stern, 17. Januar 1974
Rowohlt Hamburg
Verlag, Reinbek
25. Mai 1980
von Reimar Oltmanns
Wenn Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) über seine politische Vergangenheit nachdenkt, pflegt er zu sagen: "Mit 30 Jahren war ich ein engagierter Sozialist." Willy Brandt hat seit damals 30 Jahre gebraucht, um sich vom Sozialisten zum "praktischen Sozialdemokraten" zu entwickeln, so der schleswig-holsteinische SPD-Landesboss Jochen Steffen (*1922+1987).
Die 30jährigen Sozialisten dieser Tage schaffen das schneller. Wolfgang Roth, 32, bis Ende Januar 1974 Chef der Jungsozialisten und oft beschworener Beelzebub bürgerlicher Sozialistenfurcht, kann sich schon am Ende seiner Amtszeit rühmen, alle Brandt-Stationen hinter sich zu haben. Wurde Roth noch vor zwei Jahren von der Hamburger SPD gerüffelt, weil er gemeinsam mit Kommunisten auf politischen Kund-gebungen gesprochen hatte, so weist er heute - in der beginnenden Ära von Ausgrenzung politisch Anders-denkender und Berufsverbote - jede Zusammenarbeit mit der DKP zurück: "Mir ist es mittlerweile zuwider, mit den Kommunisten gegen Berufsverbote zu protestieren."
VOM JUSO ZUM BANKPRÄSIDENT
Ob als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Städtetag, später sodann bei der Skandal geschüttelten gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugesellschaft "Neue Heimat" in Hamburg (hohe Miteinnahmen, satte Spesen mit horrenden Gehaltskonten) - Diplom Volkswirt Wolfgang Roth empfahl sich für wichtige Schlüsselpositionen oft mit dem als Witzchen zu verstehenden Hinweis: "Was interessiert mich heute noch mein linkes Geschwätz von gestern." - Seither ist Sendepause.
Da war es dann nach SPD-Stallgeruch-Maßgaben doch irgendwie schon naheliegend, solch ein in der Öffentlichkeit wahrgenommenes "Jung-Talent" nicht auf den hinteren Plätzen des Plenums Platz "verkümmern" , sondern sogleich zum stellvertretenden Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion aufsteigen zu lassen; wegen der Roth'schen der Schubkräfte - mithin bis zum Vizepräsidenten der Europäischen Investitionsbank (EIB) in Luxemburg (1993-2006).
Junggenossen von der Basis haben dieses unstete Rothsche Hin und Her auf der Suche nach einem markanten Aufstiegs-Profil kommen sehen. Sie betrachten den "begnadeten Opportunismus" über ihren scheidenden Vorsitzenden schon seit langem mit Misstrauen, verdeutlicht der Kieler Juso-MdB Norbert Gansel (1971-1997). Nur in Bonn an den Trögen der Macht, zwischen Dienstwagen, Diplomatenpässen, Diäten und Damenkost grassiert Fieber - kein Gelb-fieber, allenfalls Bedeutungsfieber. Roths Stellvertreter Johano Strasser, der wie andere Juso-Prominente der Karrieremacherei verdächtigt wird, gibt zu: "Wir Bundesvorstandsmitglieder haben Verständigungs-schwierigkeiten mit unserer Organisation."
HOHER MORALISCHER ANSPRUCH
Das war nicht immer so. Unter dem Einfluss der Außerparlamentarischen Opposition hatten sich die Jusos noch auf ihrem Bundeskongress 1969 "mit hohem moralischen Anspruch" (Strasser) zum Ziel gesetzt, die SPD kompromisslos zu demokratisieren. Doch schon vier Jahre später ist ihnen die Luft ausgegangen. Statt die Partei auf Jusos-Linie einzuschwören, zerstritten sich die Junggenossen in Flügelkämpfen. Wolfgang Roth: "In den Juso-Organen, zum Beispiel im Bundes-ausschuss, sitzen Leute, mit denen man nicht reden kann."
