zur Erinnerung: Hanns Lilje war elffacher Ehrendoktor, Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland sowie der Niedersächsischen Landesmedeaille. Er ist Namensgeber der 1989 gegründeten synodalen Hanns-Lilje-Stiftung. Lilje starb im Alter von 77 Jahren. Seine Grabstätte befindet sich auf dem Klosterfriedhof in Loccum.
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Frankfurter Rundschau
28. April 1972
von Reimar Oltmanns
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In der Meraner Straße im hannoverschen Waldhausen verbringt Landesbischof a.D. Johannes Ernst Richard - genannt Hanns - Lilje seinen Lebensabend. "Ein Christ im Welthorizont", wie Lilje oft genannt wurde, der "allzeit das Ohr am Boden gehabt und das Grollen sich ankündigender Bewegung im voraus vernommen" hat, so charakterisierte ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ich habe mich auf mein Gespräch mit Hanns D. Lilje intensiv vorbereitet, Fragen notiert. Ich wusste um seine geschliffene Sprache, um seine wortgewaltige Argumentationsweise - eine vielleicht vordergründige Prägnanz, die aber gleichwohl unliebsame Ereignisse, Erinnerungen vom Tisch zu fegen verstehen. Nun, an seinem Lebensabend, hatte Hanns Lilje die Gelassenheit gefunden, fernab von der aktuellen Kirchenpolitik, Bilanz zu ziehen, eine Art Lebensresümee aufzuzeichnen - seine Memoiren zu schreiben.
POLITISCHER PRAGMATIKER
Hanns Lilje war seit 1947 kein Landesbischof im herkömmlichen Sinne. Als Prediger und Journalist (Urbegründer des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes 1948-2000), als Theologe und Seelsorger, als Kirchenführer und Schriftsteller versuchte er nicht nur, wie er es nannte, "Brücken zu schlagen". Das jedenfalls schrieb der Evangelische Pressedienst 1969 zu seinem 70. Geburtstag. Hanns Lilje war, wie er selbst von sich sagt, in all den politisch Zeiten der Irrungen und Wirrungen ein "politischer Pragmatiker", der keinen Weg betrat, "von dem ich nicht wusste, dass ich ihn nicht zu Ende gehen kann". Diese Maxime bestimmte seine Kirchenpolitik, sei es als Generalsekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (1927-1935) oder auch als Präsident des Lutherischen Weltbundes, der er von 1952 bis 1957 war.
VOM AUFSTIEG VERFÜHRT
Ein Schlüsselerlebnis, das Lilje zur Theologie führte, gab es nicht. Ursprünglich wollte er Verkündiger sein, "um mein Leben an eine ernsthafte große Aufgabe dieser Art zu verwenden". Doch schon 1927 - sechs Jahre vor Hitlers Machtergreifung - begann für ihn als Generalsekretär der Deutschen Christlichen Vereinigung der steile Aufstieg in die Hierarchie der Kirchenpolitik, von der er sich bis zu seiner Pension nicht mehr loseisen konnte - und auch wollte. Folglich begründete Lilje im Jahr 1933 die "Jungreformatorische Bewegung" mit und sagte zur NS-Machtübergabe ein "freudiges Ja". - Kirchen-Karriere.
ALLES GEWUSST - NICHTS GESAGT
Als Generalsekretär und später als Vizepräsident dieser Organisation will er "das Handwerk gelernt haben, um überhaupt in der geistigen Diskussion dieser Zeit drin sein zu können". Tagungen, Vortragsveranstaltungen und zeitweilig literarische Aufträge haben ihn "in das Licht der Öffentlichkeit gerückt". Und obwohl er "kein dramatischer Mensch war und auch nicht unbedingt provozierende Dinge gedacht und gesagt hat" (Lilje) schrieb er nach dem misslungenen Attentat auf Hitler am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller in der Zeitschrift "Furche": "Dass durch solche Anschläge der Siegeswille des nationalsozialistischen Deutschland nicht gelähmt werden darf, bedarf keines Wortes." Liljes Kirchen-Wort zu einer Zeit, als in Hitler-Deutschland längst Bücher und Synagogen brannten und der Angriffskrieg längst begonnen hatte.
