Donnerstag, 20. Juli 1978

Freiheit in Deutschland - "Die Feinde der Verfassung"
























Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll

Im Ausland geschätzt, im Inland verhetzt: Der Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll (*1917+1985) befürchtet, dass in der Bundesrepublik "Freiheit und Demokratie" langsam im Namen von Freiheit und Demokratie" erstickt werden. Ungestraft darf Heinrich Böll als "geistiger Bombenwerfer" und als Sympathisant der Terroristen genannt werden. Der vom Radikalen-Erlass geweckte Ungeist vergiftet das ganze Land: Schüler bespitzeln ihre Lehrer, Bürger denunzieren ihre politischen Gegner von nebenan. Betriebe durchleuchten die politische Haltung ihrer Arbeiter. Und selbst Linke verpfeifen andere Linke.

"Verfassungsfeind" - das ist Mitte der siebziger Jahre ein neuer Begriff, den kein deutsches Gesetz kennt oder unter Strafe stellt. Der Verfassungsschutz hat ihn erfunden und seit 1972 zum Bestandteil des deutschen Alltags gemacht: Millionen junger Leute wurden seither auf ihre politische Gesinnung überprüft; über vier Tausend blieben auf der Strecke. Sie wurden mit einer in der freien Welt einzigartigen Maßnahme belegt - dem Berufsverbot.


stern, Hamburg
27. Juli 1978
von Reimar Oltmanns

Wenn um acht Uhr morgens im Lessing-Gymnasium in Karlsruhe die Schulglocke läutet, kann sich Studienrat Fritz Güde in der Wohnung gegenüber noch einmal umdrehen und eine Runde weiterschlafen. Denn seit vier Jahren hat der Lehrer für Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde - Berufsverbot. Der 42jährige Wohlbeleibte mit Stirnglatze und Kassenbrille kann sich damit trösten, dass es dem Namensgeber der Oberschule auch nicht viel besser ergangen ist: Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), der in allen Schulbüchern gefeiert Dichter bekam 1765 vom Preußenkönig Berufsverbot. Er durfte auf Anordnung des "Alten Fritz" wegen bissiger Äußerungen nicht mehr Bibliothekar in Berlin werden.

LINKS ZU SEIN - IST NICHT STRAFBAR

Fritz Güde, der nach dem Studium vor 14 Jahren sein Elternhaus verlassen hatte, ist in sein Kinderzimmer zurückgekehrt. "Er ist selbstverständlich aufgenommen worden", sagt sein 76jähriger Vater, der ehemalige Generalbundesanwalt und konservative Unions-Abgeordnete in Bonn Max Güde (1902-1984). "Mein Sohn", erklärt der alte Güde dem Autor, "ist ein Idealist, ein Gerechtigkeitsfanatiker und Weltverbesserer. Natürlich ist er ein Linker, aber links zu sein ist nicht strafbar."

Vater Güde ist aktiver Katholik, Sohn Fritz hielt mehr vom französischen Chanson "Je suis pour Mao, c'est ma nouvelle philosophie" (Ich bin für Mao, das ist meine neue Philosophie). 1973 engagierte sich der Sohn im China orientierten Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), einer militanten, aber unbedeutenden ultralinken Splittergruppe von heute vielleicht etwa 2.500 Mitgliedern. Obwohl er im Januar 1975 aus der Mao-Partei wieder austrat und sich seither politisch nicht mehr rührt, reichten schon diese 15 Monate aus, ihm Berufsverbot zu erteilen. Aber anderes kam hinzu.

SÜNDENREGISTER

Sein Sündenregister, so das Oberschulamt Freiburg: Als Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) habe er sich 1972 (Güde war bereits zehn Jahre Beamter) für einen gefeuerten Kollegen eingesetzt. In einer von ihm verantworteten Dokumentation zu diesem Fall hätte er dienstliche Schreiben des Oberschulamtes Freiburg veröffentlicht. Im März 1973 sei er in Karlsruhe bei der Gründungs-versammlung eines "Komitees gegen Berufsverbote" gesehen worden und solle von einer "politischen Entrechtung im öffentlichen Dienst" gesprochen haben. Im November 1973 habe Güde junior in der Karlsruher Innenstadt vor dem Haupteingang des Kaufhauses Schneider zwischen 16 und 17 Uhr mehrere Exemplare der "Kommunistischen Volkszeitung verkauft - und zwar die Nummer 6/73.

GEGEN TREUEPFLICHT VERSTOSSEN

1974 suspendierte das Stuttgarter Kultusministerium den Zeitungsverkäufer Glüde. Drei Jahre später wurde der Studienrat durch das Verwaltungsgericht Karlsruhe endgültig aus dem Staatsdienst gefeuert. Der baden-württembergische Ver-waltungsgerichtshof begründete als oberste Verwaltungsinstanz des Landes: Güde habe gegen die Dienst- und Treuepflicht des Landesbeamtengesetzes verstoßen. Außerdem hätte er die Verfassungsfeindlichkeit des KBW erkennen müssen. Güde ging in die Revision und konnte damit seinen Fall in der Schwebe halten; bis zur endgültigen Klärung bekommt Güde reduzierte Bezüge von rund 1.300 Mark brutto.