KANZLER IN SPE GEGEN DAS KAPITAL
Seit Monaten fighten die Jusos-Fraktionen um die wahre Ideologie. In Hamburg und Berlin bildete sich eine radikale Gruppe, die auf einer Volksfront mit Kommunisten beharrt und die derzeitige Wirtschafts-ordnung als ein System begreift, in dem sich der Staat nur noch als Diener oder als "Büttel" der Großindustrie ("Staatsmonopolistischer Kapitalismus") begreift. Die rebellischen "Antirevisionisten", eine Gruppe von Hannoveraner Studenten, gehen weiter. Sie halten die SPD eigentlich für überflüssig, weil sie als Regierungs-partei in Bonn nur "das bestehende kapitalistische System stabilisiert", so ihr Sprecher, der Jura-Student Gerd Schröder (Bundeskanzler 1998-2005). Er und die Seinen wollen in den Betrieben und Schulen gegen das Großkapital agitieren.
ROT DAS HAAR, ROT DIE GESINNUNG
Streitereien und Abspaltungen innerhalb der Jung-sozialisten will nunmehr eine rothaarige Junggenossin verhindern: Heidi-Wieczorek-Zeul, 30, (Bundes-ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit 1998-2009 ) Chefin des Juso-Bezirks Hessen-Süd, wird in München die Nachfolge des angepassten Wolfgang Roth antreten. Die Rüsselsheimer Gesamtschullehrerin gilt unter den Sozialdemokraten als engagierte Politi-kerin, die vor keinem Konflikt in und mit der Partei zurückschreckt. Sie will den frustrierten Junggenossen, die auf Kongressen "zum totalen Ausflippen in eine endlose Grundsatzdiskussion neigen" (Johano Strasser) mit markigen Sprüchen zur schnellen Eintracht treiben: "Wir praktizieren die Zusammenarbeit mit Kommunisten , wenn es darum geht, in konkreten Aktionen gemeinsam gegen antidemokratische Tendenzen zu kämpfen."
Doch solche Äußerungen der "roten Heidi" (Partei-Jargon) stehen in krassem Gegensatz zu den geheiligten Grundsätzen der SPD, wonach eine Kooperation mit Kommunisten in jedem Fall "streng verboten ist und zu einem Parteiausschlussver-fahren führt", wie SPD-Vorstandssprecher Lothar Schwartz versichert.
Auf dem kommenden Bundeskongress in München werden die leidigen Abgrenzungsprobleme der Jusos zu den Kommunisten freilich zweitrangig sein. Strasser: "Keine müßigen Streitereien um die richtige Weltanschauung." Unter dem Druck der nach links abgewanderten Basis will der Bundesvorstand konkret arbeiten. Auf einem geheimen Treff im Seehotel in Romanshorn am Bodensee einigten sich die Genossen über Weihnachten auf "Maßnahmen", die die "sozialdemokratische Regierungspolitik zu verwirklichen hat".
KONTROLLE ÜBER INVESTITIONEN
Die Bundesregierung soll ultimativ aufgefordert werden, die Kontrolle und Lenkung von Investitionen "global" einzuführen und die Macht der Unternehmer mit direkten Eingriffen zu beschneiden. Ein Katalog, der die "Arbeitsmarktpolitik" der Bundesanstalt für Arbeit oder auch die "Änderung des Bundesbankgesetzes" einschließt, soll die Gesamtpartei zu "ersten Schritten" in Richtung auf Durchsetzung einer demokratischen Investitionslenkung veranlassen. Wie das alles in der Praxis aussehen könnte, wissen bislang nicht einmal die Jusos.
SPRENGSÄTZE, SPRÜCHE
Die Jusos drohen damit, ihren Parteivorsitzenden Willy Brandt (1964-1987) als Kanzler des Kapitals zu attackieren, wenn ihr Katalog nicht unverzüglich Programm der SPD wird. Wer "auf eine demokratische Investitionslenkung verzichtet", wirkt "zu Lasten der abhängig Beschäftigten". Damit verliert die Regierungs-politik ihre Legitimationsbasis", heißt es bei den Jusos. Jochen Steffen prophezeit: "Das wird der Sprengsatz für den nächsten Parteitag."
