Soziale Auseinandersetzungen in Frankreich werden härter, die Schere zwischen arm und reich öffnet sich. Der Produktionsfaktor Mensch ist in Westeuropa im postindustriellen Zeitalter des Börsen orientierten Profits zu teuer, überflüssig geworden. Arbeit wandert in "Billig-Lohn-Länder" aus. Über fünf Monate lang besetzten Arbeiterinnen die in Konkurs geratene Uhrenfabrik "L'Epée" im ostfran-zösischen Montbéliard. Mit Betriebsrätin Noelle Grimme an der Spitze kämpften 40 Frauen für Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Vergeb-lich. Mit Knüppeln und Granatwerfern der Sonderpolizei CRS wurden die Fabrikbe-setzerinnen verdroschen - verjagt.
Frankfurter Rundschau
vom 7. Dezember 1996
von Reimar Oltmanns
"Mozart" heißt der kleine Penduletten-Musikkasten vor dem Betriebsrätin Noelle Grimme steht. Die klaren Noten klingen noch einmal durch den Ausstellungs-raum: Restposten. Konkursmasse. Um Madame Noelle herum zeugen Penduletten im Musikgehäuse, Reise- oder Offiziersuhren von der Geschichte der Manufak-tur "L'Epée", einer Uhrenfabrik, die im Vorwort Sainte Suzanne des ostfranzösischen Städtchens Montbéliard im Jahre 1839 gegründet worden ist.
RAFFINESSE UND PRESTIGE
Mit der Hand streicht Noelle behutsam über das glän-zende Messing. Zwischen Zeigefinger und Daumen greift die Betriebsrätin den Henkel und hält eine kleine Standuhr demonstrativ nach oben. "All diese Kunst-werke französischer Raffinesse und Prestige", verrät sie, "haben nicht nur die Größen dieser Welt von Sankt Petersburg über Washington und den Vatikan bis Peking geschmückt. Sie stammen zuallererst von fleißigen Frauenhänden."
EHRE EINER EPOCHE
Es sind meist Arbeiterinnen, die über 30 Jahre hier an der Werkbank für einen Mindestlohn von höchstens 900 Euro geschuftet haben. Diesen "L'Epée"-Frauen käme es sicherlich nie in den Sinn, mit solch einem Uhrwerk - Kaufpreis zwischen 900 und 18.000 Euro - ihr Wohn-zimmer verzieren zu wollen. Und doch kämpften sie um ihre Penduletten. Ihre Manufaktur ist weltweit die letzte gewesen, die alle Teile zur Herstellung der Penduletten handwerklich produziert hat. "L'Epée" - das war schließ-lich ihr Leben.
CGT-GEWERKSCHAFT
Genau 23 Jahre arbeitete Noelle Grimme in dieser Manufaktur. Sie kam zu "L'Epée", um sich "zu rühren", wie sie sagt; müde von einem Mann, den sie 15jährig geheiratet hatte. Er wollte nicht, dass Noelle einen Beruf ausübt. Zu Hause hatte sie sich um zwei Kinder zu kümmern - basta. Sie aber will leben, nach zwölf Jahren erstickender Zweisamkeit lässt sie sich scheiden. Zwei Wochen nach Ankunft in der Fabrik tritt sie in die größte Gewerkschaft CGT (Confédération générale du Travail) Frankreichs mit engen Beziehungen zur kom-munistischen Partei ein. Ein Jahr später wird Noelle zur Vertrauensfrau gewählt. Wenig später fungierte sie als Gewerkschaftssprecherin.
MALOCHE ALS BEFREIUNG
Es sind die Jahre einer neuen, ungewohnten Konflikt-front in Frankreich, auch "Frauen-Militanz" genannt. Noelle sagt: "Wenn Frauen in den Kampf eintreten, dann mit mehr Kraft und größeres Ausdauer als die Männer. Man braucht sich doch bloß die Gesellschaft heutzutage genau angucken. Das Sozialwohnungsamt von Belfort - zum Beispiel - hat in einer Untersuchung herausgefunden, dass 32 Prozent der Mieter alleiner-ziehende Frauen sind. Bei den Männern hingegen waren es nur fünf Prozent. "Wenn Männer sich trennen, gehen sie zu einer anderen Frau oder wieder direkt zur Mutti zurück. So scheußlich ist das nun einmal. Alleine mit sich zu sein, das halten nur die wenigsten aus.
UNGEDULDIGER - MILITANTER
Wir Frauen sollten uns eingestehen", fährt Noelle fort, "dass wir ungeduldiger, ja militanter geworden sind, weil wir ständig berufstätig und alleinerziehend sind. Aber ob in der Fabrik oder während der Nacht-arbeit - diese Maloche war nicht nur Last, für mich blieb auch schon ein Stück Befreiung. Da kommst du endlich raus aus dieser verengten Welt zu Hause."
Doch diese industrielle Zeitalter dankt nun im Eiltempo ab. Und das nicht nur in Frankreich, sondern überall in alteingesessenen Fabrikregionen. Vorbei sind die Jahre des Überflusses. Überflüssig sind vornehmlich Frauen aus der sogenannten Leichtlohngruppen-Kategorie geworden. "Noch nie", räumt der gaullistische Innen-minister Charles Pasqua (1993-1995) ein, "ist die soziale Lage so angespannt wie heute seit dem Zweiten Welt- krieg."
