stern, Hamburg
04. August 1977
von Reimar Oltmanns
Er regierte Chile als selbsternannter "Präsident auf Lebenszeit" über 17 Jahre, ohne jemals gewählt worden zu sein. Er starb im Jahre 2001 im Alter von 91 Jahren, ohne sich jemals für seine systematischen Menschenrechts-verletzungen - Verbrechen an der Menschheit - verantworten zu müssen. Leichen pflasterten seinen Weg, Tausende von Folteropfern säumen Chiles Friedhöfe. - Massenver-haftungen, Hunderte verschwundener Studenten, Lehrerinnen, Gewerkschafter - irgendwo in Wäldern unkenntlich verscharrt. Konzentrationslager vielerorts, Fußballstation als Verlies, Polizeistation als schalldichte Folterstätten - die kritische Intelligenz des Landes in Massengräbern oder auf der Flucht. Über eine Million Menschen mussten während der Pinochet-Diktatur (1973-1990) emigrieren. Erst mit Beginn der neunziger Jahre begann in Santiago mühsam die Re-Demokratisierung. Rückschau gegen das Vergessen auf Chiles Schreckens-Epoche. Die Aufarbeitung jener Horrorjahre hat erst nach mittlerweile zwei Jahrzehnten quälend begonnen. Spurensuche.
Der 61jährige Augusto Pinochet Ugarte, Oberkommandierender des Heeres. Juntachef und Staatspräsident der Republik Chile seit 1974 liebt die europäische Wehrmachtsglorie der dreißiger Jahre. Von hoher Tellermütze bis zum glitzernden Gold auf den Kragenspiegeln, vom Hackenknallen auf den Kasernenhöfen bis zur Marschmusik im Wohnzimmer nach Feierabend kopiert er längst Vergangenes für den aktuellen Hausgebrauch in Chile. Das Militär, sagt der Diktator, musste den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende (*1908+1973) stürzen, "weil Chile sein traditionelles Lächeln verloren hatte".
PUTSCH OHNE BEISPIEL
Ein Putsch, in diesem Jahrhundert, auf dem südamerikanischen Kontinent ohne Beispiel, der zwischen 15.000 bis 20.000 Menschenleben auslöschte. "Die Demokratie muss gelegentlich in Blut gebadet werden, damit die Demokratie fortbesteht", erklärte der General einen Monat nach seiner Machtübernahme am 11. Oktober 1973. - Massenexekutionen, die unerbittliche Jagd auf all jene Chilenen, "die in der Sowjetunion ihr eigentliches Vaterland haben" (Pinochet), seien notwendig und unvermeidlich gewesen. Für ihn ist Chile heute ein Land, "in dem die Leute frei und glücklich sind". Auch die seit vier Jahren verhängte nächtliche Ausgangssperre ist für Pinochet nur positiv: "Vater kommt früh nach Haus und Mutter ist glücklich."
BÜRGER-IDYLLE AUF ENGLISCHEM RASEN
Pinochet demonstriert die neue Bürgeridylle Chiles bei sich zu Hause. In der Hollywoodschaukel, die auf dem englischen Rasen vor der Villa steht, posiert Vater Augusto im hemdsärmeligen Dress neben Mutter Dona Lucia im sommerlichen Seidenkostüm. Chilenische Reporter der Junta frommen Wochenzeitschrift "Que Pasa" sind zu Besuch. Gemeinsam wollen General und Journalisten an seinem Image basteln, es zu einem fürsorglichen Familienpatriarchen aufpolieren. Die Militärdiktatur sitzt fest im Satteln, deshalb soll der blutrünstige Soldat aus dem Bewusstsein der Leute verschwinden. Eine identitätsstiftende Vaterfigur für das Zehn-Millionen-Volk wird aufgebaut. Pinochet rückt näher an seine Frau und legt den linken Arm um ihre Schulter. Dann schaut er freundlich, erstaunlich milde in die Ferne. Der Fotograf drückt auf den Auslöser und hat die Familienharmonie im Kasten; eine Glückseligkeit, die die Marxisten der Bevölkerung vorenthielten.
