Freitag, 25. Oktober 1996

Gefangenschaft: Gewalt von Vätern, Freiern, Wärtern ...




























































Das französische Gefängnis Fleury-Mérogis ist Europas größte Haftanstalt für Frauen. Ein restlos überfüllter Frauen-Knast mit Haft- revolten, Geiselnahmen, Ausbrüchen; ein SingSing aus Selbstverletzungen, Selbst-morden, Selbstverstümmelungen. Für Rausch- giftsüchtige und HIV-infizierte bedeutet Fleury-Mérogis Endstation - die letzte Bleibe vor ihrem Tod. Meist im Morgengrauen fährt der Bestattungsbus zu den Sammelgräbern des Städtchen Thiais. Friedhofsruhe im Voll- zug. Kein Politiker mahnt im Land der Men-schenrechte Reformen an. Mit "Landgraf-Werde-hart-Parolen" wird Frankreich unter Nicolas Sakorzy regiert. - Bleierne Zeiten.


TRIERISCHER VOLKSFREUND
vom 25. Oktober 1996
von Reimar Oltmanns


Es gab Zeiten, da fuhr der Bestattungsbus schon früh im Morgengrauen zum Sammelgrab der Frauen - genauer gesagt: Zum Friedhof des Städtchen Thiais, das südlich von Paris liegt. Dort hatte die Gefängnisleitung in Fleury-Mérogis, der größten französischen Frauenhaftanstalt in Europa, gleich auf Verdacht mehrere Sammelgrabab-schnitte der Nummer 104 bis 146 in den Reihen 22, 23, und 24 für seine Insassinnen reservieren lassen. Vor-sichtshalber, weil von Fleury-Mérogis ein merkwür-diger Sog auf in ganz Frankreich inhaftierte Frauen ausging - auch Selbstmordwelle genannt.
HÄRTER ALS DIE MÄNNERHAFT
Immerhin schnellten in Frankreich die Suizidfälle von 1979 bis 1995 in insgesamt 183 Strafanstalten mit 58.000 Häftlingen (etwa 4.500 Frauen) von jährlich 37 auf 107 Gefängnisselbstmorde in die Höhe. Und in Fleury-Mérogis reichte der Freitod von vier Frauen binnen weniger Tage aus, um eine Selbstmordketten-Reaktion in Haftanstalten von Rennes bis Marseille auszulösen.

"Die Haft der Frauen ist durch und durch härter als die der Männer", urteilt Anstaltsdirektor Bernard Cuguen vom Centre National d'Orientation in Fresnes, der na- tionalen Gefangenenverteilerstation. "Keiner will es wahrhaben", fährt Cuguen fort, "aber wir wissen es mittlerweile sehr genau. Frauen in Gefängnissen sind einsamer, von der Außenwelt isolierter, auch in ihrer Haft verlassener als Männer." Allein daraus ergebe sich schon eine ohnmächtige Angriffslust. SELBSTVERSTÜMMELUNGEN

Doch im Gegensatz zu den Männern sei die Aggressivität der Frauen nicht gegen andere, sondern gegen sich selbst gerichtet; Selbstverletzungen, Selbstverstüm-melungen, Selbstmord. Die Psychologin Marie-Cécile Bourdy aus Fleury-Mérogis ergänzt: "Früher starb eine Anzahl von Frauen draußen, kurze Zeit nach Haftent-lassung. Häufig an einer Überdosis Heroin, was eigent-lich nur ein verfehlter Selbstmord war. Heute hingegen suchen sie schon lieber im Knast den Tod, weil die Haftbedingungen noch härter geworden sind, und die Zuflucht sich als Sackgasse erweist. Sie erleben Mo- mente tiefer Traurigkeit und Selbstzweifel. Dabei sind es im wesentlichen sehr junge Frauen. Einst hatten wir den Frauen-Selbstmord so gut wie nicht gekannt. Heute machen es die Frauen wie die Männer - sie erhängen sich in ihren Zellen. Und das meist nachts, ohne ein Wort zu hinterlassen. Ab zum Sammelgrab."
LETZTE BLEIBE VOR DEM TOD
Wenn es wieder einen Selbstmordversuch in Fleury-Mérogis gegeben hat, werden präventiv im Knast etwaige Suizidkandidatinnen aus ihren Zellen geholt und im Nachbartrakt nackt zwischen zwei Matratzen eingebunden - und das über Stunden. Erst dann darf der bereits vollzogene Selbstmord übers Radio öffentlich gemacht werden. So gesehen befinden sich die Gefäng-nisfrauen in einem permanenten Aufbruch, Umbruch, Umschluss - tagein, tagaus. Folglich ist in Frankreichs Frauenhaft Fleury-Mérogis so gut wie nichts intim. Alles unterliegt der Umzug signalisierenden Guckloch-Öffent- lichkeit. Angst heißt der unabänderlicher Wegbereiter und -begleiter in jenen entsagungsreichen Zeiten des Freiheitsentzugs.

