Dienstag, 25. März 1980

Landkommune Fohrenbachhof - Ausgewandert in die Hoffnung
























You may say, I am a dreamer
But I am not the only one
I hope some day you 'll join us
And the world will live as one.
(John Lennon)

"Du hast keine Chance, aber nutze sie"
Rowohlt Verlag, Reinbek
vom 25. April 1980
von Reimar Oltmanns

Eigentlich ist Volker der Motor in der niederbayerischen Landkommune Fohren-bachhof. Da kann es nachts ruhig spät geworden sein, weil man neugierigen Städtern das alternative Leben auf dem Lande zu erklären versuchte, da können morgens die anderen sieben Mitbewohner noch schlafen, er melkt um sechs Uhr die beiden Ziegen Luna und Lolita. Aber auch sonst: Ganz gleich mit welcher Arbeit Volker gerade tagsüber beschäftigt ist, ob er Geschirr spült, im Garten Unkraut jätet oder an der Kreissäge steht, für einen Hofrundgang, der auch Stunden dauern kann, hat er immer Zeit. Ihm ist es einfach wichtig, um Jule seinen Arm zu legen, Irene zu küssen oder Hilde zu streicheln. Volker versteht sich auf Zärtlichkeit, auf die, wie er sagt, denn sie sei "nun mal unser größtes Kapital".

NEUE ZÄRTLICHKEIT

Mit Hilde verbindet Volker schon eine jahrelange, enge Freundschaft. Jonas haben sie ihren einjährigen Sohn genannt. Doch Hilde spricht wenig von Volkers Hauptan-liegen der neuen Zärtlichkeit. Ihr geht es mehr um Sinnlichkeit und Selbstbesinnung. Oft liegt sie auf ihrem Bett und lauscht per Stethoskop ihren Herztönen. Töne, die sie auch in der Natur wahrzunehmen glaubt. Hilde schwört auf autogenes Training und Selbstmassage. Nur so ließen sich körperliche und seelische Verkrampfungen langsam lösen, nur so wäre ein Neuanfang in ihrem Leben möglich geworden. Eine gelockerte Hilde, die mit Hammer und Nagel am Dachstuhl zimmert, Holz klein hackt, aber auch Stunde um Stunde mit ihrem Stethoskop in sich versunken am Weiher sitzt.

EINSAMKEIT

Erich dagegen trägt schwer an seinen eigenen Zweifeln, die er als Luxus deklariert. Er ist der Intellektuelle in der Kommune. "In der bürgerlichen Gesellschaft", erklärt Erich , "wird sich wohl keiner den Luxus erlauben, Skrupel zu haben." Auf dem Fohrenbachhof kann er es aber, meist ungestört, bisweilen auch selbstquälerisch. Theologische pder philosophische Fragestellungen halfen ihm dabei nicht ent-scheidend weiter. Erich meint, die Menschen mögen ihn nicht, sie wollen höchstens etwas von ihm. Deshalb kämen in ihm regelmäßig Berührungsängste hoch. Die kontrolliert er, indem er sich laufend einredet, er im Grunde sei es ja, der die Leute ablehnt - vor allem wegen ihrer graumäusigen Durchschnittlichkeit. Dies wäre in der Stadt schon so gewesen, dies sei nun auf dem Lande auch so. Erich spricht selten mehr als nur das Nötigste. Er ist ein Typ, der die reduzierte Sprache bevorzugt. Am liebsten sitzt er am Schreibtisch oder unter der Markise und liest Biografien, die verflossene Jahre nachzeichnen. Kaum etwas, was ihn aus seiner vordergründigen Ruhe brächte. Und wenn, dann verschließt sich Erich noch mehr und taucht für lange Spaziergänge in den angrenzenden Wäldern unter - allein natürlich.

LEBENSGEFÜHL - KÖRPERGEFÜHL

Erich bezeichnet Irene als seine Frau, auch wenn sie unverheiratet sind und die beiden die Ehe als "bürgerliches Privateigentum in einer Männergesellschaft" charakterisieren. "Aber was soll ich zu ihr sagen", fragt er ein wenig hilflos, "Geliebte, das passt , Freundin ist mir zu flach und Lebensgefährtin zu oberschichtig." Also ist Irene seine Frau in der Fohrenbachhof-Kommune, noch dazu, wo sie ebenfalls einen Sohn haben, der Jan gerufen wird. Irenes Betonung liegt auf dem Wörtchen Gefühl. "Mensch, guck mal", sprudelt es aus ihr heraus, "wir leben auf dem Land, das ist unheimlich schön. Wenn das Wetter prächtig ist, wir unter dem Birnbaum zusammensitzen und Wein trinken. Das alles nach einem Tag, an dem wir ein Dach abgedeckt oder Heu reingeholt haben. Dann stellt sich einfach ein Lebensgefühl und ein Körpergefühl her, das die vermieften Stadtexistenzen gar nicht kennen; sozusagen ein Extra, ein Bonus für uns." Irene scheut sich nicht vor pathetisch klingenden Vergleichen, um sich und ihre Gefühlsansprüche zu erklären. Sie will jemanden lieben und hassen. Ihm sagen können, dass er eine "alte Arschgeige" ist, dass er seinen "erbärmlichen Scheiß" alleine machen soll, dass er gegenwärtig mit ihr kaum rechnen darf, weil sie bitter enttäuscht sei. Sie will es ihm einfach sagen können, ohne ihn gleich zu verlieren und ihm "grundsätzlich ihre Zuneigung zu entziehen". Ein Verhalten, das in der Stadt die wenigsten tolerierten; nicht einmal die eigene Familie oder die Mitbewohner in Wohngemeinschaften, in denen Irene zeitweilig lebte.

NEBENSCHAUPLÄTZE

Dafür bietet die Stadt zu viele Nebenschauplätze, zu viel Ablenkung, zu viele Ersatz-Freundschaften, zu viele Verdrängungsmöglichkeiten. Auf dem Fohrenbachhof jedoch, in der niederbayerischen Einöde, sind extreme Gefühlssprünge erlaubt, selbst wenn es für den einen oder anderen schmerzlich ausgeht. Denn wen es hierher verschlägt, der muss schon ein Quantum an Entschlossenheit mitgebracht haben, das Alteingefahrene hinter sich zu lassen. Sein Anliegen, in aller Abgeschiedenheit zu leben, verträgt sich nicht mit dem üblichen Stadtverhalten. Es würde ihm auch gar nicht gelingen, City-Allüren auf dem Lande zu kopieren, Konflikte auszuweichen, sie in Alkohol zu ertränken oder sie vorteilheischend herunterzuspielen. Auf dem Fohrenbachhof kann keiner vor sich selbst und vor den anderen flüchten. Außer in der Gruppe gibt es keine zwischenmenschlichen Kontakte, nicht einmal ein Telefon. Außer dem Hof gibt es nichts, nur eine durchdringende Ruhe, die jeden zuschnürt, der mit ihr nicht umzugehen weiß.

NICHT BIZARR GENUG ... ...

Der Fohrenbachhof liegt tief im Niederbayerischen eingegraben, umgeben von großflächigen Feldern und dichten Wäldern, fernab von Bundesstraßen und Fabriken. Passau, die nächstliegende Stadt, haben manche einheimischen Bauern erst zwei- oder drei Mal in ihrem Leben gesehen. Der Hof war früher ein verlassenes, klappriges Gehöft mit zwei Hektar Land ohne Kanalisation und Elektrizität. Hätten ihn Erich, Irene, Hilde und Volker im Jahre 1975 nicht für 85.000 Mark aufgekauft, er wäre allmählich verfallen. Es war ein Konjunkturpreis zu jener Zeit, weil in der Alternativen-Bewegung viele Freaks ihr Stadt-Getto mit einem beschaulich anmutenden Bauernhof einzutauschen versuchten. Die Gegend lässt einen Neuankömmling ihre Verlassenheit spüren. Für Tourismus ist der Landstrich nicht bizarr genug, für Industrieansiedlungen sind die Anfahrtswege zu weit. Armut und Arbeitslosigkeit werden in Niederbayern noch mit dem sonntäglichen Amen beantwortet. Kaum ein Bauer könnte hier ohne Nebenverdienst über die Runden kommen. Ein Hof, der halbwegs rentabel bewirtschaftet wird, benötigt en Betriebs-kapital etwa zwischen 150.000 und 200.000 Mark. Ihn zu erwerben, würde mindestens 2.5 Millionen Mark erfordern.