ALLENDES WITWE
Der General weiß auch warum. Er erinnert sich auf einmal an die Witwe des toten Salvador Allende: "Da reist sie nun durch die Welt, die Frau Hortensia, redet schlecht über uns und spielt die tragische Rolle der traurigen Witwe. Einer vereinsamten Frau, wo doch aber jeder hier im Land bestens weiß, dass Allende sich zu Lebzeiten nicht einmal an sie erinnerte und mit dieser - wie heißt sie noch - ach ja, mit dieser Margarita Contreras zusammenlebte."
SITTENVERFALL
Sozialistischer Sittenverfall gestern, konservatives, soldatisches Eheglück dieser Putsch-Jahre. Beides präsentieren Chiles Medien ihren Lesern in Wort und Bild. Salvador Allende mit schief-verzerrtem Gesicht in den Armen seiner Geliebten, Pinochet treuherzig wie brav neben seiner Ehefrau in der Hollywoodschaukel. Keimfrei, katholisch und klug: besser hätten die Nazis ihre Familienpropaganda auch nicht aufziehen können. "Wir haben doch sechs Enkelkinder, fünf Jungs und ein Mädchen", verrät Pinochet der chilenischen Öffentlichkeit. "Nein Alterchen", es sind sieben, du hast Rodriguito vergessen", unterbricht Dona Lucia. "Ah, ja noch ein Baby, Rodrigo", verbessert sich der Präsident. "Na ja", meint Dona Lucia, "die anderen sind doch Teufelchen, der Kleine noch nicht." Der General gibt zu, dass Rodrigo sein Günstling ist. "Die anderen sind mit irgendwie gleichgültig." Dona Lucia unterbricht wieder: "Um Gottes willen, Augusto, gleichgültig?"
GEHEIME PAPST-DEMARCHE
Die "spitzfindigen" Reporter fanden bei den Pinochets heraus, dass die Familie sonntags das "heilige Mittagessen" gemeinsam einnimmt. Seine drei Töchter und die beiden Söhne, die ihren Vater "Pate" nennen, sitzen dann auch am Tisch. Vorher war die Familie beim Gottesdienst. Dona Lucia: "Ich glaube, wir kennen alle Kirchen in Santiago." Was die gläubigen Pinochets der Bevölkerung verschweigen, ist eine geheime Demarche von Papst Paul VI. (1897-1978) aus Rom. Der katho-lische Oberhirte hatte Pinochet die Exkommunizierung angedroht, falls er die Menschenrechte in seinem Land weiterhin missachte. Das war Anfang 1976. Damals saßen noch an die 6.000 politische Gefangenen in Konzentrationslagern und Gefängnissen. Wenige Monate später ließ er 302 Häftlinge frei. Sein Kommentar: "Eine großzügige Geste. Ich bin nämlich ein Christ."
"STINKENDE TAUGENICHTSE"
Internationalen Proteste, Chile gehöre zu den Klassikern der Folterstaaten, wollen die Pinochets nicht wahrhaben. Dona Lucia: "Viele Besucher haben die paar stinkenden Taugenichtse im Gefängnis gesehen, wie wohlgenährt, gesund und strahlend sie aussehen. Aber kaum haben sie Chile wieder verlassen, reden sie von
Folter und anderem Unsinn." Ihr Mann, so gibt sie vor, wolle nichts anderes als "das Land voranbringen". Jetzt ergreift er selbst wieder das Wort. Wenn Pinochet die Pro-vinz bereist, und er ist ständig auf Achse, "zeigen die Leute mir offen ihre Zuneigung. ' Hoffentlich werden Sie nicht müde', rufen sie mir zu", sagt der General mit Stolz. Er sagt es jedem, der es hören will. Sein zweites Thema sind die loyalen Chilenen im Ausland, die nach einer Geschäftsreise nach Santiago zurückkehren. Sie berichten ihm über die sogenannte "Vox populi" - Volkes Stimme. Ob der Taxifahrer am Flug-hafen "Charles de Gaulle in Paris oder der am Münchner Hauptbahnhof: Die Junta-Chilenen hören für ihren Putsch-Präsidenten immer nur einen Satz heraus: "Was wir hier brauchen, ist ein Pinochet."