VIER FRAUEN AUF ACHT QUADRATMETER

Dabei gehörte Frankreichs Frauengefängnis Fleury-Mérogis mit seinen dreitausend inhaftierten Frauen auf 2.400 Plätzen lange Zeit noch zu den halbwegs vorzeig-baren Haftanstalten des Landes. Ob kleine, aber gut gepflegte Zellen, ob Bibliotheken, Gesprächsräume oder auch die Krankenstation - vornehmlich in den siebziger Jahren ließ sich das Frauen-Gefängnis Fleury-Mérogis vorführen als Paradebeispiel eines auf Resozialisierung bedachten Frauenstrafvollzug. - Lang ist's her; ein Torso ist von allem geblieben. Heute heißt es: Kein Geld für einen gesellschaftsnahen Strafvollzug, kein Geld für eine leistungsgerechte Arbeitsentlohnung, auch keine finan- ziellen Mittel für Renten- und Krankenver-sicherung.

Dafür drei oder manchmal sogar vier Frauen, die in einer acht Quadratmeter großen Zelle zusammen hausen. Ein Frauen-Knast voller Drogen samt ihren Kurieren. Sind doch exakt 80 Prozent der Frauen rauschgiftsüchtig und gar 45 Prozent HIV-infiziert. Für viele Frauen ist der Gefängnisbau von Fleury-Mérogis Endstation - die letzte Bleibe vor dem Tod.
EINMAL FREIWILD - IMMER FREIWILD
"Uns reicht's", sagen sie da. "Wir essen nicht mehr, wir waschen uns nicht mehr, lasst uns in unseren Betten verrecken. Wir rühren uns nicht mehr von der Stelle, nehmen keinen Teller, keinen Becher mehr an." Ver-weigerung. Naheliegend , dass in diesem Vollzugs-milieu ein Kindheitsschock schon immer als neben-sächlich belächelt wurde, als unglaubwürdig, halt als nicht gerichtsverwertbar abgetan wird. Und das, obwohl sich etwa bei der Hälfte der Frauen in Fleury-Mérogis jenes traumatische Urerlebnis in ihren Ge- fühlsabläufen eingenistet hat - der sexuelle Miss- brauch vieler Töchter durch ihre Väter, die sexuelle Nötigung der weiblichen Häftlinge durch so manche Wärter. Junge Mädchen von Fleury-Mérogis, zwischen 13 und 20 Jahren alt, wissen von jenen Männer-Über- griffen in jenen Grauzonen - sie alle schweigen. Ge-wohnheitsrecht. Glaubwürdigkeit ist gefragt. Einmal kriminell, immer unglaubwürdig, heißt es. Erst verge- waltigen Väter ihre Töchter, Erzieher in Heimen folgen. So betrachtet bewahren dann einige französische Vollzugsbeamten in ihren meist eigens dafür flüchtig hergerichteten Zellenseparé lediglich eine unscheinbare Kontinuität männlicher Alltagszugriffen dieser Jahre. Einmal Freiwild, immer Freiwild.
ABSCHIEDSBRIEF AUS STUNDENHOTEL
Längst hat sich die französische Öffentlichkeit - von Berührungsängsten getragen augenzwinkernd darauf verständigt, einen explosiven Notstand notdürftig zu verwalten. Verantwortlich dafür sind insgesamt 18.000 schlecht bezahlte Vollzugsbeamte mit einem Durch-schnittsgehalt von monatlich mehr oder weniger von tausend Euro. Die Folge in diesen Jahren: Im ausge-grenzten Fleury-Mérogis haben zwei Wärter bis zu fünfhundert Frauen beim Rundgang zu beaufsichtigen. Mit 1,4 Prozent des Staatshaushalts, weniger als 3,5 Milliarden Euro ist die Justiz ohnehin am unteren Ende der Politikerinteressen angesiedelt.
SAMMELGRAB
Am Punkt 34,40 Meter im Sammelgrab des Friedhofs von Thiais wird an diesem Morgen die 24jährige Laurence verscharrt. Ein Mädchen, das wegen Diebstahl im Trakt D6 E, Zelle vier zum 25. Male eingesperrt worden war, diesmal drei Monate. Todesursache: Heroin. Gefunden wurde Laurence in einem der Stun-denhotels; ganz in der Nähe der Haftanstalt. Bei ihr lag noch ein verschmierter Zettel. Auf ihm stand: "Ich lächele und gehe fröhlich. Die Menschen sollen Laurence in guter Erinnerung behalten. Nicht wie eine Kranke, die hässlich, mager, unschön aussah, sondern wie eine Frau, der man Blumen wenigstens ans Grab mitbringt. Adieu."
ARBEITSLOSIGKEIT
Dabei hatte Laurence ihre Strafe schon verbüßt, sich - wieder in Freiheit - bei der Wiedereingliederungs-organisation ARAPEGE, beim Bewährungshelfer um Unterkunft und beim Arbeitsamt gar um einen Job als Verkäuferin bemüht. Doch wie immer widerfuhren ihr Absagen - Fehlanzeigen über Fehlanzeigen in diesen bedrückenden Jahren der Massenarbeitslosigkeit.

