Sonntag, 25. Mai 1980

Hoffen auf Heidi - Juso-Anspruch, Moral und Wirklichkeit - Was sie wollten, wer sie sind




























stern, 17. Januar 1974
Rowohlt Hamburg
Verlag, Reinbek
25. Mai 1980

von Reimar Oltmanns


Wenn Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) über seine politische Vergangenheit nachdenkt, pflegt er zu sagen: "Mit 30 Jahren war ich ein engagierter Sozialist." Willy Brandt hat seit damals 30 Jahre gebraucht, um sich vom Sozialisten zum "praktischen Sozialdemokraten" zu entwickeln, so der schleswig-holsteinische SPD-Landesboss Jochen Steffen (*1922+1987).

Die 30jährigen Sozialisten dieser Tage schaffen das schneller. Wolfgang Roth, 32, bis Ende Januar 1974 Chef der Jungsozialisten und oft beschworener Beelzebub bürgerlicher Sozialistenfurcht, kann sich schon am Ende seiner Amtszeit rühmen, alle Brandt-Stationen hinter sich zu haben. Wurde Roth noch vor zwei Jahren von der Hamburger SPD gerüffelt, weil er gemeinsam mit Kommunisten auf politischen Kund-gebungen gesprochen hatte, so weist er heute - in der beginnenden Ära von Ausgrenzung politisch Anders-denkender und Berufsverbote - jede Zusammenarbeit mit der DKP zurück: "Mir ist es mittlerweile zuwider, mit den Kommunisten gegen Berufsverbote zu protestieren."

VOM JUSO ZUM BANKPRÄSIDENT

Ob als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Städtetag, später sodann bei der Skandal geschüttelten gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugesellschaft "Neue Heimat" in Hamburg (hohe Miteinnahmen, satte Spesen mit horrenden Gehaltskonten) - Diplom Volkswirt Wolfgang Roth empfahl sich für wichtige Schlüsselpositionen oft mit dem als Witzchen zu verstehenden Hinweis: "Was interessiert mich heute noch mein linkes Geschwätz von gestern." - Seither ist Sendepause.
Da war es dann nach SPD-Stallgeruch-Maßgaben doch irgendwie schon naheliegend, solch ein in der Öffentlichkeit wahrgenommenes "Jung-Talent" nicht auf den hinteren Plätzen des Plenums Platz "verkümmern" , sondern sogleich zum stellvertretenden Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion aufsteigen zu lassen; wegen der Roth'schen der Schubkräfte - mithin bis zum Vizepräsidenten der Europäischen Investitionsbank (EIB) in Luxemburg (1993-2006).

Junggenossen von der Basis haben dieses unstete Rothsche Hin und Her auf der Suche nach einem markanten Aufstiegs-Profil kommen sehen. Sie betrachten den "begnadeten Opportunismus" über ihren scheidenden Vorsitzenden schon seit langem mit Misstrauen, verdeutlicht der Kieler Juso-MdB Norbert Gansel (1971-1997). Nur in Bonn an den Trögen der Macht, zwischen Dienstwagen, Diplomatenpässen, Diäten und Damenkost grassiert Fieber - kein Gelb-fieber, allenfalls Bedeutungsfieber. Roths Stellvertreter Johano Strasser, der wie andere Juso-Prominente der Karrieremacherei verdächtigt wird, gibt zu: "Wir Bundesvorstandsmitglieder haben Verständigungs-schwierigkeiten mit unserer Organisation."