Auf den neuen Konflikt hat sich die Partei noch nicht eingestellt. Bislang fällt der Parteirechten zu den Jusos nur Handgreifliches ein. Der Parteirechte, einst Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel zu Willy Brandt: "Ich rate dir, Strasser und Co. aus der Partei rauszuschmeißen." Und der eigens vom Bundes-kanzler zur Beoachtung der SPD-Randgruppen be-auftragte Vorstandskollege Bruno Friedrich kam nach langer Forschung zu der Erkenntnis, dass "diese Flügelkämpfe der Partei schaden."
VOM QUERDENKER ZUM HOFNARREN
Im Hintergrund all jener Fernseh-Rüpeleien mit einstudierter Empörungsrhetorik durchlitten vor-nehmlich die Jusos Erstaunliches, Unerwartetes. Sie wussten zunächst so gar nicht, was in Zeiten "freier Liebe und offener Promiskuität" (wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört zum Establisment ) mit ihrem Aushängeschild namens Johano Strasser geschehen sein mag. Gerade unter Jungsozialisten wurde befreiend oft und überall durch die Betten querbeet gehüpft. Eigentum als Verfügungsgewalt galt es abzubauen, sexuelle Besitzansprüche erst recht. - Hilflos, achselzuckend standen nun Jung-Politiker am Wegesrand, als ausgerechnet ihr Star, ihr "Chefideologe", ihr "Wuschelkopf Johano" von einer Strafkammer des Landgerichts Mainz im Oktober 1970 in fünf Fällen des Straftatbestandes der "Belei-digung" zu 1.200 Mark Geldstrafe oder ersatzweise 20 Tagen Haft rechtskräftig ver-urteilt worden ist. Der Grund: Pornografie an der Strippe.
STRASSER, DER DR. SCHNEIDER WAR
Bei den Jusos machte seinerzeit verstohlen der Begriff "Telefonanie" schnelle Runde; ein Provinz-Porno ohne spektakuläre Züge. Gemeint waren damit all die in Gerichtsakten festgehaltenen Telefon-Ferkeleien ihres Johano Roberto Strasser, seines Zeichens Habilitand an der Mainzer Universität und stellvertretender Vor-sitzender der Jungsozialisten. Nach Lust und Laune griff er zum Telefon und wählte wahllos die Num-mern junger Mädchen in Mainz-Gonsenheim an. Da wurde am Hörer flugs aus Johano Strasser ein Herr Dr. Schneider, der zu "den Damen oder Teenagern sprach und stöhnte. Eben ein Herr Dr. Schneider, der mit der einen Hand den Hörer hielt, mit der anderen sich befriedigte". So und nicht anders sah es das Gericht in letzter In-stanz als erwiesen an, dass Strasser einige Dutzend Male bei der Hausfrau Gerda Schmidt im Vorort Mainz-Gonsenheim durchklingelte - mal habe er Tochter Rita,13, mal Mutter Gerda über Monate seine vulgär-saftigen Porno-Fantasien ins Ohr geflüstert, ge-säuselt, gesungen - stets mit neuen Sex-Sprüchen in arg Ver-legenheit gebracht; Ohrwürmer des Dr. Schneider sozusagen. Dabei stammelte Doktor Schneider alias Dr. Strasser ins Telefon ohne Unter-lass: "Pass mal auf, du hast doch zwischen den Beinen ein kleines Löchlein...".
Berlins Wissenschaftssenator Werner Stein (SPD) weigerte sich im Jahre 1973 daraufhin, Strasser an der Pädogischen Hochschule Berlin als Didaktik-Professor zum Beamten auf Lebenszeit zu ernennen. Strasser sah sich eiligst in der Opferrolle einer "Schmutzkampagne". So düngte er sich in der Provinz-Porno-Posse als Leid-tragender der um sich greifenden Berufsverbote. Ein Roman im Mai, ja gewiss, aber auch die vergessen geglaubte Telefonanie im Mai in den Jahren vor der Frauenbewegung in diesem Land.