KEIN WIDERSTANDS-KÄMPFER
Zwar gehörte Hanns Lilje zur Bekennenden Kirche um Dietrich Bonhoeffer (*1906+9.April 1945 im KZ Flossenburg ermordet ) und Martin Niemöller ( *1892+1984 - seit 1937 Häftling im KZ Sachsenhausen), doch ein Widerstandskämpfer war der rhetorisch wetterfeste Bischof im schwarzen Talar mitnichten. Ganz im Gegenteil. Weil Hanns Lilje vielleicht "kein dramatischer Mensch" war, schrieb er 1941 in den Furche-Schriften, einen Aufsatz "Der Krieg als geistige Leistung", um, wie er sich heute rechtfertigt, "den Menschen, die in die Maschinerie des Krieges hineingeraten sind, zu helfen, ihre geistige Existenz wahren zu können". So steht dort geschrieben: "Für Luther ist der Krieg 'Gottes Werk' - in demselben Sinne, in dem Größe und Grauen der Geschichte Gottes Werk heißen und in dem alle Geschichte gleicherweise Zeichen seiner Gnade wie seines Zornes ist ...". - Verständlich, dass Gott im Dienst "nationaler deutscher Belange" steht. Lilje im Originalton: "Es muss nicht nur auf den Koppelschlössern der Soldaten, sondern in Herz und Gewissen stehen: Mit Gott!" - Gott als Legitimation der Nazi-Barbarei; Hanns Lilje sein Chefinterpret: "Soldaten sind Männer, die jetzt wieder den grauen Rock der Ehre tragen."
VERKLÄRUNG FRÜHERER JAHRE
Lilje Nachkriegsleben mit neu zurechtgerückten Collagen begann schon zwei Jahre nach dem Zusammenbruch am 8. Mai 1945. Da lobte ihn der "Internationale Biografische Dienst" als einen vom Volksgerichtshof Verurteilten, der die "eisernen Fenstergitter und Türen des berüchtigten Gefängnisses von Moabit mit seinem ungebrochenen Geist gesprengt habe, längst ehe nach dem Einmarsch der alliierten Truppen in Berlin die Zeiten sich öffneten". Im selben Jahr, im Frühjahr 1947, stellte die viel beachtete britische Zeitung British Zone Review, dem wichtigsten Presseorgan des Kontrollrats, Lilje als einen "mutigen Deutschen" dar, der in Gestapo-Haft kam (1944 bis 1945), weil er in das Komplott des deutschen Widerstands vom 20. Juli verstrickt gewesen sei. Naheliegend, dass dieser Lilje in einem Atemzug mit den Widerstandskämpfern Theodor Steltzer (*1885+1967 ), Fabian von Schlabrendorff (*1907+1980 ), Helmuth Graf von Moltke (*1907+23. Januar 1945 gehängt im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee ) und Eugen Gerstenmaier (*1906+1986; als Mitglied des Kreisauer Kreises am 20. Juli 1944 verhaftet) genannt wurde. Beinahe so, als sei Hanns Lilje einer der wenigen, der den Nazi-Schergen noch entronnen sei. Lilje als Märtyrer. Karriere-Bausteine. Blanko ausgestellte Persilscheine, die dem Kirchenmann nicht nur hohe Reputation sicherte, sondern gleichfalls zu einer der ersten von den Briten genehmigten Zeitungslizenzen verhalfen - das "Sonntagsblatt", welches er herausgab. In Wahrheit hatte sich Hanns Lilje nicht gegen die Nazis gestellt. Auch war er nicht - wie immer wieder in Umlauf gesetzt - zum Tode , sondern zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Letztlich war der Prozess am Volksgerichthof unter dem Vorsitzenden Roland Freisler (*1893+1945 ) gegen den Kirchenmann wegen seiner zahlreichen Auslandskontakten ("Landesverrat") inszeniert worden - und nicht gegen seiner Zugehörigkeit zu einer Widerstandsguppe gegen Hitler, gar zu den Männern des 20. Juli 1944. - Aufklärung.
