Samstag, 16. Dezember 1995

Beim nächsten Papst wird alles anders













































"G
ott suchen, Gott finden", wollen in Frankreich immer mehr Jugendliche. Nur ein geschlechtloses Priester- und Nonnenleben kommt fast keinem mehr in den Sinn. Trotzige Endzeitstimmung im Land der Kathedralen - trotz Wallfahrten und Weihwasser zu Lourdes. Ende der Aufklärung, Renaissance der Mythen.


Die Rheinpfalz, Ludwighafen
16. Dezember 1995
von Reimar Oltmanns


Scheinbar endlich fällt der frühsomerliche Regen über weitläufige Täler, verwandelt Frankreichs Landgemeinden in tiefen Morast und lässt Wasser durch so manches marode Kirchengebäld gurgeln. Mitten in einem Meer von Weinbergen im Beaujolais liegt eine große verwilderte Grünanlage. Und mitten in diesem urwüchsigen Park steht ein anspruchloses Pfarrhaus. Seit acht Jahren ist der 63jährige Martin Froquet Landpriester in der Ortschaft Villié-Morgon, die etwa 60 Kilometer nördlich von Lyon liegt. Seit acht Jahren ist der Priester praktisch mit seiner Marie-Pierre verheiratet. Jeder weiß es und alle schweigen, vielsagen versteht sich.

"Man nennt mich Martin und duzt mich hier", sagt der katholische Ordensträger sogleich kameradschaftlich zur Begrüßung. Unwiderruflich vorbei sind die Zeiten, in denen der Landpriester in Frankreich von seinem Glockenturm aus eine unumstrittene - keusche - Autoriät gewesen ist, Maß und Moral bestimmte. Vor zwanzig Jahren noch zähle der Orts-geistliche zu den Honoratioren des Dorfes; gleich neben dem Bürgermeister, dem Lehrer oder auch dem Arzt. Mittlerweile sind Seelsorger, wie Martin aufmerksam registrierte, Rand-
figuren.

HEIMLICHE LEBENSGEFÄHRTINNEN

Passé ist scheinbar jene Ära, in der npch so mancher katholischer Seelsorger auch als 45jährige noch wie Buben wirkten, sich in ihrer Freizeit allenfalls um Bienenstöcke kümmerten. Eben als Priester noch Weile hatten, ihr Gebets- buch im Schatten der Obstbäume ihrer Gärten versonnen "run- ter zu murmeln".

"Diese romantisch verklärten Seelsorger", bedeutet Martin, "sind verschwunden, gibt es nicht mehr. - Andere Zeiten, andere Priester. Und die wenigen werden immer weniger." Noch vor 30 Jahren zählte die katholische Kiche Frankreichs als älteste Tochter Roms insgesamt 41.500 katholische Seelsorger. Praktisch hat sich ihre Anzahl bis heute halbiert. Hinzu kommt, dass von den aktiven Pastoren nur ein Viertel unter 60 Jahre alt ist. Jeder vierte Seelsorger musste gehen, nur weil er seine Frau lebte. - Endzeitstimmung.

Fühlten sich vor fünfzig Jahren jährlich noch etwa 1.400 Männer zum Priester berufen, so sind es heute mal gerade noch hundert, wenn es gutgeht. Besuchten im Jahre 1946 noch 33 Prozent den sonntäglichen Gottesdienst, so reduzierte sich der Kirchengang ab dem Jahre 1991 auf knapp acht Prozent. Immerhin gelten offiziell 80 Prozent der 57-Millionen-Be- völkerung als katholisch. Aber lediglich ein Fünftel bekennt sich noch uneingeschränkt zu den Dogmen aus Rom.