SPANIENS FRANCO - EIN VORBILD
Die Schar der Ja-Sager haben Pinochet seine "internationale Popularität" inzwischen eingeredet, dass ihm ein Platz in der Weltgeschichte gewissermaßen sicher scheint. Pinochet über sich und sein missionarisches Sendungsbewusstsein: "Für die Marx- und Lenin-Verschwörer aus Moskau war es ein harter Schlag, dass sich Chile vom Kommunismus befreien konnte. Die Bevölkerung sieht mich als eine Hoffnung. Sie sehen mich als den Führer." Wenn das Wort Führer fällt, ist ein neuer Begriff dieser Ära nicht fern - "Pinochetismus" . Der Diktator ließ ihn beizeiten ausstreuen, um sich als alleinige Erbe des "Franquismus" zu empfehlen. Pinochet, der Franco Südamerikas - Pinochet, der vom spanischen Generalis-simus Franco noch kurz vor seinem Tod mit dem höchsten spanischen Militärorden in Friedenszeiten ausgezeichnet worden ist, übernimmt mehr und mehr auch die ideologischen und politischen Strukturen, eben Grundmuster, Herrschaftsallüren; oft alltägliche Allüren des Caudillo. So verfügt er bereits über einen Geheimdienst, die DINA, die ihm direkt untersteht, und setzte nach Franco-Vorbild einen "Staatsrat aus achtundzwanzig Honoratioren" ein, die ihn beraten sollen.
PINOCHETISMUS
Pinochetismus in Südamerika heißt in den eigenen Worten des Generals. "Menschen müssen gefoltert werden, weil die Sicherheit des Staates es erfordert." Oder: "Ich mache sie aus, dann greife ich sie an und wenn ich kann ich kann, zerstöre ich sie." Pinochetismus als faschistische Diktatur läuft darauf hinaus: "Ich werde sterben, mein Nachfolger auch, aber Wahlen wird es nicht geben." Und Pinochetismus lehrt die Armee heute: "Soldaten sind gefährlicher als Polizisten, weil ihr Beruf das Töten ist."
LEUTNANT MIT 21 JAHREN
So und nicht anders hat Augusto Pinochet sein "Handwerk" gelernt. Im Jahre 1915 in Valparaiso geboren, avancierte er schon mit 21 Jahren zum Leutnant der Armee. Bis zum Allende-Sturz 1973 trat Pinochet nach der Tradition der chilenischen Streitkräfte politisch nicht in Erscheinung. Er war Berufssoldat, der durch"Energie und Disziplin" schneller Karriere machte als manch anderer seines Offiziersjahrganges, sagten Mitschüler über ihn aus. Er schrieb über die Geografien Chiles, Argentiniens, Boliviens und Perus, die während seiner Ära zur Pflichtlektüre an den Schulen des Landes gehörten.
