Sonntag, 9. März 1997

Jedes dritte Krankenhausbett für einen Trunksüchtigen





































Jährlich füllen 60 Millionen Flaschen mit scharf-kräftig
en Anis-Schnaps die Regale in Frankreichs Supermärkten und Bars. Ob die Marken nun Ricard, 51, Pastis oder Casanis heißen, ist einerlei. Der tägliche Schluck zählt zum hoch-prozentigen Vergnügen - ein Leben von Rausch zu Rausch. Auch wenn offiziell abgeschafft, so versorgt sich die Landbevölker- ung seit Napoléon Gedenken mit steuerfrei 20 Liter Schnaps im Jahr aus mobilen Spiritus-Brennern. In französischen Provinzen rinnt Schnaps literweise durch die Kehlen. Jährlich stirbt eine größere Kleinstadt von 70.000 Menschen - Ursache: Alkoholmissbrauch


HESSISCHE / NIEDERSÄCHSICHE
ALLGEMEINE , Kassel
vom 9. März 1997
von Reimar Oltmanns

Es gibt triste Wintermonate in Frankreichs weitläufigen Landregionen, da können lediglich Schnapsbrenner Wochen um Wochen entlegenste Dorfplätze blockieren; als destilliertes Hoffnungströpfchen der Marke Eigen-gesöff sozusagen. Da wagt sich nämlich kein Boller-wagen oder gar ein Auto aus fernen Städten in den bäuerlichen Kreisverkehr alkoholischer Selbstversor-gung. Wehe dem - nichts geht da mehr. Winterzeit. Schnapsbrennzeit. Alkoholismus in Frankreich.

SPITZENREITER IN EUROPA

Exakt 20 Liter hochprozentige Schnaps stehen seit Napoléon über zwei Jahrhunderte jedem Bauern der Republik zu; steuerfrei versteht sich - noch. Seinerzeit sollte auch der Pöbel einen "kräftigen Schluck" abbe-kommen. Blieben ansonsten jene unliebsamen Alko-holexzesse der Republik in früheren Epochen doch stets dem Adel, dem Klerus und weitverbreitet einer vergnü-gungssüchtigen Bourgeoisie vorbehalten.

LEBENS-GEWOHNHEIT

Nunmehr sind es aktuelle Momente dieser Jahre, die den Alkoholspiegel von sieben Millionen Franzosen und Französinnen (exakt 18 Prozent der erwachsenen Be-völkerung) im Blut nicht absinken lassen. Gemeinsam mit Deutschland, in dem jährlich pro Kopf zwölf Liter reiner Alkohol geschluckt werden, haben die Franzosen (16 Liter pro Kopf und Jahr) ihre unangefochtene Spitzenposition im Jahr 1996 unter den Trinker-nationen Europas festigen können. Letztlich sind es wohl auch denkwürdige Augenblicke ermatteter franzö-sischer Lebensgewohnheiten, sich des Morgens erneut zu betrinken, um wenigstens vielleicht mit einem frischen Rotweinpegel der Geschichte der Ernüchterung zu entkommen. Und das in Frankreich, in dem der Wein zur aufbauenden Grundnahrung zählt, einem Land, in dem wie selbstverständlich ein Glas Rouge nach der Blutspende im Krankenhaus verabreicht wird.

"WER SÄUFT DENN HIER ?"

Zu selbstverständlich, noch dazu von Napoléon Bonaparte geschichtlich legitimiert, hat sich jedenfalls die Spiritus-Destille etwa im 120 Einwohner zählenden Örtchen Seillonnaz im französischen Alpenvorland an den Ausschank gemacht. Dörfliche Hochstimmung vielerorts, dicke Brummschädel später in den Höfen versteckt. Und irgendwie schon qua Amtes steht die Bürgermeisterin mit angewinkelten Armen wieder einmal vor einem üppigen Arsenal randvoll gefüllter Schnapsflaschen, der Reserve-Batterie kommender Monate. "Wer säuft hier denn schon wieder?, fragt 58jährige Madame Josette Payet gleich mehrere Male forsch-grinsend am mobilen Branntweinbrenner. Dieser Koloss mit seiner kräftigen Spiritus-Destille hat schon seit Tagen auf dem Schulhofvorplatz ihres Dorfes Seillonnaz Abfüllposition bezogen. - Und weiter geht's: Flasche um Flasche, Zuckerrübe um Zuckerrübe, aus der irgendwann und irgendwo fernab besorgter Blicke hochprozentiger, arg billiger Schnaps zu tropfen hat.