ZUSTAND DER REBELLION
Für den Pariser Sozialwissenschaftler und zeitweiligen Präsidenten-Berater Emmanuel Todd zeigen in Frank- reich alle Meinungsumfragen "einen noch nie da gewesenen Zustand der Rebellion. Keine Frage, wir befinden uns in einer vorrevolutionären Situation. Denn es gibt die Fähigkeit des französischen Volkes bei schweren Regierungsfehlern, sich plötzlich gegen seine herrschende Klasse zu erheben." Momentaufnahmen in Zahlen: Das Chemie-Unternehmen Pechiney entlässt dreitausend, Peugeot 1.700, Renault 1.600, Moulinex 2.600, Rhône-Poulenc 400, Danone 300 und die Banken Zehntausende von Angestellten. Stempeln gehen alsbald auch 4.500 Bahner, 3.000 Postler, etwas gleich viele Lehrer. Nach gewerkschaftlichen Hochrechnungen sind davon 50 bis 70 Prozent Frauen. Im Schnitt ver- lieren jeden Monat in Frankreich 35.000 Menschen ihren Arbeitsplatz. Selbst die von Zweifelsfällen be- reinigte Erwerbslosenstatistik mit 12,5 Prozent (Deutsch- land 10 Prozent) oder 3,1 Millionen Arbeitslosen erreicht Rekordniveau.
Anders als noch in Deutschland öffnet sich in Frank- reich zudem die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Gesellschaftliche Risse haben sich längst zu Gräben erweitert. Seit Mitte der achtziger Jahre werden "die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer", ermittelt die Pariser Statistik-Behörde. Der Lebensstandard der Franzosen, die jünger sind als 25, sank erstmals seit 1989 um 15 Prozent. Ein Viertel der Jugendlichen (Deutschland 8,5 Prozent) sind ohne Job.
OBERSCHICHT UND KLASSENKAMPF
Lediglich die französischen Oberschicht lässt es sich unbeirrt bessergehen. Folge-richtig verfügen zehn Prozent der Bevölkerung über 55 Prozent des National-vermögens der Republik. Frankreich in diesen Wochen - eine längst vergessen geglaubte Grundstimmung des Klassenkampfes aus den fünfziger Jahren erlebt eine Renaissance. Selbst die als gemäßigt wie regierungs-freundlich geltende Gewerkschaftsvorsitzende der CDFT, die 47jährige Lehrerin Nicole Notat, befürchtet mittlerweile, "dass die Republik sehr bald zur Hälfte aus lebenden Toten besteht". Ihre Kollegin, die Kommu-nistin Marie-George Buffet (Jugend- und Sport-ministerin 1997-2002) , rief auf dem "Fête de l'Huma-nité" in Paris vor 20.000 Frauen aus: "Wir Frauen werden nicht zulassen, dass Leiden, Verbitterung und Zukunftsangst unser Leben dominieren."
KEINE STREIKKASSEN
In Wirklichkeit hat auch der gewerkschaftliche Überlebenskampf längst begonnen, Da fürchtet vor-nehmlich, die noch etwa 600.000 Mitglieder starke CGT, gleichfalls als Opfer der Industriekrise allmählich abdanken zu müssen. In keinem anderen Industrieland ist der Organisationsgrad mit zehn Prozent - davon etwa drei Prozent Frauen - so niedrig wie in Frankreich. Und die Tendenz zeigt weiter abwärts. Außerdem verfügen die stark rivalisierenden Gewerkschaftsführer wie Louis Viannet (CGT), Marc Blondel (FO) oder Nicole Notat (CFDT) - anders als ihre deutschen Kollegen - über keine Streikkassen. Etwa 60 Prozent ihrer Mitglieder ver-dienen - umgerechnet - weniger als 1.150 Euro. Während des Streiks wird zuerst ein Überleben durch finanzielle Solidarität möglich. Spenden aus Sammlungen bei Demonstrationen oder auch Zuschüsse aus linken Rathäusern. In wohl keinem anderen europäischen Land ist es zudem legal, dass Unternehmen Mitarbeiter plötzlich entlassen, nur weil sie als ehrenamtliche Vertrauensleute tätig sind.
BETRIEBSRÄTE FLIEGEN RAUS
In Frankreich hingegen wurden allein im Jahr 1994 exakt 10.000 Vertrauensmänner und zudem 3.000 Vertrauensfrauen in die Arbeitslosigkeit geschickt. Ihr Vergehen: Mitglied einer Gewerkschaft zu sein. Auch Betriebsräte, die eigentlich Kündigungsschutz bean-spruchen können, geht es nicht viel besser. In Frank-reich kann das Arbeitsgericht ihren Rauswurf ge-nehmigen - so geschehen in vergangenen Jahr in 85 Prozent der Fälle. So ist es geradezu zwangsläufig, dass bei den Betriebsratswahlen (comités d'entreprises) Nicht-Gewerkschafter mit 30 Prozent die größte Gruppe der Arbeitnehmer bilden. Der Sozialforscher Dominique Labbé vom politischen Institut in Grenoble prophezeit in einer neuen Studie "quasi das Verschwinden der Gewerkschaften am Arbeitsplatz".
