Mittwoch, 1. November 1978

Überwachungsstaat - Computerzugriff, Telefonkontrollen, Einbruch in Privatsphären - so gut wie nichts bleibt mehr vor Spähern geschützt
















Zeitschrift "konkret", Hamburg
1. November 1978



So konkret war der stern lange nicht mehr. Seine Redakteure Peter Koch und Reimar Oltmanns haben hier eine Serie über die systematische Zerstörung des Rechtsstaats Bundesrepublik erarbeitet, die alle Merkmale bester republikanischer Pressetradition trägt: Hartnäckige Recherche auch in Bereichen, die keinen öffentlichen Zugang gewähren (zum Beispiel Verfassungsschutz), aufklärisches Engagement und Phantasie. Was fehlt, ist die Analyse der polit-ökonomischen Bedingungen des präzise beschriebenen Marschs in den Geheimpolizeistaat. Aber, Genossen, wer wird von einem Ochsen verlange, dass er Milch gibt. Schluss der Serie (und des Buchs, in das auch einige zuerst in konkret erschienene Verfassungsschutz-Fotos aufgenommen wurden) ist eine Political Fiction, die beschreibt, wie die Bundeswehr-Generalität einen Putsch inszenieren könnte, indem sie nur die bestehenden Notstands-Gesetze extensiv auslegt. Am Ende wird der SPD-Chef "Willy Brunner" von der Sozialistischen Internationale in Paris stürmisch begrüßt, Olof Palme (*1917+1986), Bruno Kreisky (*1911+1990) und François Mitterrand (*1916+1996) gründen ein Komitee zur "Rettung der demokratischen Rechte in der Bundesrepublik Deutschland".

Donnerstag, 27. Juli 1978

Die bösen Geister in Deutschland




Deutschland in diesen Jahren. Das passiert ganz unspektakulär in dieser Republik, vergiftet das ganze Land. Auf der manischen Suche nach Radikalen spähen Verfassungsschützer Pastoren aus, bespitzeln Schüler ihre Lehrer, Bürger denunzieren ihre politischen Gegner von neben an, Betriebe durchleuchten die politische Gesinnung ihrer Arbeiter. Und selbst Linke verpfeifen immer wieder andere Linke. Brunnenvergiftungen vielerorts. Einschüchterungen ... ...

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stern, Hamburg
27. Juli 1978
von Reimar Oltmanns
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Für Alt-Nazi Kurt Ziesel (*1911+2001) , Herausgeber des ultrarechten "Deutschland-Magazin", sind Schriftsteller wie Heinrich Böll und Günter Grass "die geistigen Bombenwerfer". Der konservative Publizist Matthias Walden (*1927+1984) darf mit höchstrichterlicher Billigung weiter behaupten, Böll habe den Boden des Terrrorismus bereits durch "den Ungeist der Sympathie mit den Gewalttätern gedüngt". Gerhard Mayer-Vorfelder, Finanz-Staatssekretär in der Stuttgarter Landesregierung (1974-1976), hat den Nobelpreisträger Heinrich Böll aufgefordert, "das Land zu verlassen". Bremens CDU-Fraktionschef Bernd Neumann will für die exaltierten Verse des Lyrikers Erich Fried gleich die Endlösung; "Gedichte, wie die von Fried, gehören eigentlich verbrannt."

FEINDE ODER FREUNDE

Der CDU-Pauker Neumann, ein Radikaler im öffentlichen Dienst, der nicht vom Radikalenerlass betroffen ist, beweist, wie weit es nach sechs Jahren Radikalenerlass gekommen ist. Der radikale Erlass hat nicht nur über zwei Millionen junge Leute der Gesinnungsüberprüfung unterworfen und über 4.000 Bewerbern
für den öffentlichen Dienst Berufsverbot eingebracht. Die geistigen Auswirkungen der Berufsverbote haben auch das politische Klima der Bundesrepublik nachhaltig vergiftet. Unter dem Vorwand, der Staat müsse gegen Linksextremisten geschützt werden, treiben Verleumder und Denunzianten in allen Gesellschaftsbereichen ihr Unwesen. Zu ihren Opfern werden Lehrer, Pennäler oder Elternräte in den Schulen, Professoren an Universitäten, Manager, Angestellte und Betriebsräte in den Unternehmen, Pastoren und Gemeindehelfer in Kirchen. Der Radikalenerlass sortiert sie zur Linken wie zur Rechten - danach gibt es nur noch "Feinde" und "Freunde" der Verfassung.

NACHZENSUR

Bei den Schulbüchern ist der Radikalenerlass um eine subtile Variante bereichert worden. Zwar war es immer schon üblich, neue Schulbücher im Genehmigungsverfahren der Ministerien auch daraufhin abzuklopfen. ob ihre Inhalte die "freiheitliche demokratische Grundordnung" (FDGO) bejahen. Doch in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz werden seit 1975 immer mehr bisher erlaubte Lesestoffe einer rigorosen Nachzensur unterworfen.

Dabei handelt es sich nicht etwa um die antiquierte Geschichtsschreibung, die teilweise immer noch von den "polnisch besetzen Gebieten" zwischen Oder und Neiße ausgeht (Auer Verlag, Donauwörth, 1974) , sondern um bundesdeutsche Zeitgeister, die sich einen gesellschaftskritischen Blickwinkel angeeignet haben.

BIERMANN, FICHTE, FRIED UND CO.

So war "Brenders Deutsches Lesebuch, Bände 1-5", an den Gymnasien fast aller Bundesländer - auch in Bayern - eine Art Pflichtlektüre. Mit Schreiben vom 28. November 1977 forderte das bayerische Kultusministerium den renommierten Crüwell-Verlag in Dortmund auf, mehrere Texte auszumerzen, anderenfalls könne das Buch nicht mehr als Unterrichtsmaterial verwendet werden.

WEIHNACHTSMÄNNEROSTERHASEN


Anstoß genommen hatten die Münchner Kulturhüter an Wolf Biermanns "Ballade von dem Briefträger William L. Moore aus Baltimore". Im Untertitel heißt es: "Er protestierte gegen die Verfolgung der Neger, er wurde erschossen nach einer Woche." Biermanns Dichterkollege Hubert Fichte verärgerte die Bayern mit einer lyrischen Groteske über Festtags-Konsum: "Wenn die Weihnachtsmänner umgepresste Osterhasen sind, dann sind die Osterhasen umgepresste Weinachtsmännerosterhasen." Ein Essay des in London lebenden österreichischen Lyrikers Erich Fried (*1921 +1988) flog raus, weil es darin heißt: "Zu den Steinen hat einer gesagt: seid menschlich. Die Steine haben gesagt: Wir sind noch nicht hart genug." Auch eine harmlose Industrie-Reportage von Günter Wallraff passte nicht in die bayerischen Lehrpläne.

GESINNUNGS-TÜV

In Rheinland-Pfalz strich das Kultusministerium aus dem Buch des Frankfurter Hirschgraben-Verlages "Lesen - Darstellen - Begreifen", Ausgabe C für das 8. Schuljahr, Beiträge von Schriftstellern wie Bernt Engelmann ,(*1921+1994), - "Der König von Saarbein", ein Beitrag über die soziale Lage der Arbeiter um die Jahrhundertwende - , Peter O. Chotjewitz ("Malavita") sowie des Liedermachers Franz Josef Degenhardt ("Wiegenlied und Deutscher Sonntag").