"POUSSE-CAFÉ"

Kenner des Alkoholumfeldes verschlüsseln aus gutem Grund ihren täglichen Umgang mit jenem hoch-prozentigen Fusel der Marke ländlicher Eigenbrennerei. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist in Frankreich längst eine Subkultur des Alkoholismus entstanden. So heißt der Landschnaps kurzum "la guole" oder auch "eau de vie" (Lebenswasser). Der Nachbar schimpft sich "pot" (Becher), und ein feuchtes Gelage wird mit "pousse-café" (dem Kaffee-Drücker) um-schrieben. Wer zu tief in die Flasche geguckt hat oder gar nicht mehr laufen kann, der gilt als "cuit" - abge-kocht.

ENDSTATION KRANKENHAUS

Die Männer dort droben an der Destille kennen derlei wiederkehrende anteilnehmende Aufsichts-Rhetrorik der Bürgermeisterin bis hin zum Überdruss. Folglich fällt ihre Antwort Jahr für Jahr lakonischer aus. "Im Prinzip saufen wir hier doch alle. Das wissen Sie doch zu genüge, Madame. Jahrein, jahraus machen wir den-selben Suff, wie schon zu allen Zeiten." - Alkohol-Geplänkel an der Destille im französischen Alpenvor-land. Im zuständigen Kreiskrankenhaus zu Belley ist bereits, wie überhaupt in der gesamten französischen Republik, jedes dritte Bett mit Quartalssäufern oder Wohlstandstrinkern belegt. Ursache: Leberzirrhosen, Delirien, Nephritis - vom Alkohol zerfressen. Endstation.

JÄHRLICH EINE KLEINSTADT

Irgendwie ist der Kumpane Alkohol , die Schnaps-Produktion schlechthin, ob im Alpenvorland, in nord- östlichen Départements, in der Bretagne aber auch in der Normandie, den labilsten Saufregionen der Repu- blik , quasi zur geheimen Kommandosache - zu einem Albtraum - verkommen. Jährlich stirbt in Frankreich eine größere Kleinstadt von 70.000 Menschen (in Deutschland sind es 40.000) an überhöhten wie regelmäßigen Schnapskonsum. Jährlich kosten Frank- reichs Trinker und Trinkerinnen die Kranken- kassen 1,33 Milliarden Euro. Ohne Schnapssucht jedenfalls gäbe es kein Defizit in der Sozialversicherung. Gleich- wohl verdient der Staat immerhin 5,3 Millionen Euro am Alkoholverbrauch mit einem Umsatz von 6,90 Milliarden Euro pro Jahr.

MACHTFAKTOR - WEINBRANDLOBBY

Tatsächlich müssten Frankreichs Lobby der Wein- bauern, Wirte, Schnapsbrenner und Likörfabrikanten vor jenen Schreckenszahlen und Schreckensereignissen in Sachen Alkoholproduktion und -schluckerei kleinlaut in sich gehen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie ist ein ein-flussreicher Machtfaktor, zählen doch ein Viertel aller Abgeordneten der Pariser Nationalversammlung zur Weinbrandlobby. Folglich erlebt Frankreich Alkohol-Offensiven um Alkohol-Offensiven als weltweit größter Spiritus-Produzent. Verkaufsregale in Supermärkten gilt es langfristig zu einer Art Schnaps-Revier-Bastion für Land und Leute auszubauen, quillen sie doch jetzt schon großflächig über, so und nicht anders lautet ihre Marketingstrategie. Bereits heute hängt jeder zehnte Arbeitsplatz in Frankreich vom Wein oder von Anis-Schnäpsen ab. Kokett warnen deshalb Likör-Fabri- kanten vor einer "trockene Nation", die den Broterwerb in der Alkoholindustrie durch zusehends höhere Steuern und zudem durch örtliche Trinkverbote - etwa in den Stadtzentren - zunichte macht.