SCHALLMAUER DURCHBROCHEN
Als Erich, Irene, Hilde und Volker mit ein paar Büchern und Klamotten auf ihren Fohrenbachhof zogen, konnten sie sich längst nicht mehr zur Jugend rechnen, obwohl sie es taten. Nur Irene steckte noch in den Zwanzigern, die anderen drei hatten bereits die Trau-keinem-über-dreißig-Schallmauer durchbrochen. Sie gehörten zu jenen, denen die Fähigkeit zur alltäglichen Anpassung den Lebensnerv zu rauben schien. Sie gaben Positionen auf, die ihnen ein gesichertes Einkommen und eine kalkulierbare Beamten-Laufbahn eröffnet hätten. Die Soziologen Erich, Hilde und Volker hatten über Jahre darauf hingearbeitet, einmal als Hochschul-lehrer Studenten auszubilden. Irene durchlief noch die Studienreferendarzeit. Sie wollte eigentlich Studienrätin werden. Aber je länger Irene sich auf ihre Beamten-laufbahn vorbereitete, desto mehr empfand sie das bürgerliche Leben als eine Not-gemeinschaft, die aber "richtig ihre Krallen nach mir ausstreckte. Immer war ich nur auf dem Prüfstand", sagt Irene. "Bei meinen Eltern musste ich gute Schulnoten nach Hause bringen, die Uni sollte ich möglichst mit einem Einser-Examen verlassen, um überhaupt noch die Chance einer Anstellung zu haben, im Referendariat versuchte mich dann der Staat zu testen, ob ich ein ordentlicher Mensch bin, ob ich ein gewissenhafter Beamter werde, ob ich auch akkurat angezogen bin, ob ich auch das Gefragte dezent aber unzweideutig in ihrem Sinne formulieren kann, ob ich in einwandfreien Verhältnissen lebe, ob ich ein dreckiges oder saubere Auto fahre."

LEISTUNGS-SCHINDEREI

Und dann er innere Zwiespalt: "Du stehst vor deinen Schülern, sollst sie auf Leistung trimmen, mit Zensuren massiv Druck ausüben, obwohl dir selbst die aberwitzige Leistungsschinderei zuwider ist."

Und dann die Ohnmacht: "Am schlimmsten waren nicht die Schülern, sondern ihre Eltern, mit denen du als fortschrittlicher Lehrer eigentlich zusammenarbeiten wolltest. Aber die kamen nur alle Naselang angelaufen, um zu hinterfragen: , . Machtest du es nicht, gönntest du den Schülern eine Atempause, schon musstest du dich vor dem Direktor verantworten. Wild gewordene Eltern hatten sich bei ihm beschwert. Sie hätten den Eindruck, ihr Sohn lerne zu wenig. Der Chef nickte ver-ständnisvoll, und du warst wieder unter einem beschissenen Rechtfertigungszwang."

BEVORMUNDUNG, ENTMÜNDIGUNG

Und dann die Konsequenz: "Als ich meine Entscheidung gefällt hatte, dass ich in eine Landkommune gehe, da fühlte ich mich unheimlich befreit. Es war ein Gefühl, dass mich die Institutionen mit ihrer ewigen Bevormundung und Entmündigung am Arsch lecken können, dass ich mich endlich nicht mehr unauffällig, opportunistisch und ekelhaft verhalten muss, um mich zu behaupten." Nur in einem Punkt plagte Irene anfänglich das schlechte Gewissen. Ihr Vater hatte sich als Postbote im Hannoverschen im wahrsten Sinne die Hacken abgelaufen, damit seine Tochter studieren kann und es in der Beamtenhierarchie, von der er immer sprach, ein wenig weiterbringt als er. Mit Irenes kärglichem Landleben und einem unehelichen Sohn dazu musste sie zwangsläufig die lang gehegten Hoffnungen ihres Vaters enttäuschen.

Allmählich reagierten die Eltern von Erich, Hilde und Volker. Hatte doch mit ihren Kindern alles wie am Schnürchen geklappt, gab es noch nicht einmal wie in anderen Familien einen plötzlichen Knall. der einen Bruch mit der Gesellschaft rechtfertigte, kein Berufsverbot, keinen Rausschmiss. Ganz im Gegenteil: Alles verlief gradlinig nd erwartungsgemäß. Der Ausstieg ihrer Kinder aus dem Beruf traf die Eltern deshalb um so unverhoffter und unvorbereiteter. Sie haben ihn bis heute nicht verarbeitet, er hat Narben hinterlassen.

MARCUSE-ZITATE AUF DEM ACKER

Bei Erich und Volker kam aber etwas anderes hinzu. Beide verstehen sich als Sozialisten mit dem einstigen Anspruch, die bundesdeutschen Gesellschafts-strukturen radikal zu verändern. Einen Anspruch, den sie als SDS-Mitglieder in Frankfurt mit in die APO-Bewegung einbrachten, aber zu keiner Zeit einlösen konnten. Das hat sie verhärtet und bitter gemacht. Erich und Volker zählen nämlich quasi zur Nachhut der "Frankfurter Schule". Ihnen gehen heute noch Adorno-, Horkheimer- und Marcuse-Zitate auf dem Acker spielerisch über die Lippen, so als würden sie den praktischen Nachweis für die Richtigkeit der Kritischen Theorie liefern wollen. Etwa die Marcuse-Überlegung: ein neues Verhältnis zur Natur sei ein zentrales Moment der "Umwertung aller Werte".

Ihr Auszug aufs Land beruht im wesentlichen auf zwei Eingeständnissen. Zum einen: "Kein sozialistischer Ansatz in den letzten Jahren ist in nennenswerterem Umfang über den zumeist intellektuellen Umkreis ihrer Schöpfer hinausgegangen", erklärt Erich. Zum anderen: Es war die Linke, die zwar stets von Massenpolitik und Massenbewegung, von Bewusstseinsprozessen und Proletariat redete, in Wirklich-keit aber in ihrem eigenen Theoriedunst erstickt, weil sie unfähig war, einen praktischen Bezug zu ihrer konkreten Utopie herzustellen, und deshalb kläglich scheiterte. Eine Linke, die dem elitären Irrglauben verfiel, allein mit Rationalität und Aufklärung sei die Hauptarbeit auf dem Wege zu einem "neuen Menschen" schon geleistet, und dabei Lebensgefühle und -zusammenhänge derer verschmähte, die sie eigentlich mit ihrer Politik erreichen wollte. Und eine Linke, die offenkundig nicht merkte, dass nicht sie die Institutionen, sondern die Institutionen sie verändert haben.

LINKE WIDERSPRÜCHE

Volker wollte nicht länger mit einem hohen politischen Anspruch durch die Mensa laufen, er hatte . Den Studenten etwas über egalitäre und soziale Bewegungen oder Selbstorganisationen zu erzählen, quasi einen auf Idealismus machen und tatsächlich sein ganzes Leben darauf auszurichten, nur in der Universitätshierachie hochzukommen. Und Erich spürte in den Lehrveranstaltungen seine Machtlosigkeit. Die Hochschule war für ihn kein Freiraum mehr, kein Ort der offenen, geistigen Auseinandersetzung, sie hatte für ihn die Gestalt eines Durchlauferhitzers. Immer mehr Studenten strömen in die Hochschulen, um in immer kürzerer Zeit mit irgendeiner Qualifikation abgefrühstückt zu werden. Eine regelrechte Verschulung von Vorlesungen hat sich eingeschlichen - ausgelöst durch Erlasslawinen der Kultusbürokratie. Die Universität als Lernfabrik, als Zuliefererbetrieb für gewisse theoretische Bedürfnisse in der Gesellschaft. Erich: "Okay, jedes Jahr ein Streik, bei dem nichts rauskommt, den man routinemäßig abhaken kann. Aber sonst rollt die politische Entwicklung der Anti-Kernkraft-, der Ökologie- und Alternativbewegungen über die Hochschulen hinweg. Ich sah keinen Sinn mehr darin, mich als aufgeklärter linker Mensch in diesem Beruf zu verschleißen, Soziologen zu produzieren, die dann irgendwann doch ein Arbeitslosendasein fristen. Dann lasse ich doch den ganzen Kathedersozialismus und versuche meinen eigenen Kram zu machen, indem ich meine Vorstellungen und Ideen wirklich umsetzen kann ...".

