Freitag, 26. Februar 2010

Misshandelte Frauen - Gewalt in Familien

























































Arbeitslosigkeit, Versager-Ängste - soziale Miseren führen in Frankreich zu immer mehr Gewaltausbrüchen gegen Frauen. "Er schlägt Sie - lehnen Sie Gewalt ab", heißt es überall auf einem Plakat des Amtes für Frauenrechte. Es will aufmerksam machen auf einen ver- deckten Notstand: Männer-Gewalt gegenüber Frauen. - S.O.S. - Über 35.000 Französinnen sind auf der Flucht - Angst vor Schlägen, Verge- waltigungen, Demütigungen. Jede siebte Frau ist Opfer sexueller Übergriffe. - Immerhin: Vierzig Frauenhäuser bieten Schutz. Über 150 Organisationen geben für Frauen-Klagen vor Gericht Rechtshilfe. Dabei dreht es sich nicht um Horrorvisionen aus der Kinowelt. Es handelt sich um französische Alltäglichkeiten - versteckt, bagatellisiert, verschwiegen, verharmlost. Frauen-Misshandlungen
Frankfurter Rundschau
31. Mai 1997 / 26. Februar 2010
von Reimar Oltmanns

Die Alltäglichkeit der Gewalt vermittelt sich im Pariser Osten, genauer gesagt im 11. Arrondissement mit schein- bar beruhigend monotoner Stimme. Insgesamt 58 An-rufe - Frauen-Notrufe - gehen täglich im ersten Frauen-haus der französischen Republik in der Cité Prost Nr. 8 ein. Das sind immerhin 95.000 Hilfsappelle bei der Frauenorganisation "Solidarité des femmes" in vierein-halb Jahren. Und all diese Telefonate drehen sich immer wieder um den gleichen Tatbestand. "Violence et Viol"; Gewalt und Vergewaltigung, geschlagene, ge- schundene Frauen - Etappen der Gewalt, die gewöhn- liche Männer-Gewalt im Frankreich dieser Tage, Jahre, Jahrzehnte.

HORROR-VISIONEN AUS FILMEN

Die 38jährige Telefonistin Isabelle führt dir Telefon- statistik, weil es in puncto Männergewalt weder eine offizielle Datenerhebung noch aussagekräftige Fakten- sammlung in der Regierung zu geben scheint. Das ist schließlich auch der Grund, warum gleich neben der Telefonzentrale und der Bettwäscheausgabe im Frauenhaus die frühere Kindergärtnerin Christine Poquet nunmehr wöchentlich sämtliche Zeitungen der Republik auf der Suche nach Gewalt in Familien, Brutalität gegen Frauen auswertet. Christine meint: " Irgendwie müssen wir hier immer noch den absurden Beweis antreten, dass es zwischen Menschenrechten und dem Status einer Frau einen kausalen Zusammenhang gibt. Es reicht nicht, dass wir zusammengeschlagen werden. Wir müssen es auch noch zweifelsfrei be- weisen." Und Kollegin Monique Bergeron, die ebenfalls fleißig mit ausschnippelt, ergänzt: "Wer diese Berichte hintereinander liest, glaubt an Horror-Visionen in Filmen - nur nicht, dass derlei Männer-Übergriffe Tag für Tag in Frankreich passieren. Letztendlich ist es die rohe Form der Machtverhältnisse. Unsere französische Gesellschaft ist krank und erlaubt solche Gewaltform. Handgreiflichkeiten gegen Frauen - das ist keine bedauerliche Panne des Mannes, sondern eine gesell- schaftliche Erscheinung: ein Virus dieser Jahrzehnte."

IN JEDER 5. EHE - BEISCHLAF ERZWUNGEN´
Immerhin wissen jene beherzten Frauen zu berichten, dass es in Frankreich eine jährliche Dunkelziffer von nahezu vier Millionen Frauen gibt, die geschlagen und vergewaltigt werden, körperliche Verletzungen davon- tragen. So seien in Frankreich durchschnittlich etwa 35.000 Frauen auf der Flucht - aus Angst vor Schlägen, Demütigungen. In jeder fünften Ehe, so schätzen sie bei "Solidarité des femmes", erzwingen sich Frankreichs Männer mit Gewalt den Beischlaf. Folglich macht häuslichen Gewalt ein Drittel der vorsätzlichen Gewalttaten in Frankreich aus. In drei Jahren (2005-2008) steigerten sich derlei Exzesse um 31 Prozent auf 47.000 Fälle. Zudem sind im Jahre 2008 insgesamt 157 Frauen durch Schläge ihrer Lebensgefährten ums Leben gekommen. Das sind nach Angaben der französischen Staatssekreärin für Familie und Solidarität, Nadine Morano, etwa 20 Prozent aller Totschlagsdelikte. Und in Deutschland ist nach einer Studie des Bundesfamilienministeriums jede siebte Frau Opfer sexueller Übergriffe. Frauen sind demnach in ganz Westeuropa von sexueller Gewalt mehr bedroht als durch andere Schwerdelikte wie Raub oder Wohnungseinbrüche.