Vielleicht zählte Laurence in Fleury-Mérogis zu jenen Frauen, die im Knast letztendlich ihr Zuhause fanden. Meist, wenn Laurence wieder eingeliefert wurde, soll sie sich lauthals mit dem Hinweis getröstet haben: "Wenn man hier rauskommt - das ist das Schlimmste. Wir lernen hier nämlich nicht zu leben. Im Gegenteil. Wir lernen, uns suchtzerfressen an die Tabletten zu halten, auf die Post, auf das Essen, auf den Hofgang, auf die Kommandos zu warten. In der Freiheit bleibt mir nur der Straßenstrich. Für Bauch und Kiff reicht es alle- mal."
ISOLIERHAFT
Als Laurence aus der Haftanstalt entlassen wurde, brachte man ihre Zellennachbarin Joelle gleich für acht Tage in Isolierhaft. Sie hatte es gewagt, eine Wärterin als "unterversorgtes Arschloch" zu beschimpfen. Andere Häftlinge, wie beispielsweise Chantal, weigerten sich wiederholt, "ihr Aspirin"einzunehmen. Die Gefängnis-leitung hat das Recht, weibliche Häftlinge bis zu 45 Tage ohne rechtsstaatliche Kontrolle in eine spezielle Abteilung verfrachten zu lassen. Und Isolierhaft (le mitard) bedeutet in Fleury-Mérogis leere, durchnässte, abgedunkelte Zellen, ohne Decken, kein Besuch, keine Beschäftigung, kein Spaziergang, kein menschlicher Blickkontakt. - Essen wird unter der Tür durch-geschoben.
DURCHLAUF-ERHITZER
Joelle, 28 Jahre alt, ist wegen ihrer Taschenspielertricks hierher gekommen - immer wieder, immer länger. Mittlerweile riskiert sie gar schon einem kleinen Rück-blick. "Als ich hier ankam", erzählt Joelle, "bin ich fast durchgedreht. Ich habe nicht kapiert, was hier vor sich geht. Ich bin mit acht oder zehn jungen Mädchen zusammen gekommen, die sich alle kannten. Ich, so blöd wie ich war, hatte gedacht, dass sie wegen der gleichen Sache hier sind. Aber sie kannten sich allesamt aus Fleury-Mérogis. Ich habe erst hier verstanden, was das bedeutet, im Knast zu leben. Sie waren hochgradig rückfällig. Seit einem Jahr sehe ich sie weggehen und wiederkommen." - Fleury-Mérogis ein Durchlauf-erhitzer.
GRÖSSTER FRAUENKNAST
Fleury-Mérogis - das größte Frauengefängnis in Europa. Haftrevolten, Ausbrüche, Geiselnahmem überziehen ansonsten die französische Republik vielerorts: in Paris, Nancy, Dunkerque oder Nimes. Und immer wieder sind Polizeieinheiten oder gar Kompanien der französischen Armee in Aktion. Nur in Fleury-Mérogis herrscht Fried- hofsruhe. Kein Politiker verliert ein Wort über die Zu- stände im französischen Strafvollzug, mahnt gar Reformen an. Lediglich die Sprecherin der franzö-sischen Grünen, die Ärztin Dominique Voynet (Mini- sterin für Umwelt und Naturschutz 1997-2001), mag sich über die Innenausstattung französischer Gefäng- nisse erregen. Einzelkämpferin. "Entsetzliche Miss- stände", schimpft sie. "Die meisten Frauen in Fleury-Mérogis gehören nämlich nicht in den Knast, sondern ins Krankenhaus , in eine Langzeittherapie. Nein", fährt sie fort, "Frankreich ist dabei, seine Gefängnisse aus Kostengründen für Aids-Kranke als Warteschleifen auf dem Wege zum Tod umzufunktionieren."