Es war keines der viel zitierten, empörenden Berufs-verbote eines Linken aus politischer, systemkritischer Überzeugung, mit dem der Berliner Senat ihren Partei-genossen Johano Strasser belegte. Es war vielmehr die Ablehnung der Übernahme ins Beamten-verhältnisses des einstigen Didaktik-Professores an der Pädago-gischen Hochschule in Berlin, weil dieser rechtskräftig verurteilt worden ist. "Als wir noch Götter waren im Mai", betitelte Johano Strasser seine romantisch komponierten Reminiszenzen seiner politischen wie auch philosophischen Lebens-orientierung nach Jahrzehnten - gefühlsverklärt, Legende um Legenden.
STARNBERGER SEE
Ja, ja - dass das nur "solche Geschichten bleiben, die man den Enkeln erzählen kann, es gibt eine Menge Leute, die haben ein Interesse daran", textete und sang ehedem der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt über den "fast autobiografischen Lebenslauf eines west-deutschen Linken". "In Saint Germain des Près, da ist er länger geblieben, Sartre hatte gerade den "Ekel" geschrieben. Er lebte mit der Nutte Marie-Thérèse und hörte sich nachts besoffen an Jazz ... ...". Genosse Johano hingegen zog es in eine be-schauliche, wohl behütete Villa am Starnberger See. Nirgendwo in Deutschland leben mehr Millionäre als in Strassers Ambiente. Stille, Straßenbilder, Stuck an der Decke, Stuck im Kopf, Buchdeckel, Kalendersprüche, Gespräche mit dem Literatur-nobelpreisträger Günter Grass, Rot-Wein, Waffen-SS, Poesiealben. Die, ja, die - signiert Johano in seiner Eigenschaft als Präsident des deutschen P.E.N. in möglichst unnahbarer Erlesenheit. Dort, wo Fürstin Gloria Turn und Taxis wenigstens in den Sommermonaten in ihrem Schloss weilt - eben reich und schön, nun da ist es zum Dr. Strasser nicht weit, ganz in der Nähe. Dort wird gibt es des Abends am Kamin wie eh und je beim Tee bei Strasser immer noch ein- und dasselbe Thema: Arbeiter, Ausbeutung, Entfremdung, Verarmung im 20. - auch 21. Jahr-hundert - immerfort auf gutem Polster. Sicher? - Ganz sicher.
FLÜGELKÄMPFE, SELBSTTHERAPIE
Da nehmen sich die früheren Flügelkämpfe sozialisti-scher Gesinnungen wie Possenspiele aus fehlgeleiteten Kinderstuben vergilbter Zeiten aus. Strasser wollte ohnehin derlei Glaubenskriege beendet wissen. Damals wollte der couragierte spätere Hochschullehrer Detlef Albers (*1944+2008), Kopf und Wortführer der legendären Stamokap-Gruppe, ("Unter den Talaren - Muff von 1.000 Jahren") den Genossen klarmachen, dass die "SPD weiß Gott nicht die einzige Partei der Arbeiterklasse ist". Kärrnerarbeit. Und schon damals wollte Johano Strasser versuchen, den Vorwurf Willy Brandts abzublocken, der da lautete: "Was weiß denn der Strasser über die Arbeiterbewegung?" Und Brandt sagte weiter: "Wir sind keine Studentenvereinigung. Wir wollen davon abgehen, den konkreten Problemen mit allgemeinen Grundsatzerklärungen auszuweichen." Grundsätzliches freilich erwarten die Genossen nur von ihrem Kongressgast. Herbert Wehner (*1906+1990) hat sich angesagt, um der Parteijugend mal wieder die Richtung zu weisen.