Schlimm sieht Jacqueline aus, die gerade von zwei Pariser Gendarmen uns Frauenhaus in der Cité Prost Nr. 8 gebracht wird. Ihr linkes Auge ist grünblau. Beule auf der Stirn. Pflaster auf der Nase. Sie zittert. Ihre Hand zur Faust geballt, flucht Jacqueline: "Ich hasse ihn nur noch." Weinkrämpfe. Ein Prügeldrama in einer unauf- fälligen Dreizimmerwohnung am Pariser Außengürtel; angezettelt von ganz "normalen" Männern. Und Polizist Olivier Delattre murmelt routinegeübt: "Für uns ist das Alltag. Etwa 60 Prozent unserer Noteinsätze gelten handgreiflichen Familienkrächen, bei denen zu cirka 95 Prozent die Frauen Opfer sind."


"ICH BIN DIE HURE UND DIE MAGD"

Tatsächlich setzt eine schleichende Verarmung in Jahren der Massenarbeitslosigkeit - vornehmlich der französischen Mittelschicht - ein unvermutetes Aggres- sionspotenzial frei. Ein Viertel der erwerbstätigen Be- völkerung kann nämlich seinen Lebensstandard nicht mehr halten. Martine de Maximy, Familienrichterin am Pariser Amtsgericht, sieht die Hauptursache für neuer- liche Kälte mit ihren Konfliktfeldern in der wirtschaft- lichen Krise und dem sozialen Ausschluss ganzer Be- völkerungsgruppen. Madame de Maximy äußert besorgt: "Auch das Ausmaß an Brutalität in angeblich bessergestellten Familien ist beachtlich. Angst vor der Zukunft lauert dort. Die Gewaltanwendung wird kulturell durch das Bild der Männlichkeit in der Öffent- lichkeit verstärkt. Der männliche Stereotyp frohlockt mit solch einem Verhalten. Dann haben diese Ver- sagerangst vor Leistungsabfällen. Das macht irgend- wann bitter. Oft wird unvermutet wahllos zugeschlagen; meist zu Hause Frau wie Kind. Fast die Hälfte aller Vergewaltigungen findet in Frankreich in der Familie statt. Grausam."
Die Pariser Psychoverhaltensforscherin Christine Dessieux hat bei einer Langzeituntersuchung von 600 Französinnen herausgefunden, "dass manche Frauen sich gegenüber ihrem Mann in einer Art 'ehelicher Prostitution' befänden. Sie sagen ganz offen, 'stimmt, ich bin die Hure und die Magd." So weiß die Lyoner Gerichts- ärztin und stellvertretende Vorsitzende des Verbandes S.O.S. Femmes, Dr. Liliane Daligand zu berichten, dass "nach einer Vergewaltigung selbst in Langzeit-therapien bei diesen Frauen nur schwer von einer Heilung gesprochen werden kann. Es kann allenfalls eine Vernarbung der seelischen Verletzung geben."
SEELISCHE LANGZEIT-FOLGEN
Jahrelange Untersuchungen von Gewaltforscherinnen an der Universität Poitiers in französischen Kranken- häusern über die seelische Langzeitfolgen unmittelbarer männlicher Aggressionen bei zweitausend Frauen ergaben, dass

0 43 bis 47 Prozent unter Angstgefühlen litten;

0 16 bis 30 Prozent bei Anspannung zitterten;

o 10 Prozent waren selbstmordgefährdet;

0 20 Prozent klagten über Traurigkeit;

0 32 Prozent verloren ihr Selbstwertgefühl;

0 14 Prozent flüchteten in Alkohol.