Sonntag, 20. Oktober 1996

Folklore - Auf der Suche nach verlorenen Zeiten. Leere macht Angst.
























































Konservativ pocht der Zeitgeist zwis
chen Kalkül, Kitsch und Kommerz. Folklore-Gruppe prägen vielerorts Frankreichs Straßenbilder wie im mittelalterlichen Dorf Pèrouges. Großspektakel zur Taufe von Chlodwig in der Kathedrale zu Reims sollen die französische Identität mit der katholischen Kirche als "ältestete Tochter Roms" unzertrennbar dokumentieren.



Frankenpost, Hof
vom 20. Oktober 1996
von Reimar Oltmanns

Das kleine französische Dorf Pèrouges liegt irgendwo verschachtelt auf einem Hügel zwischen Lyon und Genf im Alpenvorland. Die gewundenen Gassen glänzen wie blankgewienert, die Butzenscheiben in den akkurat gestrichenen Patrizierhäusern spiegeln den Müßiggang auf dem unebenen Pflaster wider. Die Straßen haben mit ihren Vordächern und der Wasserrinne in der Mitte nostalgische Vorahnungen an eine längst verschüttete Zeit bewahrt. Nichts, so will es scheinen, kann Pérouges mit seinen 850 Einwohnern das mittelalterliche, malerische Antlitz - die Atmosphäre - nehmen.

Nur zur Weihnachtszeit verliert Pérouges sein inneres Gleichgewicht, weicht die Beschaulichkeit einer angestrengten Habachtstellung im festlichen Gewand. Und Pérouges ist überall in Frankreich - dort, wo zu Weihnachten über Stunden, zuweilen über Tage emsig geschmaust wird, das Festtagsessen der familiäre Höhepunkt schlechthin ist. So betrachtet gerät ein kleines, ansonsten wenig beachtetes mittelalterliches Dorf zum nationalen Mikrokosmos der Esskultur, des Wertewandels, der Rückbesinnung auf Herkunft und Tradition.

Vor dem alten mit Tannen geschmückten Backstein-Rathaus lauert schon frühmorgens Bürgermeister la Guy de la Chapelle. Soeben hat er gerade, wie an jeden Wochentag, seine Büroräume aufgeschlossen. Schließlich werden die Dorfkinder seit Jahrhunderten im Standesamt unterrichtet. Aber irgendwie nistet im Gesichtsausdruck des 54jährigen Bauern Unbehagen.