HOHER MORALISCHER ANSPRUCH


Das war nicht immer so. Unter dem Einfluss der Außerparlamentarischen Opposition hatten sich die Jusos noch auf ihrem Bundeskongress 1969 "mit hohem moralischen Anspruch" (Strasser) zum Ziel gesetzt, die SPD kompromisslos zu demokratisieren. Doch schon vier Jahre später ist ihnen die Luft ausgegangen. Statt die Partei auf Jusos-Linie einzuschwören, zerstritten sich die Junggenossen in Flügelkämpfen. Wolfgang Roth: "In den Juso-Organen, zum Beispiel im Bundes-ausschuss, sitzen Leute, mit denen man nicht reden kann."
KANZLER IN SPE GEGEN DAS KAPITAL
Seit Monaten fighten die Jusos-Fraktionen um die wahre Ideologie. In Hamburg und Berlin bildete sich eine radikale Gruppe, die auf einer Volksfront mit Kommunisten beharrt und die derzeitige Wirtschafts-ordnung als ein System begreift, in dem sich der Staat nur noch als Diener oder als "Büttel" der Großindustrie ("Staatsmonopolistischer Kapitalismus") begreift. Die rebellischen "Antirevisionisten", eine Gruppe von Hannoveraner Studenten, gehen weiter. Sie halten die SPD eigentlich für überflüssig, weil sie als Regierungs-partei in Bonn nur "das bestehende kapitalistische System stabilisiert", so ihr Sprecher, der Jura-Student Gerd Schröder (Bundeskanzler 1998-2005). Er und die Seinen wollen in den Betrieben und Schulen gegen das Großkapital agitieren.
ROT DAS HAAR, ROT DIE GESINNUNG
Streitereien und Abspaltungen innerhalb der Jung-sozialisten will nunmehr eine rothaarige Junggenossin verhindern: Heidi-Wieczorek-Zeul, 30, (Bundes-ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit 1998-2009 ) Chefin des Juso-Bezirks Hessen-Süd, wird in München die Nachfolge des angepassten Wolfgang Roth antreten. Die Rüsselsheimer Gesamtschullehrerin gilt unter den Sozialdemokraten als engagierte Politi-kerin, die vor keinem Konflikt in und mit der Partei zurückschreckt. Sie will den frustrierten Junggenossen, die auf Kongressen "zum totalen Ausflippen in eine endlose Grundsatzdiskussion neigen" (Johano Strasser) mit markigen Sprüchen zur schnellen Eintracht treiben: "Wir praktizieren die Zusammenarbeit mit Kommunisten , wenn es darum geht, in konkreten Aktionen gemeinsam gegen antidemokratische Tendenzen zu kämpfen."
Doch solche Äußerungen der "roten Heidi" (Partei-Jargon) stehen in krassem Gegensatz zu den geheiligten Grundsätzen der SPD, wonach eine Kooperation mit Kommunisten in jedem Fall "streng verboten ist und zu einem Parteiausschlussver-fahren führt", wie SPD-Vorstandssprecher Lothar Schwartz versichert.
Auf dem kommenden Bundeskongress in München werden die leidigen Abgrenzungsprobleme der Jusos zu den Kommunisten freilich zweitrangig sein. Strasser: "Keine müßigen Streitereien um die richtige Weltanschauung." Unter dem Druck der nach links abgewanderten Basis will der Bundesvorstand konkret arbeiten. Auf einem geheimen Treff im Seehotel in Romanshorn am Bodensee einigten sich die Genossen über Weihnachten auf "Maßnahmen", die die "sozialdemokratische Regierungspolitik zu verwirklichen hat".
KONTROLLE ÜBER INVESTITIONEN
Die Bundesregierung soll ultimativ aufgefordert werden, die Kontrolle und Lenkung von Investitionen "global" einzuführen und die Macht der Unternehmer mit direkten Eingriffen zu beschneiden. Ein Katalog, der die "Arbeitsmarktpolitik" der Bundesanstalt für Arbeit oder auch die "Änderung des Bundesbankgesetzes" einschließt, soll die Gesamtpartei zu "ersten Schritten" in Richtung auf Durchsetzung einer demokratischen Investitionslenkung veranlassen. Wie das alles in der Praxis aussehen könnte, wissen bislang nicht einmal die Jusos.
SPRENGSÄTZE, SPRÜCHE
Die Jusos drohen damit, ihren Parteivorsitzenden Willy Brandt (1964-1987) als Kanzler des Kapitals zu attackieren, wenn ihr Katalog nicht unverzüglich Programm der SPD wird. Wer "auf eine demokratische Investitionslenkung verzichtet", wirkt "zu Lasten der abhängig Beschäftigten". Damit verliert die Regierungs-politik ihre Legitimationsbasis", heißt es bei den Jusos. Jochen Steffen prophezeit: "Das wird der Sprengsatz für den nächsten Parteitag."
Auf den neuen Konflikt hat sich die Partei noch nicht eingestellt. Bislang fällt der Parteirechten zu den Jusos nur Handgreifliches ein. Der Parteirechte, einst Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel zu Willy Brandt: "Ich rate dir, Strasser und Co. aus der Partei rauszuschmeißen." Und der eigens vom Bundes-kanzler zur Beoachtung der SPD-Randgruppen be-auftragte Vorstandskollege Bruno Friedrich kam nach langer Forschung zu der Erkenntnis, dass "diese Flügelkämpfe der Partei schaden."
VOM QUERDENKER ZUM HOFNARREN
Im Hintergrund all jener Fernseh-Rüpeleien mit einstudierter Empörungsrhetorik durchlitten vor-nehmlich die Jusos Erstaunliches, Unerwartetes. Sie wussten zunächst so gar nicht, was in Zeiten "freier Liebe und offener Promiskuität" (wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört zum Establisment ) mit ihrem Aushängeschild namens Johano Strasser geschehen sein mag. Gerade unter Jungsozialisten wurde befreiend oft und überall durch die Betten querbeet gehüpft. Eigentum als Verfügungsgewalt galt es abzubauen, sexuelle Besitzansprüche erst recht. - Hilflos, achselzuckend standen nun Jung-Politiker am Wegesrand, als ausgerechnet ihr Star, ihr "Chefideologe", ihr "Wuschelkopf Johano" von einer Strafkammer des Landgerichts Mainz im Oktober 1970 in fünf Fällen des Straftatbestandes der "Belei-digung" zu 1.200 Mark Geldstrafe oder ersatzweise 20 Tagen Haft rechtskräftig ver-urteilt worden ist. Der Grund: Pornografie an der Strippe.
STRASSER, DER DR. SCHNEIDER WAR
Bei den Jusos machte seinerzeit verstohlen der Begriff "Telefonanie" schnelle Runde; ein Provinz-Porno ohne spektakuläre Züge. Gemeint waren damit all die in Gerichtsakten festgehaltenen Telefon-Ferkeleien ihres Johano Roberto Strasser, seines Zeichens Habilitand an der Mainzer Universität und stellvertretender Vor-sitzender der Jungsozialisten. Nach Lust und Laune griff er zum Telefon und wählte wahllos die Num-mern junger Mädchen in Mainz-Gonsenheim an. Da wurde am Hörer flugs aus Johano Strasser ein Herr Dr. Schneider, der zu "den Damen oder Teenagern sprach und stöhnte. Eben ein Herr Dr. Schneider, der mit der einen Hand den Hörer hielt, mit der anderen sich befriedigte". So und nicht anders sah es das Gericht in letzter In-stanz als erwiesen an, dass Strasser einige Dutzend Male bei der Hausfrau Gerda Schmidt im Vorort Mainz-Gonsenheim durchklingelte - mal habe er Tochter Rita,13, mal Mutter Gerda über Monate seine vulgär-saftigen Porno-Fantasien ins Ohr geflüstert, ge-säuselt, gesungen - stets mit neuen Sex-Sprüchen in arg Ver-legenheit gebracht; Ohrwürmer des Dr. Schneider sozusagen. Dabei stammelte Doktor Schneider alias Dr. Strasser ins Telefon ohne Unter-lass: "Pass mal auf, du hast doch zwischen den Beinen ein kleines Löchlein...".
Berlins Wissenschaftssenator Werner Stein (SPD) weigerte sich im Jahre 1973 daraufhin, Strasser an der Pädogischen Hochschule Berlin als Didaktik-Professor zum Beamten auf Lebenszeit zu ernennen. Strasser sah sich eiligst in der Opferrolle einer "Schmutzkampagne". So düngte er sich in der Provinz-Porno-Posse als Leid-tragender der um sich greifenden Berufsverbote. Ein Roman im Mai, ja gewiss, aber auch die vergessen geglaubte Telefonanie im Mai in den Jahren vor der Frauenbewegung in diesem Land.
Es war keines der viel zitierten, empörenden Berufs-verbote eines Linken aus politischer, systemkritischer Überzeugung, mit dem der Berliner Senat ihren Partei-genossen Johano Strasser belegte. Es war vielmehr die Ablehnung der Übernahme ins Beamten-verhältnisses des einstigen Didaktik-Professores an der Pädago-gischen Hochschule in Berlin, weil dieser rechtskräftig verurteilt worden ist. "Als wir noch Götter waren im Mai", betitelte Johano Strasser seine romantisch komponierten Reminiszenzen seiner politischen wie auch philosophischen Lebens-orientierung nach Jahrzehnten - gefühlsverklärt, Legende um Legenden.
STARNBERGER SEE
Ja, ja - dass das nur "solche Geschichten bleiben, die man den Enkeln erzählen kann, es gibt eine Menge Leute, die haben ein Interesse daran", textete und sang ehedem der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt über den "fast autobiografischen Lebenslauf eines west-deutschen Linken". "In Saint Germain des Près, da ist er länger geblieben, Sartre hatte gerade den "Ekel" geschrieben. Er lebte mit der Nutte Marie-Thérèse und hörte sich nachts besoffen an Jazz ... ...". Genosse Johano hingegen zog es in eine be-schauliche, wohl behütete Villa am Starnberger See. Nirgendwo in Deutschland leben mehr Millionäre als in Strassers Ambiente. Stille, Straßenbilder, Stuck an der Decke, Stuck im Kopf, Buchdeckel, Kalendersprüche, Gespräche mit dem Literatur-nobelpreisträger Günter Grass, Rot-Wein, Waffen-SS, Poesiealben. Die, ja, die - signiert Johano in seiner Eigenschaft als Präsident des deutschen P.E.N. in möglichst unnahbarer Erlesenheit. Dort, wo Fürstin Gloria Turn und Taxis wenigstens in den Sommermonaten in ihrem Schloss weilt - eben reich und schön, nun da ist es zum Dr. Strasser nicht weit, ganz in der Nähe. Dort wird gibt es des Abends am Kamin wie eh und je beim Tee bei Strasser immer noch ein- und dasselbe Thema: Arbeiter, Ausbeutung, Entfremdung, Verarmung im 20. - auch 21. Jahr-hundert - immerfort auf gutem Polster. Sicher? - Ganz sicher.
FLÜGELKÄMPFE, SELBSTTHERAPIE
Da nehmen sich die früheren Flügelkämpfe sozialisti-scher Gesinnungen wie Possenspiele aus fehlgeleiteten Kinderstuben vergilbter Zeiten aus. Strasser wollte ohnehin derlei Glaubenskriege beendet wissen. Damals wollte der couragierte spätere Hochschullehrer Detlef Albers (*1944+2008), Kopf und Wortführer der legendären Stamokap-Gruppe, ("Unter den Talaren - Muff von 1.000 Jahren") den Genossen klarmachen, dass die "SPD weiß Gott nicht die einzige Partei der Arbeiterklasse ist". Kärrnerarbeit. Und schon damals wollte Johano Strasser versuchen, den Vorwurf Willy Brandts abzublocken, der da lautete: "Was weiß denn der Strasser über die Arbeiterbewegung?" Und Brandt sagte weiter: "Wir sind keine Studentenvereinigung. Wir wollen davon abgehen, den konkreten Problemen mit allgemeinen Grundsatzerklärungen auszuweichen." Grundsätzliches freilich erwarten die Genossen nur von ihrem Kongressgast. Herbert Wehner (*1906+1990) hat sich angesagt, um der Parteijugend mal wieder die Richtung zu weisen.
Die ehrgeizige Heidi Wieczorek-Zeul eifert unterdessen ihrem Vordermann Roth nach. Die zukünftige Bundes-vorsitzende will nicht nur bei den Jusos mitmischen. Sie möchte bei den Landtagswahlen in Hessen ein Mandat ergattern. Jochen Steffen über seine Juso-Zöglinge: "Die betreiben eben Doppelstrategie. Das ist die zu Theorie aufgedonnerte Selbstverständlichkeit, dass man in einer Demokratie oben und unten arbeiten muss, wenn man etwas erreichen will."
VERBRANNTE ERDE - JUSO-TALFAHRTEN
Dass sie neben ihrem Ämtergezerre nicht die zentrale Grundwerte-Diskussion in den achtziger Jahren als exemplarische Auseinandersetzung zwischen Haben und Sein, jung wie alt, Naturzerstörung und Lebens-bejahung begriffen haben, hat die politischen Jugend-organisationen allesamt an den Rand ihrer Existenz gedrängt. Sie nennen sich in ihrer Bezeichnung zwar alle >jung<, doch ob Jungsozialisten, Junge Union oder Jungliberale - bei ihnen ist Friedhofsruhe und Toten-klage eingekehrt. Keiner der Partei-Nachwuchsver-bände hat die Themen der Aussteiger-Generation rechtzeitig erkannt, zu sehr kopierten ihre Verstände schon die üblichen Politik-Rituale; altkluge Bürgersöhne fast vergessener Jahre.
ZIELLOSIGKEIT, ZERRISSENHEIT