Um diesen Richterspruch zu begreifen, reicht selbst der juristische Sachverstand des früheren Chefanklägers der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr aus. Max Güde: "Bestraft werden kann man nicht wegen einer vermuteten Gesinnung, sondern nur wegen einer durch Handlung bewiesenen Gesinnung." Schlimmer noch: Güde junior wurde für eine politische Überzeugung bestraft, die er schon zwei Jahre nicht mehr hatte.

INS AUSLAND EMIGRIEREN

Aus dem Staatsdienst verbannt, machte sich Fritz Güde auf Stellensuche. Er schrieb Privatschulen an, telefonierte, sprach persönlich vor. Die Bilanz: 50 Bewerbungen, 50 Absagen. Es dauerte lange, ehe er herausbekam, wer dahintersteckte: das Stutt-garter Kultusministerium. Ein Beispiel für die Macht des Amtsarms: Eine jesuitische Privatschule in St. Blasien, die es gewagt hatte, Güde ohne Rücksprache zu enga-gieren, musste ihn nach einer Woche wieder entlassen. Sonst hätte die Schule ihre Existenz aufs Spiel gesetzt: Den Jesuiten wären öffentliche Zuschüsse gestrichen und staatliche Anerkennung entzogen worden.

So schreibt Güde weiter Bittbriefe um Anstellung und führt sonst "das Leben eines bürgerlichen Rentiers des 19. Jahrhunderts, das mich seelisch fertigmacht". Am liebsten würde Güde junior ins Ausland "emigrieren", doch Güde senior will den Fall bis vors Bundesverfassungsgericht treiben.

Applaus bekam Einzelkämpfer Max Güde nicht nur von links. Der Fernsehjournalist Franz Alt von "Report" Baden-Baden schrieb in einem couragierten Brief an seinen Parteichef Helmut Kohl (1973-1998): Der Radikalen-Erlass "erinnert mich fatal an eine entsprechende Praxis in Osteuropa. Dort sollen Christen nicht Lehrer werden dürfen ... ... Warum wird Fritz Güde der Weg zurück zur politischen Vernunft so schwergemacht?

LINKS GEFEUERT - RECHTS GEHEUERT

Aber Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn der Fall Güde nicht noch eine andere - altbekannte - Qualität hätte: links gefeuert, rechts geheuert.

Dieselben Richter, die Fritz Güdes Rausschmiss damit begründeten, er hätte die verfassungsfeindlichen Ziele des KBW erkennen müssen, waren drei Monate vorher in einem anderen Fall ganz anderer Meinung gewesen.

Damals hatten die Juristen über einen NPD-Lehrer entschieden, der durch radikale Sprüche Aufsehen erregt hatte; den Oberstudienrat Günther Deckert, Bundesvor-sitzende der NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten".

Deckert, der für die NPD im Weinheimer Stadtrat sitzt, hatte auf einer Wahlveranstaltung seiner Partei in Frankfurt gefordert, dass das "Herrenrassentum unter SPD- und CDU-Vorzeichen" verschwinden und das "deutsche Vaterland" auf "Nigger" und "Gastarbeiter" verzichten müsse.

RECHTSEXTREME - EINE DEMOKRATISCHE PARTEI

Die Disziplinarkammer entschied: Der 37jährige Deckert kann weiter am Mannheimer Tulla-Gymnasium Englisch und Französisch unterrichten. Denn es sei nicht sicher, "ob die NPD überhaupt eine verfassungsfeindliche Ziele verfolgende Partei ist". Aus ihrem Programm gehe das - im Gegensatz zu denen linksextremer Gruppierungen - nicht hervor. Deckert selbst, so die Richter weiter, habe glaubhaft versichert, dass er die NPD für eine demokratische Partei halte. Deshalb sei ihm kein schuldhaftes Dienstvergehen vorzuwerfen.

Bemerkenswert an der rechtlichen Würdigung der Fälle Güde und Deckert ist, wer da so feine Unterschiede zu machen versteht: Der Vorsitzende Richter Dr. Helmut Fuchs ist "als Jurist ein sehr guter Mann" (so das Stuttgarter Justizministerium). Ein Mann, der freiwillig in die Waffen-SS eintrat, der kürzlich mit Billigung des Nazirichters Hans Filbinger (1913-2007) zum Präsidenten des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofes in Mannheim avancierte.

Freiheit Mitte der siebziger Jahre - nahezu drei Jahrzehnte nach Hitler-Deutschland - das ist immer noch die Freiheit alter Nazis, über mögliche Jugendsünden von heute zu richten, auszusperren, auszugrenzen - über die politische Gesinnung der ersten Nachkriegsgeneration, die politisch nicht vorbelastet ist. So verbauten der frühere Blut-und-Boden-Richter Edmund Chapeaurouge und der ehemalige SS- und Polizeiführer in der Ukraine als Richter am Berliner Bundesverwaltungsgericht der Junglehrerin Anne Lehnhart die berufliche Zukunft, nur weil sie Mitglied der DKP ist.