NESTWÄRME, HERKUNFT

Der Bürgermeister: "Es war für uns unvorstellbar, wieviel Nestwärme die Menschen suchen. Wir werden geradezu überrannt. Dabei sind wir jetzt schon über Jahre ausgebucht und müssen für Weihnachten Platz-karten vergeben." Filmreif schüttelt Guy de la Chapelle vor der Tür immer wieder sein schlohweißes Haupt. Er sieht nämlich sich und sein Pérouges zweckentfremdet. Muss er mit seinen Mannen eigens für Weihnachten das Mittelalter neu inszenieren, und steht zudem eine Essensinvasion bevor?

FROSCH-SCHENKEL, ENTEN-LEBER

Argwöhnisch beäugt der Bürgermeister, wie sich Tag für Tag Lieferantenwagen durch die engen Gassen quälen, um französische Edelprodukte wie Lachs, Austern, Gänse- und Entenleber, Pastete, Morchel-Pilze, Hum-mer, Artischocken, Froschschenkel, Rehkeule, Champagner samt erlesener Tischweine aus den fernen Metropolen anzuliefern - eben durchkomponierte, feinabgestimmte Gaumen-Delikatessen, der üppige Weihnachtsschmaus à la française schlechthin.

SCHWARZ-MARKT

Allein an den Festtagen werden landesweit an die 30.000 Tonnen Lachs verspeist. Aus gutem Grund observieren mittlere private Wachgesellschaften die aufgedehnten Austernbänke des berühmte Zuchtgebietes von Marennes-Oleron am französischen Atlantik. Gerade vor den Weihnachts- und Neujahrs-feiertagen steigt nämlich der nächtliche Diebstahl rasant an. Die Austern werden in "kleinen Mengen" von 200 bis 300 gestohlen und auf dem schwarzen "Weihnachtsmarkt" mit hohem Gewinn abgesetzt.

Noch wenige Tage vor dem Fest rattern Transit-Trans-porter mit Frischhalte-Containern durch Pèrouges. Sie liefern quasi in letzter Minute jene exquisiten Zutaten, die die Tageszeitung Le Monde erst kurz vor Festbeginn als gesellschaftlich "en vogue" erkor. Ergo hagelt es Nachbestellungen. Schließlich mag wohl keiner sich so recht mit dem Mahl gestriger Tage in der renommierten "Ostellerie du vieux´Pérouges" zeigen. Nur von den gut bekömmlichen,existenzgeplagten Bauern-Produkten aus heimischer Region wissen die Speisekarten freilich nichts zu berichten. - Fehlanzeige.

KELLNERINNEN MIT SPITZENHÄUBCHEN

Gewiss - Pérouges mit seiner gotischen Galerie hat sich längst zur diskreten Weihnachtsadresse des betuchten französischen Bürgertums aus dem Lyoner Dunstkreis empor empfohlen. Schon Wochen vor dem Fest dürfen Kellnerinnen in der historischen Ostellerie von Pérouges nur noch mit gestrengen Spitzenhäubchen ihre Gäste bedienen. Die Innenausstattung duldet lediglich go-tische Möbel und Tapisserien, Zinn und einen großen Kamin - heimelnde Gemütlichkeit ist gefragt. Vor dem alten Restaurant aus dem 13. Jahrhundert wacht eine uralte Linde aus den Revolutionszeiten majestätisch auf ihrem weiträumigen Vorplatz. Keine Fernsehantennen oder Stromleitungen stören den Blick zurück ins Mittel-alter. Am Heiligen Abend singen Folklore-Gruppen aus der Region in alten Trachten Weihnachtslieder vergangener Tage.

PRIESTER SPIELEN MITTELALTER

Enge Menschentrauben schieben sich um Mitternacht in feinem Zwirn betulich zur Messe. Auch Priester André Gondin spielt Mittelalter. "la France, la Grande Nation, ist immer die älteste Tochter der katholischen Kirche gewesen", verkündet er selbstgewiss von der Kanzel und fügt hinzu: "Geboren von christlicher Mutter, Vater unbekannt." Dieser Satz ist mittlerweile schon zur Legende von Pérouges geworden. Denn ein jeder weiß, dass Priester Godin ihn Jahr für Jahr als Auftakt zur Oblate wiederholt.