Die ehrgeizige Heidi Wieczorek-Zeul eifert unterdessen ihrem Vordermann Roth nach. Die zukünftige Bundes-vorsitzende will nicht nur bei den Jusos mitmischen. Sie möchte bei den Landtagswahlen in Hessen ein Mandat ergattern. Jochen Steffen über seine Juso-Zöglinge: "Die betreiben eben Doppelstrategie. Das ist die zu Theorie aufgedonnerte Selbstverständlichkeit, dass man in einer Demokratie oben und unten arbeiten muss, wenn man etwas erreichen will."
VERBRANNTE ERDE - JUSO-TALFAHRTEN
Dass sie neben ihrem Ämtergezerre nicht die zentrale Grundwerte-Diskussion in den achtziger Jahren als exemplarische Auseinandersetzung zwischen Haben und Sein, jung wie alt, Naturzerstörung und Lebens-bejahung begriffen haben, hat die politischen Jugend-organisationen allesamt an den Rand ihrer Existenz gedrängt. Sie nennen sich in ihrer Bezeichnung zwar alle >jung<, doch ob Jungsozialisten, Junge Union oder Jungliberale - bei ihnen ist Friedhofsruhe und Toten-klage eingekehrt. Keiner der Partei-Nachwuchsver-bände hat die Themen der Aussteiger-Generation rechtzeitig erkannt, zu sehr kopierten ihre Verstände schon die üblichen Politik-Rituale; altkluge Bürgersöhne fast vergessener Jahre.
ZIELLOSIGKEIT, ZERRISSENHEIT
Längst vorbei, fast vergessen sind die Zeiten, als Jusos sich in Werbebroschüren als "größte politische Jugend-organisation " des Landes priesen; passé ist auch der markige Spruch "wir sind die SPD kommender Jahrzehnte", vergessen ist ferner die Einschätzung des Tübinger Rhetorik-Professors Walter Jens(*1923+2013), der in den Jusos die "einzig relevante sozialistische Kraft" in der Bundesrepublik sah. Bürger werden nicht mehr aufgeschreckt, Bonzen nicht mehr abgewählt, alles lässt sich zahm und brav an. Mitgliederschwund und Müdigkeit, Ziellosigkeit und Zerrissenheit kennzeichnen den Verband. In vielen Landregionen sind die Arbeitsgemeinschaften sang- und klanglos eingeschlafen, anderenorts haben Parteiobere sei unauffällig ausgetrocknet.
NULLTARIF GEFORDET - AUF NULL GEBRACHT
Dass die Jusos zwar den Nulltarif - etwa im öffentlichen Nahverkehr - forderten, aber auf Null gebracht wurden, liegt zunächst einmal an ihnen selbst. Die Zersplitterung in drei Fraktionen - Stamokap, Antirevisionisten und Revisionisten - artete in Glaubenskämpfe aus. Theorie-Ayatollahs verwechselten Uni-Seminare mit politischer Basis-Arbeit. Sie fochten so verkrampft und bedingungslos, als seien sei dazu auserkoren, morgen den Sozialismus im Lande einzuführen. Als den System-Erneuerern dann die viel gerühmte Basis davon lief, fehlte es natürlich nicht an entsprechenden Er-klärungsmustern: "Die Jugend", hieß es im unverwechselbarer Juso-Deutsch, " ist wieder bereit, Ideologien zu übernehmen. Es besteht die Tendenz, Ideologien militant und undifferenziert zu vertreten. Faschistoide Tendenzen treten wieder hervor."
SCHRÖDER - NOTAR AUF DEM FRIEDHOF
Ihr derzeitiger Vorsitzender Gerhard Schröder (1978-1980), ein eloquenter Rechtsanwalt aus Hannover, empfindet sich nicht selten in der Rolle eines Notars auf dem Friedhof. Aber darüber nachdenken kann Schröder nur, wenn er nicht gerade eine "große Rede redet" oder vor Fernsehkameras auf dem Berliner SPD-Parteitag der Nation Gewichtiges über das Versagen der "Carter-Administration in Washington" mitzuteilen hat. Dann findet er schon mal zum Kernpunkt zurück, warum seine Organisation vom Aussterben bedroht ist. Dass die Jusos als SPD der achtziger Jahre bezeichnet wurden, sei "der programmatisch größte Quatsch gewesen, der je verkündet worden ist", sagt Schröder.