VORZENSUR

Die Regierung des Ministerpräsidenten Hans Filbinger (*1913+2007) in Stuttgart indes legte eine noch schärfere Gangart vor. Sie traut ihren Lehrern künftig keine eigene Beurteilung des Unterrichts mehr zu. Schuldirektoren sollen das Lehrmaterial neuerdings vorzensieren - wohlbemerkt für Pädagogen, die bereits beim Verfassungsschutz im politischen Gesinnungs-TÜV waren und mit der begehrten FDGO-Plakette versehen wurden. Dennoch sieht das Kultusministerium weiterhin die Gefahr, "dass Schüler einseitigen Versuchen der Indoktrination" ausgesetzt sind.

MUSTER-LÄNDLE

Mit dem Grundsatzbeschluss des baden-württembergischen Ministerrats vom 18. Oktober 1977 wurde im "Muster-Ländle" ein Verfahren eingeführt, wonach "die Lehrer die Verwendung ergänzender Unterrichtsmaterialien der Schulleitung" zu melden haben, "um Missbrauchskontrollen zu erleichtern". Gleichzeitig wurden die Eltern ermuntert, "Verstöße und Missbräuche" anzuzeigen. Jene Eltern, die eigentlich vertrauensvoll mit den Pädagogen zusammenarbeiten sollen, werden von Amts wegen als Aufpasser eingesetzt.

ZWANGS-SEXUALISIERUNG

Eine Aufgabe, die die bayerischen Katholikenräte schon freiwillig übernommen haben. In ihrer Zeitschrift "Die lebendige Zelle" fordern sie Eltern auf, gegen "Zwangssexualisierung" und "politische Ideologisierung" ihrer Kinder vorzugehen. Was für die Katholikenräte im Schulalltag bedeutet: Eltern sollen die im Unterricht verwandten Texte als "Beweisstücke" ans Kultusministerium schicken, wenn ihnen irgendein Inhalt suspekt erscheint.

Die durch die Radikalen-Debatte ausgelöste und durch konservative Politiker geschürte Ängstlichkeit, die Schulen könnten bereits von "verfassungsfeindlichen Lehrern" unterwandert sein, hat im niedersächsischen Regierungsbezirk Osnabrück ebenfalls zu einem generellen Beschluss der Schulräte geführt, die damit die Anzeigepflicht verdächtigter Pädagogen festgelegt haben. Darin heißt es: "Bei Bekanntwerden von nicht verfassungskonformen Aktivitäten ist sofort Meldung zu erstatten, insbesondere dann, wenn solche Aktivitäten in Form von ideologischer, unmoralischer oder glaubensfeindlicher Beeinflussung im Unterricht festgestellt werden." Ob Eltern, Schulräte oder gar die Regierungen den Unterricht engagierter Lehrer mit "nachrichtendienstlichen Mitteln" ausspähen - der SPD-Politiker und Ex-Studienrat Erhard Eppler (1968-1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit) sieht schon seit längerem einen klaren Trend zur Resignation: "Es ist in manchen Lehrerzimmern schon ruhig geworden. Manche Pädagogen ziehen es vor, ihre Ansichten zu verschweigen, weil ein Klima des Misstrauens, der Heuchelei und der Unfreiheit herrscht."

AKTION: SCHULBUCH

Dem vorausgegangen war im Frühjahr 1977 eine bundesweite "Aktion Schulbuch" des CDU-Wirtschaftsrates. Unter dem Motto "Wachsamkeit - Preis der Freiheit " (Seite 1) oder "Machen Sie mit bei der Verteidigung unserer Ordnung" (Seite 2) forderten die CDU-Unternehmer Schüler, Eltern und Freunde auf, in einen Fragebogen "bedenkliche Buchpassagen" aus dem Unterricht und den Namen des Lehrers einzutragen. Denn für den Initiator, CDU-MdB Philipp von Bismarck (*1913+2006), "geht der Marsch durch die Linken auch durch die Schulen und Schulbücher". Was ihn stört: sozial engagierte Lehrstoffe oder die Verwendung des Kürzels "BRD" für "Bundesrepublik Deutschland".

"DIFFAMIERUNG - DENUNZIERUNG"

Parallel zum CDU-Wirtschaftsrat hatte außerdem eine Arbeitsgruppe des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) 270 Schullektüren durchforstet. Sie gab folgende Empfehlung: Zum "Bestandsschutz der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gegen emanzipatorische Schulbuchproduktionen" müsse insbesondere der Arbeitskreis Schule/Wirtschaft entgegenwirken, um die unter der Jugend verbreitete "ungesunde Skepsis und die dadurch entstandene Arbeitsunlust" abzubauen.

Und zu guter Letzt nahm sich das Institut der Deutschen Wirtschaft (IDW) 40 Sozialkundebücher vor. Seine Analyse: " Statt sachlicher Informationen enthalten viele Schulbücher klischeehafte, ungenaue Darstellungen, die durch Vorurteile genährt werden."

Das politische Ziel für die bundesdeutschen Unternehmer hat CDU-MdB Philipp von Bismarck (*1913+2006) in seinem Schreiben vom 15. März 1977 an die Mitglieder des CDU-Wirtschaftsrates abgesteckt. "Es geht uns darum, der weiteren Diffamierung und Denunzierung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in den Schulbüchern und anderen Lehrmaterialien nicht länger tatenlos zuzusehen. Wir wollen durch Eigeninitiative eine Tendenz zum Besseren mit herbeiführen. Die Stunde für eine solche Aktion ist in der gegenwärtig labilen bildungspolitischen Lage günstig ...".

AUFBRUCH PASSÉ

Vorbei ist es mit der Aufbruchstimmung, die vor zehn Jahren die Bildungspolitik erfasst hatte. Unter dem Begriff Chancengleichheit sammelten sich Pädagogikstudenten von damals, forderten Durchlässigkeit der traditionellen Schultypen von Gymnasium, Real- unmd Volksschule, engagierten sich für ein flexibles Kurssystem, das den einzelnen Schüler nach seiner individuellen Begabung fördert. Gesamtschulen entstanden, der Vorschul-Unterricht wurde populär, Deutsch avancierte für Gastarbeiter-Kinder zum Pflichtfach, und neue Lehrpläne sollten den Unterricht alltagsnäher und berufsbezogener gestalten (Gesellschafts- und Sozialkunde). In jeder Zeit ereignete sich in dem bildungspolitischen Entwicklungsland Bundesrepublik ein Novum: allmählich setzte sich auch Englisch als erste Fremdsprache an den Volksschulen durch.

IMAGE-FILME

Heute dagegen, so sehen es zumindest für Unternehmerverbände, sollen die Reformansätze wieder zurückgeschraubt werden. Um ihr Image an den Schulen zurechtzurücken, lässt die Industrie- und Handelskammer in Koblenz in den nächsten zwei Jahren zwölf Filme über die "Grundlagen der Marktwirtschaft" drehen. Kostenpunkt: 250.000 Mark; Vorführungsort: Gymnasien, Real- und Hauptschulen. "Ein richtungsweisendes und in der Bundesrepublik Deutschland einmaliges Projekt", schreibt Kammerpräsident Ludwig am 13. Mai 1978 an die Unternehmer. Außerdem können die Spenden "als Betriebsausgaben steuerlich geltend gemacht werden".