RICARD-MYTHOS ZU MARSEILLE

In Marseille darf demzufolge der Schnaps-Fabrikant Georges Nectoux mit seinem "lebendigen Ricard Mythos" beherzt für das Trinkverhalten von morgen frohlocken. Mit seinen 1.400 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 420.000 Euro (Arbeitslosenquote in Frankreich 12.7 Prozent) genießt er am Mittelmeer ohnehin Narrenfreiheit - als Wohltäter sozusagen. Geschickt verknüpft die Werbedramaturgie seines Unternehmens gesellschaftliche "Verdruss-Menta- litäten" um Sehnsuchts-Augenblicke des alkoholisierten Aufsteiger-Rausches. Ganz nach der Vorahnung: "Après deux verres, tout s'accélère!" (Nach zwei Gläsern geht alles schneller).

Nunmehr - nach derlei durchschlagender Resonanz - soll für Anis-Schnäpse gar in fünfzehn Universitäts-städten das " Trinkverhalten der Jugend erforscht, neue Zielgruppen" an Ricard, Pastis, Pernod ausge- richtet werden. Allein Mitte der neunziger Jahre ver- kaufte die Schnaps-Firma in Frankreich 60 Millionen Flaschen; weitere zehn Millionen gingen ins Ausland - eben trotz Steuererhöhungen ein Umsatzplus von ganzen zehn Prozent.

PREMIX-EINSTIEG

Wie langfristig Frankreichs Jugend an den Alkohol- konsum zu binden ist, das macht die Marketing-Strategie der Premix-Einstiegs-Getränke (Gemisch aus Cola, Gin, Whisky, Rum oder Soda) deutlich. Auf der Jugend-Dose für nur zwei Euro ist jedenfalls dasselbe Markenzeichen wie für hochkarätige Whisky-Flaschen zu finden. "Zielgruppen enthemmender Wiederer-kennungswert" heißt das bei den Verkaufsstrategen lapidar. Zumindest wollen sich jene Premix-Dosen-Hersteller bei den Jugendlichen nicht beklagen. Fanden im Jahr 1996 doch ganze 2,2 Millionen Dosen ihre Abnehmer - das entspricht einer Steigerungsrate von 129 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Eben Schüler, Lehrlinge, arbeitslose junge Frauen waren die Erst- trinker. Premix - der Klassiker als Einstiegsgesöff, der fröhliche Wegbereiter und preiswerte Begleiter von der Cola-Dose von nebenan hin zum knallharten Whisky. Ein Übergang auf dem langen Weg in die Wirren des Alkoholismus. Ganz sicher.

TABU-THEMA: SUFF IMMER WIEDER SUFF

Dessen ungeachtet wird in der Öffentlichkeit im Nach- barland Frankreich über den alltäglichen Zwang zum Suff, seinen seelischen Flurschäden und arg hohen medizinischen Folgekosten eher nur beiläufig ge- sprochen. Denn in der Republik des Weins und Anis- schnapses wird, wie in allen romanischen Ländern mit katholischer Dominanz, heimlich gebechert. Der Stationsarzt im Pariser Krankenhaus Amroise-Paré, Claude Got, verdeutlicht den Mentalitätsunterschied in Sachen Alkoholgenuss, etwa zwischen Deutschland und Frankreich: " Der alkoholische Sturzflug wie in deut- schen Kneipen, der ist in Frankreich verpönt. Bier- leichen sind eine germanische Suff-Variante, auch den lallenden Zecher gibt es bei uns so gut wie gar nicht. Alkohol ist ohnehin mit einem gesellschaftlichen Tabu-Bann belegt. Wir reden eher über den Krebs, wir reden über alle Krankheiten. Nur der Alkoholismus ist irgendwie tabu. Das macht den Kampf gegen das Saufen so ungemein schwer."

Tatsächlich verdichtet sich der jahrzehntelange Kampf gegen den Alkoholismus Frankreichs zu einer bedrük-kenden Chronologie der Niederlagen. Schließlich ist und bleibt es ein Land, in dem der Alkohol eine besondere Gemeinde hat. "Ein Leben wie Gott in Frankreich", das besagt schon hinlänglich ein festgezurrtes Klischee. Ein ordentliches Essen fängt nun mal mit einem Aperitif an, eine oder mehrere Flaschen Rot- wie Weißwein ist für den Genuss der Mahlzeiten zwingend. Und den würdi- gen Schlusspunkt setzt allemal das Digestif, die hundertprozentige Verdauungshilfe.