Längst vorbei, fast vergessen sind die Zeiten, als Jusos sich in Werbebroschüren als "größte politische Jugend-organisation " des Landes priesen; passé ist auch der markige Spruch "wir sind die SPD kommender Jahrzehnte", vergessen ist ferner die Einschätzung des Tübinger Rhetorik-Professors Walter Jens(*1923+2013), der in den Jusos die "einzig relevante sozialistische Kraft" in der Bundesrepublik sah. Bürger werden nicht mehr aufgeschreckt, Bonzen nicht mehr abgewählt, alles lässt sich zahm und brav an. Mitgliederschwund und Müdigkeit, Ziellosigkeit und Zerrissenheit kennzeichnen den Verband. In vielen Landregionen sind die Arbeitsgemeinschaften sang- und klanglos eingeschlafen, anderenorts haben Parteiobere sei unauffällig ausgetrocknet.
NULLTARIF GEFORDET - AUF NULL GEBRACHT
Dass die Jusos zwar den Nulltarif - etwa im öffentlichen Nahverkehr - forderten, aber auf Null gebracht wurden, liegt zunächst einmal an ihnen selbst. Die Zersplitterung in drei Fraktionen - Stamokap, Antirevisionisten und Revisionisten - artete in Glaubenskämpfe aus. Theorie-Ayatollahs verwechselten Uni-Seminare mit politischer Basis-Arbeit. Sie fochten so verkrampft und bedingungslos, als seien sei dazu auserkoren, morgen den Sozialismus im Lande einzuführen. Als den System-Erneuerern dann die viel gerühmte Basis davon lief, fehlte es natürlich nicht an entsprechenden Er-klärungsmustern: "Die Jugend", hieß es im unverwechselbarer Juso-Deutsch, " ist wieder bereit, Ideologien zu übernehmen. Es besteht die Tendenz, Ideologien militant und undifferenziert zu vertreten. Faschistoide Tendenzen treten wieder hervor."
SCHRÖDER - NOTAR AUF DEM FRIEDHOF
Ihr derzeitiger Vorsitzender Gerhard Schröder (1978-1980), ein eloquenter Rechtsanwalt aus Hannover, empfindet sich nicht selten in der Rolle eines Notars auf dem Friedhof. Aber darüber nachdenken kann Schröder nur, wenn er nicht gerade eine "große Rede redet" oder vor Fernsehkameras auf dem Berliner SPD-Parteitag der Nation Gewichtiges über das Versagen der "Carter-Administration in Washington" mitzuteilen hat. Dann findet er schon mal zum Kernpunkt zurück, warum seine Organisation vom Aussterben bedroht ist. Dass die Jusos als SPD der achtziger Jahre bezeichnet wurden, sei "der programmatisch größte Quatsch gewesen, der je verkündet worden ist", sagt Schröder.
AUS DEM GEDÄCHTNIS STREICHEN
Erfunden von einem seiner Vorgänger, die er lieber aus dem Gedächtnis streichen möchte, als sich intensiv mit ihrer Amtsführung zu befassen. Der Nachfolger über seine Vorgänger Wolfgang Roth (1972-1974) und Heidemarie Wieczorek-Zeul (1974-1977): "Die sind doch in Bonn herumgelaufen und haben die Backen aufgeblasen, quasi als Kanzler der Jungen."
CREDIT CARDS VERSCHUSSELT
Jusos-Politik zu jener Zeit war Jet-Set - zumindest in der Führungsspitze. Kein Erdteil wurde ausgelassen, um ihre Friedenspolítik zu verkünden. In der Bonner Bundesgeschäftsstelle glaubte nicht wenige, in einem Reisebüro zu sein. Andere sahen in ihrer Zentrale eine Dependance zum Auswärtigen Amt, dritte eine Hauptabteilung des Innendeutschen Ministeriums. Roth in Moskau, Strasser mit Freundin in Havanna, Roth in Ost-Berlin, Strasser mit Freundin II in Rom, Jusos in Mexiko-City. Welt hieß bei manchen nur noch "world", auch sonst ließen schon kleine Details und Bewegungen den internationalen Zuschnitt erkennen. Vor allem dann, wenn ihr selbst ernannter Anwalt kleiner Leute, Chefideologe Johano Strasser, aufgeregt-aufgelöst bei der juso-Sekretärin Petra Bauer in Bonn anrief. Er habe sein "credit-cards" Booklet - von Diners bis american express - verschusselt. Strasser: "Es muss wohl in der Villa Hassler in Rom passiert sein, da wo doch auch unser Willy immer nächtigt." Und ihr Pressesprecher Klaus-Detlef Funke konnte sich gar nicht wieder beruhigen, wenn er aus den Tageszeitungen erfuhr, dass "der Roth zu den bekanntesten deutschen Politikern" zählt.
BONN - BERLIN: DER BASAR VON ISTANBUL
Journalisten gingen in ihrer Geschäftsstelle ein und aus, Informationen aus ver-traulichen SPD-Sitzungen und aus dem Kanzleramt wurden gehandelt wie auf dem Basar von Istanbul. Natürlich machten die Jusos auch Innenpolitik - und zwar so kräftig, dass ihnen oft eine Schlagzeile zu den Abendnachrichten in der tagesschau sicher war. Und jeder war stolz, freute sich. Willy Brandt auf Deutschland, die jusos auf ihre Meldung. Da sollte beispielsweise per Beschluss des weltgewandten Bundesvorstandes kein Bundesbürger monatlich mehr als 5.000 Mark verdienen. Wenige Jahre später will keiner mehr davon etwas wissen. Eigentlich seien sie schon immer dagegen gewesen, Roth, der inzwischen im Bundestag als wirtschaftspoli-tischer Sprecher seiner Fraktion Platz genommen hat, Funke, der zum Verlagsleiter des SPD-Organs "Vorwärts" avancierte. Da legte er sich nicht nur einen amerikanischen Straßen-kreuzer zu (Atomkraft - Nein danke), da wollte er auch gleich einige Genossen "wegen Inkompetenz" blitzschnell feuern. Als schließlich Klaus-Detlef Funke vom SPD-Präsidium gefeuert wurde, war für ihn der Sozialismus beendet. Langsam und unauffällig ließ er seine Genossenmitgliedschaft einschlafen, langsam und unauffällig ertastete er sich gut dotierte Pöstchen in der TV-Unterhaltungsindustrie.
LUFTBALLON GEPLATZT
"Ruinös ist das alles gewesen", sagt Gerhard Schröder (SPD-Chef von 1999-2004) rückblickend. "Die sind von einer linksliberalen Presse hochgeschrieben, geradezu aufgeblasen worden, geradezu aufgeblasen worden. Dann ist einer gekommen und stach in diesen Luft-ballon. Die Folge war, der Ballon schrumpfte nicht auf seine richtige Bedeutung, sondern platzte. Vor den Trümmern stehen wir heute."
Natürlich lässt sich die stetige Juso-Talfahrt nicht allein mit desolaten Erscheinungs-formen in ihrer Führungs-spitze abtun. Denn parallel zur Sozialdemokratie büßten automatisch auch Jungsozialisten bei Jugendlichen an Zugkraft ein. Eine der Hauptursachen dürfte vor allem darin liegen, dass sich ihre Doppelstrategie spätestens ab Mitte der siebziger Jahre als Blindgänger entpuppte. Die These von der Doppel-strategie, sowohl die Basis für langfristige politische Ziele zu mobilisieren als auch in Partei-gremien und Parlamenten für eine sozialistische Reformpolitik einzutreten, zerfloss bald bis zur verwirrenden Unkenntlichkeit. Jusos, die in den Bundes-tag gewählt wurden, schmiegten sich beinahe nahtlos den dort vorherrschenden Abläufen zwischen Kalkül und Sachzwang an. Kaum ein Signal ging noch von der ehemaligen Crew Karten Voigt (1976-1998 ) Wolfgang Roth (1976-1993 ) und Norbert Gansel (1976-1993 ) aus. Sie verblasste bis zur Austauschbarkeit, nicht zuletzt bei der Abstimmung um die Anti-Terror-Gesetzgebung, die den Rechtsstaat in ein fortwährendes schräges Licht rückte. Da mussten eben Politiker wie der Schrift-steller Dieter Lattmann (1972-1980 ) und Gymnasiallehrer Karl-Heinz Hansen ( 1969-1982) den einstigen Juso-Opponenten vormachen, dass sie ihre Stimme nicht von vornherein für eine ganze Legisturperiode dem Fraktions-vorstand überlassen hatten, in Bonn nicht ihr politisches Dasein als "Stimmvieh" (DieterLattmann) zu verplempern trachten.
RESIGNATIVE ANFLÜGE
Der resignative Anflug verstärkte sich erst recht an der Basis. Das Ende der Reformära brachte allmählich die Einsicht, mit Beschlüssen auf Parteiebene wenig aus-richten zu können. "Die gingen in die Ortsvereine", berichtet Schröder, "wollten mitbestimmen und be-kamen reihenweise von alteingesessenen Genossen eins vor die Köpfe, wenn sie mit ihrer ewigen Reform-diskussion auftauchten. Die Alten sitzen halt mit einer Bierruhe da und sorgen schon für zusammen-gemanagte Mehrheiten." Die weitgehende Gleich-schaltung der SPD zur "Kanzler-Partei", in allen wichtigen parteipolitischen Beschlüssen, der prag-matische Ansatz, Politik im wesentlichen nur noch instrumentell zu begreifen, erstickten Juso-Politik auch dort, wo sie noch vorhanden war. Erforderliche Spiel-räume, die für Jugend-Organisationen lebenswichtig sind, um überhaupt an Schüler oder Lehrlinge heranzukommen, gingen verloren. Im Spannungsfeld zwischen Regierungspolitik, "alles im Griff zu haben", und dem tiefen Unbehagen unter den Jugendlichen konnten sich die Jusos kaum behaupten. Sie durften zwar noch "Sozialismus" sagen, aber jede öffentliche Erklärung unterlag der Zensur des Parteiapparates - ein Maulkorb, den Bundesgeschäftsführer Egon Bahr (1976-1981 ) für geboten hielt, um der SPD möglichst ein einheitliches Profil zu verpassen.
GÄHNENDE LEERE
Damit begann aber nicht nur eine Politik gähnender Leere, sondern Felder mussten geräumt werden, die lange Zeit zum klassischen Juso-Terrain gezählt hatten. Ob chronische Jugendarbeitslosigkeit, Schüler-Aktivitäten zum Bildungsnot-stand, Hochschulgruppen oder Kernenergie - Jusos starrten meist paralysiert auf politische Ereignisse, die an ihnen vorbeiliefen. Schröder: "Was soll ich eigentlich einem Betriebsjugend-Funktionär erzählen, wenn der mich auf das Lehrstellen-Problem anspricht. Der weiß doch ganz genau, dass die Zahlen, die auf dem Tisch liegen, getürkt sind. Beschwichtigungen, "der Schmidt wird es schon richten, nimmt der mir nicht mehr ab. Und dann wird uns vorgeworfen, wir seien in der Gewerk-schaftsjugend nicht genügend verankert und die DKP wäre zu stark."
ORIENTIERUNGSLOS - HILFLOS
Völlig hilflos und unorientiert reagieren Jugendsekretäre der Partei auf die Alter-native Bewegung. Ein Hinweis darauf, wie stark die sogenannten "Kader der Sozial-demokratie" im eigenen Saft schmorten und alles andere geringschätzig außer acht ließen. Sie qualifizierten Aussteiger zunächst zu Sektierern und bürsteten solche als irrelevant herunter. Folglich gab ihr früherer Juso-Chefideologe Johano Strasser, in der Zeitschrift "Langer Marsch" über Spontis und Tunix-Leute die Devise aus, die aber gerade Strasser unbedacht seit seiner Mainzer Vor- und Ausfälle charakterisiert, die da lautet: "Die leben ja mit ihrer zentralen Unfähigkeit, Triebbefriedigung aufzuschieben, nur früh-kindliches Verhalten an den Tag." Gleichzeitig vertraute man auf die bewährte Ein-bindungspolitik wichtiger Strömungen, die sich in Bürgerinitiativen niederschlugen. Strasser sah schon einen bemerkenswerten Erfolg darin, dass fast alle Bürger-initiativen in die SPD-Baracke kamen "und mit uns Sozialdemokraten diskutierten". Mit derlei Dynamik aus Lust, Wolllust wie Fantasie sollte die verknöcherte Parteistruktur endlich wieder zum Tanzen gebracht werden. Strasser-Jahre. - Jahre vergehen, nichts will geschehen.
------------------------------------------
Nachtrag - Nach vielen flüchtig erlebten Augenblicken trafen sie sich endlich Heidemarie Wieczorek-Zeul und Johano Strasser wieder; dieses Mal allerdings in der Buchhandlung Habel zu Wiesbaden. Ein angegrautet Johano Strasser las aus seiner Lebensbiografie "Als wir noch Götter waren im Mai"; ein wenig pathetisch, ein wenig überhöht, gefühlsverklärt . Eben wie Rückblicke so sind, Retrospektiven auf Bonns wilden Jahre, Jusos, Karriere, Bedeutung, TV-Sendungen mit Sendungsbewusstsein, Parkett und Puder, Tickets und Toasts. - Er las viel Vorgekostetes, Vorzensiertes vor über sein "politisch ambivalentes Leben", auf Reisen, Jet-Set, Wendepunkte, Neuorientierungen. Die Kumpanin von ehedem, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, sprach einleitend zu ihrem "Freund Johano", wie von einem Menschen von einem anderen Planeten, von einem Polit-Drummer-Boy oder Lebens-Zocker, aus der adaptierten "Oberschicht", mit dem sie seit ihrem "gemeinsamen Anfang" eine vierzigjährige Freundschaft verbindet. Eigentlich hat Heidemarie Wieczorek-Zeul wenig verändert, Haare immer noch rot gefärbt, rot ist ihre Gesinnung geblieben, keine Skandale, keine Politik-Deformationen, kein Wichtigkeits-Getue, spitzbübisch ihr Lächeln wie eh und je, offenherzig, mitunter leidgeprüft. Hab-Acht-Stellung. Ausnahmefrau. Sei seien zusammen in die Buchhandlung gekommen, um beim Zuhörer "Leselust" zu entfachen. - Über die andere, sonst übliche Lust vom Jusos-Bonn von einst und sonstwo, die durfte erst in den Raum, als der Vorhang längst gefallen war.






































































































