RÜSTZEUG DER UNTERNEHMER

Zum Rüstzeug der Unternehmer gehört ebenfalls ein Buch des Marktwirtschafts-Professors Wolfram Engels (*1933+1995) "Mehr Markt". Der CDU-Wirtschaftsrat kaufte gleich 10.00 Exemplare auf (Buchhandelspreis 16,80 Mark) und verschickte einen großen Teil als "gesellschaftspolitisch geeignetes Lehrmaterial an die Ortsverbände der CDU-nahen Schüler-Union, damit die Pennäler es mit andersdenkenden Lehrern aufnehmen können.

Und in kulturkämpferischer Manier warnte die "Niedersächsische Wirtschaft", das Verbandsorgan der Industrie- und Handelskammer Hannover/Hildesheim, Ausgabe Nr. 5/77 vor der neuen Schüler-Generation, die sich im Herbst 1977 bei den Firmen bewarb: "Man muss wissen, dass in Niedersachsen der erste Jahrgang der Gesamtschulen in die Betriebe zur Ausbildung drängt - ein Jahrgang der vielerorts Jahre planmäßig in Konfliktpädagogik trainiert worden ist von Lehrern, die sich nach eigener Aussage als Agenten einer totalen Gesellschaftsveränderung verstehen. Welche Saat wird in den Betrieben, die Gesamtschulabgänger aufzunehmen gedenken, aufgehen?

GRABENKRIEG DER ERWACHSENEN

Für manche Jugendliche ist der Grabenkrieg der Erwachsenen zum Vorbild geworden - und zwar in der Schule. An der hessischen Gesamtschule Friedberg verteilte die Junge Union Fragebögen an die Schüler: "Hast Du Respekt vor Deinem Schulleiter?" - "Kommst Du Dir als Versuchskaninchen vor?" - "Wirst Du von Deinem Lehrer politisch beeinflusst?"

In Hamburg hatte der 16jährige Johannes Barwinkel*, Aktivist der Jungen Union, nach einer Unterrichtsstunde zum Thema Terrorismus Fantasie und Wirklichkeit durcheinandergebracht. Er erzählte seinen Eltern - beide sind engagierte CDU-Leute -, sein Lehrer Wolfgang Breyer habe Formulierungen des früheren Anarchisten-Anwalts Horst Mahler (*1936 - Gründungsmitglied der terroristischen Rote Armee Fraktion [RAF] 1970, seit 2003 vorbestrafter Rechtsextremist und Antisemit) vorgelesen. Ohne Nachprüfung steckten die empörten Barwinkel der Hamburger CDU den "Terrorismus-Tip". Die Christdemokraten starteten daraufhin in der Vorwahlkampf-Phase der Bürgerschaftswahl 1978 im Hamburger Stadtparlament eine Große Anfrage. Die Opposition wollte vom SPD/FDP-Senat wissen, ob der Schulsenator endlich gegen Lehrer vorgehe, die Schüler "im linksradikalen Sinne indoktrinieren". Die Bild-Zeitung kam am nächsten Morgen mit der Schlagzeile heraus: "Skandal an Hamburger Gymnasium".

ALS RADIKALER SCHLAGZEILEN GEMACHT

Nur einer blieb ahnungslos: der betroffene Pädagoge Breyer. Er las an diesem Morgen keine Bild-Zeitung. Erst der Schüler Barwinkel klärte den arglosen Lehrer über seine taufrische Popularität auf: "Sie sind ja gestern in der Bürgerschaft groß als Radikaler erwähnt worden."

Die Folge der CDU-Anfrage: Lehrer Breyer geriet in den Schraubenstock der Schulbürokratie. Sein Quellenmaterial, seine persönlichen Aufzeichnungen wurden durchleuchtet. Gespräche mit Kollegium, Vortrag beim Direktor, Vorladung in der Schulbehörde. Monat um Monat verging. Der "Sympathisant Breyer hatte Angst: "Ich war verunsichert, denn ich wusste nicht, was aus meinem Fall wird."

Erst nach einem Vierteljahr rehabilierte die Schulbehörde den Pädagogen mit dem lapidaren Hinweis, er habe neben dem Spiegel auch das CSU-Organ Bayerkurier im Unterricht verwandt. Deshalb könnte von einer "linksradikalen Indokrination" nicht die Rede sein.

AUF EIGENE FAUST ANSCHWÄRZEN

In Düsseldorf ging die CDU-nahe Pennälertruppe "Bund Demokratischer Schüler" (BDS) vom Comenius-Gymnasium 1976 gleich direkt den Verfassungsschutz an. Der BDS-Vorstand machte im Jahre 1976 durch markige Sprüche auf sich aufmerksam, nachdem er sich entschlossen hatte, auf eigene Faust auf Radikalen-Hatz zu gehen.

Unter der Kampfparole "Gebt dieser linken Meute in Zukunft eine deutliche Absage" durchkämmten die Oberprimaner Schulklassen und Lehrerkollegium nach "Verfassungsfeinden". Ihr Anführer war der Schüler Hubertus Reygers.

RABATZ MACHEN

Als einmal DKP-Jugendliche und Juso-Schüler auf einer Versammlung gegen die CDU-Schüler Rabatz machten, liess Reygers Polizei in Mannschaftswagen anrücken. Er meldete auch ahnungslose Schulkameraden, die bei den Jungsozialisten mitmachten, dem Verfassungsschutz. Denn für ihn sind Juses "verkappte Kommunisten".

Im Herbst 1975 leitete Reygers Freund Christian Fischer über einen Mittelsmann ein Dossier an den Verfassungsschutz - und hatte in einem Fall Erfolg. Die Verfassungsschützer legten eine Akte über den linksorientierten Kunsterzieher Henning Brandis an. Vermerk des Verfassungsschutzes: "Anonym zugesandt".

BUNDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUZ

Als der Spitzelfeldzug ruchbar wurde, wandte Reygers sich auf einem CDU-Briefbogen ("sicher, sozial und frei") an die Öffentlichkeit. Unter der Überschrift "SPD-Ortsverein kämpft für Kommunisten" kündigte der CDU-Schüler weitere Denunziationen an: "Der Bund Demokratischer Schüler greift zum letzten gravierendsten, aber für jeden echten Demokraten völlig legitimen Mittel: er informiert das Bundesamt für Verfassungsschutz."

Die CSU-nahe Schüler-Union in München ermahnte den bayerischen Kultusminister Hans Maier (1970-1986), "verfassungsfeindlich eingestellte Lehrpersonen an der Bundeswehr-Hochschule zu überprüfen, denn Bundeswehr-Schüler haben ebenso wie andere Schüler das eigentlich selbstverständliche Recht auf einen ideologiefreien verfassungsbejahenden Unterricht".

Zum Beweis ihrer Vermutung präsentierten die Union-Schüler der Öffentlichkeit eine Dokumentation über den Bundeswehr-Hochschullehrer Karlheinz Geißler. Sie fasst Äußerungen zusammen, die der Professor vor bereits acht Jahren gemacht haben soll. Demnach hatte Geißler in seiner Streitschrift "Gegen die positivistischen Bestrebungen in der Pädagogik" Stellung bezogen und gefordert, dass sich der "Wandel des Selbstverständnisses der Pädagogen und Erzieher vom gesellschaftsstabilisierenden zum gesellschaftsverändernden Moment" hin entwickeln müsse.

Auch habe der Professor für das Publikumsorgan "Initiativgruppe Fachschafts- und Sozialpädagogen" verantwortlich gezeichnet - und zwar mit der Adresse des damals "linksextremen" Asta in der Münchner Leopoldstraße 15.