VERFAHREN, VERTAN, VERLOREN - VIELLEICHT VERRÜCKT



Die Telefonistin Isabelle vom Frauenhaus im Pariser Osten war vor fünfzehn Jahren gleichsam Zielscheibe eines prügelnden Ehemannes. "Ich war einfach ver- liebt", sagt sie heute fast entschuldigend. Und dieses Adjektiv verliebt, das tönt schon ein wenig so wie verfahren, vertan, verloren - vielleicht auch verrückt, weil Gewalt als einzige Form der "Zuwendung" übrig- geblieben ist. Schon damals schloss sich die einstige Sekretärin Isabelle der französischen Frauen- befreiungsbewegung an. Seither nimmt Isabelle Hilfsschreie ihrer Leidensgenossinnen entgegen - Tag für Tag, Jahr für Jahr sitzt sie am Telefonhörer des Frauenhauses. Sie beachtet: "Im Vergleich zu früheren Jahren durchleben wir eine Wende in Frankreich. Ge- prügelt und misshandelt wurde schon immer in den Familien hinter verschlossenen Türen. Und das nicht zu knapp. Nur mit dem Unterschied: Die Frauen sind jetzt couragierter geworden, verklagen ihre Ehemänner oder benennen ihre Peiniger vor Gericht. Sie flüchten und machen ihr Leid öffentlich."
"BAS LES MASQUES"
"Masken runter" ("Bas les Masques") hieß die erste Fernsehsendung im Jahre 1995, in der Frauen über ihr Schicksal am Tatort Familie, zugerichtet mit Hand-kantenschlägen , öffentlich berichteten. In Zahlen: Im Jahre 1982 registrierten Frankreichs Gerichte 2.459 Strafanzeigen wegen Vergewaltigung. Dreizehn Jahre später - im Jahre 1995 - waren es 7.069 Strafverfahren. Eine Steigerungsrate um 65 Prozent - ausnahmslos qua Strafanzeige von den Opfern angestrengt. Wobei seit dem Jahre 1994 strafverschärfend gilt, wenn ausdrück- lich Ehemänner oder Lebensgefährten als Täter über- führt werden.
BESCHNEIDUNGS-RITEN
Noch in die siebziger Jahren hinein konnten Frank- reichs Ehemänner ihre Frauen verdreschen, ihnen die Zähne ausschlagen - nichts geschah. Privatsache. Noch bis Mitte des neunziger Jahrzehnts mussten sich musli- mische Nordafrikanerinnen vielerorts zwischen Paris und Marseille stillschweigend Beschneidungsriten unterwerfen. Schmerzhafte Misshandlungen, da nach alter Tradition in 26 afrikanischen Ländern den Mäd- chen im Kindesalter die Klitoris entfernt wird. Männ- liche Lust- und Gebärkontrolle. Immerhin kam es nach informellen Berechnungen 1992 noch zu 23.000 Frauen- beschneidungen. Es gab keinerlei öffentliche Kritik.
Bis in die späten achtziger Jahre war es absolute Privatsache, was sich tatsächlich in französischen Familien ereignete. Es war die Frauenbewegung im siebziger Jahrzehnt, die die Republik damals nahezu unbemerkt mit einem flächendeckendem Netz von Zufluchtsstätten, Beratungsstellen und Krisenzentren überzog. Für Französinnen wie Carole Damiani von der Pariser Opferhilfe (Aide aux victimes) kümmerten sich nicht der französische Staat, sondern "einzig und allein die aufgeschreckten Feministinnen in ihren politisch besten Jahren um malträtierte Geschlechtsgenossinnen. Sorge für Brot, Kleidung, Unterkunft, Zuwendung, Gespräche. Ohne diese Zwischenlösungen wären die Zustände auch der Tausende von Müttern unerträglich gewesen."

METHODIK DER HÖRIGKEIT

Catherine vom Aufnahmezentrum aus Besançon hingegen richtet ihr Augenmerk auf ein neuerliche Flucht-Phänomen. "Frauen kommen zu uns und sagen, dass sie es nicht mehr aushalten, obwohl sie nicht ge- schlagen worden sind. Sie dürfen nichts tun in ihrem Gefängnis. Sie werden eingeschlossen und ohne Schlüs- sel zurückgehalten. Sie bekommen kein Geld. Sie können nicht einmal einkaufen. Sie dürfen sich nicht kleiden,wie sie wollen. Und um alles müssen sie inständig bitten." An die 150 Organisationen bieten Frauen in ganz Frankreich mittlerweile kostenlose juristische Beratung und psychische Betreuung an.

GEHEIMWAFFE GEGEN TABUS

Allein im Verband "Solidarité des femmes" stehen in der französischen Republik über vierzig Frauenhäuser bereit. Betreuerin Patricia Montageron von der Frauen- gruppe "la paranthèse" (die Klammer) verfügt in jedem Département auch noch über eine größere Anzahl von unerkannten Wohnungen. "Als Geheimwaffe allent- halben. So groß ist mittlerweile der Bedarf, weil wir Stück um Stück mit den Tabus aufgeräumt haben", beteuert die Sozialpädagogin. Dabei will es vielen Fran-zösinnen einfach nicht in den Kopf, dass sich jener Mann, den sie am Anfang als Freund und Partner erlebten, den sie liebten, irgendwann als Gewalt-Gegner entpuppte.
"Aber immerhin", fährt Patricia fort, "in der Mitterrand-Ära (1981 bis 1995) ist es uns ganz gelungen, endlich die Tabus zu brechen und das Strafrecht für uns Frauen einzunehmen." Früher war Brutalität gegen Frauen, wenn überhaupt, ein Kavaliersdelikt, allenfalls ein Ver- gehen - niemals ein Verbrechen. Und gar Ehefrauen - die waren in der französischen Rechtsprechung erst gar nicht vorgesehen.