Montag, 19. Mai 1980

"Keine normale Figur in der Hütte"

"Die Würde des Sponti ist unantastbar" - Die Frankfurter Batschkapp - ein Treppunkt für das andere Deutschland



Der Spiegel 21/1980
19. Mai 1980
von Reimar Oltmanns



"Okay, ich lebe halt heute und das ist für mich wichtig. Ich denke eben nicht an morgen und schon gar nicht an übermorgen, sonst würde mir schwindelig."
(Wölfchen aus der Batschkapp)

Es gelten nur Augenblicke !
(Tunix - Wandzeitung)

Es war mal wieder eine dieser Kaputtmacher-Nächte in der Batschkapp, dem Frankfurter Kulturzentrum e.V. - dort draußen am öden Vorstadtrand in Eschersheim, eingekeilt zwischen breiten Ausfallstraße, Eisenbahnschienen und Betonklötzen.

Nächte, die Wölfchen schon zu Hunderten erlebt hat, meistens hinterm Tresen, zwischen Export- und Pilskisten. Nächte, die im immer wieder endlos erscheinen und ihn stumpfsinnig aufwühlen. Acht bis zehn Stunden klebt die Szene oder das, was sich dafür hält, an seiner Theke.

Leute zwischen 15 und 20, die vor Kaputtheit so ziemlich alles in sich hinein-schlucken, was nach Alkohol riecht.

Typen aus Frankfurts City, aus umliegenden Kleinstädten und Dörfern aus dem Taunus. Sie kommen jedes Wochenende in die Batschkapp, um Bier, Zigaretten, Musik und Menschen zu konsumieren. Typen mit Hoffnung auf Nähe, mit Hoffnung auf Durchbruch.

Theo und Jochen "kontrollieren" Nähe und Durchbruch. Sie postieren sich von 20 bis 24 Uhr an den Eingang und kassieren von jedem zwei Mark Eintritt, wenn's nicht gerade ein Freund ist.

STADTINDIANER, STADTGUERILLAS

Durch ihre Schleuse drängt sich so ziemlich alles, was sich "das andere Deutschland" nennt: Stadtindianer, Stadtguerillas, einfache RAF-Sympathisanten aus Folter-komitee und Roter Hilfe, Spontis und Frauengruppen, Gastarbeiterkinder aus der Umgebung, arbeitslose Mädchen und Jungen , heimatlose Mischlinge aus amerika-nischen Garnisonstädten.

Um die 250 Leutchen dürfen laut Ordnungsamt die Batschkapp maximal bevölkern. Doch an den Samstag sind es 500 bis 600 Freaks, die den Schuppen füllen. Einen Schuppen, der wie sein Völkchen kein einheitlich geprägtes Gesicht hat, der eigent-lich alles und nichts ist. Auf keinen Fall aber ist die Batschkapp eine der üblichen, kommerziellen Discos, auch wenn die Kaputtmacher-Nächte Disco-Abende heißen.

Mit den anonymen und spontanen Vortänzern zum Beispiel aus Homburg oder Offenbach, auf der großräumigen Bühne erinnert der verstaubte Saal an die Kinder-zeiten des Rock 'n' Roll Mitte der fünfziger Jahre. Die langen Bänke könnten auch in de hessischen Äppelwoi-Liveschau "Zum blauen Bock" eine respektable Kulisse abgegeben.

Die Wände sind weiß getüncht worden, aber nur so weit, wie Fingerspitzen die Farbrollen trugen. Der Treck nach Gorleben mit seinen zahlreichen Etappen ist minutiös auf Kalk nachgepinselt, Konterfeis von Genossen, die wegen terroristischer Anschläge einsitzen.

"Wir werden euch rächen, der Kampf geht weiter" - in der Batschkapp zumindest mit Sprüchen, die Klo und Theke schmücken. Aber auch solche wie "Freiheit für Grönland" - "Die Würde des Sponti ist unantastbar" - "Sonnenschein oder Regen, wir sind dagegen".

NÄHE UND DURCHBRUCH

An den Disco-Abenden ist Nobby der wichtigste Mann. Er hockt abgeschirmt in einem Glaskasten, steuert die gleißenden Scheinwerferstrahlen, die mit ihren bunten Reflexen den zur Decke ziehenden Zigarettenqualm zerschneiden. Vor allem reguliert Nobby - jedenfalls versucht er's - Nähe und Durchbruch, soft und hart, wild und weich.

Und dann gibt es noch Bernhard, Karo und Moni. Sie arbeiten hauptsächlich in dieser Nacht im "Elfmeter", dem Vereinslokal, das eine Treppe unter der Batschkapp liegt und auch von der Maybachstraße direkt angelaufen werden kann.

Während in der Batschkapp die Freaks allmählich saunen, sitzen die Jugendlichen im Elfer locker auf ihrem Hocker, lesen ihren "Pflasterstrand", das Zentralorgan der Spontis, die "tageszeitung" aus Berlin oder auch den "Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten".

Für die Batschkapp-Leute sind ihre Medien, die einst auf Flugblättern entstanden, inzwischen unentbehrlich geworden. Sie alle geben sich zutiefst davon überzeugt, dass ihre Alternativ-Periodika ehrlicher sind als die auflagenstarken Gazetten zwischen Hamburg und München, die noch dazu ihre Gedanken und ihre Gefühle ignorieren oder zuweilen kriminalisieren - je nach politischer Konjunktur.

VOM SEELENLOSEN VÖGELN

Edgar, ein 21jähriger Pädagogikstudent, erzählt seinem Freund Vieto in aller Ausführlichkeit von seiner Wohngemeinschaft (WG) in Sachsenhausen, die er vor zwei Wochen verlassen hat. Er hätte in den letzten Monaten immer stärker die Beobachtung gemacht, dass in gemischten WGs die Sexualität verdrängt werde. Die Mädchen würden mit ihrem Trip, weg vom "seelenlosen Vögeln", hin zur Zärtlichkeit, derart dominieren, dass er, Edgar, Frauen zusehends einseitiger als neutrale Instanz wahrnehme.

Edgar über sich: "Bin ich mit einer zusammen, denke ich mir schon von vornherein, die will mit mir sexuell nichts zu tun haben. Wenn das dann aber doch nicht stimmt, kriege ich nichts mehr geregelt. Ich komme bei Mädchen immer schnell ins Säuseln. Dann verhalte ich mich so, was ich unter Säuseln verstehe, und wäre am liebsten der Sensibelste aller Zeiten, schwanzlos, sexuell ungefährlich, nicht vorlaut, bescheiden und trotzdem nett. Ich steh' sozusagen unterm sensiblen Leistungsdruck."

Edgar jedenfalls hat für sich daraus die Konsequenz gezogen. Er flüchtete in eine Männer-WG, um den Psycho-Druck loszuwerden. Ein Kollektiv in allen Ehren, es gebe aber "in jeder Person Bereiche, in denen sie aus eigener Kraft und Anstrengung den Weg zur Weiterentwicklung auftun kann".

Grundsatzbetrachtungen über Sinn und Zweck eines Kollektivs provozieren Mike. Einmal kann Mike "das intellele Geseiere auf den Tod net leiden, zum anderen arbeitet und lebt er in einem Kollektiv. Mike ist ein Typ von der Arbeiterselbsthilfe (ASH) draußen in Bonames.

KOPF UND BAUCH

Vor ein paar Wochen hatte er Vieto bei einer Entrümpelungsaktion in Sachsen-hausen kennengelernt. Da packte und stapelte er gerade Sperrmüll und altes Geschirr auf seinen ASH-LKW.

Die ASH hat sich inzwischen zu einem relativ großen Alternativ-Unternehmen gemausert. Über 30 Leute, Frauen und Kinder, sind dort engagiert. Haushaltsauf-lösungen, Entrümpelungen, Transporte, An- und Verkauf von Antiquitäten, Aufar- beitung und Wiederherstellung alter Möbel in einer Holzwerkstatt und dann gibt es noch eine Druckerei.

Mike meint, Kopf und Bauch seien bei der ASH nicht mehr getrennt. Denken und Fühlen gehören eben zusammen - ob in der Freizeit oder bei der Arbeit. Und vor allem könne da keiner den Chef raushängen lassen. "Alle sind gleich, und das ist für uns total wichtig. Alle haben die gleichen Rechte und das gleiche Interesse bei den Diskussionen abends, wenn es darum geht, was anders werden muss oder soll."

KEINE LEHRE DURCHGEHALTEN

Mike, gerade 18 geworden, will mitreden und mitbestimmen und nicht nur mechanisch vor sich hinmalochen. In der "bürgerlichen" Gesellschaft hat er keine Lehre durchgehalten, auch sonst hat er laufend seine Jobs gewechselt.

"Wieso has du denn so schnell bei deiner zweiten Arbeitsstelle aufgehört, wo du nur zwei Monate geschafft hast", will Vieto wissen.

Mike: "Weil, da fing das so an, mit Überstunden. Man wusste, wenn man nicht wollte, konnte man gehen. Hat mir total nicht gefallen. Und das Klima überhaupt und so, warste als Arsch hingestellt, weil du eben neu angefangen hattest, hattest keinen Brief in der Tasche, keinen Gesellenbrief. Da hab' ich mir gedacht, nehm' ich lieber meine Papiere und geh'."

Vieto fragt weiter: "Aber soviel Kohle wirste doch bei der ASH auch nicht kriegen?"