ALKOHOL-LOBBY

Daran konnte auch das sogenannte Evin-Gesetz mit seinen fortgeschriebenen Folgever- ordnungen gegen Tabak- und Alkoholsucht aus dem Jahre 1991 wenig ausrichten. In Wirklichkeit hatte keine französische Regierung je den Mut, einen Frontalangriff gegen die Alkohol-Lobby zu riskieren. Lediglich in den fünfziger Jahren wagte es der unverdrossene Premierminister Pierre Mendes France (*1907+1982) , sich demonstrativ mit einem Glas Milch als Mahnung fotografieren zu lassen. Nur ein Jahr blieb er im Amt. Seither verzeichnet das Protokoll Fehlanzeige, wenn es um den Sprengsatz des Landes, wenn es um die Volkskrankheit Alkohol geht. Lediglich die frühere Justizstaatssekretärin und spätere Frauenministerin (1978-1981), Monique Pelletier, geißelte öffentlich das Nichtstun verantwort- licher Politiker. Sie rechtfertigt sich: "Es war ungemein schwer etwas Wirksames auf die Beine zu stellen. Dreizehn Ministerien hatten etwas zu sagen. Jeder redete groß, fühlte sich kompetent und tat arg betroffen - in der Rhetorik zumindest. In Wirklichkeit passierte nichts. Zerstückelt sieht diese Politik zu, wie die Todesrate nach oben schnellt. Sie trägt die Verant- wortung für den Zusammenbruch, Abbruch vieler mit dem sozialen, familiären, beruflichen Bezug - mit ihrer Existenz. Das hat Tausenden von Menschen hier in Frankreich das Leben gekostet- Grausam, dieser Suff."

DÉPARTEMENT CALVADOS

"Verquere Zeiten", schimpft der Sozialarbeiter Yves-Marie Coulombier aus dem Département Calvados. Der einzige Bezirk Frankreichs, der bezeichnenderweise nach einem Schnaps benannt wurde. In diesem Département hat er bereits 25 Anti-Alkoholiker-Gruppen ge- gründet. Nur leidet Coulombier mit seinen neuen Abstinenzlern in Frankreich unter einer unvermuteten Art des Ausgeschlossenseins. "Nur solange eine Person trinkt, lässt man sie in Frieden, weil Wein, Champagner oder Whisky in allen Gesellschaftsschichten zum guten, netten Ton des Konfirmitätszwanges gehören. Sobald sie aber aufhört, muss sie die Rechnung dafür bezahlen. - Isolation von alten Bekannten, Freunden. Denn diese Zeche ist quasi ein lebendiger Vorwurf gegen den Wahnwitz dieser Jahre - Alkohol - heißt er. Wir müssen stark sein."












































Samstag, 11. Januar 1997

Paradies unendlicher Berglandschaften - Sprungbrett in die Klinik



















Wandel in Skigebieten. Nach Zeiten des Wachs- tums setzen viele Gemeinden auf die Familien. Kinder sind in Frankreichs Bergen besonders gut aufgehoben. Dennoch werden jährlich 90.000 deutsche Skifahrer Opfer eklatanter Pistenunfälle. Für viele Bretternarren ist das Ski-Risiko nur ein Teil ihres Lebensspiels. Lustangst vor dem Rutsch auf langen Ab- fahrten, Riesenabfahrten, Traumab-fahrten.

die tageszeitung, Berlin
vom 06. Januar 1996
und 11. Januar 1997

von Reimar Oltmanns

Erst tauchten sie nahezu unbemerkt vereinzelt auf - die Igludörfer, Schneerutsch- bahnen mit ihren Schlitten-hunden und zuweilen auch Kid-Discos als schmük-kendes Erlebnisszenario in Kinderträumen: dort droben in den abgelegenen, verschneiten französischen Ski-gebieten Savoyen, Hoch-Savoyen, Isère oder auch Drôme. Das war immerhin noch zu jener Zeit, als die alpinen Winterregionen mit über 800 Schnee-kanonen und ihren 420 Liften wie Seilbahnen samt 1.100 Pisten-kilometern mit Wucht und Wolllust am Wildwest-Image eines computergesteuerten Sportzirkus bastelte. - Lang ist's her.