US-DRILL GEGEN "SUBVERSION"
Als Pinochet Militärattaché der chilenischen Botschaft in Washington wurde, fiel er Anfang der sechziger den Amerikanern auf. Die US-Armee lud ihn seither regelmäßig in ihr Ausbildungscamp "Fort Gulick" in die Panamakanal-Zone ein. ( am 31. Dezember 1999 wurde das US-Gebiet entlang des Kanals sowie alle US-ameri-kanischen Militärbasen offiziell an Panama übergeben.) "Fort Gulick" war keine x-beliebige Kaserne. Auf einem Areal von 66.208 Hektar, das sind die Hälfte des Landes der einstigen Panama-Kanalzone, bildete die 8. Gruppe der US-Special-Forces die Offiziere Lateinamerikas im Kampf gegen "Subversion" in ihren Ländern aus. Die Disziplinen: Dschungelkrieg, Ranger-Drill und Anti-Guerilla-Taktik. Auch die militärische Gegenspionage von Staatsstreichen standen auf dem Lehrplan.
FILIALE: PENTAGON
Castros Kuba-Eroberung im Jahre 1959 und Che Guevaras Untergrundkrieg in Bolivien 1968 ließen die US-Regierung fürchten, Südamerika könne nach und nach kommunistisch infiltriert werden. So bezeichnet die französische Tageszeitung "Le Monde" die Panama-Zone heute als eine "Filiale des Pentagon" in Washington. Und die "New York Times" berichtet: Von den 30.000 Absolventen des "Fort Gulick", das für die Lateinamerikaner "Excuela de las Americas" heißt, sind heute in Südamerika insgesamt 170 Regierungschefs, Minister, Oberbefehlshaber, Stabschefs oder Direktoren der Geheimdienste. Naheliegend, dass die USA nach Bekundungen ihres damaligen Außenministers Henry Kissinger gleichsam spätestens seit 1970 den Sturz Salvador Allendes durch massive Militärhilfe angestrebt haben - ein internationalen Handels- und Kreditembargo gegen Chile federführend durchsetzten.
PERFEKTER STAATSSTREICH
General Augusto Pinochet Ugarte trug sich im Jahre 1965 zum ersten Mal in die Teilnehmerliste von "Fort Gulick" ein. 1968 zum zweiten Mal und 1972 zum letzten Mal. Als er ein Jahr später gegen Salvador Allende putschte, waren ihm sicherlich noch Lehrprogramme wie Übungen der 8. Gruppe der Special-Forces im Gedächtnis präsent. Sie waren gedacht als Gebrauchsanweisungen gegen "linke" Putschisten, doch lieferten gleichzeitig das Rezept für den perfekten rechten Staatsstreich.
Instruction 1/57: "Die ganze Weisheit beim Staatsstreich besteht darin, dass er einen plötzlichen, entschlossenen Schlag ins Herz der Regierung darstellt, einen Dolchstoß, der gleich beim ersten Stoß bis zum Heft eindringt ...".
Instruction 9/57: "Es gibt wahrscheinlich keinen besseren Weg, dieses Ziel zu erreichen, als durch ein oder zwei geschickte Mörder ...".
Instruction 37/57: "Das allgemeine Ziel der Angriffsperiode ist es, durch plötzliche Gewaltanwendung den gesamten Teil des Staatsapparates, der wirksamen Wider-stand leisten könnte, kopflos zu machen und in Verwirrung zu bringen ... Die Nachrichtenverbindungen der Regierung müssen unterbrochen werden. In dieser Hinsicht sollten die Aufständischen äußerst rücksichtslos sein."
Instruction 49/57: "Wenn der Staatsstreich gelingt, wird eine Zeit kommen, wo die Anhänger der alten Regierung nur noch an Flucht denken ... Wenn das Rückgrat des Widerstands gebrochen ist, werden die Fliehenden ein leichtes Ziel bieten. Je schneller die Truppen die Fluchtwege kontrollieren können, desto reicher wird wahrscheinlich die Ernte sein. Auch hier ist die Verfolgung wie in herkömmlichen Kriegen die Krone des Sieges...".
Instruction 54/57: "Zumindest in der Vergangenheit wurden den technischen Einzelheiten des Staatsstreiches zu wenig militärische Erwägungen gewidmet. Es ist vielleicht natürlich, dass der Staatsstreich kein Studienobjekt an den meisten Offiziersschulen war ... In vieler Hinsicht erscheint diese Vernachlässigung als unangebracht, denn es ist möglich, dass der Staatsstreich in den militärischen Überlegungen der Zukunft eine immer größere Rolle spielen wird."