MITVATER WILLY BRANDT

Einer der Mitväter des Radikalenerlasses, Willy Brandt (*1913+1992), fürchtet inzwischen, die Bundesrepublik könne ein Land werden, "in dem der Vater dem Sohn misstraut, der Nachbar den Nachbarn beargwöhnt, die Organe des Staates die Bürger ausspähen". Indes: Die Wirklichkeit hat Brandts Besorgnis schon längst eingeholt.

Eingeholt, weil es für die Staatsspäher mittlerweile kaum noch einen Tabubereich gibt und ihnen kaum noch eine zweifelhafte Methode unzulässig erscheint. Für den baden-württembergischen SPD-Landeschef Erhard Eppler (1973-1981 ) "ist in der Bundesrepublik ein unheimlicher Prozess in Gang gekommen, der eine ganze Generation in Gegensatz zum demokratischen Staat zu drängen droht."

VON BERUF: SPITZEL

Schulkinder, die nur einen unkonventionellen Gedanken äußern oder sich radikal gebärden, laufen Gefahr, in den Computer des Verfassungsschutzes eingespeist zu werden. Bayern Innenminister Alfred Seidl (*1911+1993) hat zugegeben, dass etwa 250 Schüler in Geheimakten des Verfassungsschutzes stehen. Und sein Pressesprecher Frieling hat sogar eingeräumt, dass auch Schüler als Spitzel angeheuert wurden. Die Voraussetzung: Sie müssen volljährig sein. Dieses Kriterium erfüllte die inzwischen 20jährige Marianne Weiß aus München schon 1977. Dabei führte ihr Weg nicht direkt zum Verfassungsschutz, sondern zunächst zur Studienberatung der Universität München. Sie wollte nämlich wissen, welche Möglichkeiten es überhaupt noch für den ohnehin schon überlaufenden Lehrerberuf gibt. Marianne Weiß: " Mir wurde gesagt, wegen meiner Funktion als Schulsprecherin sei mit Sicherheit eine Akte beim Verfassungsschutz vorhanden, die mir wahrscheinlich keinen Chance gebe. Beamtin zu werden."

BEZAHLTE SCHLEPPERIN

Doch mit der Studienberatung in Sachen Radikalen-Erlass gab sich die blondgelockte Abiturientin nicht zufrieden. Sie ging zum Verfassungsschutz und wurde von einem "Herrn Speer" empfangen. Zwar bestritt Staatsschützer Speer die Existenz einer Akte, zeigte sich aber gleichwohl zutraulich, dass er Marianne Weiß als "Informationsschlepperin" engagieren wollte. "So für 200 bis 300 Mark monatlich." Denn für den Verfassungsschutz zu arbeiten, sei immer sinnvoll. Sie könne "ihren politischen Aktivitätem freien Lauf lassen" - also weiterhin radikal sein -, und ihr würde daraus kein Nachteil entstehen. Marianne Weiß lehnte ab, über Schüler und Lehrer aus der Vergangenheit auszupacken und künftig ihre Kommilitonen und Professoren auszuspähen.

DATEN ÜBER HOMESEXUELLE

Der fragwürdige Grundsatz des FDGO-Statthalters Alfred Seidl, "für den politischen Extremisten darf es keinen Freiraum geben", bleibt jedoch nicht nur auf Bayern beschränkt. In Essen bestätigte auf einer Veranstaltung Ministerialrat Seichter, Öffentlichkeitsarbeiter des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, auch Daten und Angaben über Homosexuelle würden systematisch in den zentralen NADIS-Compuer (Nachrichtendienstliches Informationssystem) eingegeben und ausgewertet, wenn die betreffenden Personen Kontakte mit "geheimhaltungsbedürftigen" und "sicherheitsempfindlichen" Bereichen haben. Die Essener Homo-Gruppe "RAGE" vermutet hinter den Schnüffelaktivitäten vielmehr "den klammheimlichen Aufbau einer Riesen-Schwulenkartei, gegen die die früheren Registraturen nach dem Strafrechtsparagrafen 175 harmlose Zettelkästen gewesen sein dürften". Eine gesellschaftliche Diskriminierung, die mit der Liberalisierung des Sexualstrafrechts abgeschafft schien, hat demnach bei den Verfassungsschutzämtern immer fortbestanden. Wahrscheinlich deshalb, um eine vermeintliche "Erpressbarkeit" für die Behörden oder für andere Organisationen auszuloten.

SCHWARZE LISTEN

Im Grundgesetz garantierte Freiheitsspielräume wie die freie Berufswahl werden selbst von staatlichen Institutionen unterlaufen, die in der Öffentlichkeit von ihrem sozial-humanitären Anstrich leben und bei denen es niemand ohne weiteres vermuten würde - den Jugendämtern. Seit Jahrzehnten kursieren unter den jeweiligen Jugendbehörden der Bundesländer, zwischen Waisenheimen, Erholungsstätten und Kindergärten "schwarze Listen" über unbequeme oder missliebige Sozialarbeiter, Kindergärtnerinnen, die wegen permanenten Zuspätkommens entlassen worden sind; Sozialpädagogen, die politisch zu kritisch waren, Heimerzieher, die eigenwillig ihre Ziele verfolgten - sie alle landen auf der "Schwarzen Liste", die im Amtsjargon "Warnmitteilung" heißt. Natürlich nicht nur mit Namen, sondern auch mit den entsprechenden Informationen. So kann sich der Sozialarbeiter Roland Ferner* aus Buxtehude bewerben, wo er will, Zeugnisse und Referenzen einreichen. Eines ist ihm sicher: das heimliche Dossier eilt seinem Schreiben schon voraus."Es wird gebeten, vor einer etwaigen Einstellung bei der Regierung in Lüneburg nachzufragen." Denn spätestens beim Rausschmiss oder der Kündigung lassen die Heimleiter ihre "Warnsignale" los. Von dieser Praxis erfährt der Betroffene nichts. Er kann folglich auch keinen rechtlichen Einspruch geltend machen, weil er nicht einmal weiß, welche Fakten über ihn zusammengetragen worden sind. Und - dass die Heime sich bei Einstellungen neuer Fachkräfte ausschließlich auf die "Schwarze Liste" verlassen und danach die Bewerbung beurteilen, gesteht der für Niedersachsen zuständige Ministerial Klaus Rauschert ein. "Über die Warnmitteilung hinaus informieren sich die Dienstvorgesetzen leider nicht."

"FEINDE" FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ

Eine Gepflogenheit, die einem Verfassungsschützer kaum passieren würde. Wenn es um diskrete Informationen geht, beauftragt der Verfassungsschutz selbst Verfassungsfeinde, unbescholtene Bürger zu überwachen. So wurde der Kommunist Wolfgang Wenzel, Vorsitzender des Kreisjugendausschusses in Minden, vom NRW-Verfassungsschutz genötigt, Jugendorganisationen auszuspähen. Der Verfassungsschutz drohte dem DKP-Mann Wenzel Berufsverbot an, wenn er nicht als Spitzel arbeite.

Der Krankenpfleger ging deshalb zum Schein auf das Verlangen ein. Als der Fall aufflog, musste der Verfassungsschutz zugeben, dass er nicht nur Jugendverbände, sondern auch Gewerkschaften beobachten lässt. Dabei kann schon "so eine Panne wie der Fall Wenzel" vorkommen, erklärte der Präsident des NRW-Landesamtes für Verfassungsschutz, Christoph Graf von Hardenberg.