Mittlerweile deuten die unzähligen gefütterten Anoraks, Kunststoffhosen mit Fersensteg und Pudelmützen an, dass in den französischen Alpen und Pyrenäen ein scheinbar neues Zeitalter begonnen hat - die Kinder, die "poussins" (Küken) sind da nicht etwas vereinzelt, sondern in überaus großer Schar.

SCHNEEFLOCKEN-EPOCHE

Vorbei sind die Jahrzehnte des hemmungslosen Wachstums - Zeiten, in denen bedenkenlos Skistationen aus der Retorte gestampft, Berge wegplaniert, Kinder als lästiges Mitbringsel allenfalls geduldet wurden. Trendwandel heißt nunmehr das allseits erlebte Passe-partout des familiären Müßiggangs. Denn Tempo und Rhythmus der Skiorte werden zusehends von einer kunterbunten Kindergeneration bestimmt, Dabei hat sich Frankreich gerade erst die "Schneeflockenepoche der Knirpse", die Ära der "flocons" begonnen. Schon warnt Michel Vion, technischer Direktor für den alpinen Skilauf beim französischen Nationalverband, vor einer dick aufgetragenen Kindermode als unverbrauchtes Antlitz einer neuerlichen Ski-Epoche des Familien-sinns: "Es ist doch absurd, ein achtjähriges Kind mit einem verkleinerten Outfit für Erwachsene als neuesten Trendsetgeschrei über die Pisten zu jagen. Rutschen wollen die im Schnee, nichts weiter."

Nach einer Untersuchung des ADAC sind Kinder im Winterurlaub jedenfalls "am besten in den Skigebieten Frankreichs aufgehoben". Während die Schweizer Konkurrenz sich neuerdings stetig bemüht, ihr Winter-image zu verjüngen, bieten die Franzosen bereits "die besten kindergerechten Übungshänge und spezielle Bébé-Clubs. - Und das praktisch kostenlos, wenn die Kids Lifte oder auch die Pisten in Begleitung ihrer Lehrer benutzen. Zudem bleiben Kinder nicht über Stunden sich selbst überlassen. Für ihre pädagogische Betreuung in Tagesstätten ist rund um die Uhr gesorgt.

QUICKLEBENDIGE KINDER-DÖRFER

Les Ménuires heißt etwa der Skiort in "La Vanoise" (im Dreitäler Eck). Hier gibt es zwei quicklebendige Kinder- dörfer, die von den Kleinen von drei Monaten bis zu sechs Jahren besucht werden können, während die Eltern die Abhänge herunterzischen. Zwei Dorfvereine mit ihrem Gütesiegel "2 Kids" bieten gar schon den Drei- bis Sechsjährigen eine spielerische Einführung in den alpinen Skilauf an.

Gesucht wird vornehmlich auch von den mittlerweile jährlich weit über dreihunderttausend deutschen Skiurlaubern in Frankreich das idyllische Dorf inmitten einer noch intakten Skilandschaft. Besonders im auto- freien Skiort Les Arcs gibt es an den Dreier- und Vierer-Sesselliften kein schneidiges Jet-Set-Getue, keine über-mäßigen Wartezeiten. Der fantastische Schnee ver- hindert zuverlässig vereiste oder abgeschrappte Pisten.

Gerade mit Kindern ist die meist weit angereiste Ur- lauberfamilie am besten im "Basiscamp" Les Arcs, 1.600 Meter über dem Meeresspiegel, aufgehoben. Hier weiche die eher raubeinige Gediegenheit der ewig fortdauernden "Fieberglasbretter-Diskussion" einer freund-lichen, familienbedachte Aufmerksamkeit. Irgendwie ist Les Arcs schon ein Platz zum Luftholen, Durchatmen, Fallenlassen; kein Stressgetue, kein Wichtigkeitsgebelle, leiser Familiensinn ist freundlich gefragt.

SCHNEEVERRÜCKTE NATION

Tatsächlich ist Frankreich schon eine durch und durch "schneeverrückte Nation". Jedes Jahr im Februar organisierten die Schulen der Republik "classes de neige".