ZWEI MILLIONEN BÜRGER DURCHLEUCHTET

Freiheit im Jahre 1978 - das ist auch die Zwischenbilanz einer sechsjährigen Berufsverbotspraxis, die selbst im Mekka des Antikommunismus, in den USA, undenkbar ist. Über zwei Millionen junge Bundesbürger sind bisher von den Staatsorganen auf ihre Verfassungstreue hin durchleuchtet worden - bespitzelt, verhört und schikaniert. Über 4.000 Bewerber für den öffentlichen Dienst wurden von Ämtern und Gerichten mit Berufsverboten belegt. Die Dunkelziffer kennt man nicht, denn viele der Abgelehnten protestieren erst gar nicht, weil sie die 10.000 Mark für mögliche Gerichts- und Anwaltskosten bis zur letzten Instanz nicht haben -kaum aufbringen können.

ZWANZIGTAUSEND SPITZEL

Mit der Gesinnungsüberprüfung von jungen Leuten, die Lehrer beim Land, Lokführer bei der Bundesbahn, Fernmeldetechniker bei der Post, Friedhofsgärtner bei der Stadt oder Müllmänner bei der Gemeinde werden wollten, sind nach Schätzungen des SPD-Bundestagsabgeordneten Rudolf Schöfberger (1972-1994) bundesweit rund 10.000 Beamte beschäftigt. Für diesen Apparat liefern rund 20.000 Spitzel des Bundesamtes und der Landesämter für Verfassungsschutz sowie der Politischen Polizei Informationen.

Das Modell I der Überprüfung, das harmlosere, wird in Hamburg und Bremen angewandt: Die Einstellungsbehörden fragen beim Landesamt für Verfassungsschutz nach, was über den Kandidaten an politischen Informationen vorliegt. Die Verfassungsschützer sieben das vorliegende Material und geben nur weiter, was ihnen relevant erscheint - etwa: ob der Bewerber Mitglied der DKP oder einer anderen roten Sekte ist.

Modell II läuft im Rest der Republik: Die Landesämter für Verfassungsschutz übergeben den Einstellungsbehörden alles Material. Ein Beispiel für die Folgen solcher Praktiken: Der Münchner Student Franz Hubmayer wurde 1976 als Aushilfsbriefträger für die Semesterferien abgelehnt, nachdem der Verfassungsschutz mitgeteilt hatte, Hubmayer habe 1969 an einer Hausbesetzung teilgenommen.

Weitere Erfolge: In Tübingen lehnte das Oberschulamt den Sportstudenten Josef Enenkel als Referendar für ein Gymnasium an. Begründung: Enenkel sei DKP-Mitglied. Als Beweis legten die Oberpädagogen Fotos vor, die den Sportstudenten beim Verkauf von Büchern der renommierten DDR-Schriftstellerin Anna Seghers (1900-1983) zeigten.

BUNDESWEHR FEUERTE KOCH

In Braunschweig feuerte die Bundeswehr ihren Koch Norbert Spröer. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) hatte ermittelt, dass der Soldat in seiner frühen Jugend einmal Mitglied der DKP-nahen "Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend"
(SDAJ) gewesen war. Obwohl Spröer schon sieben Jahre in der Bundeswehr diente und es bis zum Stabsunteroffizier gebracht hatte, reichte die frühere Mitgliedschaft zur fristlosen Entlassung. Im Bundestag fragte der SPD-Abgeordnete Peter Conradi die Bundesregierung, ob der "Bundeswehr-Koch seine die Sicherheit der Armee gefährdende Gesinnung dadurch ausgedrückt habe, dass er auffällig oft rote Grütze, Rotkohl oder rote Bete serviert hat?"

FEIER MIT KOMMUNISTEN - SIPPENHAFT

Im schleswig-holsteinischen Elmshorn praktizierten die Kultusbürokraten sogar schon Sippenhaft. Die parteilose 29jährige Lehrerin Jutta Kommnick sollte von der Realschule fliegen, weil ihr Ehemann als Betriebsrat auf einer Liste der maoistischen KPD/ML kandidiert hatte. Zum Beweis ihrer eigenen "Anfälligkeit" wurde Jutta Kommnick vorgehalten, ihr Auto sei vor einem Fördehotel in Kiel-Friedrichsort gesichtet worden, in dem gerade eine Tagung der KPD/ML Rote Garde stattfand. Auch hätte die staatliche Observation ergeben, dass die Lehrerin an mehreren Sitzungen des KBW und sogar an einer Kundgebung für den von den Nazis im KZ liquidierten KPD-Chef Ernst Thälmann (1886-1944) teilgenommen habe.