KIR VON DIJON

Weihnachtstage in Frankreich - Zweifelsohne pocht die französische Befindlichkeit wieder konservativ. Über 30 Millionen Menschen dürfen nach Hochrechnungen der Meinungsforschungsinstitute zum Jahresende wieder Gottesdienste besuchen oder sich als Glaubenstouristen in kurzweilige kirchliche Obhut begeben.Der Domherr Kir von Dijon - Erfinder des Aperitifs aus Weißwein und schwarzem Johannesbeerlikör - hatte bereits am 23. De-zember im Jahre 1951 auf dem Vorplatz Saint Benigue seiner Kirche die öffentliche Verbrennung des Weih-nachtsmannes als "Ketzer und Kinderlump" ange-ordnet. Einfach, weil er nach Maßgabe des Erzbischofs von Toulouse, Kardinal Saliège, eine Erfindung der Amerikaner, der Schlauen - somit der Jesus-Feinde sei.

Seither ist nach offizieller Lesart der Kirche Frankreich zumindest "weihnachtsmannfrei". Ein offenkundig dramatischer Umstand, der die Gemüter auch nach Jahren seiner Exekution nicht ruhen lässt. So mutmaßte das einstige Massenblatt "France Soir" in einer groß aufgemachten Schlagzeile: "Dijon erwartet die Aufer-stehung des Weihnachtsmannes." Und die vornehmere Tageszeitung "Le Monde" befand: "Es geht zu wie zu Zeiten des Religionskrieges."

FOLKLORE-FASSADEN

Jahre kommen - Jahrzehnte vergehen im Flug - ausnahmslos zur Weihnachtszeit sind es immer wieder Frankreichs Staatspräsidenten, die hinter Folklore-Fassaden Sein und Sinn auszumachen verstehen. Einst brachte François Mitterrand (1981-1995) die Gemüts-lage seines Landes auf den Satz: "Die Rebublik befindet sich in einem Zustand der Sehnsucht." Für seinen Nach-folger Jacques Chirac (1995-2007) ist gar die "franzö-sische Identität mit dem Katholizismus untrennbar verbunden".

KARDINÄLE UND KATHEDRALEN

Schon die Feierlichkeiten zu Reims um den identi-tätsstiftenden Chlodwig, den Begründer des großen Franken-Reiches, hatten in vergangener Zeit für allerhand wohl bedachten Wirbel gesorgt. Moment-aufnahmen aus dem Département Marne - neuerliche Chlodwig-Zeiten, Folklore-Zeiten : Ein Fahnen- und Flaggenmeer sowie schwitzende Menschenmassen säumen den breiten Pilgerpfad. Baseballkäppis, Kruzi-fixe und ständig surrende Videokameras allüberall, als gelte es im französischen Reims, dem gallischen Durocotorum, einen neuen Klerikalismus mit Kitsch und Kommerz fürs kommende Jahrtausend sendungs-bewusst wachzuküssen. Stunde um Stunde dröhnen Busse stadteinwärts, Touristenarmada campiert vor Kirchen und Verladebahnhöfen.

WELTKULTUR-ERBE

Entlang der Kathedrale zu Reims, der Krönungskirche der Könige von Frankreich, schmücken Zehntausende von Katholiken altehrwürdige Gassen und Kirchen-plätze. Anders als das vom Weltstadtfludium durch-zogene Paris konnte Reims so manches von seiner altertümlichen Eigenwilligkeit noch bewahren. Allein vier seiner historischen Bauwerke wurden von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.

Schon seit Monaten gedenkt die Nation in zigfachen Ereignisjubiläen des Barbarenherrschers Clodwig I. (französisch Clovis); eines Königs, der mit Tücke und Grausamkeit das große Franken-Reich zimmerte. Chlodwigs Oberhoheit erstreckte sich bekanntlich im Jahr 507 über das gesamte Gebiet zwischen den Flüssen Loire, Garonne und Rhône mit Anschluss an die rhei-nischen Franken in den Städten Köln, Mainz und Trier. Zweifelsfrei hat er damit das Fundament des Abendlandes gelegt.