FRAUEN-ORDINATIONEN

Allein in jüngster Vergangenheit haben an die zehntausend Priester ihrer Kirche den Rücken gekehrt. Unterschiedlich waren die Demissionsformulierungen. Einheitlich indes die Abschiedsgründe, die da unisono lauteten. "Lasst uns in Frieden mit dem weiblichen Geschlecht leben, selbstbe- stimmend und gleichberechtigt auch. Hört auf, die katholische Kirche selbstzerstörerisch zugrunde zu richten. Sagt ja zur Ehescheidung, ja zur Empfängnisverhütung, ja zur Abtreibung, ja zur Frauenordination, endlich ja zur Priesterehe - und die Gotteshäuser werden brechend voll sein."

GEGENWELT ZUR GEGENWART

Szenenwechsel von der Beaujolais-Region in die Pyrenäen. - Der französische Wallfahrtort Lourdes gilt als katholische Trutzburg einer religiös verschworenen Gegenwelt zur Gegenwart. Lourdes in den Pyrenäen mit seiner schwer- blütigen Kirchengeschiche war stets Seismograph katholischer Umwälzungen, seit jeher galt es als ehernes Symbol für den uneingeschränkten Machtanspruch des Papstes. Mitte der neunziger Jahre ist der Ort zu einem Refugium des klerikalen Fundamentalismus geworden - ein Mekka für Mythen und Legenden zu Zeiten einer rational und fortschrittserpichten Jahrhundertwende.

Gemächlich schiebt sich ein Pilger-Pulk vor die Dreifach-Basilika. Die Kirche, nach Pius X. benannt, wurde 1958 zur Hundertjahrfeier geweiht. Hier hatte Bernardette Soubirous, Tochter eines verarmten Müllers, mehrere Marienerscheinun- gen der "unbeflecken Empfängnis". "Das Gotteshaus ist fast 200 Meter lang, 80 Meter breit, fasst 25.000 Gläubige.Vorbei sind die Zeiten, da ausschließlich Kranke auf wahre Wunder hofften: Bis heute sind 2,5 Millionen Körperbehinderte gen Lourdes befördert worden. 3.500 Heilungen stellten Ärzte fest, als Wunder erkannte die katholische Kirche 65 Gene- sungen an.

AUGENBLICKE AUS LOURDES

Moment-Aufnahmen aus Lourdes sind Nachrichten aus einer Gegenwelt, die dem Atheismus mit moralischem Rigorismus zu trotzen sucht. Längst ist Lourdes auf Geheiß Johannes Paul II. (*1920+2005) zum markellosen Refugium der Römischen Kurie geworden. Da fesselt der französische Priester George Morand die Gläubigen vor dem Kirchenportal mit den Bekenntnissen als Teufelsaustreiber. Über zehn Jahre notierte er seine Erfahrungen. In dem Buch "Verlasse diesen Menschen, Satan" kommt der 63jährige zur Einsicht, dass psychische Krisen, gar Schreikrämpfe, eindeutige Alarm- signale seien. "Buße, Buße, nur beten heilt", schallt es ihm folgsam entgegen.

Deutschlands Militärbischof Johannes Dyba (*1929+2000) feiert mit 25.000 Uniformierten internationale Soldaten- wallfahrt. Die Bundeswehr ist mit dreitausend Mann dabei. Selbst vierzig kranke Armee-Männer hat der Bischof ein- fliegen lassen. Auf dem Kreuzweg tragen sie die Soldaten im Gleichschritt. Mittendrin postiert sich Dyba und doziert: "Wer wisse, dass Gott ihn gewollt hat, der könne nie mehr so ganz down und out sein." Die Bundeswehr nickt einvernehmlich. Verständlich, dass unter kirchlicher Obhut viel gesungen wird: Sonderurlaub in Südfrankreich, Trinklaune, Feiertagsstimmung.

ÜBERALL UNIFORMEN

Überall wimmelt es vor Uniformen. Im Pilgerhandbuch steht geschrieben, dass eine "Verbrüderung im Rahmen einer Wall- fahrt" passieren sollte. Ganz im Sinne des Lagerpfarrers Schadt, der im Feldgottesdienst predigt: "Jungs, wir spielen um und für das Leben. Unsere Jungfrau Maria ist die Trainerin und Gott der Präsident." Dann wirft er einen Fußball auf die Betenden: "Weil wir gewinnen werden. Amen."