WIE ZU KAISERS UND HITLER-ZEITEN

In der rheinland-pfälzischen Gemeinde Annweiler blieb die 23jährige Angelika Boppel auf der Strecke. Sie hätte, so lautete der Vorwurf, "auf dem Schulhof des Neusprachlichen Gymnasiums in Pirmasens die von einem 'sozialistischen Arbeitskreis' herausgegebene Schülerzeitschrift 'Knüppel aus dem Sack' verteilt". Es half ihr nichts, dass sie die Anschuldigung widerlegen konnte. Als der Mainzer Verfassungsschützer Hugo Schröpfer den Irrtum endlich zugab, waren alle in Frage kommenden Posten besetzt.

Verschärft wurden Überprüfung und Ausspähung linksverdächtiger junger Leute durch eine deutsche Erfindung besonderer Art: die sogenannte Anhörung.

Da laden Beamte, häufig noch in Treue fest zu reaktionären Staatsvorstellungen aus Kaisers und Hitlers Zeiten, junge Leute vor und verhören sie wie früher die Inquisitoren der katholischen Kirche. Sie fragen auch nach allem, was sie nach dem Grundgesetz nichts angeht, etwa nach der Intimsphäre.

Diese Erfindung ist so bürokratisch wie unnütz: Unerfahrene junge Leute lassen sich durch die Beamten-Fragen of provozieren und werden für eine unbedachte Äußerung verfolgt; geschulte und getarnte Kommunisten, die es darauf anlegen, in den Staatsdienst zu kommen, spielen auf der Klaviatur der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO) und schlüpfen durchs Netz wie etwa der Kanzleramts-Spion Günter Guillaume (1927-1995) bei der Sicherheitsüberprüfung, als er Sprüche des rechten SPD-Flügels klopfte.
GRAUZONE DER BÜROKRATIE

In den meisten Fällen kommt das unwürdige Frage-und-Antwort-Spiel nicht an die Öffentlichkeit. Denn über die Bewerber wird in der undurchsichtigen Grauzone der Bürokratie entschieden. Ist ein Kandidat erst einmal von einer Behörde als "Ver-fassungsfeind" gebrandmarkt, rufen viele erst gar nicht die Gerichte an, und wenn, wird es dem Betroffenen schwerfallen, die Richter vom Gegenteil zu überzeugen - schließlich hat er die Beweislast. Dieses Verfahren vom SPD-Bundesparteitag 1973 in Hannover gefordert, sollte eine individuelle, rechtsstaatliche Überprüfung sicherstellen. In der Praxis wurde aber damit die Entscheidungsbefugnis den Gerichten genommen und der Verwaltung zugeschustert.
EIN PRÜFUNGS-PROFI