AUS DEM GEDÄCHTNIS STREICHEN
Erfunden von einem seiner Vorgänger, die er lieber aus dem Gedächtnis streichen möchte, als sich intensiv mit ihrer Amtsführung zu befassen. Der Nachfolger über seine Vorgänger Wolfgang Roth (1972-1974) und Heidemarie Wieczorek-Zeul (1974-1977): "Die sind doch in Bonn herumgelaufen und haben die Backen aufgeblasen, quasi als Kanzler der Jungen."
CREDIT CARDS VERSCHUSSELT
Jusos-Politik zu jener Zeit war Jet-Set - zumindest in der Führungsspitze. Kein Erdteil wurde ausgelassen, um ihre Friedenspolítik zu verkünden. In der Bonner Bundesgeschäftsstelle glaubte nicht wenige, in einem Reisebüro zu sein. Andere sahen in ihrer Zentrale eine Dependance zum Auswärtigen Amt, dritte eine Hauptabteilung des Innendeutschen Ministeriums. Roth in Moskau, Strasser mit Freundin in Havanna, Roth in Ost-Berlin, Strasser mit Freundin II in Rom, Jusos in Mexiko-City. Welt hieß bei manchen nur noch "world", auch sonst ließen schon kleine Details und Bewegungen den internationalen Zuschnitt erkennen. Vor allem dann, wenn ihr selbst ernannter Anwalt kleiner Leute, Chefideologe Johano Strasser, aufgeregt-aufgelöst bei der juso-Sekretärin Petra Bauer in Bonn anrief. Er habe sein "credit-cards" Booklet - von Diners bis american express - verschusselt. Strasser: "Es muss wohl in der Villa Hassler in Rom passiert sein, da wo doch auch unser Willy immer nächtigt." Und ihr Pressesprecher Klaus-Detlef Funke konnte sich gar nicht wieder beruhigen, wenn er aus den Tageszeitungen erfuhr, dass "der Roth zu den bekanntesten deutschen Politikern" zählt.
BONN - BERLIN: DER BASAR VON ISTANBUL
Journalisten gingen in ihrer Geschäftsstelle ein und aus, Informationen aus ver-traulichen SPD-Sitzungen und aus dem Kanzleramt wurden gehandelt wie auf dem Basar von Istanbul. Natürlich machten die Jusos auch Innenpolitik - und zwar so kräftig, dass ihnen oft eine Schlagzeile zu den Abendnachrichten in der tagesschau sicher war. Und jeder war stolz, freute sich. Willy Brandt auf Deutschland, die jusos auf ihre Meldung. Da sollte beispielsweise per Beschluss des weltgewandten Bundesvorstandes kein Bundesbürger monatlich mehr als 5.000 Mark verdienen. Wenige Jahre später will keiner mehr davon etwas wissen. Eigentlich seien sie schon immer dagegen gewesen, Roth, der inzwischen im Bundestag als wirtschaftspoli-tischer Sprecher seiner Fraktion Platz genommen hat, Funke, der zum Verlagsleiter des SPD-Organs "Vorwärts" avancierte. Da legte er sich nicht nur einen amerikanischen Straßen-kreuzer zu (Atomkraft - Nein danke), da wollte er auch gleich einige Genossen "wegen Inkompetenz" blitzschnell feuern. Als schließlich Klaus-Detlef Funke vom SPD-Präsidium gefeuert wurde, war für ihn der Sozialismus beendet. Langsam und unauffällig ließ er seine Genossenmitgliedschaft einschlafen, langsam und unauffällig ertastete er sich gut dotierte Pöstchen in der TV-Unterhaltungsindustrie.
LUFTBALLON GEPLATZT
"Ruinös ist das alles gewesen", sagt Gerhard Schröder (SPD-Chef von 1999-2004) rückblickend. "Die sind von einer linksliberalen Presse hochgeschrieben, geradezu aufgeblasen worden, geradezu aufgeblasen worden. Dann ist einer gekommen und stach in diesen Luft-ballon. Die Folge war, der Ballon schrumpfte nicht auf seine richtige Bedeutung, sondern platzte. Vor den Trümmern stehen wir heute."