Mike: "Um die Kohle geht's bei mir net. Guck mal, ich hab doch jetzt hier erst mal mein Essen, ich hab' alles, ich hab' auch Geld, aber ich kann hier zum Beispiel sagen, wenn mir das nicht passt, damit ich das los bin, kann ich sagen: Hört mal zu, das und das geht nicht, dann wird darüber diskutiert. Das kann man in'ner normalen Firma nicht. Bei der ASH ist Abwechselung drin. Fährst LKW, biste im Verkaufslager, kommst mit Leuten zusammen, die wollen was von dir, denen kannste entgegen-kommen."

Die meisten dieser Jugendlichen glaube, den Grundwiderspruch zwischen Denken und Fühlen, zwischen Kopf und Bauch auflösen zu können. Ein Kollektiv, das die bürgerlichen Spielregeln außer Kraft setzt, in dem rationales Handeln nicht konträr zu den Gefühlen abläuft.

BATSCHKAPP - EINE MÜTZE

Auch die Batschkapp, das "Frankfurter Kulturzentrum e.V.", ist ein solches Kollektiv. Die Batschkapp gehört den Frankfurter Spontis, die nicht ohne Hintersinn diesen Namen wählten. Batschkapp nennen die Frankfurter im Volksmund eine Mütze, genauer gesagt ihre Schirmmütze. Unter dieser Mütze soll für alle Platz sein, die mit der etablierten Gesellschaft "wenig am Hut haben".

"Es soll versucht werden", so skizzierte das Batschkapp-Kollektiv Ende 1977 seine Konzeption, "ein Programm zu entwickeln und durchzuführen, das einerseits nicht-professionellen Kulturinitiativen Raum bietet und andererseits berechtigten Freiheitsbedürfnissen breiter Schichten Rechnung tragen will."

Die Tatsache, in einem Kollektiv zu arbeiten, heißt aber noch lange nicht, ein anderer oder neuer Mensch zu sein. Die Entscheidung, das Studium sausen zu lassen, Lehrstellen auszuschlagen, bedeutet keineswegs, sich selbst gefunden zu haben. Offen miteinander umzugehen, Gefühle zu äußern, solidarisch gemeinsam Sachen durchzusetzen, all das sind noch keine Garanten für Einvernehmlichkeit.

Hier prallen Wirklichkeit und Wunschvorstellung hart aufeinander. Hier wissen Wölfchen, Theo, Nobby und Moni manchmal nicht mehr, was an ihrer Arbeit eigentlich noch alternativ ist. Hier werden sie oft von Freaks in ein Rollenverständnis hineingedrängt, das ihnen zuwider ist.

KEINE BARMIXER, KEINE RAUSSCHMEISSER

Sie wollen keine Barmixer. keine Rausschmeißen und keine Garderoben-Mädchen sein. Sie sind keine Angestellten nach Tarifvertrag, mit einem Achtstundentag, Lohnsteuerkarte und Sozialversicherung. Sie verdienen keine Gelder, auch wenn das Bier wieder teurer wird. Trotzdem müssen sie sich anmotzen lassen, als seien sie Disco-Jobber, die aus dem Laden ihren kommerziellen Nutzen ziehen.

Für Wölfchen und Genossen ist es eben verdammt schwierig, den Leuten klarzu-machen, was ein Kollektiv ist, welche Lebensphilosophie sich dahinter verbirgt und was es bewirken will. Dass es dabei nicht um Profit geht, dass die Batschkapp-Typen hinterm Tresen, am Eingang und in der Küche beim Broteschmieren ein Stück alternativer Identität suchen, dass sie sich schon deshalb vom üblichen Glimmer-Konsum grundsätzlich unterscheiden.

Gerade an solchen Samstag wie diesem ist das Kollektiv mit den Nerven runter, restlos ausgelaugt. Wenn die Jungs, so gegen vier Uhr morgens, die letzten Bierleichen auf die Straße getragen haben, ist für sie noch lange kein Feierabend. Da kommen keine Putzfrauen, die den Laden für die nächste Nacht wieder herrichten.

Dann heißt es fürs Kollektiv sauber machen, Theke putzen, Klos schrubben, Kotze wegwischen. In den frühen Morgenstunden gleicht die Batschkapp einem ver-lassenen Schlachtfeld - Pappbecher und Zigarettenstummel bedecken den Boden, Bierflaschen wie Munitionshülsen, Qualm wie Kanonenschmauch.

ÜBER BLUMEN REDEN

"An und für sich würden wir lieber weiter über unsere Blumen reden, aber wir versacken hier in der Arbeit und Problemen", schrieb das Kollektiv schon wenige Monate nach der Batschkapp-Eröffnung Anfang 1978 im "Pflasterstrand", der "Zeitung für Frankfurt".

"Zu einer inhaltlichen Diskussion sind wir gar nicht mehr gekommen. Nach den Veranstaltungen haben wir erst festgestellt, ob sie gut oder schlecht waren. Und das drückte sich nur in positiven Ausflipps oder in totalem Frust aus."

Doch auch zwei Jahre später ist die Situation im Batschkapp-Kollektiv keine andere. Gereizt, missmutig, aufgerieben mit sich und den anderen ziemlich am Ende, trinkt das Kollektiv morgens um fünf Uhr noch ein Bier.

Jeder ist sich darüber im klaren, dass es nicht so weitergehen kann, jeder spürt, dass ihre Perspektive in kaum zwei Jahren zerronnen ist. Alle reden und schreien durcheinander, aber keiner weiß, wie sie sich aus ihrer Misere herauswinden können.
Nur eines ist unmissverständlich klar geworden. Mit acht Jugendlichen lässt sich die Batschkapp nicht mehr organisieren, das geht an die Substanz und bedroht das ganze Projekt.

Schon am Nachmittag müssen sie wieder antreten, Schnitzel braten, Bier rankarren, kaputte Stühle reparieren, für kommende Veranstaltungen neue Plakate kleben.

FRANKFURTER KINDER UNSERER ZEIT

Wölfchen, Theo, Jochen, Karo, Nobby, Bernhard und Moni, dieses Batschkapp-Kollektiv - sie sind nicht nur Kinder unserer Zeit, sie sind vor allem Frankfurter Kinder. Eine Stadt, die sie zu Gegnern dieses Staates werden ließ, eine Stadt, für die sie Hass und Verachtung empfinden, ohne die aber ihr Weltbild erst recht lädiert wäre - eine Art Hass-Liebe, die keinen Stillstand kennt, immer neue Nahrung und auch Märtyrer findet.

Wölfchens oder Theos Entwicklung, ihr einsamer Weg in die Sponti-Szene, wäre anders verlaufen, lebten sie nicht in Frankfurt. Vielleicht wären in anderen Städten, etwa München oder Stuttgart, aus ihnen Jusos oder Jung-Unionisten geworden.

Aber in Frankfurt? Eine Junge Union, die nicht mehr anzubieten hat als "Wir wollen, dass Alfred Dregger Bundeskanzler wird" - Dregger, der Biedermann aus dem katholischen Fulda, dem man in Sponti-Kreisen alles zutraut.

Auch die Jusos haben den Jugendlichen in dieser Stadt weitgehend ade gesagt. Sie verschanzten sich in all den Jahren immer mehr im SPD-Haus, mauschelten nur noch mit Berufspolitikern aus Bonn und Wiesbaden herum. Frankfurt Anfang der achtziger Jahre ist eventuell die Bundesrepublik von übermorgen.

Batschkapp-Abende im Spätsommer 1979: Elke ist fast jeden Tag hier, selbst wenn keine Disco läuft. Elke sagt von sich: "Ich bin sinnlos", und lacht dabei kess.

IN BETON GROSS GEWORDEN

Elke ist ein Nordweststadt-Kind, also in Beton praktisch groß geworden. Das wäre aber nur halb so schlimm, wenn sie etwas mit sich anzufangen wüsste. Seit zwei Jahren ist die 17jährige von der Hauptschule runter, zwei Jahre ohne Lehrstelle und ohne Job.

Sie hat es aufgegeben, sich noch irgendwo zu bewerben. Sinnlos. Eine Perspektive gleich Null, ein Selbstwertgefühl gleich Null, wenigstens eine Afro-Dauerwelle gleich neu. Mutter gab ihr die 70 Mark dafür.

Zu Hause, da draußen in der Nordweststadt, bei ihren Eltern, zwei jüngeren Brüdern und dem Dackel Stupsi, in der 75-Quadratmeter-Wohnung im sechsten Stock, geht ihr "alles so ziemlich auf den Keks".

Mit ihrem Vater, einem Elektriker, gibt es nur ein Thema: "Entweder findest du jetzt bald eine Lehrstelle, oder du kannst nur noch Putzfrau werden." Aber wer will schon mit 17 seine Zukunft aufs Putzen stützen.

SELBSTFINDUNG BEIM MAU-MAU

Die Jugendheime, die Elke so kennt, sind auch nicht gerade lustig. Das wäre etwas für 13- oder 14jährige Bubis, meint sie. Ewig wird Billard gestoßen, Baby-Fußball gebolzt, ab und zu Disco bei Dosenbier und Wurstbrötchen, ein arbeitsloser Sonderschüler als Thekentyp, Hansi heißt er.

Betreuer, die meist in ihrem "Mitarbeiterraum" sitzen, einen auf Selbstfindung machen oder Mau-Mau spielen. Die Räume kalt und ungemütlich, nur ein Dia vom Strand aus Palma de Mallorca schmückt die kahl-graue Wand.

Aber die Batschkapp, das ist für sie ganz was anderes. Schlägereien - okay, Rauschgift - okay. "Das gibt es in den städtischen Jugendheimen auch, das macht null Unterschied." In der Batschkapp ist mehr los, nicht alles nur auf "Meerschweinchen- höhe".

Elke würde gern den Tresen machen, würde gern mitarbeiten. Denn hier zu putzen, glaubt sie, das sei ein anderes Putzen als das, was ihr Vater ständig als Berufsziel im Auge hat.

Schon zweimal hat Elke bei Moni angefragt, wie es denn wäre mit der Mitarbeit und so. Moni war da sehr zurückhaltend. Denn die Batschkapp sei nicht irgendein Laden, sondern ein Kollektiv.

"Wir haben 'n Beziehung zu dem, was wir hier tun", soll Moni gesagt haben. Auch 'ne politische, weil das "die Alternative ist".