Ein Prüfungs-Profi ist der niedersächsische Ministerialrat Gottfried Jakob. Seit drei Jahren ist für den 43jährigen Spitzenbeamten jeder Dienstag ein FDGO-Tag. Jeweils vier Stunden lang verhört er einen Bewerber - Jakob nennt das "Interview". Nachmittags diktiert er seine bis zu 15 Seiten langen Gutachten aufs Band. Die Aufregung über den Radikalen-Erlass kann er überhaupt nicht verstehen. Der hochgewachsene Brillenträger mit der kahlen Stirn und den Skeptikerfalten um Nase und Mund kümmert sich seit 1965 um Personaleinstellungen. Seit dem Radikalen-Erlass, meint er, sei alles rechtsstaatlicher geworden: "Früher bekamen die Bewerber ihre Ablehnung nur schriftlich mitgeteilt, heute werden sie noch einmal angehört." Jakob ist Chef der Zentralen Anhörkommission in Niedersachsen. Mit Hunderten von Radikalen hat er schon "die gesamte Palette verfassungsrechtlich relevanter Dinge" durchgenommen, "ganz persönlich und ganz individuell". Wenn Jakob von "persönlich" oder "individuell" spricht, meint er seine siebenköpfige Kommission, die dem Betroffenen gegenübersitzt und in der er nach seinem Routine-Raster fragt:
"Würden Sie bitte Ihr Verhältnis zur DKP erläutern? - "Haben Sie einmal bei den Konventswahlen auf einer Liste Spartakus kandidiert?" - "Sind Sie Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft" - "Waren Sie Mitglied der sozialistischen Falken?" - "Haben Sie 1969 an einer DKP-Weihnachtsfeier teilgenommen? Und wenn ja, warum ... ...?"
FRAGEN NACH GESCHLECHTSVERKEHR
Beim Regierungspräsidenten in Köln, Dezernat 44, Zimmer 426, beantwortete die 32jährige Lehrerin Irmgard Cipa bei der Anhörung Fragen von Regierungsdirektor Werner mit einem Passus aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: "Das bloße Haben einer Überzeugung und die bloße Mitteilung, dass man sie habe, ist niemals eine Verletzung der Treuepflicht." Im Klartext: Sie lasse sich nicht über ihre einstigen Aktivitäten im Asta der Universität Bonn ausforschen. Regierungsdirektor Werner konterte: Er habe hier die "Gesinnung zu überprüfen" und nach "seinem pflichtgemäßen Ermessen alle hierzu erforderlichen Fragen zu stellen" - selbst nach Irmgard Cipas "erstem Geschlechtsverkehr, wenn ich dies für erforderlich halte". Der SPD-Bundestagsabgeordnete Manfred Coppik (er trat 1982 aus der SPD aus), der als Rechtsanwalt Frau Cipa begleitet hatte, beschwerte sich nach "dieser beschämenden Vernehmung" bei seinem Parteifreund, dem Düsseldorfer Kultusminister und Ostermarschierer Jürgen Girgensohn (1924-2007). Der Minister in seiner Antwort: "Der Prüfungsbeamte ... ... erinnert sich nicht mehr an die hypothetische Frage nach dem ersten Geschlechtsverkehr." Dennoch: Frau Cipa habe die "Zweifel an ihrer Verfassungstreue" nicht ausräumen können. Sie ist arbeitslos.
In Augsburg erklärte 1976 der Pädagoge Ilja Hausladen aus Fürth, der sich um eine Stelle als Volksschullehrer bemühte, seinen Vernehmern, warum er Antifaschist sei. Aus dem Protokoll seines Anwalts: "Mein Großvater kämpfte gegen die Nazis. Er war elf Jahre im Konzentrationslager Dachau interniert und starb kurz nach der Befreiung. Meine Großmutter gehörte ebenfalls zur Widerstandsbewegung und saß deshalb über sechs Jahre im KZ Ravensbrück. Mein Vater konnte noch rechtzeitig emigrieren, wurde später von der Gestapo in Frankreich gefangen genommen und inhaftiert."
BERUFSVERBOT IN DIE VERFASSUNG
Oberregierungsrat Herzer als erster Vernehmer: "Das tut uns leid, was Ihrer Familie zugestoßen ist. Eine andere Frage ist, ob man Sie deswegen gleich Beamter werden lassen soll."
Regierungsdirektor Krüger als zweiter Vernehmer: "Sie sagen, dass Sie ein Antifaschist sind - bekämpfen Sie aus dieser Überzeugung heraus die Ostblock-Staaten?"
Hausladen: "Ich kenne den Faschismus aus der deutschen Geschichte und aus Erzählungen meiner Familie. Einen Faschismus wie im Dritten Reich kenne ich in den Ostblockländern nicht. Ich bin jedenfalls für gute Beziehungen zu allen Staaten. Dazu gehört auch die Nichteinmischung, zu der sich alle UN-Mitglieder verpflichtet haben."
Regierungsdirektor Krüger: "Wie finden Sie den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die CSSR?"
Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schmitt-Lermann antwortet für Hausladen: "Das gehört überhaupt nicht zum Gesprächsgegenstand. Sonst müssten wir jetzt den Begriff der Intervention klären. Wir müssten die Interventionsrechte der Westmächte nach dem Deutschlandvertrag genauer anschauen. Wir müssten von Vietnam und den vielen anderen amerikanischen Interventionen reden. Wollen Sie das?"
Oberregierungsrat Herzer: "Wenden wir uns einem anderen Thema zu. Wo sehen Sie die Kritikpunkte an der DDR?"