RÜCKZUG INS PRIVATE

Erich und Volkers Auslassungen sind von vielen städtischen Freunden missver-standen worden. Manche spotteten über ihren Rückzug ins Private, andere glaubten gar, ihr Verhalten sei gänzlich unpolitisch und nur durch resignative Anflüge erklärlich. Doch beides ist falsch. Wer sich lediglich zurückzieht, der kann auch wiederkommen. Erich, Irene, Hilde und Volker denken aber nicht im entferntesten daran, eines Tages wieder anzuknüpfen, wo sie 1975 aufhörten. Sie zogen sich nicht zurück, sie brachen endgültig mit dieser Gesellschaft. Ein Bruch, der irreparabel ist. Ihnen ist absolut klar, keiner wird in seinem alten Beruf jemals den Anschluss wieder finden können. Selbst wenn er es nach Jahren reuig wollte, der Staat würde seinen Beamtennachwuchs wohl zuallerletzt aus linksorientierten Landkommunen rekrutieren. Ihr Einschnitt bedeutet nicht nur den Endpunkt einer bürgerlichen Karriere. Sie haben sich ebenfalls vom viel gerühmten sozialen Netz in diesem Lande losgesagt.

GRUPPENNORMEN

Doch alle wussten um den schmalen Grad, auf dem sie sich bewegten. Und alle hatten auch ein wenig "Angst vor dem Sprung in den neuen Lebenszusammenhang". Denn wann und wo lassen sich eindeutig die Grenzlinien ziehen, etwa zwischen kleinfamiliären Verhaltensweisen und tatsächlich neuen Formen des Miteinanders, wo endet die unterdrückende Gruppennorm, wo beginnt die befreiende Solidarität, wann hat jemand eine Neurose und wann sagt man, ja endlich, das ist die neue Identität, wann ist die zu leistende Arbeit nicht entfremdet, sondern selbstbestimmt, inwieweit muss man sich noch kapitalistischen Marktzwängen unterordnen?

WALD- UND WIESENEXISTENZEN

Fragen, auf die alle Kommune-Mitglieder Antworten finden mussten, wollten sie sich nicht zu bloßen Wald- und Wiesenexistenzen degradieren, bei denen zwar kein Schuldirektor und keine Kultusbürokraten, sondern dafür Hofschrate das Sagen haben. Eines war allen so ziemlich klar. Ein Ausstieg verheißt noch lange keinen neuen Einstieg. Keiner wusste, ob sie nicht schon nach einem Jahre zerrüttet und zerstritten vor einem Scherbenhaufen stehen. Viel hatten sie von anderen Land-kommunen gehört, die sie auch teilweise besuchten - von deren Zerbrechlichkeit, von dem ständigen Kommen und Gehen, von den überspannten Erwartungen des Alles oder Nichts, von Landkommunen, die mehr ihren Zweck als Zwischenstation auf dem Weg ins transzendentale Indien erfüllten, von menschlichen Enttäuschungen, angesiedelt zwischen sexuellen Befreiungswünschen bei gleichzeitig tief verinner-lichtem Besitzdenken, manche kapitulierten auch vor der harten körperlichen Arbeit oder der Einsamkeit, andere klagten über den radikalen Konsumverzicht, Gebrauchsgüter, die in der Stadt so niedrig eingeschätzt wurden und nun auf einmal doch zu fehlen scheinen.

"PÄRCHEN-UNWESEN" ADE - FREIE LIEBE ÜBERALL

Erich, Irene, Hilde und Volker machten etwas Vernünftiges. Sie fuhren Monate durch die USA, klapperten eine Landkommune nach der anderen ab. Sie wollten lernen, Erfahrungen sammeln und Rückschlüsse ziehen, den immerhin gibt es seit Ende der sechziger Jahre an die 2.000 Landkommunen-Projekte in den Vereinigten Staaten. Sie sahen Kollektive , die in ihrer Rigidität und Radikalität nicht zu bremsen waren. "Der Kampf gegen die Scheiße in uns ist ein Teil des Aufbaus einer neuen Gesell-schaft", hieß es da. Und ihre eigene Scheiße bezog sich keineswegs nur auf äußere Begleiterscheinungen wie politische Unterdrückung oder Rassismus. Sie meinten damit vielmehr den persönlichen Besitz an Gebrauchs- und Konsumgütern, denen gleichfalls Liebe, Sexualität, eben die ganze Privatsphäre zugeordnet wurden. Als Idealzustand galt, wenn jedes Bedürfnis eines Kommunemitglieds, ob es ein Buch lesen will, einen Spaziergang macht oder sich einfach für eine gewisse Zeit zurückziehen möchte, durch Gruppendiskussion geregelt wird. Wer der Gruppe eine derart herausragende Vormachtstellung zuerkennt, der muss zwangsläufig jede Art von Zweier-Beziehung bekämpfen. Der muss natürlich Monogamie als störend empfinden, weil sich die jeweiligen Partner in erster Linie auf sich und nicht auf die Gruppe beziehen. Deshalb wurde in vielen Landkommunen auch folgerichtig das "Pärchen-Unwesen" zerschlagen, um für die anderen ohne Schuldgefühle offen zu sein - und zwar politisch, persönlich und sexuell.

VOLLGEKIFFT UND ABGEFÜLLT

Natürlich beobachteten die vier instabile Gruppen, die völlig ausgeflippt waren, denen jedes Selbstverständnis für alternative Lebensformen fehlte, obwohl sie in der Land-Szene herumhingen. Typen, die in Plastik-Hütten hausten, zwischen Auto-wracks und lebenslustigen Ratten, ohne Wasser und Strom. Herumstreunende Jugendliche aus den Großstädten, oft vollgekifft und abgefüllt, die sich in den Landkommunen auspennen und durchfressen konnten, bis sie irgendwann weiter-zogen. Mütter, die teilweise nicht wussten, von welchem Mann ihr Kind kam, aber mit ihrem zwölfjährigen Sohn den Beischlaf probierten, damit der Junge nicht unnötig unter dem Ödipus-Komplex zu leiden habe. Natürlich hab es auch Land-kommunen, die nach schwierigen Anläufen recht gut funktionierten und wo man glaubte, sich Stein für Stein seinen Lebensidealen zu nähern. Doch der Trip durch Kalifornien - das war schon ein bisschen das Ende eines Traums, einer abgehobenen Vision. Manches, was zunächst nach Befreiung aussah, erwies sich als ausgemachte Konfusion von tief verunsicherten Menschen, die die Zivilisation hingerichtet hat.

TRIST ODER TOT

Aber nun standen Erich, Irene, Hilde und Volker den ersten Tag im Spätsommer 1975 vor ihrem Traum, dem Fohrenbachhof im Niederbayerischen. Nur - da war nichts mehr von der kalifornischen Sonne und dem Easy-Rider-Gefühl übriggeblieben, kein pittoresker Blickwinkel, kein kontemplatives Moment. Denn es regnete unentwegt, der Lehmboden war glitschig aufgeweicht und die neue Landkommune watete im städtischen Gang über den Matsch-Hof. Junge Leute, die in ihrem Leben noch keine Mistgabel in der Hand gehalten hatten, die keine Schwielen kennen, lediglich ihren Schreibknubbel am rechten Mittelfinger, die standen nun da, an diesem nasskühlen Sommertag, und schauten ziemlich verzagt drein. Keine Wasserleitung funktionierte, von der Kanalisation ganz zu schweigen, Stromleitungen, die rausgerissen an nassen Wänden baumelten, in den Räumen roch es nach feuchtem Schimmel, wurmstichige Holzbohlen hier und dort , kurzum: alles wirkte trist und tot.