FESTSCHRIFT ZUM 70. GEBURTSTAG
Junge Theologen um den Göttinger Pastoren Hartwig Hohnsbein fertigten zum 70. Geburtstag des Landesbischofs einen Raubdruck über sein Nazi-Mitläufertum an. Sie ließen ihm - als "Festschrift deklariert" - ein Exemplar zukommen. Danach war es Hanns Lilje, der den Anführer des zivilen Widerstands, Carl Goerdeler (*1984+1945 ), nationalkonservativer Oberbürgermeister von Leipzig, jede bittende Hilfe bei seiner geplanten Flucht ins Ausland - als letzte Rettung - verweigerte. Er , Goerdeler, so Liljes Maßgabe, solle doch lieber nach Leipzig zurückkehren Carl Coerdeler wurde 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Pastor Hartwig Hohnsbeins Befund: "Lilje war verlässlicher Parteigänger für die NS-Machthaber, bis er, sehr zufällig, selbst in das Räderwerk ihrer brutalen Unrechtsordnung kam."
FRAGEN ÜBER FRAGEN - KEINE ANTWORT
Es waren junge Theologen und in der Kirche aktive Christen, die ihren Landesbischof nach seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus fragten. Viele junge Menschen fragten in den sechziger Jahren ihre Väter. Es war die Zeit der ersten schüchternen Aufarbeitung des Unverstellbaren - die Massenmordes im Namen der Deutschen. Es war die Zeit, des Publizisten Eugen Kogon (*1903+1987) mit seinem Standardwerk über den "SS-Staat". Es waren die Jahre des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich (*1908+1982) mit seiner deutschen Zustandsbeschreibung "Die vaterlose Gesellschaft" oder "Die Unfähigkeit zu trauern". Es waren aber nicht die Jahre, Aufklärungsjahre, Trauerjahre des Landesbischofs im Namen der Christen. Denk- und Diskussionsverbot. Hanns Lilje beschied lapidar: "Ich habe keinen Anlass, diese Kritik ernst zu nehmen, weil sie Ausschnitte aus einer geplanten Antipropanda gegen die Kirche sind, deren Ursprung höchstwahrscheinlich in der DDR zu suchen ist." Ende der Durchsage. Kein Pastor wagte aufzumucken, Kritiker versteckten sich.
NAZI-KONTINUITÄT
Zwei Jahre nach Kriegsende wurde Hanns Lilje, inzwischen zum Oberkirchenrat avanciert, von der hannoverschen Landessynode zum Landesbischof gewählt. Er trat damit die Nachfolge des NSDAP-Parteigängers und Antisemiten Bischof August Marahrens (*1875+1950) an, dem er zuvor des öfteren in der Kirchenpolitik begegnet ist: insbesondere um 1935, als August Marahrens Präsident des Lutherischen Weltkonvents war und Lilje als Generalsekretär fungierte. Von der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen , dass mit der Amtsübergabe Marahens/Lilje eine unscheinbare, innere Kontinuität gewahrt wurde. Im Klartext: Hitler-Befürworter von einst gaben sich im neuen Gewande den Tresorschlüssel in die Hand. Nach draußen hin sollte die Ablösung Marahrens durch Lilje die Landessynode offensichtlich demonstrativ einen Schlussstrich unter die nationalsozialistischen Geschehnisse signalisieren; aber nur fürs Kirchenpublikum. Denn intern in vielen Pastorenstuben waren beklemmende Erinnerungen an die Marahens-Ära noch zu frisch, lebte auch das kirchliche Amtsblatt der Landeskirche zu Hannover vom 21. Juli 1944 in so manchen Seelsorger-Köpfen fort. Ein Amtsblatt der Zeitgeschichte, in dem August Marahrens "als Dank für die gnädige Errettung des Führers für den darauffolgenden Sonntag folgendes Gebet anordnete: "Heiliger barmherziger Gott! Von Grund unseres Herzens danken wir Dir, dass Du unserem Führer bei dem verbrecherischen Anschlag Leben und Gesundheit bewahrt und ihn unserem Volke in einer Stunde höchster Gefahr erhalten hast. In Deine Hände befehlen wir ihn ...".
KAMPF UM RESTAURATION
Die Zeichen in der Nachkriegsgeschichte der evangelischen Kirche standen auf Sturm. So heißt es in der "Stimme", einer Zeitschrift um den früheren KZ-Häftling im Konzentrationslager Sachsenhausen und Widerstandskämpfer Martin Niemöller (*1892+1984): "Im Unterschied zur Gruppe der deutschen Christen konnte die lutherische antisozialistische Fraktion ihre Machtposition in den Landeskirchen und in der EKD auch nach 1945 behaupten, und sie setzte in den entscheidenden Jahren 1945 bis 1949 alles daran, eine kirchliche und gesellschaftliche Neuordnung zu verhindern."