Dadurch, dass Frankreich von dem dominierenden Frankenstamm den Namen für sein Land übernahm, verewigte sich Chlodwig zudem seinen französischen Anteil an der Neuordnung des Kontinents. In Deutsch-land hingegen blieb die Kombination mit Stadt- oder Landschaftsbezeichnungen wie Frankfurt, Main-Franken oder die Fränkische Schweiz, Frankenwald und Ober-, Mittel- und Unterfranken ein unverbindliches Monogramm der Geografie. Seit 486 war Reims Chlodwigs Königssitz und später auch sein Sterbeort - somit eine Schatzkammer der nationalen Geschichte - auch seiner bis dato konservierten Gefühlswirren.

GEFÜHLSWIRREN NEUER ALLIANZEN

So und kaum anders machen sich französische Politiker konservativen Zuschnitts und die katholische Kirche des Landes dran, eine bisher nie dagewesene Allianz zu schmieden. Ein Chlodwig-Jubiläum von fünfzehn-hundert Jahren wird als Auftakt dazu benutzt, den neuerlichen Pakt zwischen dem französischen Staat und seinen Bischöfen zu zementieren.

Hintergrund dieses Kalküls: Die Neugaullisten um Staatspräsident Jacques Chirac zielen darauf ab, die französische Identität mit dem Katholizismus un-trennbar zu verknüpfen. Geht es schließlich doch darum, die laizistischen Fundamente des Landes zu neutralisieren, die revolutionär geprägte Geschichte der Republik in den Köpfen der Franzosen erkennbar an den Rand zu drängen.

CHLODWIGS EDELSEKT

Eine Millionen Euro stellte Frankreich für den 1500. Jahrestag zur Verfügung, ließ für das Großspektakel in Reims exakt hundert Wissenschaftler einfliegen. Und natürlich das Kommerzielle: in Reims, der Champagner-Stadt, sprudelte anlässlich der Feierlichkeiten Süffiges der Marke "Chlodwigs Edelsekt", und Chlodwigs Senf-gläser zieren manche Schaufenster der Altstadt.

Offenkundig so ganz vergessen ist jene nunmehr un- rühmliche Revolution der Franzosen von 1789. Schließ- lich war sie antiklerikal, weil die Kirche sich immer als enge Verbündete der mächtigen Monarchie empfohlen hatte. Schritt um Schritt beseitigte die Dritte Republik (1870 bis 1940) die letzten Bastionen der Kirche im Staat: 1882 entfiel der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen, und 1905 wurden Kirche und Staat getrennt. Die Kirche in Frankreich, wo sich über 80 Prozent der Bevölkerung zum katholischen Glauben bekennen, firmiert seither rechtlich als ein privater Verein.

AUFTRITTE DER RECHTSRADIKALEN

Allerdings: Unter dem Motto "Treiben wir den Papst-Besuch ab" (Avortons la venue du pape") riefen die größte Freimaurervereinigung "Grand Orient des France" und in Protestanten zum Papst-Boykott in Sachen Chlodwig auf. Ein Bündnis aus Linken, Grünen, Trotzkisten und Antirassisten - darunter die frühere Ministerin und derzeitige Bürgermeisterin von Lille, Martine Aubry, Tochter des langjährigen Spitzen-Europäers Jacques Delors. Allesamt wehren sie sich gegen die neuerlich verordnete "Geschichtsschreibung", die Chlodwigs Einstieg ins Taufbecken quasi als Gründungsakt des französischen Staates sieht.

IMMER WIEDER JEANNE D'ARC

Denn kein anderer als der rechtsradikale Präsident der Front National, Jean-Marie Le Pen, versteht es mit Geschick, für seine Kampagne gegen die "religiöse, kulturelle und moralische Unterwanderung" zu Felde zu ziehen, "die unser Land entchristianisiert" hat. Mit ähnlicher Diktion versucht Le Pen seit Jahren, die Nationalheilige Jeanne d'Arc zur sich zu reklamieren. Mittlerweile ist die Front National die drittstärkste politische Kraft des Landes - und kein Regierungs-politiker wagt es mittlerweile mehr, Le Pens Auftritt vor der Kathedrale in Reims zu verhindern. An den Vor-platzständen lagen neben religiösen Schriften auch verbotene Publikationen über "das jüdische Frankreich". Aber auch Postkarten zu Ehren der seinerzeit in Algerien agierenden OAS-Terroristen oder Aschenbecher mit der Pétain-Losung "Travail, Famille, Patrie" (Arbeit, Familie, Vaterland) waren zu haben - 1,50 Euro das Stück. Frankreich, das Land der alten, unvergessenen Kämpfer, La France ein Fahnenmeer.