Natürlich lässt sich die stetige Juso-Talfahrt nicht allein mit desolaten Erscheinungs-formen in ihrer Führungs-spitze abtun. Denn parallel zur Sozialdemokratie büßten automatisch auch Jungsozialisten bei Jugendlichen an Zugkraft ein. Eine der Hauptursachen dürfte vor allem darin liegen, dass sich ihre Doppelstrategie spätestens ab Mitte der siebziger Jahre als Blindgänger entpuppte. Die These von der Doppel-strategie, sowohl die Basis für langfristige politische Ziele zu mobilisieren als auch in Partei-gremien und Parlamenten für eine sozialistische Reformpolitik einzutreten, zerfloss bald bis zur verwirrenden Unkenntlichkeit. Jusos, die in den Bundes-tag gewählt wurden, schmiegten sich beinahe nahtlos den dort vorherrschenden Abläufen zwischen Kalkül und Sachzwang an. Kaum ein Signal ging noch von der ehemaligen Crew Karten Voigt (1976-1998 ) Wolfgang Roth (1976-1993 ) und Norbert Gansel (1976-1993 ) aus. Sie verblasste bis zur Austauschbarkeit, nicht zuletzt bei der Abstimmung um die Anti-Terror-Gesetzgebung, die den Rechtsstaat in ein fortwährendes schräges Licht rückte. Da mussten eben Politiker wie der Schrift-steller Dieter Lattmann (1972-1980 ) und Gymnasiallehrer Karl-Heinz Hansen ( 1969-1982) den einstigen Juso-Opponenten vormachen, dass sie ihre Stimme nicht von vornherein für eine ganze Legisturperiode dem Fraktions-vorstand überlassen hatten, in Bonn nicht ihr politisches Dasein als "Stimmvieh" (DieterLattmann) zu verplempern trachten.
RESIGNATIVE ANFLÜGE
Der resignative Anflug verstärkte sich erst recht an der Basis. Das Ende der Reformära brachte allmählich die Einsicht, mit Beschlüssen auf Parteiebene wenig aus-richten zu können. "Die gingen in die Ortsvereine", berichtet Schröder, "wollten mitbestimmen und be-kamen reihenweise von alteingesessenen Genossen eins vor die Köpfe, wenn sie mit ihrer ewigen Reform-diskussion auftauchten. Die Alten sitzen halt mit einer Bierruhe da und sorgen schon für zusammen-gemanagte Mehrheiten." Die weitgehende Gleich-schaltung der SPD zur "Kanzler-Partei", in allen wichtigen parteipolitischen Beschlüssen, der prag-matische Ansatz, Politik im wesentlichen nur noch instrumentell zu begreifen, erstickten Juso-Politik auch dort, wo sie noch vorhanden war. Erforderliche Spiel-räume, die für Jugend-Organisationen lebenswichtig sind, um überhaupt an Schüler oder Lehrlinge heranzukommen, gingen verloren. Im Spannungsfeld zwischen Regierungspolitik, "alles im Griff zu haben", und dem tiefen Unbehagen unter den Jugendlichen konnten sich die Jusos kaum behaupten. Sie durften zwar noch "Sozialismus" sagen, aber jede öffentliche Erklärung unterlag der Zensur des Parteiapparates - ein Maulkorb, den Bundesgeschäftsführer Egon Bahr (1976-1981 ) für geboten hielt, um der SPD möglichst ein einheitliches Profil zu verpassen.