PERSONEN-PROFILE
Das Hauptaugenmerk dieses gesellschaftlichen Kirchen-Kampfes um Erneuerung oder Bewahrung bei den Protestanten richtete seinen Blickwinkel auf zwei Protestantenführer jener Jahre - eben Hanns Lilje als Mann der westdeutschen Restauration - und Martin Niemöller, Repräsentant des Neubeginns, Vertreter der Aufarbeitung auch des Unrechts, das im Namen der evangelischen Kirche geschehen ist. Er schrieb in diesen Jahren einen Vers, der wohl kaum besser das allseits lähmende, erstickende Klima reflektiert:
"Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie die Sozialisten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialist.
Als sie die Juden einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."
Doch einen gab es dann noch noch - der aber protestierte nicht: Hanns Lilje. Ganz im Gegenteil: Vier Jahre nach dem Nazi-Gräuel forderte der Bischof einen Schlussstrich zu ziehen, eine "Liquidation der Vergangenheit". Er war ein Exponent der anti-sozialistischen Lutheraner nach 1945. Und Hanns Lilje bekannte sich im Frühjahr 1971 erstmalig im Rückblick auf seine Amtszeit als Landesbischof ganz offen zur Wiederherstellung alter Verhältnisse, zur Wiedereinsetzung aller Figuren in ihren Ämtern - zur Restauration.
FÜR NS-TÄTER EINGESETZT
Vor der hannoverschen Synode sagte er: "Wir haben in der Tat wiederhergestellt. Und ich darf, ehe dieses Wort der Restauration wieder absinkt in den Streit der Schlagworte, sagen: Genau das war unsere Pflicht." War es auch seine Pflicht, sich für verurteilte NS-Täter einzusetzen; darunter Massenmörder wie Paul Blobel (+1894+1951; u.a, Führer des Sonderkommandos 4a, das 60.000 Menschen, darunter 30.000 Juden am 29. und 30. September 1941 bei Kiew ermordete und Franz Six (*1909+1975; SS-Brigadeführer - Generalmajor - , verantwortlich für Logistik der Judenverfolgung)?
STUTTGARTER SCHULDBEKENNTNIS
Hatte Hanns Lilje noch 1945 zusammen mit Martin Niemöller und Gustav Heinemann (*1899+1976; Bundespräsident 1969-1974) das "Stuttgarter Schuldbekenntnis" unterschrieben, so trennten sich die Wege beider Theologen in den fünfziger Jahren. Schon 1947 war Martin Niemöller in der Synode äußerst umstritten, galt als "linksverdächtig". So steht in einem Urantrag geschrieben: Sie (Synode) steht auf dem Standpunkt, dass Herr Niemöller als Leiter des Außenamtes der evangelischen Kirche untragbar ist." Aus den Synodalprotokollen geht hervor, dass Niemöller für den ehemaligen deutsch-nationalen niedersächsischen Ministerpräsidenten Heinrich Hellwege (*1906+1991; Ministerpräsident des Landes Niedersachsen 1955-1959) ein Dorn im Auge war. Grund der Auseinandersetzung: Martin Niemöller suchte vergeblich in Zeiten des "Kalten Krieges" eine "positive Klärung" der Westdeutschen zu ihren östlichen Nachbarn. Anti-Kommunisten Hellwege vor der Synode: "Solche Parolen sind gefährlich, weil sie den Widerstandswillen des deutschen Volkes gegen die östliche Bedrohung schwächen, und weil sie damit der ernstlichen Bemühung der Bundesregierung und unser aller geistiges Bollwerk in den Rücken fallen." - Kirchenpolitik.