Dann ziehen Grundschüler mit ihren Lehrern eine Woche lang in die Berge. Vormittags stehen die Kinder allesamt auf Skiern, nachmittags gibt es normale Schul-stunden. Und nahezu ist es zu Beginn des Skiferien-Unterrichts ein und dasselbe Rateritual dort droben in Frankreichs Bergen um Les Arcs. Da fragt der Lehrer Jean-Luc etwa seine Schüler: "In welchem Jahr holte Jean-Claude Killy eine Goldmedaille, und wann hattet ihr die ersten Knochenbrüche auf den Hängen?" - "Nein, niemals Monsieur".

SPRUNGBRETT INS KRANKENHAUS

Und dennoch ist Kapitän Laurent Thimothèe mit seinem Alouettes-III-Rettungs-hubschrauber im Dauereinsatz. Gerade überfliegt der erfahrene Pilot scharf geschnit-tene Schutthänge, die so aussehen wie Kohlehalden. Hier, in der Westwand der 4.208 Meter hohen Grandes Jorasses im Mont Blanc-Massiv, hat erst vor kurzem eine Eislawine acht Bergsteiger in den Tod mitge-rissen. "Das Risiko", bedeutet der 38jährige Rettungs-flieger von der französischen Gebirgsgendarmerie, "ist schließlich gerade hier in den Alpen ein bizarres Lebens-spiel, das da auf Skiern auch als Snowboard daher-kommt." Und Lawinen rasen überall dort zu Tale, wo Schnee in kahlen Steilhängen liegt - in den Pyrenäen, den Rocky Mountains, den Anden, im Kaukasus - und in den Alpen.

Gerade dort gibt es so viele Lawinen und so viel Ge-wöhnung daran, dass abgeklärte Talbewohner in der Niederfahrt der weißen Massen trotz aller Sorge zudem ein grandioses Naturschauspiel sehen. Durch Ro-dungen der Almen zu breiten Schneeboulevards liegt die Baumgrenze etwa dreihundert bis fünfhundert Meter niedriger als in früheren Jahren.

TRAUMABFAHRTEN

Dafür gibt es hier in den französischen Alpen immerhin sehr lange Abfahrten, Riesenabfahrten, Traumab-fahrten, die den üblichen Rahmen sprengen, die steil und einsam ihre Schleifen über scheinbar unberührte Tiefschneehänge ziehen. In sieben Tagen bekanntlich 600 Kilometer Abfahrten zu bewältigen, so heißt das vorzeigbare Ziel. Täglich an die sechs Stunden über Buckelpisten, Firnschneeflächen und platt-gewalzte Schneeautobahnen zu zischen: zweitausend Meter talwärts und im computergesteuerten Sportzirkus wieder hochliften.


LUSTANGST VOR DEM RUTSCH

Eben die Lustangst vor dem Rutsch, das Abbrechen des Schneebretts, dann die Vibration, der Boden gleitet unter den Füßen weg. Danach Aufruhr, Durcheinander-gewirbelt-Werden, schließlich Ruhe. Blutgefäße platzen unter der Haut. Er hört, gut geleitet durch gepressten Schnee, wie sich das Blut ins Gewebe in die Muskeln ergießt. Ab und zu mischt es sich mit einem Knarzen, wenn die Schneemassen im Lawinenkegel ein wenig nachrutschen. Der zunehmende Druck verschont keinen Körperteil. Nasen und Ohren sind verstopft. Die Augen-lider - unmöglich, sie zu öffnen. Der Mund ist halb mit Schnee gefüllt.

Es ist die Angst vor der Leere und Sinnlosigkeit schlecht-hin, die Angst vor dem Tod, Das ist der unausge-sprochene, aber allgegenwärtige Antrieb für den Kult des durchtrainierten, gebräunten Alpenkörpers, der uns beim Skifahren als Idealbild präsentiert wird.

Für derlei Szenarien stehen die Menschen oft auf dem Wege ins Hochgebirge tagelang im Stau, verbrauchen in der Kälte Unmengen Energie und Ausrüstungsmaterial , das ihnen eine beflissene Industrie bereitstellt: immer neue Bindungen, Fieberglasbretter, fesche Anzüge, Daunenwesten, gekrümmte Stöcke, Helme, Skibrillen ind Bommelmützen für kitzelige Lawinenmomente, Prickelgefühle.

OBEN AM BERG ... ...