IN VIER STUNDEN - WAR ALLES VORBEI
Pinochets Coup, der heute pathetisch die "Revolution vom 11. September" genannt wird, war meisterlich durchdacht. Nach vier Stunden war alles vorbei. Salvador Allendes Präsidentschaft (1970-1973) war mit seinem Versuch gescheitert, auf demokratische Wege eine sozialistische Gesellschaft zu etablieren. Allende hatte gegen eine Bourgeoisie gekämpft, die nicht bereit war, von ihrem Reichtum etwas abzugeben, die vielmehr um ihre sattsamen Pfründe fürchtete. Allendes Wirtschaftspolitik sah ihre vordringliche Aufgabe in einer entschädigungslosen Verstaatlichung der Bodenschätze - speziell Kupferbergbau -, die Enteignung von ausländischen Großunternehmen, auch der Banken und eine Agrarreform, bei der 20.000 Quadratkilometer Fläche von Großgrundbesitzern an Bauern und Kollektive übergeben wurden. Verbessert hatte sich durch Allende nämlich zunächst sehr schnell die wirtschaftliche Lage der Arbeiter und der Unterschicht. Löhne wuchsen um 30 bis 6o Prozent, Preise für Grundnahrungsmittel und Mieten wurden eingefroren, jedes Kind bekam Schuhe und täglich ein Liter Gratismilch in der Schule; Kindersterblichkeit sank um 20 Prozent, Arbeitslosigkeit um 8,8 Prozent. Mit seiner anfänglich erfolgreichen Sozialpolitik folgte Allende sowohl sozialistischen Idealen der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts als auch einer südamerikanischen Tradition "populistischer" Nachfragepolitik. Doch allesamt wurde Allendes sozialistisches Chile mittels glasklarer US-Handels- und Kreditembargos vom Tisch gefegt, in den Abgrund getrieben; Privatinvestitionen sanken, Gelder ins Ausland transferiert.
WIRTSCHAFT VORM RUIN
Die Wirtschaft des Landes stand folglich vor dem Ruin, abhängig vom amerika-nischen Kapital, das Chile wegen der Verstaatlichung einiger wichtiger US-Unter-nehmen boykottierte. Schwere Wirtschaftskrisen samt Streiks durchschüttelten das Land, Rationierungen und hohe Inflationen bis zu 600 Prozent bestimmten den Krisen geschüttelten Alltag. Der US-Geheimdienst CIA hatte bereits zu diesem Zeitpunkt vorsorglich acht Millionen Dollar zur "Destabilisierung der Volks-frontregierung" ins Land gepumpt. Schmiergelder, die Militärs, Kongressabge-ordnete, streikende Fuhrunternehmer sowie radikale Linke und Rechte kassierten. - Am Ende des Traums nach einer gerechteren Gesellschaft blieb die Erosion eines systematisch in den Ruin aufgetriebenen Volkes. - Ob nun Selbstmord oder Mord eines unbeugsamen Salvador Allendes im Präsidentenpalast am 11. September 1973 in Santiago de Chile - keiner kann die tödlichen Ereignisse mit Gewissheit belegen.
"WAS GEHT VOR, AUGUSTO?"
Als die Hauptstadt Santiago am Rande des Bürgerkriegs stand, glaubte Allende immer noch, sich auf Pinochet verlassen zu können. Schließlich ist Pinochet unter Allendes Regentschaft zum Divisionsgeneral, zum Befehlshaber der in Santiago stationierten Zweiten Armee und Oberkommandierender des Heeres ernannt wurden. Immer wieder rief Allende ihn an und fragte: "Was geht vor Augusto?" Der General beruhigte seinen Präsidenten: "Ich werde bis zum Ende loyal zur Regierung stehen", ver-sicherte er.