Hausladen: "Es gibt bestimmt in jedem Land und an jedem System Punkte, die zu kritisieren sind. Ich habe mich aber mit den Gesetzen der DDR nicht beschäftigt, und ich kann nur Dinge kritisieren, über die ich mich eindeutig informiert habe.
Regierungsdirektor Krüger: "Sie wissen ganz genau, worauf wir hinauswollen. Aber Sie wollen sich dumm stellen. Im ganzen Wahlkampf (Bundestagswahl 1976) war von der Bedrohung durch die kommunistische Gefahr die Rede. Aber da haben Sie offenbar immer weggehört."
Oberregierungsrat Herzer: "Was verstehen Sie unter 'Diktatur des Proletariats'?"
Hausladen: "Das ist für mich ein wissenschaftlicher Begriff, mit dem ich mich nicht beschäftigt habe."
Oberregierungsrat Herzer: "Sie müssen doch etwas darüber aussagen können - der Begriff gibt noch viel her. Sie wollen doch Lehrer werden und müssen dazu was wissen."
Hausladen: "Also dieser Begriff kommt vor allem bei Marx und Lenin vor, und zwar ... "
Oberregierungsrat Herzer: " ... ... da kommen wir der Sache schon näher. Frau Teichmann, schreiben Sie auf: Ich bejahe die Diktatur des Proletariats im Sinne von Marx und Lenin ..."
Hausladen: "... ... nein, das habe ich überhaupt nicht gesagt. Wenn ich den Begriff Diktatur nehme, bin ich natürlich gegen jede Art von Diktatur, ob in Ost oder West."
Oberregierungsrat Herzer: "Welche Gründe hatten Sie, mit Ihren Kindern in die DDR zu fahren?"
Hausladen: "Eines meiner Bildungsziele, die ich in dieser Schülergruppe verfolgt habe, war die Erziehung des einzelnen zur Gemeinschaft. Die Schüler dieser Gruppe kamen hauptsächlich aus kinderreichen und finanziell schwächeren Familien. Wenn man bedenkt, dass ein dreitägiger Aufenthalt in einer Jugendherberge ca. 50 Mark pro Kind kostet, nahmen wir natürlich einen dreiwöchigen Aufenthalt für 30 Mark (in der DDR) gerne an."
Oberregierungsrat Herzer: "Wenn das nichts weiter gekostet hat, können Sie sich dann nicht vorstellen, dass die dabei einen Hintergedanken, zum Beispiel der Beeinflussung der Kinder, gehabt haben?"
Hausladen: "Ich bin der Meinung, dass jeder Aufenthalt in einem anderen Land und jeder zwischenmenschliche Kontakt einen Einfluss auf Kinder und Erwachsene ausübt."
Oberregierungsrat Herzer: "Glauben Sie nicht, dass da bei den Kindern Propaganda betrieben wurde?"
Hausladen: Nein, davon habe ich nichts bemerkt. Da ich das Vertrauen der Eltern und damit die Verantwortung für die Kinde hatte, wäre ich bestimmt sofort abgereist, wenn dieser Aufenthalt für propagandistische Zwecke missbraucht worden wäre."
"ROTE KINDERZEITUNG"
Zwei Monate nach seiner FDGO-Vernehmung bekam Hausladen vom FDGO-Vernehmer Herzer schriftlich den Negativ-Bescheid (Geschäftsnummer 110.600/1). Dem Pädagogen, der nicht Mitglied der DKP ist, wurde die Reise mit Schülern in die DDR angelastet. Ferner hätte Hausladen in der "Roten Kinderzeitung" der DKP Nürnberg vom Februar 1974 "als Kontaktperson für Interessenten von Wandertagen und für Musikinstrumente" gestanden. Die Schlussfolgerung: "Wenn die DKP in ihren Presseerzeugnissen Kontaktadressen angibt, so sucht sie sich hierfür mit Sicherheit nicht Personen aus, die ihren Zielen und ihrer Ideologie ablehnend gegenüberstehen." Radikalen-Erlass - Freiheit in Deutschland.
RUDI DUTSCHKE - UND DIE NEUE LINKE
Das Entstehen der Neuen Linken der 60er Jahre, die der Studentenführer Rudi Dutschke (1940-1979) "zum Marsch durch die Institutionen" aufgerufen hatte, und die Neuorganisation der orthodoxen Kommunisten in der DKP 1968 waren der Auslöser für den Radikalen-Erlass. Mit dieser strikten Abgrenzungspolitik gegenüber Kommunisten wollten SPD-Kanzler Willy Brandt (1969-1974) und sein Fraktionschef Herbert Wehner (1969-1983) innenpolitischen Spielraum für die Ostpolitik gewinnen und sich von den Anwürfen der CDU/CSU befreien, insgesamt Volksfrontpolitik zu betreiben. FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher (1974-1985)plädierte für eine noch schärfere Gangart.
"LINKE GEFAHR - ALLES QUATSCH"
Der liberale Genscher wollte entweder die DKP verbieten lassen oder den Radikalen-Erlass zum Grundgesetz-Artikel erheben. Der frühere Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau (1911-1991 ) präzisierte: "Genscher wollte am liebsten das Härteste vom Harten gegen Radikale machen. Wenn er mit Fabrikanten gesprochen hatte, kam er immer daher und erzählte von den vielen Kommunisten in den Betrieben. Das war natürlich alles Quatsch und es dauerte lange, bis ich ihm das ausgeredet hatte." Nollau, der von Amts wegen den besten Überblick über die "linke Gefahr" hatte, sagt weiter: "Es gab auch keine Entwicklung, die ein systematisches Eindringen von Verfassungsfeinden in den öffentlichen Dienst anzeigte."