Vor allem bei Irene schlug der unbehagliche Neubeginn schnell auf die Psyche durch. Gut, sie alle wussten schon recht lange, was und wie viel noch gemacht werden musste - aber das waren doch bisher mehr oder weniger theoretische Überlegungen gewesen. Als Irene noch in der Stadt wohnte und des öfteren an den Fohrenbachhof dachte, da waren es die Butzenscheiben, der Birnbaum und ihr Töpferhandwerk, das sie recht bald erlernen wollte. Und je mehr sie sich über Kollegen, Eltern und Schüler ärgerte, desto schnuckeliger erschienen ihr die Butzenscheiben, desto üppiger sollte die Birnbaumernte ausfallen.

FEDAJINEN-TÜCHER - DIE DRITTE WELT

Irene spürte ihre Beklemmungen, ihre Verwirrungen. Sie fragte sich, ob die Idee mit der Natur nicht ein Hirngespinst gewesen sei. Die sogenannte Natur hatte sie nur durch die Sonntagsnachmittagsspaziergänge mit ihren Eltern kennengelernt, ein Promenadenlauf, den sie immer hasste, weil er sich so kleinbürgerlich artig und damit borniert ausnahm. Später hockte sie meist in verqualmten Buden und bierver-stunkenen Kneipen - das war die Studentenzeit. Man redete über Sein oder Nichtsein, über den französischen Existenzialismus und über die neue Linke; keine Natur-frische, sondern stumpfe Blässe, tief liegende Augenringe und die Nickelbrille waren und natürlich auch Gauloises und Roth Händle, die wie ein selbstverständliches Ritual auf dem Tisch lagen. Dann kam die Phase mit den Fedajinen-Tüchern, das wachgeküsste Bewusstsein für die Probleme der Dritten Welt. In ihrem Bekannten-kreis hatten die meisten solch ein Fedajinen-Tuch. Und wenn es abends mal kurz zum Griechen, Türken oder Libanesen essen gingen, da hatten sie alle ihre Tücher umgelegt. Sie begrüßten den Wirt und sein Personal ganz emphatisch, einfach stellvertretend für die Freiheitskämpfer im Nahen Osten oder auch nur als Sympathiebeweis für die südlichen Regionen. Irene jedenfalls empfand solche Abende besonders schön und schick. Aber hier, auf dem Fohrenbachhof, konnte sie nicht mehr schnell um die Ecke zum Libanesen. Da saß sie in der Küche und schaute auf diese ewig grüne Wiese. "Wenn sie doch mal eine andere Farbe hätte", dachte sie sich. Aber immer dieses gleichbleibende Grün. Sie überlegte, ob ihr Ausbruch aufs Land nicht doch nur eine Flucht sei, der Fohrenbachhof eine seelische Mülldeponie für Schutt und Schlacke, die sie aus der Stadt mitgebrachten. Oder ob die Natur nicht einfach ein Projektionsventil für verschwiegene Wünsche und Hoffnungen ist, die man sich in der Stadt untereinander nicht eingesteht, weil es zu sentimental klingt, wo doch selbst der Umzug auf einen heruntergekommenen Hof noch eine sozialistische Perspektive hat. Und die Natur? War es das, was sie suchte, glaubte sie hier ihre verschwiegenen Hoffnungen und Wünsche, die sie ja selbst nur vage oder flüchtig kannte, verwirklichen zu können? Sie bezweifelte es am ersten Tag, der kalt, nass und ungemütlich war.

IM NEUEN LEBENSZUSAMMENHANG ... ...

Für Hilde dagegen bot das heillose Durcheinander die einmalige Chance, neue Lebensbezüge herzustellen und alteingefahrene Strukturen auszuhebeln. Sie schaffte sich mühelos ins Chaos rein. Das Wort Lebenszusammenhang hatte bei allen eine zentrale Bedeutung. Da wurde nicht nur renoviert, sondern die Werkelei schuf einen neuen Lebenszusammenhang für die Landkommune. Erich sagt: "Wir spielen auf dem Fohrenbachhof nicht Bauer, wir arbeiten auch nicht mit den Bauern. Sondern wir produzieren bestimmte Sachen für uns, die wir früher nicht kannten. Wir produzieren nicht nur Bewusstsein, sondern mit diesem Bewusstsein ein kleines Stück gesellschaftliches Sein - freilich nur für uns, nicht für andere."

... ... MACHT JEDER ALLES

Es war Hilde, die irgendwo im Umkreis einen Boiler auftrieb, ihn anmontierte und einen Wasserhahn dranschweißte. So hieß der erste neue Lebenszusammenhang die Auflösung der traditionellen Rollen zwischen Männer und Frauen. Jeder machte alles, in einem Rotationsverfahren. das nach vier Jahren zu einer Selbstverständlich-keit geworden ist. Und die Maxime lautet: "Keine Arbeit sollte wertvoller sein als eine andere." Erich kann inzwischen fabelhaft abwaschen - und das dreimal am Tag. Volker versteht sich ausgezeichnet mit der Waschmaschine. Hilde pflanzt im Garten, Irene mistet den Stall aus. Tags darauf ist es umgekehrt. Die Landkommune will keine Spezialisierung aufkommen lassen. Jeder soll nachvollziehen können, was die jeweilige Arbeit des anderen bedeutet. Für einen Fremden wirkt das alles sehr un-organisiert. Mal ist einer im Garten, mal beim Dachdecken, mal beim Erdbeeren-Einmachen, dann mal wieder nicht. Doch diese undeutsche Arbeitsweise hat einen entscheidenden Vorteil. Keiner trägt allein die viel zitierte Verantwortung, womit er auf die anderen Druck ausüben und sie unterdrücken kann. Jedenfalls können Hierarchien so kaum entstehen, denn der gemeinsame Arbeitszusammenhang ver-bindet die Gruppe. Erich fiel die Umstellung besonders schwer. Theoretisch fand er es nur logisch, so und nicht anders vorzugehen. Aber in der Praxis sah das schon düsterer aus. Ihm schien nichts richtig voranzukommen. Er vermisste die ein bürgerliches Leben lang eingeübte Verbindlichkeit. Mal hilflos, mal wild entschlossen packte er mit an, jeden Tag an einer anderen Stelle. Doch das Bad, das ursprünglich schnell eingebaut werden sollte, war erst nach einem halben Jahr fertig. Es brauchte seine Zeit, bis sich Erich auch innerlich von seinen Effizienzvorstellungen und dem selbsterzeugten Termindruck lösen konnte.

EIGENLEBEN

In dieser Phase entfernte sich die Gruppe immer stärker von der Gesellschaft. Langsam entwickelten sie ihr Eigenleben, das von äußeren Einflüssen ziemlich unbehelligt bleibt. Zwar ist es nicht so, dass politische Ereignisse in den Metropolen oder auch anderswo nicht zu ihnen vordringen, dafür gibt es die Frankfurter Rundschau, aber sie haben kaum noch ihr Gewicht. Wenn um 20 Uhr die Tagesschau läuft, der Einmarsch russischer Truppen in Kabul die Aufmachermeldung ist, dann beschäftigt sich die Landkommune mit einem ihr näherliegenden Tagesereignis. Ihr Hahn hinkt, und die Hennen warten. "Ein neuer muss her", sagt Volker. "Das finde ich gemein. Drei Jahre hat er uns die Treue gehalten. Können wir ihn nicht leben lassen und in Pension schicken?" erwidert Irene.

MAX - DAS SCHWEIN

Die Kommune sitzt in ihrem Wohnzimmer an einem großen Tisch. Das Tagwerk ist vollbracht, der Feierabend angebrochen, und jeder weiß etwas zu erzählen aus der Welt des Hofes - und dazu benötigt keiner einen Fernseher oder ein Radio. Auf das allabendliche Schwätzchen legen sie besonders großen Wert, betont Hilde. Die Fohrenbach-These: Arbeit ist Freizeit, Freizeit ist Arbeit. So findet es keiner lästig, wenn am Hofabend des Verhältnis zum Schwein "problematisiert" wird. Das Schwein heißt nur Schwein - und das stimmt einige nachdenklich. Zur Kuh sagen sie Klara, zum Esel Nelle, zu den Schafen Luna, Lolita, zu den Ziegen Mimi und Mariechen. Und zum Schwein? Zwei Fraktionen taten sich zeitweise bei diesem Thema auf. Die eine sah im Schwein nur einen Fleischhaufen, der irgendwann mal pfannengerecht hergerichtet werden muss. Die andere sagte, diese Namenslücke sei ein bedenkliches Zeichen. Die Kommune müsse wirklich einmal ihr Verhältnis zu den Viechern überprüfen. Schließlich wolle man von Klara ja auch nur Milch und von Luna, Lolita auch nur Wolle. Okay, meinten jene, die das Schwein gern anonym lassen wollten. So wurde aus dem Schwein Max, und alle waren zufrieden.