AUSHORCHEN VON NACHBARN

Das Bespitzeln von Nachbarn oder politischen Gegnern wird immer öfter zum Bürger-Hobby. Seit jeher hat der Handelsvertreter Herbert Land "in seinem Leben nichts mehr gehasst als die Kommunisten". Der Radikalenerlass gab dem CDU-Mitglied Land und dessen Frau Gisela die Rechtfertigung, eine Berufsverbots-Kampagne gegen den 36jährigen Bernhard Hanfland zu starten, einen Realschullehrer, der mit dem Mao-orientierten Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) sympathisierte. In der Schule verhielt sich der Pädagoge politisch neutral.

Der 42jährige Land kannte den denunzierten Pädagogen nur vom Sehen. Lands Kinder besuchten die Realschule Chorweiler, an der ihr Vater in der Schulpflegschaft mitwirkte und Lehrer Hanfland Sozialkunde und Sport unterichtete. Anfang 1976 nahmen Herbert und Gisela Land eine Unterschriftenaktion gegen § 218 zum Anlass, Hanfland zu beobachten und Erkenntnise über ihn zu sammeln. An einem Sonnabendmorgen verteilte der Lehrer vor einem Spupermarkt im City-Center Flugblätter für sein politisches Grüppchen. CDU-Land nahm eines mit und sah rot.

TOTENGRÄBER DER DEMOKRATIE

Anfang November 1976 schrieben die Lands aufgebracht an den Kölner Regierungspräsidenten. "Wie lange wird uns und unseren Kindern in der Realschule Chorweiler dieser 'Totengräber ' der Demokratie noch zugemutet? Was muss geschehen. um den 'Pädagogen' Hanfland aus dem Schuldienst zu entfernen? Können wir Eltern diesem 'Prediger' einer neuen kommunistischen Weltordnung unsere Kinder noch länger anvertrauen? ... Die Schule in Chorweiler muss wieder das werden, was sie von ihrem Auftrag her ist, und kein Tummelplatz für kommunistische Agitatoren."

MALLORCA-AGFAMATIC

Doch um Lehrer Hanfland zu feuern, mussten nachhaltigere Beweise her. Herbert Land. "Vier Monate habe ich fast nichts anderes gemacht, als diesen Typ zu beobachten. Dann hatte ich alles zusammnen." Gemeinsam mit der Politischen Partei, dem 14. Kommissariat, ging Land häufig auf Schnüffeltour. Flugblätter und Broschüren wurden eingesackt, Fotos geschossen - mal mit der Profi-Kamera der Polizei, mal mit Lands Mallorca-Agfamatic.

Gegen Hanfland wurde anoynm ein Strafantrag wegen Volksverhetzungen gestellt (14.K.Tgb.-Nr. 2434/76). Darin wurde dem Lehrer vorgeworfen, am 2. Februar 1976 in Köln-Seeberg, Karl-Marx-Allee, Flugblätter mit der Überschrift "Die Schule gehört in die Hand des Volkes" verteilt zu haben.

BERUFSVERBOT

Schließlich zeigte sich der Erfolg. Der Regierungspräsident in Köln belegte Bernhard Hanfland mit dem Berufsverbot, weil dieser "die Zweifel nicht ausräumen konnte, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten" - Proteste von Eltern der Hanfland-Schüler, die von den pädagogischen Qualitäten des Lehrers überzeugt waren und sich an dessen außerschulischem Sektierertum nicht störten, nutzten ebensowenig wie Eingaben der Lehrerkollegen.

BELOBIGUNG VON DER PARTEI

Vom Erfolg mit dem Schulrausschmiss berauscht, schrieb CDU-Mitglied Herbert Land einen Brief an CSU-Chef Franz-Josef Strauß (*1915+1988). Er beschwerte sich darüber, dass er in seinem CDU-Landesverband zu wenig Unterstützung bei der Jagd auf Kommunisten finde. Der Leiter des CSU-Büros, Dr. Wilhelm Knittel, antwortete am 17. 10. 1977 und bedankte sich im Auftrag von Herrn Strauß für den Land-Brief. Er sprach die Hoffnung aus, "dass es Ihnen, sollten sich ähnliche Fälle in Ihrer Gegend wieder ereignen, gelingt, doch noch die tatkräftige Unterstützung von örtlich oder sachlich zuständigen Landtags- und Bundestagsabgeordneten der CDU zu finden."

Im Grundgesetz-Artikel 3 unseres "freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates" heißt es: "Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." Der KBW, mit dem der gejagte Ex-Pädagoge und jetzige Hilfsarbeiter Hanfland sympathisiert, ist bis heute nicht als verfassungswidrig verboten.

TRIBUNAL GEGEN DIE FREIHEIT

Unter den Augen der Öffentlichkeit, doch von ihr nahezu unbemerkt, gerät die westdeutsche Szene immer mehr zum Tribunal gegen die Freiheit. Sie registriert Bürger-Denunziationen und Staatsübergriffe als vereinzelte Pannen - der Überblick fehlt, um das Dominospiel zu erkennen, das aus einem Verfassungsstaat freiheitlicher Grundordnung eine autoritäre Staatsverfassung mit gegenseitiger Bespitzelung seiner Bürger macht.

Die Auswirkungen der Radikalendebatte haben auch das politische Klima in der Kirche nachhaltig beeinflusst. Heute geht es schon längst nicht mehr um vermeintliche "Verfassungsfeinde". Schon werden Pastoren an den Rand der Legalität gedrängt, deren kirchliches Verständnis sich nicht mit der vorherrschenden Meinung deckt. Der Norderstedter Pfarrer Theodor Lescow ist zur Zielscheibe heftiger CDU-Attacken geworden, weil er auf der Suche nach der Wahrheit am Karfreitag 1977 eine unbequeme Meinung von sich gegeben hat. "Die Baader-Meinhof-Hysterie würde bei uns sicher nicht so hohe Wellen schlagen, wenn wir hier nicht ein paar Menschen gefunden hätten, an denen wir alle unser schlechtes Gewissen abreagieren können."

HETZ- UND RUFMORDKAMPAGNE

Statt das
Gespräch mit dem Pfarrer zu suchen, entfachte der CDU-Ortsverband mit Rückendeckung des Kieler Ministerpräsidenten Gerhard Stoltenberg (*1928+2001) eine Hetz- und Rufmordkampagne: "Dieser Pastor predigt nicht mehr das Wort Gottes, sondern das des Teufels". erklärte der CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Würzbach (1976-2002). Und in einem Flugblatt stachelte die Unionspartei die Gemeindemitglieder gegen den Pfarrer auf: "Von Staeck bis Wallraff, vom Halmkriminellen RBJ bis zur linksgesteuerten Anti-Atom-Initiative - sie alle trafen und treffen sich dort. (Schalom-Gemeindeaus, d. Verf.) Und Herr Lescow gibt seinen 'Segen' dazu." Und prompt schreibt die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung im Oktober 1977, Lescow "verunglimpfe als linksextremer Pfarrer die Union".