Na gut, dachte Elke. Was Alternatives, das wäre schon prima. Sie müsste einfach mal mit zuhören, wenn die über Beziehungen und Politik reden. Die Frauengruppe, die von Zeit zu Zeit in der Batschkapp tagte, war nichts für sie. Nicht etwa weil Elke die Mädchen blöd fand. "Die laberten so gestochen daher, da kriegte ich nichts gescheckt."

ROTE HILFE - ANGST VORM VERRECKEN

Anders bei der Roten Hilfe. Das war echt konkret, Knast und so. Haftbedingungen für politische Gefangene, die kaputtgehen, "mausetot" gemacht werden. Die Genossen, auch Rechtsanwälte wie der Willy, die es ja wissen müssen, sagten immer: "Wir müssen raus aus der Isolation, sonst verrecken wir auch noch."

Die Genossen von der Roten Hilfe empfahlen ihr zunächst einmal den "Pflasterstrand", den manche auch "Plastikstrand" schimpfen, weil er ihnen nicht kämpferisch genug ist.

Ihr erster Artikel, zu dem sich Elke quälend durchrang, beschäftigte sich mit der Todesursache von Ulrike Meinhof. Den Namen kannte sie ja schon von der Baader-Meinhof-Bande. Später erzählte sie der Moni, dass die Selbstmordgeschichte ziemlich komisch sei.

Moni ging auf Elkes Version nicht ein, hatte auch den Artikel nicht gelesen. Aber seither beurteilte das Kollektiv-Mädchen Elkes Entwicklung außerordentlich positiv. Sie hatte nach einer Beratung mit den Genossen auch keinerlei Einwände mehr, wenn Elke mal an der Theke aushalf.

Elke blühte auf, endlich eine Aufgabe, endlich hinterm Tresen. Nach kurzer Zeit kamen ihr auch die richtigen Sprüche über die Lippen. Motzte einer über das "scheißteure Bier", sagte sie: "Du hast wohl 'nen Vogel. Meinste, wir machen hier die Preise, meinste, dass wir hier Kohle verdienen?`Da hast wohl keine echte Beziehung zur Batschkapp. Wir sind hier nämlich 'n Kollektiv."

Willy, der Rechtsanwalt, der auch Tresendienst macht, meint: "Nach bürgerlichen Ansprüchen ist da kene einzige normale Figur in der Hütte drin."

AUS DEM AUSSTIEG - AUSSTEIGEN

Wölfchen hätte eigentlich Tresendienst. Aber er saß im Hof vor der Batschkapp und zählte die Züge, die nur zehn Meter von ihm entfernt in Richtung Köln rauschten. Er war fertig. Er war fertig, sah das Projekt als gescheitert an, er würde am liebsten aus dem Ausstieg wieder aussteigen. Dann fiele er aber, das war ihm unzweideutig klar, in ein tiefes Loch, in ein Nichts.

Es war eine Ferne zwischen der bürgerlichen Welt und der Alternative, die Wölfchen noch nie so konkret wie in diesem Moment empfunden hatte, die für ihn immerhin sechs Jahre seines 22jährigen Lebens ausmacht.

HÄUSERKAMPF - STEIN UM STEIN

Wölfchens Bruch mit dieser Gesellschaft passierte auf der Straße, genau im Kettenhofweg 51. Damals war er noch 16, noch Schüler, damals redete auch noch niemand von einer Alternative. Damals tobte im Westend der Häuserkampf, Stein um Stein, Knüppel um Knüppel.

Schon bei der ersten Demonstration führten Polizisten Wölfchen im Schwitzkasten ab. Wölfchen heute: "Ich hatte da überhaupt noch nicht durchgeblickt, Am Straßen-rand lieferten sich Zivile und Demonstranten eine blutige Schlägerei. Ich war so blöd und hab' versucht, mit den Zivilen zu diskutieren, weil ich dachte, das sind normale Passanten."

"Da hab' ich einen Kinnhaken kassiert und sechs Bullen packten mich, warfen mich in den Mannschaftswagen. Erst nach 24 Stunden war ich wieder frei. Da bin ich raus-gekommen, und es war um mich geschehen. Das letzte Portiönchen Vertrauen, das ich noch zum Staat hatte, war weg. Von da war ich bei jeder Demonstration, bei vielen Hausbesetzungen dabei."

SCHWELLENANGST ZUZUSCHLAGEN

Gemeinsame Kämpfte, das schließt die Reihen, macht unterschiedliche Auf-fassungen nebensächlich. Vor allem aber ist vielen eine zunächst unüberwindlich erscheinende Schwellenangst genommen: zuzuschlagen.

Eine Tatsache, die Wölfchen in der Batschkapp zugute kommt, wenn Rocker oder Besoffene Schlägereien inszenieren. Dann holt er einen alten Besenstiel unterm Tresen hervor und geht hemmungslos dazwischen.

Wölfchen befand sich am Ende des Häuserkampfes in einer brenzligen Phase. Er bestand zwar noch sein Abitur - das war dann aber auch alles.

"Damals habe ich mir geschworen", erinnert er sich, "nicht zu studieren, mich nicht noch einmal herumjagen zu lassen. Und eine Lehre kam für mich auch nicht in Frage, weil ich wusste, ich werd' nach einer Woche wieder rausgeschmissen. Ich bin keiner, der auf Kommando springt."

Trotzdem dachte er sehr lange übers Kommando nach, über Rote Armee Fraktion, Stadtguerilla, Rote Zellen.

Dass Wölfchen heute nicht auf den Fahndungsplakaten des Bundeskriminalamtes abgebildet ist, hat im wesentlichen zwei Gründe. Zum einen merkte er recht schnell den gravierenden Unterschied zwischen einem öffentlichen ausgetragenen Häuser- kampf, der ja sogar von Teilen der Bevölkerung mitgetragen wurde, und dem Leben der Stadtguerilla im Untergrund.

Er kannte noch ein paar Leute sehr genau. Er sah auch, wie sehr sie sich veränderten, "Ihr Alltag", sagt Wölfchen, "ist der totale Stress."

Zum anderen hatte es Mitte 1977 in der Frankfurter Sponti-Bewegung einen Knacks gegeben. Nach der Ermordung von Buback und Ponto sowie der Entführung von Schleyer war für die Mehrheit der Undogmatischen die Kriegsführung der Stadt-guerilla nicht mehr nachvollziehbar.

Denn das Prinzip der Roten Zellen, "sofort und überall den bewaffneten Kampf beginnen", artete für die Spontis in eine rein "militärische Konfrontation" mit der Staatsgewalt aus.

Wölfchen sagt: "Warum ich eigentlich ein Linker geworden bin, weiß ich gar nicht so recht. Ich habe nichts gelesen, noch nicht einmal ein kleines Bändchen vom alten Marx. Wenn wir aufdrehten, dann meist ohne großes Grundwissen."

"STRANDCAFÉ" BIS ZUM "GRÖSSENWAHN"

Befreiung erträumten sich viele von der Batschkapp - insbesondere ihr Kollektiv. Zumindest, als sie für den Schuppen, in dem früher die Diskothek "La Baya" hauste, den Zuschlag bekamen. Genau 40.000 Mark Abstand mussten gezahlt werden, und nochmals 100.000 Mark wurden reingesteckt, damit das Ordnungsamt nicht ständig mit der Schließung drohen konnte.

Eine ganz schöne Summe für Wölfchen, Theo, Karo, Moni und für das Kollektiv insgesamt - gesammelt oder geliehen in und von der Szene, zu der die Karl-Marx-Buchhandlung ebenso zählt wie das "Strandcafé", die Kneipe "Größenwahn" oder auch der "Pflasterstrand". Aber lang gehegte Erwartungen, die die Spontis mit ihrer Batschkapp verknüpften, rechtfertigten solch kostspielige Investitionen.

Zunächst gab es wohl keinen, der nicht von der Batschkapp schwärmte. Er wurde gehämmert und gemeißelt, geschreinert und geschrubbt. Das nicht nur wenige Wochen, sondern über ein Jahr.

Stützpfeiler mussten gezogen, Notbeleuchtungsanlagen installiert, Toiletten ausgebaut, Heizungskörper angebracht werden. Aus einer vermoderten Abstellhalle im Keller entstand ein ansehnlicher Übungssaal für Laienspiel, Folklore- und Musikergruppen.

Aber die Pläne gingen noch viel weiter. Eine Tischlerei sollte eingerichtet werden, eine Nähwerkstatt war geplant, Schülern, denen zu Hause wenig Platz und Ruhe blieb, bot das Kollektiv einen Extraraum an, um ungestört lernen zu können.

Es dauerte relativ lange, ehe das Kollektiv seine vom Publikum zugedachte Funktion begriff. Keiner wollte es nämlich zunächst so richtig wahrhaben, dass sie sich unversehens und ungewollt in die Rolle wiederfanden, die sie eigentlich schon der Vergangenheit zugeschrieben hatten.

Nämlich in der unergiebigen Rolle des permanenten Abarbeitens an Gesellschaft und Institutionen, wenn auch mit ungekehrten Vorzeichen. Nun war es nicht mehr der Häuserkampf, sondern die leidvollen Disco-Abende, die Kaputtmacher-Nächte, nur sie zählten bei den Freaks.

POLITSZENE VERSCHWAND IM NU

Beinahe vergessen schien der hoffnungsvolle Versuch, eine Gegenkultur zu gründen. Denn die Politszene, mit der das Kollektiv fest rechnete, verschwand leise, aber ganz plötzlich aus dem Blickfeld. Insbesondere an den Disco-Abenden, konnten sie schlecht über den "antimperialistischen Kampf" diskutierten.

Dann dominierte stets die Sozial-Szene, ein Heer von arbeitslosen Jugendlichen aus dem Frankfurter Norden, Typen mit Hoffnung auf Nähe, mit Hoffnung auf Durch-bruch, auch wenn es die Fäuste sind.

Wölfchen: "Wenn hier eine Gewaltnummer abläuft, sind wir oft machtlos. Denn wir haben mit den Bullen nichts zu tun, die sind gegen uns, auch in solchen Situationen. Wir müssen halt versuchen, uns gezielt zu wehren. Da liegen dann die Knüppel hinterm Tresen. Wenn wir selbst eine draufkriegen, haben wir halt Pech gehabt. Aber Schiss haben wir keinen."