SDS-MANN MIT WEIHNACHTSSCHMUCK

Freizeit soll aber auch ein Stück Besinnung sein - natürlich über sich selbst und vielleicht über sein Verhältnis zum Hof. Was zu Anfang keiner für möglich hielt und jeder weit von sich wies, ist inzwischen eingetreten, der SDS-Mann von einst, der mit Schriften hervortrat, "Die Revolution ist vorbei, wir haben gesiegt", schmückt Weihnachten seinen riesengroßen Tannenbaum, der bis unter die Decke reicht" und bestückt ihm mit "richtigen Kerzen". Um fünf Uhr nachmittags läutet Volker zur Bescherung, die Gruppe singt Weihnachtslieder, bevor er aus der Bibel Markus- und Matthäus-Passagen vorliest. Manchmal bevorzugt er auch russische Märchen, weil sie so gut zum Hof passen. Besonders "Das weiße Entchen", hat es ihm angetan. "Rituale sind wichtig", beteuert Volker, "weil das Leben, vor allem hier draußen auf dem Lande, sonst eine freudlose Geschichte wäre. Es hat halt langfristig keinen Sinn, überbrachte Formen des Bürgertums abstrakt zu negieren", sagt der Soziologe. Am Silvesterabend geht Volker jedenfalls auf den Hof knallern, an der Sonnenwende hüpft er mal kurz übers Lagerfeuer. Mit Knallfröschen hatte er das letzte Mal als Schulbub zu tun, die Bedeutung der Sonnenwende lernte er als Pfadfinder vor 15 Jahren kennen - damals, als sie auf ihren Zeltplätzen "Wir lagen vor Madagaskar und hatte die Pest an Bord" auf ihrer Mundorgel schmetterten.

SONNTAGS IST UNIFORMTAG

Apropos Feuer, zu ihm hat Volker eine besondere Affinität, wohl weniger zum Löschen, aber das gehört nun mal dazu. Er ist nämlich Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Ruhstorf. Die Gruppe war erstaunt , als sie von Volkers Feuerwehr-Engagement hörte. Volker meinte, das müsse man im "Nachbarschaftszusammen-hang" sehen. "Natürlich, sagten die anderen. "Wir können hilfsbereit und solidarisch sein. Das versteht sich von selbsr. Deshalb brauchst du nicht gleich so 'ne komische Uniform anzuziehen, die verdammte Ähnlichkeit mit der SS-Maskerade hat, nur der Totenkopf fehlt noch."

Oft ist sonntags für ihn der Uniform-Tag. Dann geht's im roten Ruhstorfer Feuerwehr-Bus zur Fahnenweihe nach Österreich oder querbeet durch die Nachbardörfer, hier ein Schlückchen, dort ein Männerwort. Doch Hohn und Spott vergingen recht bald. Vielleicht war Volkers Feuerwehr-Uniform genau das richtige, um die freiwillige Selbstisolation im Niederbayerischen wenigstens stundenweise zu durchbrechen, um überhaupt mal zu erfahren, was die Dorf-Insider im fernen Umkreis über die Landkommune tuschelten. Denn Anlässe gab es ja genug.

SCHLEYER-FAHNDUNG, GRUPPEN-SEX

Im Rahmen der Schleyer-Fahndung tauchten im Herbst 1977 unverhofft dreizehn mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten auf dem Hof auf. Sie durchsuchten sämliche Schränke und Schubläden, fotografierten sogar den Hof und Stall. Die Beamten verhielten sich zwar korrekt und der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer (*1915+1977) wurde bekanntlich auf dem Hof auch nicht gefunden, doch wilde und wüste Spekulationen machten die Runde. Einheimische Bauern, die sich regelmäßig in der Kneipe Göttlinger zum Weizenbier und Doppelkopfspiel treffen, äußerten ganz offen ihr Unbehagen. Die Polizei wäre nie und nimmer dort mit Maschinenpistolen im Anschlag hineingegangen, hieß es lapidar. Kommunisten und Anarchisten würden auf dem Fohrenbachhof hocken. Das seien alles verlauste Gestalten. In solch brenzligen Situationen war es schon wichtig, dass Volker über die Feuerwehr seine Außenkontakte sorgsam pflegte. Dass Kommandant Brüller am Stammtisch seinen Doppelkopf-Mitspielern widersprechen konnte. Und sich allmählich bei den Unwilligen die weniger spektakuläre Erkenntnis durchsetzte, den Fohrenbachhofern gehe es vielmehr darum, ob sie ihre Roggen- und Gerstenfelder mit Chemikalien oder mit ihrem Kompost düngen sollten. Diesen Stimmungswandel kann sich Volker als sein Verdienst anrechnen. So entpuppte sich ein weitaus harmlosere Thema zum Dauerbrenner, an dem sich auch der Pfarrer unauffällig beteiligt. Die unverheirateten Paare, die unehelichen Kinder, keiner will einen Trauschein oder den kirchlichen Segen. Wissen die Frauen überhaupt - von welchen Männern die Kinder abstammen? Machen die Gruppensex oder nicht? Das sind heute die Fragen, die die Gemüter immer aufs neue bewegen.

BIERVORRAT UND EIN KOMMANDANT

Es war ein bedeutsamer Tag in der jungen Fohrenbachhof-Geschichte, als im Sommer 1979 erstmals die Feuerwehrmannschaft plus Löschwagen auf dem alternativen Hof vorfuhr. Kommandant Brüller, im Zivilberuf Dachdecker, hatte kurzerhand eine Übung auf dem Fohrenbachhof angesagt. Irene kriegte sich gar nicht wieder ein, sie flitzte in die Diele, um den Biervorrat zu kontrollieren. "Wir müssen Bier holen", sagte sie in einem fort. Pit, ein ausgeflippter Lehrer, der gerade zu Besuch war, eilte in seinem schwarzen BMW zu Göttlinger und brachte gleich fünf Kisten mit. Keiner wusste so recht, wieviel die Feuerwehr wegschluckt. Aber nach Volkers Alkoholpegel zu urteilen, den er stets nach den Übungen hatte, schienen schon fünf Kisten arg knapp bemessen. Hilde, die ein wenig geschlafen hatte, kam verblüfft in die Küche: "Mensch, gut mal, die Feuerwehr ist da. Das hätte ich ja nicht gedacht." Selbst Erich, einer der ruhigsten, hoppelte etwas schneller über den Hof. "Bier reicht nicht, wir müssen auch Stullen anbieten", befand er. Die plötzliche Hektik schien verständlich. Letztlich ging es ja auch gar nicht ums Löschen, sondern einfach darum, dass die Kommune sich von den Einheimischen akzeptiert fühlte - quasi durch Kommandant Brüller und seine Mannen übermittelt.