PFARRGESETZ


Wie erfolgreich der Unionsbeschluss ist, beweist die Reaktion der nordelbischen Kirchenleitung in Kiel. Sie hat dann auch dringend den Pastor aufgefordert, seine Äußerung in aller Form zurückzunehmen" und Lescow an das Pfarrgesetz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands erinnert, die jedem Seelsorger vorschreibt, "die Grenzen zu beachten, die sich für Art und Mass seines politischen Handelns ergeben". Dabei haben die Kirchen-Oberen keine Scheu vor doppelbödiger Argumentation. Zwar verkünden sie, dass ihnen "in jüngster Zeit ein Klima zunehmender gegenseitiger Verdächtigungen Sorge bereite", gleichzeitig aber schreckt diese Sorge die nordelbische Kirchenleitung nicht ab, mit einem spektakulären Polizei-Großeinsatz das Hamburger Martin-Luther-Haus der evangelischen Studentengemeidne (ESG) räumen zu lassen. Anlass für die Polizeiaktion war die friedliche Besetzung des Hauses durch ESG-Mitglieder,die über die Schliessung ihres wöchentlichen Treffpunkts während der Semesterferien im Foyer diskutieren wollten.

KIRCHE ALS SCHARFMACHER

Die friedliche und gelassene Stimmung dieses Treffens veranlasste die Polizei, sich dezent zurückzuhalten. Doch die Kirchenbürokratie heizte den Konflikt unnötig an. Mit einem Strafantrag wegen Hausfriedensbruch zwang sie die Polizei zur Räumung
des Gebäudes. In den frühen Morgenstunden des 20. Juli 1978 nahmen 50 Polizisten daraufhin 35 übernächtigte Jugendliche fest, um sie erkennungsdienstlich zu behandeln. Auf diesen ersten Polizeieinsatz gegen kirchliche Protestgruppen in Hamburg reagierte die Mehrheit der Pastoren einhellig. "Man fasst es nicht". Freiheit in Deutschland - Amen.



























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Name auf Wunsch des Betroffenen geändert




Donnerstag, 20. Juli 1978

Freiheit in Deutschland - "Die Feinde der Verfassung"
























Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll

Im Ausland geschätzt, im Inland verhetzt: Der Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll (*1917+1985) befürchtet, dass in der Bundesrepublik "Freiheit und Demokratie" langsam im Namen von Freiheit und Demokratie" erstickt werden. Ungestraft darf Heinrich Böll als "geistiger Bombenwerfer" und als Sympathisant der Terroristen genannt werden. Der vom Radikalen-Erlass geweckte Ungeist vergiftet das ganze Land: Schüler bespitzeln ihre Lehrer, Bürger denunzieren ihre politischen Gegner von nebenan. Betriebe durchleuchten die politische Haltung ihrer Arbeiter. Und selbst Linke verpfeifen andere Linke.

"Verfassungsfeind" - das ist Mitte der siebziger Jahre ein neuer Begriff, den kein deutsches Gesetz kennt oder unter Strafe stellt. Der Verfassungsschutz hat ihn erfunden und seit 1972 zum Bestandteil des deutschen Alltags gemacht: Millionen junger Leute wurden seither auf ihre politische Gesinnung überprüft; über vier Tausend blieben auf der Strecke. Sie wurden mit einer in der freien Welt einzigartigen Maßnahme belegt - dem Berufsverbot.


stern, Hamburg
27. Juli 1978
von Reimar Oltmanns

Wenn um acht Uhr morgens im Lessing-Gymnasium in Karlsruhe die Schulglocke läutet, kann sich Studienrat Fritz Güde in der Wohnung gegenüber noch einmal umdrehen und eine Runde weiterschlafen. Denn seit vier Jahren hat der Lehrer für Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde - Berufsverbot. Der 42jährige Wohlbeleibte mit Stirnglatze und Kassenbrille kann sich damit trösten, dass es dem Namensgeber der Oberschule auch nicht viel besser ergangen ist: Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), der in allen Schulbüchern gefeiert Dichter bekam 1765 vom Preußenkönig Berufsverbot. Er durfte auf Anordnung des "Alten Fritz" wegen bissiger Äußerungen nicht mehr Bibliothekar in Berlin werden.

LINKS ZU SEIN - IST NICHT STRAFBAR

Fritz Güde, der nach dem Studium vor 14 Jahren sein Elternhaus verlassen hatte, ist in sein Kinderzimmer zurückgekehrt. "Er ist selbstverständlich aufgenommen worden", sagt sein 76jähriger Vater, der ehemalige Generalbundesanwalt und konservative Unions-Abgeordnete in Bonn Max Güde (1902-1984). "Mein Sohn", erklärt der alte Güde dem Autor, "ist ein Idealist, ein Gerechtigkeitsfanatiker und Weltverbesserer. Natürlich ist er ein Linker, aber links zu sein ist nicht strafbar."

Vater Güde ist aktiver Katholik, Sohn Fritz hielt mehr vom französischen Chanson "Je suis pour Mao, c'est ma nouvelle philosophie" (Ich bin für Mao, das ist meine neue Philosophie). 1973 engagierte sich der Sohn im China orientierten Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), einer militanten, aber unbedeutenden ultralinken Splittergruppe von heute vielleicht etwa 2.500 Mitgliedern. Obwohl er im Januar 1975 aus der Mao-Partei wieder austrat und sich seither politisch nicht mehr rührt, reichten schon diese 15 Monate aus, ihm Berufsverbot zu erteilen. Aber anderes kam hinzu.

SÜNDENREGISTER

Sein Sündenregister, so das Oberschulamt Freiburg: Als Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) habe er sich 1972 (Güde war bereits zehn Jahre Beamter) für einen gefeuerten Kollegen eingesetzt. In einer von ihm verantworteten Dokumentation zu diesem Fall hätte er dienstliche Schreiben des Oberschulamtes Freiburg veröffentlicht. Im März 1973 sei er in Karlsruhe bei der Gründungs-versammlung eines "Komitees gegen Berufsverbote" gesehen worden und solle von einer "politischen Entrechtung im öffentlichen Dienst" gesprochen haben. Im November 1973 habe Güde junior in der Karlsruher Innenstadt vor dem Haupteingang des Kaufhauses Schneider zwischen 16 und 17 Uhr mehrere Exemplare der "Kommunistischen Volkszeitung verkauft - und zwar die Nummer 6/73.

GEGEN TREUEPFLICHT VERSTOSSEN

1974 suspendierte das Stuttgarter Kultusministerium den Zeitungsverkäufer Glüde. Drei Jahre später wurde der Studienrat durch das Verwaltungsgericht Karlsruhe endgültig aus dem Staatsdienst gefeuert. Der baden-württembergische Ver-waltungsgerichtshof begründete als oberste Verwaltungsinstanz des Landes: Güde habe gegen die Dienst- und Treuepflicht des Landesbeamtengesetzes verstoßen. Außerdem hätte er die Verfassungsfeindlichkeit des KBW erkennen müssen. Güde ging in die Revision und konnte damit seinen Fall in der Schwebe halten; bis zur endgültigen Klärung bekommt Güde reduzierte Bezüge von rund 1.300 Mark brutto.

Um diesen Richterspruch zu begreifen, reicht selbst der juristische Sachverstand des früheren Chefanklägers der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr aus. Max Güde: "Bestraft werden kann man nicht wegen einer vermuteten Gesinnung, sondern nur wegen einer durch Handlung bewiesenen Gesinnung." Schlimmer noch: Güde junior wurde für eine politische Überzeugung bestraft, die er schon zwei Jahre nicht mehr hatte.