Viele Spontis haben schon im Batschkapp-Kollektiv gearbeitet, viele sind auch schnell wieder ausgestiegen, weil sie Angst hatten. Nur Wölfchen und Theo sind praktisch von Anfang an dabei. Manchmal kriegen sie einen Koller, wollen alles hinschmeißen.

Doch am nächsten Abend stehen die beiden erneut an ihrem Platz. "Schließlich haben wir das Ding hier aufgebaut", erklärt Theo beinahe treuherzig, "Und 60.000 Mark Schulden müssen wir auch noch an die Szene zurückzahlen."

Wölfchen gesteht: "Okay, ich lebe halt heute, und das ist für mich wichtig. Ich denke eben nicht an morgen und schon gar nicht an übermorgen, sonst würde mir schwindelig."

















































































































































































Donnerstag, 8. Mai 1980

Reimar Oltmanns: Was aus dem Raster fällt ... Jugend in den achtziger Jahren - das Wunschbild der Medien in Deutschland (Teil III und Schluss)


























Die Jugend ist ein Sektor, der von Marktforschern bis zur Perfektion "betreut" wird. Bei dieser Erfassung fallen bestimmte Randgruppen aus dem Raster - auch wenn von ihnen Veränderungen ausgehen können. Das Erwachen ist dann in der Regel entsprechend.

Vorwärts, Bonn
08. Mai 1980

Die Begründung, warum sich "die jungen Leute" so fabelhaft entpuppen, liefern die Psychologen aus der Anzeigenabteilung: "Im Grunde hat nicht mehr stattgefunden als eine Verlagerung von einem Nest ins andere. Größere gesellschaftliche Ziele werden erst gar nicht angestrebt ... Sie wollen Geld verdienen, Geld, das ihnen, wie ihren Eltern, zu einem gesicherten Leben im vertrauten Rahmen verhelfen soll ..."

Die wirtschaftliche Größenordnung, um die es hierbei geht, hat die Industrie schon längst abgesteckt. Dass rigorose Bestreben der Konzerne, ihre Marktanteile an den jeweiligen Produkten ständig auszuweiten, jeden nur verfügbaren Cent aus dem Portemonnaie zu locken, führte dazu, dass der Zugriff auf die Jugendlichen einen Grad an Perfektion erreicht hat, der kaum noch ausbaufähig erscheint.

JUGEND ALS DAUER-KONSUMENT

Dabei sind es diesmal keine Systemkritiker, die die Vormachtstellung der Industrie auf dem Jugendsektor analytisch einordnen. Es sind die branchen-internen Wirtschaftsdienste, die selber mit politischen Argumenten hantieren. So schreibt Der Kontakter, ein Informationsblatt für Manager und Werbeleute: "Staaten der totalitären Gesellschaftsordnungen versuchen rechtzeitig, die Jugend voll auf ihre Seite zu ziehen. In Staaten der totalen marktwirtschaftlichen Ordnung versucht die Wirtschaft es rechtzeitig, die Jugend als Dauerkonsumenten zu gewinnen. So ist nun mal das Los des jungen Erdenbürgers."

Der Slogan lautet: Mit zielgruppen-orientierter Werbung in den "multimilliardenschweren Jugendmarkt". Der Kontakter gibt die Marschroute aus: "Denn höchstes Ziel jedes Anbieters muss es sein, ein Leben lang treuer Begleiter des Konsumenten zu werden ... Wenn wir uns auch daran gewöhnt haben, des Konsumterrors, der Massenverdummung und Manipulation verdächtigt zu werden - bei Kindern ist die Werbewelt in Ordnung. Weit mehr Jugendliche als Erwachsene finden, dass Werbung gut ist."

HANG ZU "HEIM UND HERD"

Die Abteilung Marktforschung des Zeitschriften-Konzern Gruner + Jahr kommt in einer vertraulichen Media-Analyse zu dem vielversprechenden Resultat: "Zum großen Nachfragepontenzial von 18 Milliarden Mark (9 Milliarden Euro) können die Zwölf- bis Vierzehnjährigen im Monat durchschnittlich Einnahmen von ca. 19 Mark, die 15- bis 17jährige von ca. 105 Mark und die 18- bis 21jährigen sogar 380 Mark beisteuern. Die Höhe des Gesparten liegt jedoch immerhin bei fünf Milliarden Mark."

Folglich wird die Zielgruppe Jugendliche über ihre statistische Bedeutung hinaus "vor allem für die nächsten fünf Jahre wichtig, um Marktpositionen für die achtziger Jahre zu sichern."

UNTERNEHMENS-HEKTIK

Der Hintergrund derartiger Unternehmenshektik: In der Altersgruppe zwischen 20 und 49 Jahren mit einer hohen Kaufkraft und in städtischen Gebieten ist seit Jahren eine Sättigung eingetreten, die Gewinne stagnieren. Zuwachs um des Zuwachses Willen ist nun mal die Wirtschaftsphilosophie. Dieser lässt sich aber nur noch durch Expansion im Kinder- und Jugendbereich holen. Und die Bedingungen dafür, so das Münchner Institut für Jugendforschung, seien äußerst günstig. Danach plätschert "die Jugend" vor sich hin, die "APO-Frondeure" und die "Kinder von Marx und Coca-Cola" hätten ausgedient. Gefragt sei vielmehr das schlichte Ja und Amen, zwar nicht in der Kirche, aber dafür zu Hause, in der Schule und im Betrieb.

Auch die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit verzeichnet einen beachtlichen Hang zu "Heim und Herd". Vornehmlich die jungen Mädchen seien lange nicht so emanzipiert, wie bisher vermutet. "Sie träumen kaum noch von Gleichberechtigung, sondern wollen lieber wieder Hausfrau und Mutter sein." Nicht Sex und Politik stünden an erster Stelle des Interesses. Nach Altmütterweise sei die Mode wieder Thema Nummer 1 - knöchellang und spitzenbewehrt. Dafür hätten sich nach der Münchener Jugenduntersuchung 42 Prozent der 16- bis 29jährigen ausgesprochen. Erst weit abgeschlagen auf den nächsten Plätzen folgen Erziehungsfragen (33 Prozent), Wohnungseinrichtung (30 Prozent), soziale Probleme (27 Prozent) und Politik (21 Prozent). Die Jugendlichen erhoffen sich ein Leben, "das dem chemisch-reinen Vorbild unserer Wohlstandsgesellschaft entspricht - sie orientieren ihre Karrierevorstellungen am guten Verdienst, denn Geld macht frei". Für die Unternehmen eine Aufforderung, nun die richtigen "strategischen Mittel" einzusetzen, "denn der junge Verbraucher befindet sich im Stadium, in dem er beeinflussbar ist."

JUGENDLICHE ABHÄNGIG MACHEN

Die richtigen strategischen Mittel einsetzen, Märkte erobern, psychologisch beeinflussen, Jugendliche unterschwellig abhängig machen - dafür ist die Werbung kompetent. Eine ihrer grundlegend neuen Erkenntnisse: Die Jugendlichen wollen "als ganz normale Menschen" behandelt werden. "Sie fordern Echtheit der dargestellten Situation und lehnen unnatürliche Posen ebenso rigoros ab wie eine überspannte Sprache."

Der offenkundige Versuch, ein möglichst konfliktfreies und gesellschaftskonformes Bild von den Jugendlichen zu entwerfen, kommt einer wohl kaum unbeabsichtigten Gleichschaltung nahe. Plattitüden wie "APO-Frondeure", "Kinder von Marx und Coca-Cola", die vielzitierte "Heim-und-Herd-Mentalität" zeigen nur allzu deutlich, mit welcher voreingenommenen Ignoranz hier angeblich "vorurteilsfrei" Zwischenbilanzen aufgemacht werden., die zu alledem noch Anspruch auf Repräsentativität erheben. Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung meint zu Recht: "So beunruhigend die freilich oft selbstverständlich-banalen Ereignisse sind, so fragwürdig erscheint die quantifizierende Methode, auf Grund deren sie gewonnen sind. Wir bedürfen der Faktenkenntnis", schreibt das Blatt, "aber es ist ein Aberglaube unserer Zeit, dass 'facts and figures" als solche Aussagekraft besitzen.

POLITISCHE VERHALTENSWEISEN

Das tritt im selben Maße auf Forschungsinstitute zu, die von der Industrie unabhängig arbeiten. Über vier Jahre untersuchte der Hannoveraner Sozialwissenschaftler Walter Jaide politische Verhaltensweisen der Achtzehnjährigen. Als der Hochschullehrer seine gewiss seriöse empirische Studie publizierte, war sie bereits weitgehend von der Realität überholt und dürfte vornehmlich für Historiker oder Promotionsstipendiaten interessant sein. Jaide kam auch in seiner Beurteilung über einen gewissen "Schwebezustand" nicht hinaus. Er resümierte: "Somit bleibt dem Beobachter, teils respektabel, teils beklemmend, der Haupteindruck eines auffälligen 'Noch', einer Noch-Existenz der überwiegenden Mehrheit der Jugendlichen abseits von Resignation und Entfremdung, von Reaktion und Rebellion."

Ähnlich verhält es sich mit den Experten im Buch "Junge Leute von heute". Der Grundtenor: "Der Fortgang der Tradition geht ungestört seinen Gang." Das Prinzip: Der eine Jugendliche steht mit einem Bein in kochend heißem Wasser, der andere steckt seine Füße in die Gefriertruhe. Was dabei herauskommt, sind sozialwissenschaftliche Mittelwerte verflossener Jahre. Veränderungen, die oft von Minderheiten ausgehen, fallen aus dem Raster.

DISCO-FIEBER - TRAVOLTA-NÄCHTE

Eigentlich kann in Deutschland mit "dieser Jugend" jeder zufrieden sein. Politiker, die künftig kaum noch Demonstrationen befürchten müssten. Medien, die "Travolta-Nächte" in den Discos hochjubeln können. Unternehmer frohlocken über Konsumhunger und Leistungswillen. Statistiker, die die deutsche Jugend in Europa mit an der Spitze sehen.