RODEO AUF NIEDERBAYERISCH

Nun standen die Feuerwehrleute unten am Weiher und spritzten mit einem mords-atü Wasserfontänen auf die nahestehenden Bäume. Volker blieb auffällig in Brüllers Nähe, ein bisschen wie sein persönlicher Referent. Hilde, die ihn beobachtete, konnte mit seinem Verhalten wenig anfangen. "Merkwürdig", dachte sie, "in Frank-furt an der Uni, da hatte Volker mit seinen Vorgesetzten ständig Autoritätsprobleme. Aber wenn der Feuerwehr-Typ ihm etwas sagt, dann springt er." Die Übung dauerte keine halbe Stunde. Dafür zog sich die Biertrinkerei bis weit in die Nacht hinein. Und tatsächlich war es eine der milden und sternklaren Sommernächte unter dem Birnbaum, von denen die betonerfahrenen Städter schwärmen, wenn sie ans Landleben denken. Die Feuerwehr-Mannen und die Landkommune saßen im Kreis, Kommandant Brüller war ihr Mittelpunkt. Bierlallend erzählt er eine Schote nach der andern, auf niederbayerisch, versteht sich. Irene, Hilde und Erich lachten meist recht gequält, denn trotz vierjähriger Fohrenbach-Erfahrung verstanden sie den Kommandanten nicht. Volker, der am Lagerfeuer herumkokelte, hatte es da einfacher. Als der Kommandant "etwas Alternatives" sehen wollte, holte Volker den alternativen Esel Nelle aus dem Stall. Brüller glaubte ein Witzbold zu sein und setzte sich in seiner Feuerwehr-Montur auf Nelle. Nicht einmal seine Offiziersmütze nahm er ab. Erst ritt er gemächlich, ganz souverän, doch dann wurde Nelle zusehends schneller. Alles brüllte und Kommandant Brüller lag auf dem Acker ... ... Rodeo auf niederbayerisch.

HEIMTLOSE KINDER

Nur Ute missfiel die Zweckentfremdung ihrer Nelle. Ute musste lange drum kämpfen, bis sie in der Gruppe den Ankauf von Nelle durchgesetzt hatte. Sie verbindet ein ganz zärtliches, beinahe mütterliches Gefühl mit dem Esel. An Regentagen kann sie Stunden mit ihrer Nelle im Stall verbringen, Auf den ausgiebigen Spaziergängen ist Nelle ihr treuester Begleiter. Ute stieß erst später auf die Fohrenbach-Landkommune. Sie kommt aus Berlin, ihren Lehrerberuf hat sie ebenso aufgegeben wie ihren Mann. Nikolaus, ihren 15jährigen Sohn nahm sie allerdings mit auf den Hof. Er ist ein gebeutelter Junge, der wenig Fröhlichkeit verbreitet. Nikolaus würde lieber in der Stadt leben als zwischen Hühnern und Misthaufen. Aber was soll er machen? Keiner außer Ute will ihn für längere Zeit haben. So bleibt ihm nur der Fohrenbachhof. Ute, ein wenig rund und pummelig, lebt ins ich gekehrt, schweigsam und anspruchslos. Ganz selten kommt es vor, dass sie mal explodiert. Wenn, dann aber unüberhörbar -Tassen und Wurstsalat flogen schon aus dem Küchenfenster.

KEIN AUSSTIEG VOM AUSSTIEG

Vier Jahre Fohrenbachhof, das war für die Gruppe keine Spielerei. Das war überaus harte körperliche Arbeit, oft acht bis zehn Stunden am Tag, bei einem durchschnitt-lichen Stundenlohn von 1,90 Mark. Heute kann jeder ein Zimmer sein eigen nennen, die Felder werden pünktlich bestellt, die Ställe sind intakt, Kirschen und Erdbeeren füllen die Weckgläser, eine kleine Getreidemühle fürs Brotmachen wurde ange-schafft, eine Käsemolkerei ist im Entstehen, Fohrenbachhof-Kartoffeln sind inzwischen in der Frankfurter Sponti-Szene zum Begriff geworden. Aber was für Erich, Irene, Hilde und Volker noch viel wesentlicher ist, sie sind zusammenge-blieben, keiner stieg aus dem Ausstieg wieder aus. Ganz im Gegenteil: während in anderen Landkommunen die Fluktuation zum größten Problem wird, wächst der Fohrenbachhof um Leute, die auch bleiben möchten.

ALTE WERTE AUS DER LUKE GEFLOGEN

Vor zwei Jahren kamen John und Angela mit ihrer kleinen Tochter Rebecca. Benjamin, ihr jüngstes Kind, wurde ein Jahr später geboren. John bezeichnet den Fohrenbachhof als "die beste Landkomune", die er bisher erlebt hat. "Wir wollen hier unseren Weg zwischen bürgerlicher Anpassung und den neuen Heilslehren aus Poona suchen", erklärt John. Er muss es wissen. Denn John ist der typische Freak, unverbildet, welterfahren, launisch und putzmunter. Niederbayern hat John jedenfalls seine Handschrift schon aufgedrückt. In zwölf Landkommunen zog er Gemäuer hoch, baute Schornsteine und verputzte Wände, "Abends", sagt John, "da hab ich das Gefühl, dass ich was ganz Wertvolles für die Gemeinschaft getan habe, weil sich jeder über meine Mauern freut, und ich kriege so meine Selbstbestätigung." John ist Engländer und wuchs in Leeds auf. Als Schiffsfunker fuhr er Jahre zur See, Der Endpunkt für ihn war eine stürmische Nacht vor Island. Achtzehn Stunden hatte er schon gearbeitet, da sollte er auf Weisung des Kapitäns noch eine stotternde Maschine reparieren. Er hat es gemacht, hinter aber gekündigt. "Viele alte Werte sind in diesem Moment einfach aus der Luke geflogen. Ich habe mich gefragt, warum, was soll das?"

GETRAMPT, GESOFFEN, GEVÖGELT, GEDEALT

John holte seine gesparten 2.000 Pfund Sterling vom Konto und ist durch Europa bis nach Indien getrampt. Er hat gesoffen, LSD geschluckt, gedealt, gevögelt, gestohlen und seine Mundharmonika gespielt. John über seine Rauschgift-Phase: "Ich habe so viel erlebt. Dreckiges und auch Gutes in der Zeit. Das war eine totale Hirnwäsche, dass ich selber gemerkt habe, dass ich neue Werte in meinem Leben brauchte. Es war chaotisch, ich bin halb verrückt geworden im bürgerlichen Sinn. Da waren Zeiten, da wusste ich einfach nicht mehr, was richtig oder falsch war. Ich konnte nur schwer antworten, wenn mich jemand was fragte. Ich konnte nur sagen: "You know, do what you wanna do, man!" So war das.

DROGEN IN DEN ARSCH GESTECKT

In Italien saß John vier Monate wegen illegalen Drogenbesitzes im Knast, dann wurde er ohne Gerichtsverhandlung abgeschoben. Über Griechenland ging er in den Vorderen Orient. Ich wollte immer schon nach Afghanistan. In Istanbul habe ich einen deutschen Fixer getroffen. Wir sind zusammen durch die Türkei , durch den Iran bis nach Afghanistan getrampt. Ich war in Herat, das ist gleich die erste größere Stadt, wenn du rüberkommst. Solltest du dir ruhig merken. Ich war da aber ganz entsetzlich magenkrank mit hohem Fieber. Zwei Tage war ich schlimm beieinander. Ich konnte nicht schlafen, es war sehr heiß im August. Und zu meinem Freund habe ich gesagt, komm, gib mir einfach einen Schuss. Irgend etwas, was mich ein bisschen betäuben könnte. Weil ich Haschisch nicht mehr riechen konnte. Ich habe ihn beschwatzt, der wollte erst nicht. Na ja, dann doch. Und die Wirkung, die hat mir gut gefallen. Ich war immer an Drogen interessiert. Und da unter ist es optimal mit den Drogen. Ich hatte Geld und konnte in der Apotheke seelenruhig einkaufen. Fünf Monate später habe ich 2.000 Tabletten zurückgeschmuggelt, in einer kleinen metallenen Zigarrenkiste. An der Grenze habe ich die einfach in den Arsch gesteckt. Ungefähr die Hälfte konnte ich für prima Geld in Frankfurt und Darmstadt verkaufen."

KEIN GEFÜHL MEHR - JUNKEY-MENTALITÄT

Ein Schock-Erlebnis brachte John nach zwei Jahren Drogenkonsum allmählich von der Fixe runter: "In Amsterdam, wo ich immer eingekauft habe, war ich auf einem Hausboot, da war immer en Haufen Fixer. Eines Abends bin ich da hingegangen, und da kratzte vor meinen Augen einer ab. Die haben diskutiert, was sie mit ihm machen sollen. Da war kein Gefühl mehr, da war nichts mehr drin, nur eine eiskalte Junkey-Mentalität. So ein Arschloch, dachten die, warum muss er ausgerechnet hier abkratzen. Werfen wir ihn einfach in den Kanal. Polizei können wir jetzt nicht rufen, ist zuviel Stoff an Bord."