HOHES STRAFMASS
Anders als in Deutschland wird nunmehr die Verge- waltigung in der Ehe im Nachbarland ebenso hart bestraft wie die Vergewaltigung einer fremden Person. Verabschiedet von der Nationalversammlung am 23. Dezember 1990. Strafmaß zwischen zehn und fünfzehn Jahre Freiheitsentzug. Außerdem hat die Frau bei solchen Delikten keine Möglichkeit mehr, das von ihr angezeigte Strafverfahren zurückzunehmen - selbst wenn der Vergewaltiger sich formal als reuiger Ehe- partner auszuweisen vermag. Allerdings müssen nach dem französischen Rechtsverständnis die Opfer die Strafanzeige stellen. Als Zwischenstufe reicht gleichwohl auch ein Vermerk im Meldebuch auf dem Polizeirevier - der sogenannten "main courante" aus.
Indes - Frauenrechtlerinnen und Sozialpolitiker Frankreichs reicht es mittlerweile nicht mehr aus, dass laut novelliertem Gesetz aus dem Jahre 1992 auch Gewerkschaften automatisch bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz die Gerichte anrufen können. Die Republik steht demnach vor einer Prozesslawine. Allein 20 Prozent aller Frauen, so die gerichtsverwertbare Aktenlage der Gewerkschaften, fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz sexuell belästigt, drangsaliert.

SOS FEMMES
"Nein", bedeutet Liliane Daligand vom S.O.S. Femmes gemeinsam für die französischen Frauenverbände gegen Gewalt, "der Staat muss den Kampf selbst aufnehmen wie etwa gegen Aids und Prostitution. Allein schaffen wir das nicht mehr." Immerhin: Anfang des Jahres 2010 stellte die französische Regierung unter Premierminister François Fillon "physische Gewalt in Paarbeziehungen" unter Strafe. Das Gesetz sieht bei häuslichen Gewaltattacken Freiheits- und Geldstrafen bis zu drei Jahren Gefängnis und bis zu 75.000 Euro vor. Zudem sollen Fußfesseln Wirklichkeit werden und erzwungene Trennungen von Paaren überwachen. - Fortschritt.
JAHR FÜR JAHR: HUNDERTE GETÖTETER EHEFRAUEN
Immerhin: häusliche Gewalt macht im Land der Franzosen ein Drittel der vorsätzlichen Gewalttaten aus; und nicht nur dies: in drei Jahren registrierte die Öffentlichkeit eine Steigerungsrate der allseits bekannten Familien-Exzesse um 31 Prozent insgesamt 47.000 Fälle notierte das Observatoire national de la délinquance (OND) im Jahre 2008. Zudem: 157 Frauen sind im Jahre 2008 durch Schläge ihrer Lebensgefährten ums Leben gekommen. - Das sind nach Angaben der Staatssekretärin für Familie und Solidarität, Nadine Morano, etwa 20 Prozent aller Totschlagsdelikte.
Mittlerweile hat sich ganz allmählich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Frauen allein ohne Hilfe des Staates keine gewaltfreie Trendwende herbeiführen können. Ohnmacht. Das glaubt auch der Sozio-Anthropologe an der Uni- versität Lyon II, Daniel Welzer-Lang. Er ist der Meinung, dass das Gewaltproblem malträtierter Frauen nicht zu lösen sei, "wenn sich keiner um die gewalt- tätigen Männer kümmere. Seit nahezu einem Jahrzehnt betreut Welzer-Lang mittels geduldiger Gesprächsthera- pien etwa 150 prügelnde Ehemänner. Sein alter Vor- schlag: "Wir müssen uns viel stärker in die private Sphäre mit Alkohol-, Drogenverboten und Zwangs- therapien einmischen. Das Refugium Familie hat sich ein für allemal überlebt - ein Schlachtfeld sozialer Kälte und der Rücksichtslosigkeit für Frauen ist das da vieler- orts." Ganz im Sinne der in Frankreich populären Rock- gruppe "Nique ta mère" als jugendliche Hoffnungs- träger, als Ausdruck verwahrloster Gewalterlebnisse in der französischen Republik. Zu deutsch: "Fick deine Mutter".
















































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