Am Tag der Konkurs-Verkündung im ostfranzösischen Montbéliard jedenfalls - Anfang April 1996 - fehlte von den gut bezahlten Managern der französischen "l'Epée"-Edel-Uhren auf dem Fabrikgelände jede Spur. Etwas mehr als drei Millionen Euro Schulden, einen Treu-händer und später den eiligst herbeizitierten Gerichts-vollzieher ließen die Herren zurück. Aber auch 40 Arbeiterinnen und eine Handvoll Männer. Allesamt hatten sie in den vergangenen Jahren bereits einen erheblichen Stellenabbau von 600 auf 64 Mitarbeiter hingenommen. "In dieser Tristesse blieb uns nur noch eines - und das hieß "Rebellion", bedeutet Noelle Grimme, "allerdings unter Frauen-Regie."
"ERSTNACHTS-RECHT" IN DER FABRIK
Es sollte die Zeit der 50jährigen parteilosen Betriebs-rätin Noelle Grimme werden - in der Region Franche Comté kurz unter dem Namen "la Pasionaria des pendulettes" bekannt. Nicht etwa deshalb, weil Noelle der legendären spanischen Bürgerkriegs-Kommunistin Dolores Gómez (1895 - 1989) sendungsbewusst nach-eiferte. Es war schon eher ihre Schlagfertigkeit, die Feuer auf dem besetzten Gelände entfachte. Exakt fünf Monate - Tage wie Nächte - besetzte Noelle mit 40 Kolleginnen die "L'´Epée"-Uhrenfabrik zu Montbéliard.
KLEINMUT
Immer dann, wenn Kleinmut aufkam, war es die Pasionaria, die Durchhalte-Motivationen ihrer Frauen erhöhte. Da erzählte Noelle, wie noch in den späten sechziger Jahren "die Patrons ihre Arbeiterinnen in der Fabrik je nach Belieben" zu vergewaltigen vermochten. Und keiner sagte irgendetwas. Alle waren mucks-mäuschenstill. "Droit de cuissage" (Erstnachtsrecht) hieß das auch nur knapp im gewöhnlichen Fabrik-Jargon. Die Frauen natürlich - die hatten zu schweigen, wollten sie ihre Arbeit und damit das Familienein- kommen nicht gefährden. Bis auf die Empfangs-Mademoiselle Edwige. Nachdem sie in der Garderobe begrabscht worden war, setzte sie sich am nächsten Morgen aus Protest splitter-nackt an die Fabrik-Rezeption.
Als der Junior-Chef - ihr Vergewaltiger - erstaunt her-beieilte, da haben Edwige und drei junge Arbeiterinnen ihn in den Fahrstuhl geschubst. Die Frauen haben dem Chef die Hose vom Leib gerissen. Und bei jedem Etagen-stopp gab es mit einem Knüppel fünf Schläge auf den blanken Hintern. Sechs Stockwerke hatte das Gebäude - und eine halbe Stunde blieb der Lift besetzt.
Wenn die Pasionaria ihren Mitstreiterinnen Martine, Mimi oder Pascale solche Geschichten aus dem Ar-beiterinnen-Leben am Fabriktor erzählte, konnte sie sich der Streiklust der Frauen sicher sein. "Nein, Noelle", bekundeten die Besetzerinnen da am Zaun, "hier gehen wir nicht freiwillig weg. Erst im Kampf treten Augenblicke auf, die uns im Alltag sonst fehlen: Solidarität, Schwesterlichkeit."
Fünf Monate verbrachten 40 Frauen in ihrer Fabrik. Sie arbeiteten tagsüber an ihren Penduletten, bewachten des Nachts das Gelände und träumten von einer Arbeiterinnen-Genossenschaft, die die "L'Epée"-Fabrik aufkauft.
POLIZISTEN MIT GRANATWERFERN
Bis eines Morgens im September Polizisten mit Granatwerfern in die Räume springen. Mit langen Stöcken schlagen sie auf alles ein - auf Möbel wie auf Frauenköpfe. Die Reaktion: Wut-Rufe abgeführter Arbeiterinnen und die Gewissheit: "Wir Frauen sind stärker als ihr Männer. Wir kämpfen für eine Idee, für
Gleichheit und Schwesterlichkeit."
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POSTSCRIPTUM. - Sechs Wochen später nehmen Beschäftigte des Elektrokonzern JVG im lothringischen Longwy ihre japanischen und französischen Chefs für einen halben Tag gefangen. Sie wollten damit gegen eine Werkschließung n Villers-la-Montagne prote-stieren. Betriebsrätin Marie-Hélène Martin wies vor Journalistin auf "das mutige Beispiel der von Frauen besetzten Manufaktur L'Epée in Montbéliard hin." Und dann sagte sie: "Künftig werden in Frankreich nicht nur Streiks, sondern immer mehr Fabrikbesetzungen das Land in Atem halten."
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