Doch alle wissenschaftlichen Prognosen, alle herbeigeredeten Trends, die bisher über den Typ der einen oder anderen Generation aufgestellt worden sind, haben sich im nachhinein als "Eintagsfliegen" oder als rundweg falsch herausgestellt. Es gab weder die "skeptische Generation", die der Soziologe Helmut Schelsky (* 1912+1984) in der Nachkriegsgeneration sah, noch die "Generation der Unbefangenen" - eine Studie der Deutschen Shell, die eine unpolitische, konsumwütige und harmlose Jugend ausmachte. Im Jahre 1966 wurde die Shell-Untersuchung veröffentlicht, ein Jahr später brach die Studentenrevolte aus.

Aber auch die weitsichtigen Erwartungen aus der APO-Zeit erwiesen sich als nicht stichhaltig. Die "Kulturrevolution" blieb papieren. Der "lange Marsch durch die Institutionen" wurde ein kurzer Spaziergang. "Jugend im Zeitbruch" nannte der konservative Hochschullehrer Klaus Mehnert (*1906+1984) sein Buch, in dem er die Außerparlamentarische Opposition und deren gesellschaftlichen Einfluss kritisierte.

LANGZEIT-AUSWIRKUNGEN

Zwei Jahre nach Erscheinen korrigierte Mehnert ebenfalls etliche Kapitel, ließ andere ganz weg, weil er noch deutlichere "Langzeit-Auswirkungen" zu erkennen glaubte. Ende der siebziger Jahre - die Republik feierte gerade ihren 30. Geburtstag - war aus der einst "skeptischen", dann "unbefangenen" nunmehr "die überflüssige Generation" geworden. Traurige Kinder, durch Arbeitslosigkeit ausgestoßen durch Berufsverbote als Verfassungsfeinde stigmatisiert. Man sah verschlossene Gesichter, stumm und resignativ, abermals in den Konsum flüchtend und unpolitisch privatisierend.

Kein Chefkommentator oder Politstratege hätte jemals zu dem damaligen Zeitpunkt den Grünen, Bunten oder Alternativen eine Chance eingeräumt, auch nur in ein Parlament einzuziehen. Aber auf einmal waren sie da, und eine Jugend rückte in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, die schon seit Jahren aus der Gesellschaft ausgestiegen war. Aus winzigen Randgruppen in den Hinterhöfen der Großstädte und den abgelegenen Landkommunen, oft belächelt und verspottet, entwickelte sich eine neue Jugendbewegung; inzwischen ein ernst zu nehmender politischer Faktor, an dem die selbstgefälligen Bonner Parteien nicht mehr vorbeikommen.

So kommt es, dass in der 54 Seiten starken Jugendstudie der Werbeagentur McCann mit Sicherheit ein richtiger Satz steht: "Wahrscheinlich hat man sich zu keiner Zeit über den Zustand einer Gesellschaft so breit und öffentlich mit falschen Argumenten auseinandergesetzt wie heute. Das gilt insbesondere für die Bevölkerungsgruppe, die als 'die Jugend von heute' bezeichnet wird."














Montag, 5. Mai 1980

Zu Hause in einem fremden Land - Deutschland








Für Sie gelesen
am 5. Mai 1980


Anders als der ehemalige "stern"-Reporter Jörg Andrees Elten, der in eine obskure indische Heilslehre nach Poona geflüchtet ist, ist der ehemalige "stern"-Redakteur Reimar Oltmanns "ausgestiegen". In einem Vorwort zu seinem jüngst von ihm im Rowohlt-Verlag erschienenen Buch mit dem Titel "Du hast keine Chance, aber nutze sie - eine Jugend steigt aus" beschreibt er seine eigene Veränderung unter anderem so:

Über zehn Jahre saß ich in Zeitungsredaktionen ein. Damals, als ich anfing, glaubte ich noch an den Marsch durch die Institutionen, an die Offenheit eines kritischen Dialogs, an meine und die Lernfähigkeit anderer. Als ich dann aufhörte, besser gesagt ausstieg, war ich nicht resigniert. Vielmehr ging mit ständig ein Satz durch den Kopf, den ich später auch immer wieder von Jugendlichen hörte: "Das kann doch nicht alles gewesen sein."

JET-SET-JOURNALISMUS ADÉ

Nein, er war wirklich nicht alles, dieser Jet-set-Journalismus. Er hatte sicherlich einiges von dem, wie manche sich die "große Welt" vorstellen. Man flog zum Beispiel vom New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen in der ersten Klasse nach Frankfurt zurück, wo die Stewardessen Sekt-Cocktails reichen. Man nächtigte in Rom in der Villa Hassler, Zimmer mit Blick auf die Spanische Treppe, und ging abends im Pariser "La Coupole" auf Geschäftskosten essen.

Nein - dieser Jet-set-Journalismus ist ein künstliches Treibhaus und hat mit den Menschen und ihren wirklichen Problemen kaum noch etwas zu tun. Eine Portion Abgebrühtheit und Zynismus gehört schon dazu, um über Jahre all die Widersprüche unbeschadet durchzuhalten, die damit verbunden sind - einmal den Erdball aus der Leihwagenperspektive wahrzunehmen, zum anderen, wenigstens vordergründig noch eine Anteilnahme für die sozialen Deklassierungen und krassen Ungerechtig-keiten zu empfinden.

ANMACHEN, AUSQUETSCHEN, ABMELKEN

Mit den Artikeln, die ich schrieb, verhielt es sich so wie mit einem Lichtschalter, der an- und ausgeknipst wird. Die Menschen, denen ich unterwegs begegnete, wurden dabei zu Figuren, Leute zum "Anmachen", " Ausquetschen" und "Abmelken", mal auf die harte, mal auf die weiche Tour. Warum sie an die Öffentlichkeit gingen, ihr Leid, ihr Schicksal oder auch ihre Ängste schilderten - das war im Prinzip nebensächlich. Was zählte, war die Geschichte, die andere "vom Stuhl reißen" sollte, "Output" hieß das in der Redaktion, Zeile um Zeile, Story um Story.

FASSADENKULTUR DES NETTSEINS

Ich bin mir schon darüber im klaren, dass meine heutige selbstkritische Distanz zum Jet-set-Journalismus von manchen missverstanden werden muss. Nach dem Motto: ein Geläuteter kann es sich nicht verkneifen, mit seiner Vergangenheit zu renommieren. Aber diese Kritik nehme ich in Kauf, wenn es mir gelingt, an meinem Beispiel zu verdeutlichen, warum mich gerade die Aussteigergeneration interessiert. Das, was ich tagtäglich in meiner Berufswelt erlebte, ergeht anderen ebenso. Ob in Schulen, Betrieben und Universitäten - gemeint ist die allmähliche Enteignung von Gefühlen, von Denken und Sprache. Gemeint ist die Selbstentfremdung, die Fremdbestimmtheit, der sich keiner entziehen kann, der nur einigermaßen durchhalten will. Gemeint sind ferner die ewigen Herum-Finassierereien, die Artigkeiten, die da ausgetauscht werden, die Fassadenkultur des Nettseins, obwohl die meisten insgeheim wissen, mit welch einem geduckten Bewusstsein sie ans Tagwerk gehen.

Für dieses Buch benötigte ich jedenfalls kein Flugticket, keine credit cards und schon gar keine Visitenkarte. Was ich brauchte, war das Vertrauen junger Menschen, die ihrer Umwelt misstrauisch gegenüberstehen.

... ... Da stand ich nun in Berlin-Kreuzberg, ging von einer Kneipe zur anderen, versuchte mich hier und dort ... ... Mal hielt man mich für einen Spitzel, mal für einen üblen Journalisten, der nur ihr Leben verkaufen wolle. Und ich fragte mich immer ernsthafter, was in den vergangenen zehn Jahren in diesem Land eigentlich passiert sein muss, dass die Luft zwischen diesem Teil der Jugendlichen und der etablierten Gesellschaft stillsteht, dass vielerorts ein abgrundtiefes Misstrauen vorherrscht, dass die einfachste Art des alltäglichen Miteinanders unmöglich erscheint - nämlich das Gespräch.

ABGRUNDTIEFE RISSE

Viel hörte ich im Jahre 1979 von den traurigen Kindern dieser Republik oder von einer verlorenen Generation. Das mag vielleicht noch auf jene zutreffen, die sich von diesem Staat, seinen Politikern und Bürokraten etwas erhoffen. Die Aussteigergeneration hingegen ist nicht verloren, dieses Land hat vielmehr einen Großteil seiner Jugend verloren. Auch sind es keine Kinder von Traurigkeit. Junge Leute, die das Leben bejahen, die sich ihre Ideale nicht rauben und zerreden lassen wollen, sondern in ihrem kleinen Lebensbereich einer sinnentleerten und auf Konsum fixierten Gesellschaft eine Absage erteilen.

Nach meiner Rundreise durchs alternative Deutschland, die fast ein Jahr dauerte, schien mir die Bundesrepublik ein wenig fremder, kälter und unwirtlicher als vorher. Bonn, wo ich mich früher als Korrespondent zu Hause gefühlt habe, machte mich nur noch betroffen.

SCHÜLERBERGE - BUTTERBERGE - PAPIERBERGE

Bei vielen Gesprächspartnern hatte ich den Eindruck, dass sie überhaupt noch nicht erfasst haben, welche Dimension die Aussteigergeneration inzwischen erlangt hat; dass es ihnen eigentlich auch relativ egal ist, wenn Hunderttausende junger Leute mit den Füssen oder dem Kopf auswandern - Technokraten der Macht, herzlos und ohne Anteilnahme.

In keiner Stadt musste ich mich mit derart vielen Allgemeinplätzen vertraut machen wie in dieser. Da war von Modetrends, Randgruppen und Kommunisten die Rede, da wurden Schülerberge mit Butterbergen gleichgesetzt und als Ablage auf den Papierberg gestapelt, da wurde schließlich vom weißen Rauschen und larmoyanten Weltschmerz einer jungen Generation lamentiert. Ursache und Wirkung wurden in seltensten Fällen auseinandergehalten. Das ließen die Statistiken nicht zu, oder die Ministerialen hatten sich eine Denkpause verordnet. Wie nirgends sonst fand ih hier die These vom Staat im Staate, von zwei Kulturen, die sich einander nichts mehr zu sagen haben, grundlegend bestätigt. Irgendwie war ich hier zu Hause, aber irgendwie auch schon ein einem Land, das mir vielleicht schon immer fremd war oder fremd geworden ist.