GÄHNENDE LEERE
Damit begann aber nicht nur eine Politik gähnender Leere, sondern Felder mussten geräumt werden, die lange Zeit zum klassischen Juso-Terrain gezählt hatten. Ob chronische Jugendarbeitslosigkeit, Schüler-Aktivitäten zum Bildungsnot-stand, Hochschulgruppen oder Kernenergie - Jusos starrten meist paralysiert auf politische Ereignisse, die an ihnen vorbeiliefen. Schröder: "Was soll ich eigentlich einem Betriebsjugend-Funktionär erzählen, wenn der mich auf das Lehrstellen-Problem anspricht. Der weiß doch ganz genau, dass die Zahlen, die auf dem Tisch liegen, getürkt sind. Beschwichtigungen, "der Schmidt wird es schon richten, nimmt der mir nicht mehr ab. Und dann wird uns vorgeworfen, wir seien in der Gewerk-schaftsjugend nicht genügend verankert und die DKP wäre zu stark."
ORIENTIERUNGSLOS - HILFLOS
Völlig hilflos und unorientiert reagieren Jugendsekretäre der Partei auf die Alter-native Bewegung. Ein Hinweis darauf, wie stark die sogenannten "Kader der Sozial-demokratie" im eigenen Saft schmorten und alles andere geringschätzig außer acht ließen. Sie qualifizierten Aussteiger zunächst zu Sektierern und bürsteten solche als irrelevant herunter. Folglich gab ihr früherer Juso-Chefideologe Johano Strasser, in der Zeitschrift "Langer Marsch" über Spontis und Tunix-Leute die Devise aus, die aber gerade Strasser unbedacht seit seiner Mainzer Vor- und Ausfälle charakterisiert, die da lautet: "Die leben ja mit ihrer zentralen Unfähigkeit, Triebbefriedigung aufzuschieben, nur früh-kindliches Verhalten an den Tag." Gleichzeitig vertraute man auf die bewährte Ein-bindungspolitik wichtiger Strömungen, die sich in Bürgerinitiativen niederschlugen. Strasser sah schon einen bemerkenswerten Erfolg darin, dass fast alle Bürger-initiativen in die SPD-Baracke kamen "und mit uns Sozialdemokraten diskutierten". Mit derlei Dynamik aus Lust, Wolllust wie Fantasie sollte die verknöcherte Parteistruktur endlich wieder zum Tanzen gebracht werden. Strasser-Jahre. - Jahre vergehen, nichts will geschehen.
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Nachtrag - Nach vielen flüchtig erlebten Augenblicken trafen sie sich endlich Heidemarie Wieczorek-Zeul und Johano Strasser wieder; dieses Mal allerdings in der Buchhandlung Habel zu Wiesbaden. Ein angegrautet Johano Strasser las aus seiner Lebensbiografie "Als wir noch Götter waren im Mai"; ein wenig pathetisch, ein wenig überhöht, gefühlsverklärt . Eben wie Rückblicke so sind, Retrospektiven auf Bonns wilden Jahre, Jusos, Karriere, Bedeutung, TV-Sendungen mit Sendungsbewusstsein, Parkett und Puder, Tickets und Toasts. - Er las viel Vorgekostetes, Vorzensiertes vor über sein "politisch ambivalentes Leben", auf Reisen, Jet-Set, Wendepunkte, Neuorientierungen. Die Kumpanin von ehedem, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, sprach einleitend zu ihrem "Freund Johano", wie von einem Menschen von einem anderen Planeten, von einem Polit-Drummer-Boy oder Lebens-Zocker, aus der adaptierten "Oberschicht", mit dem sie seit ihrem "gemeinsamen Anfang" eine vierzigjährige Freundschaft verbindet. Eigentlich hat Heidemarie Wieczorek-Zeul wenig verändert, Haare immer noch rot gefärbt, rot ist ihre Gesinnung geblieben, keine Skandale, keine Politik-Deformationen, kein Wichtigkeits-Getue, spitzbübisch ihr Lächeln wie eh und je, offenherzig, mitunter leidgeprüft. Hab-Acht-Stellung. Ausnahmefrau. Sei seien zusammen in die Buchhandlung gekommen, um beim Zuhörer "Leselust" zu entfachen. - Über die andere, sonst übliche Lust vom Jusos-Bonn von einst und sonstwo, die durfte erst in den Raum, als der Vorhang längst gefallen war.
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