Es war der vielzitierte Pariser Soziologe Alain Tour- raine, der jene üppigen Festzeremonien zu Reims zum Anlass nahm, auf die gesellschaftliche Zerrissenheit des Landes hinzuweisen. Er sagte: "Wir leben im politisch und sozial leeren Raum. Und Leere macht Angst." - Clodwig alias Clovis lässt grüssen.


































Donnerstag, 3. Oktober 1996

La femme est l'avenir du flic
























COURRIER INTERNATIONAL,
Paris
du 3. Octobre 1996
(extraits Frankfurter Rundschau)

par Reimar Oltmanns


Il aura attendre 1975 pour voir des femmes dans la police française, et encore plus longtemps pour qu'elles atteignent les étages de la direction. A l'époque, on lisait même dans une étude du gouvernement français que "la fonction policières est incompatible avec la femme."

Vingt ans après, changement de tableau. Dans le bureau 315 du Quai des Orfèvres - le siège parisien de la bri-gade criminelle -, une armoire abrite l'équipement d'une policière d'aujourd'hui: des jeans, un blouson, un pistolet, une radio, des menottes, des chaussures de sport. Une femme vêtue d'une jupe courte et d'un élé-gant chemisier est assise à sa table de travail.

En février dernier, elle a obtenu le poste le plus convoite des flics de la capitale. Depuis cette date, Martine Monteil, 46 ans, a 110 personnes sous ses ordres. Pour a première fois dans l'histoire de la police judiciaire française, une femme dirige la brigade criminelle, la fameuse "Crime".

Quand des gens irrités entrent dans son bureau, ils posent régulièrement la question d'un ton angois- sé: "Pardon, Madame, mais enfin, où se trouve le commissaire?" Et la femme policière de carrière, ennuyée, a dû y répondre un millier de fois: "Monsieur Maigret est maintenant une femme, et c'est moi." Martine Monteil fait partie de la deuxième promotion ouverte aux femmes de l'Ecole nationale superieure de police de Saint-Cyr-au-Mont-d'Or (69), qui forme les policières depuis 1975. Parmi ses anciennes camerades d'éciole, Mireille Ballestrazzi dirige aujourd'hui le SRPJ d'Ajaccio et Danielle Thierry s'occupe de la sécurité des vols d'Air France.

Quand elles étaient encore sur les bancs de leur écoles, les trois femmes sont tombées d'accord sur ce qu'elles feraient une fois leur formation terminée: "Quand nous serons en situation d'activité, nous bouleverserons la façon des voir les choses. Nous pourchasserons les violeurs dans toute de république, nous ne les laisserons transquilles que quand ils auront avoué.

Ce n'est qu'ainsi que l'on peut expliquer pourquoi le nombre de voils enregistrés en que l'on peux expliquer pourquoi le nombre de voils enregistrés en France officiellement aumenté de 12 %. Selon Martine Monteil, "grâce á la présence plus importante la force de signaler leur aggression, d'iden-tifier leur agresseur et de porter plainte".

Ahjourd'hui on recence quelque 31.000 femmes dans la police française , soit 15 % des effectifs (contre 7 % en Allemagne). "Les policières ont considérablement contribué à améliorer notre travail en ces temps de fracture sociale", estime Michel Richardot, directeur de 'Ecole nationale superièure de police. "Elles sont subtiles, moint autoritaires, même moins procéduières que les hommes. Aucune d'entre elles n'a été impliquée dans des bravures. Les femmes en uniforme peuvent rétablir la paix tant l'enceinte du commisariat que dans le quartier."