Oben am Berg wurden für jene Touristenscharen die Hänge abgeholzt - und erodieren für immer. Das bisschen übrig gebliebene Tierwelt ist längst ver-scheucht. Die schönste, gediegene Landschaft gerät so zum Zirkus. Gewiss - aus der Distanz schaut sie schon majestätisch aus, die beschauliche Welt der Alpen. Da reiht sich Gipfel an Gipfel zum berauschenden Pano-rama. Im Jahre 1938 wurden im gesamten Alpenraum erst rund 50 Millionen touristische Übernachtungen gezählt, inzwischen sind es schon weit über 500 Millionen.

"Die Alpen -ein System unter Druck", betitelte die Genfer Weltnaturschutzunion (IUCN) ihre Studie. Das bedeutet: etwa 12.000 Seilbahnen und Lifte sowie 41.000 Abfahrtpisten mit einer Gesamtlänge von über 120.000 Kilometern zerhacken Landschaften, ruinieren die Umwelt. Und in den Tälern wird es ohnedies stets enger. Dort leben schon heute rund 11,2 Millionen Menschen eng zusammen.

SCHWERSTE VERLETZUNGEN

"In der vergangenen Saison",resümiert Alouettes-Kapitän Laurent Thimothée, "haben wir mit unseren Flügen über 1.150 Bergurlauber in die Heimat gejettet. Dabei hatten sie eins gemeinsam: schwerste Skiver-letzungen. Manchmal war auch ein Sarg mit dabei." Und die Zahl der Skifahrer, für die der Urlaubstag nicht an der Hotelbar, sondern im Krankenhaus endet - diese Anzahl steigt ständig. Vor allem Selbstüberschätzung, Imponiergehabe, Konditionsmangel und der Geschwin-digkeitsrausch abfahrtverrückter Skifahrer führen zu Unfällen. Die Alpen-Bilanz: viermal mehr Wirbelbrüche als noch vor fünf Jahren, dreimal mehr Hüft- und Beckenbrüche, 50 Prozent mehr Kapselverletzungen, 30 Prozent mehr anprallbedingte Kopfverletzungen, oft mit schweren Schädel-Hirn-Traumen. "Die Risikobereit-schaft", erläutert Kapitän Thimothée, "steigt enorm an. In über 80 Prozent der Unfälle sind die Skifahrer ohne Fremdverschulden gestürzt."

HOHE RECHNUNGEN

Eben noch strahlende Sonne und Spaß auf der Piste, dann verkantet, überdreht, Sturz, Spital - und wenn der Schmerz schon längst vergessen ist, die saftige Kranken-haus- und Transportrechnung. Den Statistiken zufolge müssen sich jeden Winter knapp zwei Prozent aller Wintersportler nach einem Skiunfall in ärztliche Be-handlung begeben. Über 90.000 deutsche Skifahrer werden jährlich Opfer eklatanter Pistenunfälle. An die 10.000 landen zur stationären Versorgung im Kranken-haus, über tausend Ski-Unfallopfer tragen bleibende gesundheitliche Schäden davon.

Für einen Oberschenkelhalsbruch in den französischen Bergen macht der Deutsche Skiverband folgende Rech-nung auf: Die Kosten der Bergung, etwa dreiwöchigem Krankenhausaufenthalt und Rücktransport, belaufen sich auf 24.500 Euro. Für knapp drei Viertel dieser Summe muss das Unfallopfer selbst aufkommen, da die gesetzliche Krankenkasse nur cirka 6.700 Euro erstattet.

KRITIKER DER BERGSPORT-INDUSTRIE

"Jeden Winter beweisen es die Alpen dem Menschen aufs neue, dass er nicht dazu konstruiert ist, auf zwei Brettern einen Berg hinunterzufahren", konstatiert Marielle Goitschel, einst frenetisch gefeierte Olympia-siegerin und Weltmeisterin aus dem Jahre 1968. Die heutige Skilehrerin und Direktorin der Schneeakademie von Val Thorens zähl zu den schärften Kritikerinnen der Bergsport-Industrie. "Wir alle rennen in der Winter-saison nur dem Geld hinterher", sagt sie. "Wir schielen auf die Kunden, ohne uns die Zeit zu nehmen, ihnen die Sicherheit zu erklären." Als Marielle Goitschel mir dieses Interview gab, konnte sie nicht ahnen, dass soeben in diesem Moment draußen en siebenjähriges Mädchen auf der Anfängerpiste von einem Schnee-Surfer tödlich niedergerissen wurde.