INS AUSLAND EMIGRIEREN

Aus dem Staatsdienst verbannt, machte sich Fritz Güde auf Stellensuche. Er schrieb Privatschulen an, telefonierte, sprach persönlich vor. Die Bilanz: 50 Bewerbungen, 50 Absagen. Es dauerte lange, ehe er herausbekam, wer dahintersteckte: das Stutt-garter Kultusministerium. Ein Beispiel für die Macht des Amtsarms: Eine jesuitische Privatschule in St. Blasien, die es gewagt hatte, Güde ohne Rücksprache zu enga-gieren, musste ihn nach einer Woche wieder entlassen. Sonst hätte die Schule ihre Existenz aufs Spiel gesetzt: Den Jesuiten wären öffentliche Zuschüsse gestrichen und staatliche Anerkennung entzogen worden.

So schreibt Güde weiter Bittbriefe um Anstellung und führt sonst "das Leben eines bürgerlichen Rentiers des 19. Jahrhunderts, das mich seelisch fertigmacht". Am liebsten würde Güde junior ins Ausland "emigrieren", doch Güde senior will den Fall bis vors Bundesverfassungsgericht treiben.

Applaus bekam Einzelkämpfer Max Güde nicht nur von links. Der Fernsehjournalist Franz Alt von "Report" Baden-Baden schrieb in einem couragierten Brief an seinen Parteichef Helmut Kohl (1973-1998): Der Radikalen-Erlass "erinnert mich fatal an eine entsprechende Praxis in Osteuropa. Dort sollen Christen nicht Lehrer werden dürfen ... ... Warum wird Fritz Güde der Weg zurück zur politischen Vernunft so schwergemacht?

LINKS GEFEUERT - RECHTS GEHEUERT

Aber Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn der Fall Güde nicht noch eine andere - altbekannte - Qualität hätte: links gefeuert, rechts geheuert.

Dieselben Richter, die Fritz Güdes Rausschmiss damit begründeten, er hätte die verfassungsfeindlichen Ziele des KBW erkennen müssen, waren drei Monate vorher in einem anderen Fall ganz anderer Meinung gewesen.

Damals hatten die Juristen über einen NPD-Lehrer entschieden, der durch radikale Sprüche Aufsehen erregt hatte; den Oberstudienrat Günther Deckert, Bundesvor-sitzende der NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten".

Deckert, der für die NPD im Weinheimer Stadtrat sitzt, hatte auf einer Wahlveranstaltung seiner Partei in Frankfurt gefordert, dass das "Herrenrassentum unter SPD- und CDU-Vorzeichen" verschwinden und das "deutsche Vaterland" auf "Nigger" und "Gastarbeiter" verzichten müsse.

RECHTSEXTREME - EINE DEMOKRATISCHE PARTEI

Die Disziplinarkammer entschied: Der 37jährige Deckert kann weiter am Mannheimer Tulla-Gymnasium Englisch und Französisch unterrichten. Denn es sei nicht sicher, "ob die NPD überhaupt eine verfassungsfeindliche Ziele verfolgende Partei ist". Aus ihrem Programm gehe das - im Gegensatz zu denen linksextremer Gruppierungen - nicht hervor. Deckert selbst, so die Richter weiter, habe glaubhaft versichert, dass er die NPD für eine demokratische Partei halte. Deshalb sei ihm kein schuldhaftes Dienstvergehen vorzuwerfen.

Bemerkenswert an der rechtlichen Würdigung der Fälle Güde und Deckert ist, wer da so feine Unterschiede zu machen versteht: Der Vorsitzende Richter Dr. Helmut Fuchs ist "als Jurist ein sehr guter Mann" (so das Stuttgarter Justizministerium). Ein Mann, der freiwillig in die Waffen-SS eintrat, der kürzlich mit Billigung des Nazirichters Hans Filbinger (1913-2007) zum Präsidenten des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofes in Mannheim avancierte.

Freiheit Mitte der siebziger Jahre - nahezu drei Jahrzehnte nach Hitler-Deutschland - das ist immer noch die Freiheit alter Nazis, über mögliche Jugendsünden von heute zu richten, auszusperren, auszugrenzen - über die politische Gesinnung der ersten Nachkriegsgeneration, die politisch nicht vorbelastet ist. So verbauten der frühere Blut-und-Boden-Richter Edmund Chapeaurouge und der ehemalige SS- und Polizeiführer in der Ukraine als Richter am Berliner Bundesverwaltungsgericht der Junglehrerin Anne Lehnhart die berufliche Zukunft, nur weil sie Mitglied der DKP ist.

ZWEI MILLIONEN BÜRGER DURCHLEUCHTET

Freiheit im Jahre 1978 - das ist auch die Zwischenbilanz einer sechsjährigen Berufsverbotspraxis, die selbst im Mekka des Antikommunismus, in den USA, undenkbar ist. Über zwei Millionen junge Bundesbürger sind bisher von den Staatsorganen auf ihre Verfassungstreue hin durchleuchtet worden - bespitzelt, verhört und schikaniert. Über 4.000 Bewerber für den öffentlichen Dienst wurden von Ämtern und Gerichten mit Berufsverboten belegt. Die Dunkelziffer kennt man nicht, denn viele der Abgelehnten protestieren erst gar nicht, weil sie die 10.000 Mark für mögliche Gerichts- und Anwaltskosten bis zur letzten Instanz nicht haben -kaum aufbringen können.

ZWANZIGTAUSEND SPITZEL

Mit der Gesinnungsüberprüfung von jungen Leuten, die Lehrer beim Land, Lokführer bei der Bundesbahn, Fernmeldetechniker bei der Post, Friedhofsgärtner bei der Stadt oder Müllmänner bei der Gemeinde werden wollten, sind nach Schätzungen des SPD-Bundestagsabgeordneten Rudolf Schöfberger (1972-1994) bundesweit rund 10.000 Beamte beschäftigt. Für diesen Apparat liefern rund 20.000 Spitzel des Bundesamtes und der Landesämter für Verfassungsschutz sowie der Politischen Polizei Informationen.

Das Modell I der Überprüfung, das harmlosere, wird in Hamburg und Bremen angewandt: Die Einstellungsbehörden fragen beim Landesamt für Verfassungsschutz nach, was über den Kandidaten an politischen Informationen vorliegt. Die Verfassungsschützer sieben das vorliegende Material und geben nur weiter, was ihnen relevant erscheint - etwa: ob der Bewerber Mitglied der DKP oder einer anderen roten Sekte ist.

Modell II läuft im Rest der Republik: Die Landesämter für Verfassungsschutz übergeben den Einstellungsbehörden alles Material. Ein Beispiel für die Folgen solcher Praktiken: Der Münchner Student Franz Hubmayer wurde 1976 als Aushilfsbriefträger für die Semesterferien abgelehnt, nachdem der Verfassungsschutz mitgeteilt hatte, Hubmayer habe 1969 an einer Hausbesetzung teilgenommen.

Weitere Erfolge: In Tübingen lehnte das Oberschulamt den Sportstudenten Josef Enenkel als Referendar für ein Gymnasium an. Begründung: Enenkel sei DKP-Mitglied. Als Beweis legten die Oberpädagogen Fotos vor, die den Sportstudenten beim Verkauf von Büchern der renommierten DDR-Schriftstellerin Anna Seghers (1900-1983) zeigten.