AUFRÜSTUNG - MILITÄRSEELSORGE
Ihren Höhepunkt fanden heftigst die Auseinandersetzung in der Diskussion um Wiederaufrüstung , Gründung der Bundeswehr im Jahre 1956. Wieder sollten Pastoren Panzer und Soldaten, diesmal in ihrer Hab-Acht-Stellung gegenüber dem Kommunismus, Pate stehen, Beistand leisten, Gottvertrauen zusprechen. Es war Kanzler Konrad Adenauer (*1876+1967), der die Pastoren - neun Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg - mit seinem Militärseelsorge-Vertrag wieder in die Kasernen rief. Es waren Martin Niemöller und Helmut Gollwitzer (*1908+1993), die eine abermalige Bindung ihrer Kirche an Panzern mit ihren Pastoren strikt ablehnten. Hanns Lilje hingegen engagierte sich mit seinem Kollegen Otto Dibelius (*1880+1967) fürs Engagement schwarzer Talare auf Kasernen-Höfen; nach dem Motto: Gotteswort überall.
BESCHLÜSSE EINFACH MISSACHTET
Bezeichnenderweise steht nichts über derlei gravierende Richtungskämpfe in offiziellen Kirchen-Verlautbarungen. Lediglich das "Jahrbuch für kritische Aufklärung" vermerkt: "Der Protest meldete sich auf der außerordentlichen Synode der EKD zu Wort, die auf Wunsch der Kirchen in der DDR wie von westdeutscher Seite wegen der Verbreitung der allgemeinen Wehrpflicht und des Militärseelsorgevertrages einberufen wurde. In einem am 29. Juli 1956 angenommenen Ausschuss-Resolution heißt es: 'Der Rat der EKD hat beschlossen, endgültige Maßnahmen zur Ordnung der Militärseelsorge nicht zu treffen ...' Der Beschluss sollte 'beachtet' und 'keine Tatsachen geschaffen werden, die die EKD zu dieser Sache binden'. Sandkasten-Demokratie,
MILITÄRSEESORGE DURCHPAUKT
Indes: Unter 'bewusster Missachtung' (Helmut Gollwitzer) dieses Synodalbeschlusses unterzeichnete der Ratsvorsitzende der DKD, Bischof Otto Dibelius sowie der Leiter der Kirchenkanzlei Heinz Brunotte (*1896+1984) den Militärseelsorgevertrag am 23. März 1957 in Bonn. Erster Militärbischof wurde Hermann Kunst (1957-1972; *1907+1999). Er war auch ohne Befragen der Synodalen kurzerhand ernannt worden. Hanns Lilje war jedenfalls ohne Wenn und Aber auf der Seite von Armee und Pastoren in Uniform zu finden. Er befand: "Es war schon immer Unsinn, wenn man meint, dass die Militärseelsorge die Waffen segnen soll."
US-AUSSENMINISTERIUM EINGESCHALTET
Der Konflikt zwischen beiden Flügeln in der evangelischen Kirche hatte zumindest Mitte der fünfziger Jahre ein solches Ausmaß erreicht, dass sich auch der damalige US-Außenminister John Forster Dulles (*1988+1959; US-Außenminister 1953-1959) für derlei Diadochen-Kämpfe in Sachen Jesus in Deutschland interessierte. Aus den Adenauer-Memoiren geht hervor: "Botschafter Krekeler habe John Forster Dullas sagen müssen, dass leider in der protestantischen Kirche neben den Persönlichkeiten von so klarer Haltung wie den Bischöfen Dibelius und Lilje sowie den Laien von Thadden-Trieglaff noch eine ganze Reihe von Geistlichen durchaus keine realistische Einstellung zum Problem des Kommunismus hätte."
LILJE: ZU WENIG ZUGETRAUT
Hanns Lilje will sich in all den verirrten und verwirrenden Epochen treu geblieben sein. Der "politische Pragmatismus", so sagt er, war der "einzige Weg, der uns ein Überleben sicherte". Und wenn er während seiner Amtszeit Fehler gemacht , Fehleinschätzung vorgenommen habe, dann sind sie darin zu suchen, "dass ich mir nicht immer so viel zugetraut habe, wie manche Situationen es von mir abverlangt hätte"; den Weg des geringsten Widerstands gegangen zu sein. Nach einer kurzen Pause fährt er fort: "Ich habe versucht, behutsam zu sein, um die Situation nicht noch weiter zu verschärfen." Kirchen- und Gesellschaftspolitik gehören für Hanns Lilje "organisch zusammen".