BRUTUS
In Wirklichkeit war Pinochet längst zum Brutus geworden. Die blutigen Putschpläne waren schon mit den Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte abgesprochen worden, Sie lagerten bei Pinochet in der Schublade. Den letzten Anstoß zum Umsturz sollen Pinochet jedoch die Frauen der betuchten groß- und mittelbürgerlichen Schichten gegeben haben, die auf ihn auch noch zu Zeit seiner Präsidenten-Diktatur einen beträchtlichen Einfluss ausübten. Ihre Kochtopf-Demonstrationen in Santiago gegen stets höhere Lebensmittelpreise, und die ständigen Sticheleien gegen seiner eigenen Ehefrau Dona Lucia beim morgendlichen Frühstück zu Hause, "Augusto, du bist doch Soldat und kein Feigling", beschleunigten offensichtlich Allendes Ende.
PINOCHETS DANKESBRIEF
Knapp zwei Monate nach dem Putsch von Santiago kam in "Fort Gulick" in der noch durch US-Militärs besetzen Panama-Kanalzone ein Brief aus Santiago an, der über Jahrzehnte den Ehrenflur schmückte, in dem jedes Mitgliedsland durch seine Nationalflagge vertreten war. "Wir bitten Sie, die Dankbarkeit der chilenischen Armee entgegenzunehmen, der ich meine aufrichtigen Glückwünsche für die berufliche Ausbildung, die in diesem Institut erteilt wird, hinzufüge." Der Brief trägt das Datum vom 6. November 1973 und ist unterzeichnet von Augusto Pinochet.
ZWEI GESICHTER
Pinochet und seine zwei Gesichter. Als US-Präsident Jimmy Carter (1977-1981) im Wahlkampf der republikanischen Ford/Kissinger-Regierung (1974-1977) den Vorwurf machte, "den gewählten Allende gestürzt zu haben, um einer Militärdiktatur Platz zu machen", konterte der General in einem Telegramm an Carter: Er sei "durch falsch oder verstümmelte Informationen beeinflusst worden, die auf der Propaganda marxistischer Parteien basieren." Carter solle doch nach Chile kommen und an Ort und Stelle die Materialen einsehen. Jimmy Carter fuhr bekanntlich nicht, dafür amerikanische Journalisten, die der Diktator im 22. Stock von Diego Portales empfing.
LANDKNECHTS-JOVIALITÄT
Sein Arbeitszimmer, ein sachlich-kühler Raum, kennt nur einen Schmuck: einen goldglänzenden Säbel. Die Gespräche beginnt Pinochet immer mit derselben Litanei. Eigentlich rede er überhaupt nicht mit ausländischen Journalisten. "Man wird Ihr Interview doch nur publizieren", witzelt er verbissen, "wenn Sie schreiben, an Pinochets Händen klebt Blut. Kein Mensch wird Ihnen glauben, dass ich ein normaler und ruhiger Mensch bin, der sogar lachen kann."
Seine Landknechtsjovialität offenbart, was ihm selbst seine engsten Freunde bescheinigen. Er ist kein Mann der brillanten Intelligenz, vielmehr ein Haudegen, der sich durch Diensteifer, Beharrlichkeit und Härte nach oben geboxt hat. Dazu kommt eine Portion dreister Bauernschläue, mit der er seine Gegner allzu oft auszutricksen versucht. Eine amerikanische Reporterin von NBC: "Aber ich habe die Leiche eines politischen Gefangenen mit eigenen Augen gesehen." - "Was sahen Sie, Einschüsse, Folterspuren?" fragte Pinochet mürrisch. "Ich sah blutige Wunden am ganzen Leib, zerschlagene Schläfen." Pinochet reagiert sachkundig: "Autounfall", sagt er. "Ein typisches Beispiel, wie jene zwei Terroristen, die vor ein paar Tagen einer Streife ausrissen. Ihr Wagen überschlug sich dabei. Manchmal versuchen die Herren sich freizuschießen, sogar mit Handgranaten. Auch auf unserer Seite, Madame, gibt es Opfer. Aber vielleicht ist der Mann, den Sie sahen, auch auf eine ganz gewöhnliche Weise verunglückt, und seine kommunistischen Angehörigen benutzen dies, um uns eins auszuwischen. Große, geschickte Lügner, die Kommunisten. Vor ein paar Tagen hat ein Arbeiter ein kleines Mädchen geschändet und verbreitet, die Polizei habe das getan. Wir holten ihn ab, und er gestand die Wahrheit. Was Ihre Presse nicht daran hindert, uns als perverse Verbrecher zu verleumden."