Nach dieser Uraufführung packte John Angst und Panik, mal selbst irgendwann abzunibbeln und ähnlich zu verrecken. Er flog von Amsterdam nach England zu seinen Eltern und ließ sich "trockenlegen", wie er es nennt. Er brauchte Monate - aber John schaffte es.

JOHN UND ANGELA

Zurück in Deutschland, lernte John in einer Münchner Wohngemeinschaft seine Angela kennen. Es waren bewegte Zeiten, und John dachte immer nur an das Heute, "weil morgen ein ganz anderer Tag beginnt". Denn nichts sei von Dauer, auch nicht die Zweier-Beziehungen. Angela, noch verheiratet, liebte zwar John, schlief aber noch mit ihrem Mann. Es fiel ihr unendlich schwer, sich total von ihm zu lösen. Das wiederum trieb John "fast zum Wahnsinn". Er ist ein Freak, den die Eifersucht ab und zu böse erwischt. Aber es ist ihm wohl zuzuschreiben, dass Angela eines Tages aus dem beziehungslosen Allerlei raus wollte und nur mit ihrem John aufs Land zog. Damals in der Stadt kam es keinem in den Sínn, auch nur einen Satz über Kinder zu verlieren, selbst in den sinnlichsten Momenten nicht. Auf dem Lande dagegen war der Wunsch auf einmal da, er wurde immer stärker und kommt auch nach zwei Kindern immer wieder.

John sagt, ohne die Kinder könne er heute nicht mehr sein. Wenn John am Sonntag zum Weizenbier-Frühschoppen zu Göttlinger geht, nimmt er seine kleine Rebecca, kurz Beckie genannt, natürlich mit. Sie sitzt dann auf seinem Schoß und schlabbert Eis, manchmal pinkelt sie ihrem Vater auch auf die Hose. "Das macht nichts", meint John, "das trocknet wieder". und wischt mit seinem Hemdsärmel die Eisreste von Beckies Schnute.

KEINE KOMPLEXE

Es gibt wohl keinen auf dem Hof, der John nicht mag. Das liegt aber nicht nur an seiner handwerklichen Begabung, die die Intellektuellen bewundern, oder an seinem exzellenten Hanfanbau, von dem alle genüsslich profitieren. Vielmehr hat John eine natürlich Art, mit sich und seinen Problemen umzugehen. Er hat keine Komplexe, während die anderen schon ihr Dasein manchmal als Komplex empfinden. So kann John ungeniert über seinen psychischen Schutt reden, den er noch nicht abgetragen hat. Eine Offenheit, um die ihn die übrigen insgeheim beneiden, weil sie nur unentwegt darüber theoretisieren, in Wirklichkeit aber sorgsam darauf achten, dass ihr "Müll" hermetisch verschlossen bleibt.

DOCH KEIN PRÜGELTYP

Johns größtes Problem ist es, wenn er aus irgendeinem nichtigen Anlass melodramatisch wird. Wenn Hof-Besucher sich zum Beispiel über die britischen Gewerkschaften lustig machen und bei solcher Gelegenheit auch noch schwer gebechert wird. Dann flippt John regelrecht weg. Nicht etwa, dass er sich mit den Besuchern anlegt und denen eine scheuert, "viel schlimmer", sagt John, "dann hau ich der Angela eins in die Fresse, dabei hat sie keinen Pieps gesagt. Blöd ist nur", fährt er fort, "die Angela ist kein Prügeltyp, die schlägt nicht zurück. Dann wären wir ja quitt. Aber Angela sagt nur, sie würde das nicht mehr lange aushalten. Gott sei Dank, schon ein halbes Jahr ist nichts mehr passiert."

EIN TRAUM - AUTARK ZU SEIN

John glaubt auch zu wissen, woher seine unkontrollierbaren Aggressionsschübe rühren. In gewissen Abständen wird John aus dem alternativen Lebenszusammen-hang herausgerissen. Das macht ihn missmutig und sauer. Entweder verdingt er sich in Fabriken am Fließband, fährt mit einem Fischkutter von Cuxhaven aus drei Monate zur See oder er ist mit Maurerkelle und Wasserwaage unterwegs. John muss Geld verdienen, sich als Arbeitskraft verkaufen. Trotz Weizenanbau, Tierhaltung und Kartoffelernte, trotz minimaler Ansprüche überhaupt - eines blieb für die Land-kommune bislang ein unerreichbarer Traum: völlig autark von der deutschen Wirklichkeit existieren zu können, den alternativen Lebenskontext strikt von der kapitalistischen Welt zu trennen.

Der Hof mit seinen zwei Hektar Anbaufläche ist zu klein, ihr landwirtschaftliches Programm gleicht einem Kolonialwarenladen. Während professionelle Bauern sich immer mehr mit der Elektronik befassen und nur noch die Monokultur ihr Überleben sichert, nimmt sich der Fohrenbachhof wie eine romantische Reminiszenz aus dem vergangenen Jahrhundert aus. Nun war es ja auch nicht das erklärte Ziel, Landwirtschaft unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betreiben. Sie soll eher die Selbstversorgung sichern. "Basisbedürfnisse", nennt Erich das, "ohne sich auf Geld- und Marktbeziehungen einlassen zu müssen."

GELDER REINBUTTERN

Er selbst weil allzu gut, dass seine Darstellung geschönt ist. Jeder muss monatlich 500 Mark in den Hof reinbuttern. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Gut, John geht jobben, Erwin, ein anderer Freak, bastelt griechischen Schmuck und zieht damit durch die Städte, Irene übersetzt nebenbei noch aus dem Englischen, die Kopfar-beiter Erich und Volker publizieren einiges über alternative Philosophien. Aber die anderen? Richtig, sie sind weiter denn je von jedweder Marktbeziehung entfernt. Doch waren sie gleichzeitig noch nie derart von einer anderen Institution abhängig, die bekanntlich Staat heißt: Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe erhalten jene, die ständig auf dem Fohrenbachhof leben. Ein Zustand, mit dem keiner zufrieden ist und der wohl auch kaum von Dauer sein dürfte. Ganz davon abgesehen, dass die ewigen Behördengänge, das Sich-Ausfragen-Lassen, sich und fremden Leuten Rechenschaft abzulegen, Beklemmungen hervorrufen, die alles andere als alternativ sind. "Was sollen wir machen", fragt Volker. "Wir haben uns in eine Gegend mit teurem Ackerland reingesetzt, wir haben selber viel zu wenig Land und mit unserem Projekt bald die Grenze erreicht."

Die ursprüngliche Idee, die Natur als Instrumentarium gegen den westdeutschen Kapitalismus und seine Abhängigkeiten einzusetzen, funktioniert auf dem Fohrenbachhof nur bedingt. Gut, es gäbe Möglichkeiten, dieses Dilemma zu verringern. Klein Fleisch mehr zu essen, Vegetarier zu werden. Tatsächlich haben viele Landkommunen Fleisch, Kaffee, Bier etc. abgesetzt, um ihre Haushaltskasse zu entlassen. Und auf Fleischkonsum zu verzichten, hätte noch einen weiteren Vorteil. Man würde mit dem Grundprinzip, das eigentlich auch ihres ist, - kein Leben zu töten, um selbst zu leben -, endlich übereinstimmen. Dennoch, die Diskussion darüber blieb widersprüchlich und halbherzig. Im Grunde genommen wollte keiner von seinem saftigen Schnitzel oder Steak lassen. Für John wäre so etwas unvorstellbar. Wenn er vom Bau komm und müsste mit einer Kartoffelsuppe und Kräutertee vorlieb nehmen! Schon ein Bier-Stopp würde John zu "grundsätzlichen Überlegungen" veranlassen.