Von früh an wurde mit falschen Argumenten gearbeitet. Da hieß es zum einen, der Radikalen-Erlass sei eine rechtlich zwingende Notwendigkeit auf Grund der Verfassung. Dazu der Bonner Jura-Professor Gerald Grünwald: "Wenn es vom Grundgesetz geboten wäre, hätten wir bis 1972 in einem permanent verfassungs-widrigen Zustand gelebt: denn bis dahin gab es keine systematische Über-prüfungen." Da wurde außerdem, von allen Spitzenpolitikern argumentiert, der Radikalen-Erlass sei auch für die Rechtsextremisten geschaffen worden. Indes: Als der Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik erstarkte und die NPD ab 1966 mit Bundeswehr-Hauptleuten, Lehrern und Verwaltungsjuristen in die Landtage einzog, hatte in Bonn niemand nach einem Radikalen-Erlass gerufen.
GRÖSSTE RECHTSVERWIRRUNGEN
Das Bundesverfassungsgericht bestätigte mit einem Grundsatzurteil vom Mai 1975 die Rechtmäßigkeit des Radikalen-Erlasses. Der Versuch des Gerichts, einheitliche Beurteilungsmaßstäbe für Behörden und Verwaltungsgerichte aufzustellen, ging daneben: Verfassungsrichter Hirsch sieht den Richterspruch heute als ein Gummi-bandurteil: "Jeder kann das rauslesen, was er meint."
Im Spannungsfeld zwischen der Mitgliedschaft in einer verfassungsgemäßen, aber unerwünschten Partei und dem geforderten besondere, Treueverhältnis des Beamten zum Staat löste dieses Urteil die größte Rechtsverwirrung in der Nachkriegs-geschichte aus:
o Der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof lehnte die Einstellung des Tübinger Musiklehrers Harald Schwaderer ab, weil er Zweifel an dessen Verfassungstreue hatte. Der Pädagoge Schwaderer durfte den Eid auf die Verfassung nicht ablegen, obwohl er als DKP-Gemeinderat den Amtseid auf die Verfassung bereits geschworen hatte.
o Dagegen ordnete der IV. Senat des Verwaltungsgerichts Mannheim die Einstellung des Lehrers Klaus Lipps, 36, aus Bühl an, weil die bloße Mitgliedschaft in der DKP keinen Grund für ein Berufsverbot darstelle.
o Ebenso erlebte es Klaus Pilshofer, 26, aus Suzbach-Rosenberg in der Oberpfalz, der auf einer Wahlliste der Studentenvertretung der Universität Nürnberg-Erlangen zusammen mit Kommunisten kandidiert hatte. Die Richter des Verwaltungsgerichts in Augsburg meinten, Pilshofer sei nicht verpflichtet gewesen, sich von solchen Organisationen pauschal zu distanzieren.
UNTERWANDERUNG DURCH LOKFÜHRER
Der in die Öffentlichkeit drängende und durch viele Politik-Salons bekannte Hannoveraner Jura-Professor Hans-Peter Schneider hat in dieser Rechtsverwirrung den neuerlichen Trend erkannt, "dass die Oberinstanzen mehrheitlich zu einer konservativen Auslegung des Bundesverfassungsgerichtsurteils neigen, während die jüngeren Richter eher den Bewerbern recht geben". Das wiederholte er fortwährend bis hin zu den Kanzler-Sommerfesten im Palais Schaumburg zu Bonn - nur keiner wollte ihm so recht zuhören.
Dabei ziehen sich die Verfahren um Berufsverbote oft Jahre hin. Die Betroffenen werden in ihrer Karriere, in ihrem Berufsziel oder auch in ihrem Berufswunsch um Jahre zurückgeworfen, selbst wenn sie schließlich vor Gericht obsiegen. Verlieren sie aber, droht ihnen nun sogar die Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz. Der Realschullehrer Hans Schaefer, 35, aus Stuttgart war schon Beamter auf Probe, als er 1975 wegen seiner DKP-Mitgliedschaft und einer DDR-Reise suspendiert wurde. Schaefer klagte. Jetzt fordert das Land Baden-Württemberg das gezahlte Gehalt während des dreijährigen Rechtsstreits zurück: 50,198,4o Mark.
DER DEUTSCHE McCARTHY
Der Ansbacher Verwaltungsrichter Siegfried Sporer, 49, kann sich zugute halten, mit dem 1964. Urteil seiner Richterlaufbahn in die Geschichte der Berufsverbote als der deutsche McCathy einzugehen. Wie der amerikanische Kommunistenjäger machte auch Sporer nicht mehr die Loyalität des einzelnen, sondern das "Risiko" einer möglichen Beeinflussung durch Kommunisten zum Maßstab der Ablehnung. In der mittelfränkischen US-Garnisonstadt Ansbach verwehrte Sporer dem Lehrer Heinrich Häberlein den Zugang zum öffentlichen Dienst. Dem 29jährigen parteilosen Häberlein bestätigte Richter Sporer nach einer sechsstündigen Verhandlung ausdrücklich: "Häberlein ist als Christ kein Verfassungsfeind."
FALL DES CHRISTEN HEINRICH HÄBERLEIN
Warum darf Heinrich Häberlein, der in der evangelischen Jugendarbeit aufwuchs, den Wehrdienst aus christlich-pazifistischen Gründen verweigerte und dafür 18 Monate lang alte Menschen pflegte, sich im zweiten Bildungsweg vom Feinmechaniker zum Hochschul-Assistenten hochrackerte, warum also dieser kritische Christ kein Volksschullehrer werden darf? - Achelszucken vielerorts. Dafür ist allein seine Mitgliedschaft in der "Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner" ausschlaggebend.