FOLTERLAGER TEJAS VERDES
Ein anderer Reporter: "Der Mapacho-Fluss und die Gewässer der südlichen Provinzen von Cantía und Valdiria spülen täglich entsetzlich zugerichtete Leichen an die Uferböschungen." Pinochet: "Diese Menschen sind nicht durch Soldaten getötet worden. Extremisten haben Schwerverletzte in den Fluß geworfen, weil sie sie nicht hätten pflegen können."
Die Folterlager in Tejas Verdes in Fuerte Borgono, in Talcahuano, in der Academia de Guerra Aérea, die Torturzentren in der Villa Grimaldi, in Tres Alamos , in der Calle José Domingo Canas oder in der Calles Londres 42, existieren für Augusto Pinochet gar nicht. Er tut so, als würde er es auch Hitler abnehmen, nichts von Auschwitz gewusst zu haben.
ISOLIERHAFT, ELEKTROSCHOCKS
Die Isolierhaft, der Schlafentzug, die Prügel, die Vergewaltigung, das Ausreißen der Fingernägel, die Behandlung mit Drogen, die Elektroschocks, die Papageienschaukel - für Augusto Pinochet sind es "Greuelmärchen, die aus Moskau kommen".
Der Bericht der UNO-Menschenrechtskommission, die 150 Zeugen in Genf, Paris, New York und Caracas vernahm, der Report der Internationalen Juristen-Kommission, die in Chile über Hunderten von Schicksalen minutiös nachging, die Nachforschungen der Internationalen Arbeitsorganisation, die das Regime für den Tod von 119 Gewerkschafter verantwortlich macht - die Materialsammlung der kirchlichen Vicaría de Solidaridad in Santiago, die Statistiken des Lutherischen Weltbundes (50.000 Ermordete seit dem Putsch) und von amnesty international (130.000 Menschen wurden seit 1973 für kürzere oder längere Zeit interniert, 1.500 Chilenen sind spurlos verschwunden, wahrscheinlich tot) - 4.000 noch in Haft. Pinochet begegnet den Anklagen mit kaltschnäuziger Ignoranz.
HOCHFINANZ AN PINOCHETS SEITE
Er weiß sich bei seiner Politik der Unterstützung der internationalen Hochfinanz sicher. Seit dem Umsturz sind die Militärjunta insgesamt 2.5 Milliarden Dollar zugeflossen: Von Finanzorganisationen, ausländischen Privatbanken, Verkäufer-kredite und staatliche Hilfen insbesondere von den USA, Brasilien und Argentinien. Bis ins Jahr 1980 werden der Diktatur weiterhin 500.000 Dollar jährlich gewährt; als Finanzspritze weiterer Repressionen sozusagen. Selbst die Volksrepublik China pumpte 125 Millionen Mark in eine Kugellagefabrik. Im April 1977 war auch ein deutscher Großbankier Hermann Josef Abs (1901-1994) zu Gast. Die chilenische Zeitung "El Mer curio" berichtete: "Herr Abs, einer der einflussreichsten europä-ischen Bankiers, erklärte, er sei auf Grund der Zuneigung zu Chile gekommen, die er für unser Land verspüre, wo er zum ersten Mal vor fünfzig Jahren als Student gewesen sei. Andererseits stehe das Institut, dessen Ehrenpräsident er ist, an der Spitze eines Bankenkonsortiums, das sich anschickt, der Corporacion del Cobre einen Kredit über hundert Millionen Dollar zu gewähren. Die Deutsche Bank hatte kürzlich der chilenischen Zentralbank einen Kredit über 50 Millionen Mark für den Kauf von Kapitalgütern eingeräumt." - Am Nachmittag konferierten, wie sollte es auch anders sein, Bankier Abs und Folter-General Pinochet im Gebäude Diego Portales. Der Diktator zum Bankier: "Unter den Nationen der Welt gibt es keine, der sich das chilenische Volk näher fühlt als den Deutschen."