GROSSE ERWARTUNGEN - LEISE ENTTÄUSCHUNGEN

Das alternative Leben auf dem Lande, die großen Erwartungen, die leisen Enttäuschungen - es wäre pure Illusion anzunehmen, dass Romantik heile Welt bedeutet, dass Genügsamkeit Grundwidersprüche aufhebt, dass Abgeschiedenheit von der Zivilisation gesellschaftliche Konflikte dieser Tage zudeckt. Sicherlich leben die Mitglieder der Fohrenbachhof-Kommune nicht mehr so fremdbestimmt, so perspektivlos, so dumpf vor sich hin wie viele andere in diesem Land. In der Tat, ein Stück Selbstverwirklichung. Aber auch die Fohrenbachhofer kämpfen mit ihren Ungereimtheiten, die sie manchmal bis ins Unerträgliche belasten. Eine solche Ungereimtheit kennzeichnet ihr Verhältnis zum Besitz. Eigentum im bürgerlichen Sinne wurde weitgehend abgeschafft.

INZEST-TABU ODER LUST AUFS BETT

Von den acht Leutchen könnte jeder im Grundbuch stehen, jeder hat eine Vollmacht über das gemeinsame Konto, auf das sie selber ihre 500 Mark einzahlen und ihre Erlöse aus den landwirtschaftlichen Produkten überweisen lassen. Besitz existierte eigentlich nur als Zweierbeziehung zwischen Irene und Erich, Hilde und Volker, Angela und John. Auch ihre Kinder kannten kein eigenes, sondern nur noch Gemeinschaftsspielzeug. Das bürgerliche Überbleibsel der festen Pärchen erklärt sich aus den teils miserablen, teils grotesken Erfahrungen, die andere Landkommunen mit ihrer Gruppenpromiskuität gemacht haben. Sie ist vielerorts der gefährlichste Sprengsatz, weil dabei immer irgend jemand auf der Strecke bleibt, der dann früher oder später das Weite sucht. Erich, Irene, Hilde und Volker schien aber das gemeinsame Projekt zu wichtig, als dass sie sich auf derlei possierliche Vabanque-Spielchen einlassen wollten. Deshalb verständigten sie sich zu Anfang allesamt auf ein sogenanntes Inzest-Tabu in ihrer Großfamilie. Das bedeutet: striktes Verbot für jeden, mit dem Partner des anderen ins Bett zu gehen. Wer das Fremde will, solle nach Frankfurt oder München fahren zu einem Mann oder einer Frau, die mit dem Hof nichts zu tun haben. Das ging auch vier Jahre gut, wenngleich Volker in den letzten zwölf Monaten zusehends häufiger ganz demonstrativ auf Wilhelm Reich verwies. Volkers Motto: "Lest Reich und handelt danach." Was soviel heißt: gerade in einer Landkommune, in einer Gruppe, die sich schon über Jahre kennt, gemeinsam arbeitet, gemeinsam Freizeit verbringt, sollte es doch möglich sein, sich auch in dieser Lust-Frage vom "kleinbürgerlichen Sumpf" zu befreien und damit angstfrei seine Gefühle, sein sexuelles Verlangen mit verschiedenen Partnern auszuleben. Das klingt fantastisch und ist es sicherlich auch, aber doch vor allem für jene, die genügend Ichstärke besitzen, um Verschmähung, Liebesentzug, Demütigung ertragen zu können und selbst bei der plastischen Vorstellung, "meine Hilde ist gerade zu Erwin ins Bett gekrochen", weiter in der guten Stube hocken zu bleiben und seelenruhig am alternativen Wein zu nippeln.

WILHELM REICH LESEN

Wer das kann, der sollte nicht nur Wilhelm Reich lesen, er sollte in der Tat auch danach handeln. Und es ist ja auch "verdammt schwer", befindet Irene, "nicht mal mit anderen nachts zusammen sein zu dürfen. Jeder denkt dran, keiner tut's. Du sitzt abends mit Volker unterm Birnbaum, Lagerfeuer und so. Erich ist schon lange im Bett, du verbringst da wahnsinnig schöne Stunden und dann trennen sich beider Wege. Das ist doch irgendwie bescheuert." Dabei hat Irene schon tagsüber Schwierigkeiten. Etwa, wenn sie mit Volker den Weidezaun repariert. Irene: "Komisch, wir haben uns plötzlich nicht mehr wie normal angeschaut. Das waren Blicke, die den anderen auszogen, sagenhaft -."

KARTOFFEL-TRANSPORT UND DIE FOLGEN

So sagenhaft war es dann doch wieder nicht, als Volker und Irene am Hofabend unter dem Tagungsordnungspunkt "Verschiedenes" der erstaunten Kommune berichteten, dass sie in Frankfurt, wohin sie der Kartoffeltransport führte, miteinander geschlafen hätten, ja, dass sie es nicht einmal bereuten, "weil es wirklich wahnsinnig lustvoll und schön gewesen ist." (Irene). Die Genossen in der Frankfurter Wohngemeinschaft hätte das ganz toll gefunden, prima, sollen die gesagt haben, dass so etwas bei euch möglich ist. Die Reaktion der Fohrenbach-Kommune hingegen war arg betreten. Erich kriegte zunächst keinen Ton raus und saß kauzig in seiner Ecke. Hilde bekam einen Heulkrampf, John meinte, "die haben einen echten Vogel", Pit, der Besucher, prophezeite, Volker werde sich hier auf Kosten anderer ein Dorf-Harem aufbauen. Volker verstieg sich in eine "Vorwärtsstrategie", wie er später zugab. "Ich habe der Irene ja schon zwei Mal angeboten, dass ich ihr das nächste Kind mache. Gut, das erste ist von Erich, das zweite kommt aber von mir." Und Irene bemerkte dann noch: "Ich finde es gar nicht witzig, wenn ich sehe, welche kleinbürgerlichen Gefühle sich bei euch wieder eingeschlichen haben." - High-noon auf dem Fohrenbachhof.

MEIN UND DEIN

Ausgerechnet zu jener Zeit, in der über den Zweier-Besitz radikaler nachgedacht wurde als je zuvor, als alle in sich gingen und überlegten, ob man an diesem "Besitzverhältnis" nicht doch etwas ändern müsse, um die Gruppe als Ganzes nicht zu gefährden, in dieser Phase wurde auf einer anderen Ebene der Besitzgedanke Mein und Dein wieder eingeführt. Die Kinder stritten sich laufend um die wenigen Spielsachen. Jedes wollte Besitz ergreifen. Hilde thematisierte das Problem: "Das sind Widersprüche", gesteht Hilde, "die wir hier auf dem Hof nicht mehr lösen. Vielleicht in einem größeren alternativen Zusammenhang, der für uns nur in Italien sein kann."

ALTES DORF IN ITALIEN

Vielleicht in zwei, vielleicht auch erst in fünf Jahren will die Landkommune nach Italien ziehen, möglichst mit einer noch größeren Gruppe ein altes Dorf aufkaufen. Volker erklärt: "Wenn wir noch mehr Kinder kriegen, wird der Fohrenbachhof wirklich zu klein, und in Italien wird dann auch keiner mehr auf die Sozialhilfe angewiesen sein, weil wir da mit Sicherheit genügend Land kaufen können." Aber eines steht unumstößlich fest: sie wollen erst auswandern, wenn sie gute Freaks gefunden haben, die ihren Hof im alternativen Sinn weiterführen. Zwei von ihnen könnten Heiner und Jochen sein. Zwei 17jährige Schüler aus Geesthacht. Sie kamen eines Tages mitten in der Schulzeit von Hamburg runtergetrampt. Heiner und Jochen hatten "die Schnauze gestrichen voll, von der Schule, von den Lehrern, von ihrem Elternhaus".

Aber ursprünglich wollten sie nur vierzehn Tage ausspannen. Daraus wurden sechs Wochen. Während ihre Klassenkameraden Tag für Tag büffelten, arbeitete Jochen an der Kettensäge, Heiner fuhr Trecker. Viel von der Zukunft erwarten die beiden ohnehin nicht. Das Abitur soll noch gemacht werden. Aber dann? Achselzucken. "Eine Landkommune", meint Jochen, "das ist schon eine gute Sache. Hier wirst du nicht ständig angeschissen, musst nicht laufend irgendeinen sinnlosen Kram erledigen, hier bringste echt deinen Kopf mit deinem Bauch zusammen." Und auf Zweier-Beziehungen angesprochen glaubt Heiner, "da braucht sich keiner große Sorgen zu machen, das lösen wir auf unsere Art."
























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