In dem Dachverband aller westdeutschen Kriegsdienstverweigerer arbeiten - ob Häberlein will oder nicht - auch eine Handvoll Kommunisten mit. Richter Sporer verlangte von Häberlein ausdrücklich, eine "antikommunistische Einstellung". Nur so könne "der gefährliche Einfluss von Kommunisten auf die Tätigkeit im öffentlichen Dienst in Krisensituationen vermieden werden".
SILVIA GINGOLD - VERFOLGT, GEFLOHEN, RAUSGESCHMISSEN
Der Nutzen des Radikalen-Erlasses, den sich seine Befürworter von Brandt bis Sporer von ihm erhofft haben, ist nicht messbar. Keiner kann beurteilen, ob die 4.000 abgelehnten Beamten-Bewerber, wären sie tatsächlich in die Schulen, Rathäuser und Gerichte gekommen, eines Tages aus der westdeutschen Bundesrepublik die Volksrepublik Westdeutschland gemacht hätten. Keiner kann aber auch garantieren, dass jetzt der Staatsdienst immer gegen Extremisten ist. Die Erfahrung lehrt, dass überall dort, wo eine parlamentarische Demokratie durch ein totalitäres System abgelöst wurde, 80 Prozent der Beamten übergelaufen sind.
Der Schaden der Überprüfungspraxis dagegen ist erkennbar, nicht zuletzt auch im Ausland, Der Name Silvia Gingold steht für eine jüdische Familie, die 1933 nach Frankreich emigrieren musste, in der französischen Résistance gegen die deutschen Besatzer kämpfte und nach dem Krieg in die Bundesrepublik zurückkam. Die inzwischen 32jährige Silvia engagierte sich auf der Seite, wo ihre Eltern Zeit ihres Lebens zu finden waren: bei den Kommunisten.
Vier Jahre galt ihre Arbeit an der Steinwald-Schule im hessischen Neukirchen als vorbildlich. Ein Versetzungsgesuch lehnte der Kasseler Regierungspräsident ab, weil Frau Gingold "mit ihren gewonnenen Erfahrungen der Modellschule auch weiterhin zur Verfügung stehen" sollte. Der Radikalen-Erlass machte die Versetzung dann doch möglich - auf die Straße. Hessische Verfassungsschützer hatten "Erkenntnisse in staatsabträglicher Hinsicht" gesammelt, die "Zweifel an Silvia Gingolds Verfassungstreue" aufwarfen: DKP-Mitglied, Teilnahme an einem Deutschland-Treffen in Ost-Berlin, Vietnam-Demonstration vor dem Frankfurter US-Konsulat und eine linke Rede als 16jährige in der Aula ihrer Schule.
IM AUSLAND WÄCHST KRITIK
Während für den französischen Sozialistenführer François Mitterrand (1916-1996) der Fall Gingold den Ausschlag gab, in Paris ein "Komitee gegen die Berufsverbote in der BRD" zu gründen, stieg in Würzburg über Nacht ein Mann zum Fernsehstar in Ost und West auf,der die amerikanischen und englischen Sender CBS und BBC vorher nicht einmal vom Hörensagen gekannt hatte: der Lokführer Rudi Röder von der Deutschen Bundesbahn. Nun kamen die Reporter sogar zu ihm nach Hause, und Vater Valentin und Sohn Rudi gaben Interviews um Interviews. Vater Valentin wurde 1933 aus der Reichsbahn gefeuert, den Sohn Rudi will die Bundesbahn seit 1976 loswerden. Beider Vergehen: Beide sind Kommunisten. Verkehrsminister Kurt Gescheidle : "Ein Beamter, der aktives Mitglied der DKP ist, fliegt raus. Das ist die Situation."
"Westdeutschland leidet an einem leichten Anfall von Autoritarismus", formulierte die erzkonservative "Financial Times" vornehm. Das Schwesternblatt "Times": "Eine der zuverlässigsten anti-extremistischen Wählerschaften der Welt hat Politiker hervorgebracht, die ihren Bürgern nicht zutrauen, einer möglichen Unterwanderung durch eine Handvoll radikaler Lokomotivführer oder Lehrer zu widerstehen." Beide Zeitungen präsentieren ihren Lesern im Originalton einen neuen deutschen Begriff: Nach "Ostpolitik" jetzt "Berufsverbot".
Auch im Ausland wächst die Kritik. Bundespräsident Walter Scheel (1974-1979 ) sieht inzwischen die Gefahr, " dass der Radikalen-Erlass zu rigoros gehandhabt wird". Zwei renommierte Richter sind auf Distanz zum Radikalen-Urteil gegangen. Für die vom Land Bayern abgelehnte Juristin Charlotte Niess übernahm Walter Seuffert die Verteidigung gegen den Freistaat. Seuffert war Vorsitzender jenes Senats des Bundesverfassungsgerichts, der 1975 die Berufsverbotspraxis absegnete. Ver-fassungsrichter Helmut Simon "schämt sich, dass die Leuchtkraft der bundes-deutschen Verfassungsordnung durch eine Gesinnungsschnüffelei verdunkelt wird".
Eine Ausweitung der Radikalenhatz ist indes nicht ausschlossen. Schon hat der bayerische Kultusminister Hans Maier (1970-1986) erklärt: "Unser Land hat nicht nur ein Recht auf treue Beamte, sondern auch auf treue Bürger."
























































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