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Nachtrag - Ende September 1998 reiste Pinochet als Senator nach Großbritannien. Dort ließ er sich seinen kranken Rücken behandeln und traf sich mit der britischen Ex-Premierministerin Margaret Thatcher (1979-1990), die er während des Falkland-Krieges unterstützt hatte. Aufgrund eines spanischen Haftbefehls wegen Völkermord, Staatsterrorismus und Folter wurde Pinochet in England verhaftet - unter Arrest gestellt. Dem folgte ein monatelanges, fortwährendes juristisches, aber auch machtpolitisches Tauziehen zwischen England, Spanien und Chile. Ausgerechnet die chilenische Regierung unter Eduardo Frey setzte sich für seine Freilassung ein. Ihre Gründe waren sein hohen Alter und sein offenkundig schlechter Gesundheitszu-stand. Dieser offiziellen Version schloss sich gleichfalls die USA an. In Washington wurden nämlich weitere Enthüllungen und Verwicklungen der Vereinigten Staaten in die Menschenrechtsverletzungen, Verschleppungen unter Pinochets Herrschaft befürchtet. - Pinochet indes kehrte unter Beifall seiner Anhänger im Jahre 2000 nach Chile zurück. Bis zu seinem Tod stand er in Chiles Hauptstadt unter "Hausarrest". - Zu einer gerichtlichen Aufarbeitungen und Aburteilung jener Herrschaftsjahre mit Tausenden von Opfern kam es nicht mehr. Verpasste Chancen auf Versöhnung, auf Aussöhnung in dieser zerrissenen Nation.
FRIEDLICHER WANDEL
FRIEDLICHER WANDEL
Im März 2006 wurde die Sozialistin Verónica Michelle Bachelet Jeria zur neuen Präsidentin gewählt (2006-2010). Die Kinderärztin floh während der Pinochet-Zeit über Aus-tralien in die DDR. Ihr Vater, ein Allende-Anhänger, der Luftwaffengeneral Alberto Bachelet, war derart grausam von Pinochet-Schergen gefoltert worden, dass er wenig später verstarb. Michelle Bachelet floh über Australien in die DDR, wo sie Germa-nistik und Medizin studierte. Im Jahr 1979 - noch unter dem Pinochet-Regime - kehrte sie nach Chile zurück. Trotz Jahrzehnte, die mittlerweile seit dem Ende des Pinochet-Regime vergangen sind, spricht Michelle Bachelet noch lange nicht davon, den Schergen oder Schlächtern von ehedem als Geste eines Neuanfang, die Hand zu reichen. Michelle Bachelet kann es wie vielen anderen Leidensgenossen allenfalls um eine "Wiederbegnung " (reencuentro) mit Menschen in einem Land gehen, in dem die Wunden offenkundig mühsamer verheilen können als vielleicht anderswo. Michelle Bachelelts Nachfolger, der konservative Politiker und Multi- Millionär Sebastián Pinera, trat sein Amt am 11. März 2010 in Santiago de Chile an.
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