Vor dem Portal der Dreifach-Basilika harren zehn schwangere Frauen, Mitglieder der "Union pour la vie" - einer traditio- nellen Vereinigung, die einzig und allein dem Vatikan die rettende Wahrheit zugesteht. "Abgetriebene Föten taufen und christlich beerdigen, Monseigneur" steht auf ihrem Trans- parent.

KIRCHLICHES RODEO

Dahinter haben sich etwa 50 Herren aufgebaut: Männer der Anti-Abtreibungs-Kamandos. Seit Monaten wissen sie die Schlagzeilen und die Kardinäle auf ihrer Seite. Wendezeiten in Frankreich, wo Schwangerschaftsunterbrechungen seit Mitte der siebziger Jahre einvernehmlich geregelt sind: Überall stürmen militante Fundamentalisten OP-Stationen in Kranken- häusern. Und immer ist ein katholischeer Priester dabei, wenn es gilt, ein kirchliches Rodeo gegen die Abtreibung zu ins- zenieren. So in Grenoble - dort kettete sich Pater Gérard Calvet im Oktober 1994 in der Universitätsklinik mit acht Mitstreitern an Krankenbetten.

Als der Benedetikiner sich im Januar 1994 mit seinem Gefolge vor Gericht verantworten musste, war ihm eines gewiss: die Geldstrafe von 760 Euro zahlt der Erzbischof von Paris; die Gefängnisstrafe wurde ohnehin auf Bewährung ausgesetzt. Verständlich, dass jene Herren-Gesellschaft der Anti-Abtreibungskommandos in Broschüren ihre "Erfolgs- bilanzen" siegesgewiss verteilen: mal eine Massen-Demon- stration vor der Oper zu Paris, mal Ärzte und Kranken- schwestern eingeschüchtert.

Noch nie war die katholische Kirche in Frankreich so zer- rissen, derart gelähmt, von Spaltung bedroht wie im Augen- blick. Eine christliche Gemeinschaft verweigert sich der Wirklichkeit und straft jene ab, die sich mit ihr ausein- andersetzen.


BISCHOF MUNDTOT GEMACHT

Der vom Papst ins Abseits beförderte Bischof von Euvreux, Jacques Gaillot, ist zu jenen nach Paris in die Rue du Dragon 7 gezogen, für die der 59jährige - auch als Kirchenrepräsentant - da zu sein glaubte: zu den Armen, Obdachlosen und Sozialhilfe- empfängern. Längst ist Gaillot zum Synonym, auch zum Sym- bol, der Kirchenspaltung geworden. 50.000 Menschen zog es auf die Straße, über 100.000 Gläubige demonstrierten mit ihrer Unterschrift gegen seine Amtsenthebung. Einfach deshalb, weil er vorlebte, "dort präsent zu sein, wo wir es als Kirche leider häufig nicht sind" - bei Obdachlosen, Aids- kranken, Homosexuellen, Asylsuchenden. Wichtiger als Messen, Prozessionen und mystische Wallfahrten war ihm, das Evangelium vorzuleben. "Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts", ist eine seiner Standard-Formulierungen.

Dabei konnte Gaillot nicht ahnen, dass sich Frankreichs Kardinäle schon 1983, nur ein Jahr nach seiner Ernennung, darauf verständigt hatten, den Papst zu seiner Abberufung als Bischof zu bewegen. Damals was Jacques Gaillot der einzige Oberhirte der Republik, der gegen ene Entschließung der Bischofskonferenz stimmte. "Den Frieden mit atomarer Abschreckung gewinnen", verlautbarte sie damals. Der Ort dieser Handlung war die Dreifach-Basilika zu Lourdes.























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