BUNDESWEHR FEUERTE KOCH

In Braunschweig feuerte die Bundeswehr ihren Koch Norbert Spröer. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) hatte ermittelt, dass der Soldat in seiner frühen Jugend einmal Mitglied der DKP-nahen "Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend"
(SDAJ) gewesen war. Obwohl Spröer schon sieben Jahre in der Bundeswehr diente und es bis zum Stabsunteroffizier gebracht hatte, reichte die frühere Mitgliedschaft zur fristlosen Entlassung. Im Bundestag fragte der SPD-Abgeordnete Peter Conradi die Bundesregierung, ob der "Bundeswehr-Koch seine die Sicherheit der Armee gefährdende Gesinnung dadurch ausgedrückt habe, dass er auffällig oft rote Grütze, Rotkohl oder rote Bete serviert hat?"

FEIER MIT KOMMUNISTEN - SIPPENHAFT

Im schleswig-holsteinischen Elmshorn praktizierten die Kultusbürokraten sogar schon Sippenhaft. Die parteilose 29jährige Lehrerin Jutta Kommnick sollte von der Realschule fliegen, weil ihr Ehemann als Betriebsrat auf einer Liste der maoistischen KPD/ML kandidiert hatte. Zum Beweis ihrer eigenen "Anfälligkeit" wurde Jutta Kommnick vorgehalten, ihr Auto sei vor einem Fördehotel in Kiel-Friedrichsort gesichtet worden, in dem gerade eine Tagung der KPD/ML Rote Garde stattfand. Auch hätte die staatliche Observation ergeben, dass die Lehrerin an mehreren Sitzungen des KBW und sogar an einer Kundgebung für den von den Nazis im KZ liquidierten KPD-Chef Ernst Thälmann (1886-1944) teilgenommen habe.

WIE ZU KAISERS UND HITLER-ZEITEN

In der rheinland-pfälzischen Gemeinde Annweiler blieb die 23jährige Angelika Boppel auf der Strecke. Sie hätte, so lautete der Vorwurf, "auf dem Schulhof des Neusprachlichen Gymnasiums in Pirmasens die von einem 'sozialistischen Arbeitskreis' herausgegebene Schülerzeitschrift 'Knüppel aus dem Sack' verteilt". Es half ihr nichts, dass sie die Anschuldigung widerlegen konnte. Als der Mainzer Verfassungsschützer Hugo Schröpfer den Irrtum endlich zugab, waren alle in Frage kommenden Posten besetzt.

Verschärft wurden Überprüfung und Ausspähung linksverdächtiger junger Leute durch eine deutsche Erfindung besonderer Art: die sogenannte Anhörung.

Da laden Beamte, häufig noch in Treue fest zu reaktionären Staatsvorstellungen aus Kaisers und Hitlers Zeiten, junge Leute vor und verhören sie wie früher die Inquisitoren der katholischen Kirche. Sie fragen auch nach allem, was sie nach dem Grundgesetz nichts angeht, etwa nach der Intimsphäre.

Diese Erfindung ist so bürokratisch wie unnütz: Unerfahrene junge Leute lassen sich durch die Beamten-Fragen of provozieren und werden für eine unbedachte Äußerung verfolgt; geschulte und getarnte Kommunisten, die es darauf anlegen, in den Staatsdienst zu kommen, spielen auf der Klaviatur der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO) und schlüpfen durchs Netz wie etwa der Kanzleramts-Spion Günter Guillaume (1927-1995) bei der Sicherheitsüberprüfung, als er Sprüche des rechten SPD-Flügels klopfte.
GRAUZONE DER BÜROKRATIE

In den meisten Fällen kommt das unwürdige Frage-und-Antwort-Spiel nicht an die Öffentlichkeit. Denn über die Bewerber wird in der undurchsichtigen Grauzone der Bürokratie entschieden. Ist ein Kandidat erst einmal von einer Behörde als "Ver-fassungsfeind" gebrandmarkt, rufen viele erst gar nicht die Gerichte an, und wenn, wird es dem Betroffenen schwerfallen, die Richter vom Gegenteil zu überzeugen - schließlich hat er die Beweislast. Dieses Verfahren vom SPD-Bundesparteitag 1973 in Hannover gefordert, sollte eine individuelle, rechtsstaatliche Überprüfung sicherstellen. In der Praxis wurde aber damit die Entscheidungsbefugnis den Gerichten genommen und der Verwaltung zugeschustert.
EIN PRÜFUNGS-PROFI

Ein Prüfungs-Profi ist der niedersächsische Ministerialrat Gottfried Jakob. Seit drei Jahren ist für den 43jährigen Spitzenbeamten jeder Dienstag ein FDGO-Tag. Jeweils vier Stunden lang verhört er einen Bewerber - Jakob nennt das "Interview". Nachmittags diktiert er seine bis zu 15 Seiten langen Gutachten aufs Band. Die Aufregung über den Radikalen-Erlass kann er überhaupt nicht verstehen. Der hochgewachsene Brillenträger mit der kahlen Stirn und den Skeptikerfalten um Nase und Mund kümmert sich seit 1965 um Personaleinstellungen. Seit dem Radikalen-Erlass, meint er, sei alles rechtsstaatlicher geworden: "Früher bekamen die Bewerber ihre Ablehnung nur schriftlich mitgeteilt, heute werden sie noch einmal angehört." Jakob ist Chef der Zentralen Anhörkommission in Niedersachsen. Mit Hunderten von Radikalen hat er schon "die gesamte Palette verfassungsrechtlich relevanter Dinge" durchgenommen, "ganz persönlich und ganz individuell". Wenn Jakob von "persönlich" oder "individuell" spricht, meint er seine siebenköpfige Kommission, die dem Betroffenen gegenübersitzt und in der er nach seinem Routine-Raster fragt:
"Würden Sie bitte Ihr Verhältnis zur DKP erläutern? - "Haben Sie einmal bei den Konventswahlen auf einer Liste Spartakus kandidiert?" - "Sind Sie Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft" - "Waren Sie Mitglied der sozialistischen Falken?" - "Haben Sie 1969 an einer DKP-Weihnachtsfeier teilgenommen? Und wenn ja, warum ... ...?"
FRAGEN NACH GESCHLECHTSVERKEHR
Beim Regierungspräsidenten in Köln, Dezernat 44, Zimmer 426, beantwortete die 32jährige Lehrerin Irmgard Cipa bei der Anhörung Fragen von Regierungsdirektor Werner mit einem Passus aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: "Das bloße Haben einer Überzeugung und die bloße Mitteilung, dass man sie habe, ist niemals eine Verletzung der Treuepflicht." Im Klartext: Sie lasse sich nicht über ihre einstigen Aktivitäten im Asta der Universität Bonn ausforschen. Regierungsdirektor Werner konterte: Er habe hier die "Gesinnung zu überprüfen" und nach "seinem pflichtgemäßen Ermessen alle hierzu erforderlichen Fragen zu stellen" - selbst nach Irmgard Cipas "erstem Geschlechtsverkehr, wenn ich dies für erforderlich halte". Der SPD-Bundestagsabgeordnete Manfred Coppik (er trat 1982 aus der SPD aus), der als Rechtsanwalt Frau Cipa begleitet hatte, beschwerte sich nach "dieser beschämenden Vernehmung" bei seinem Parteifreund, dem Düsseldorfer Kultusminister und Ostermarschierer Jürgen Girgensohn (1924-2007). Der Minister in seiner Antwort: "Der Prüfungsbeamte ... ... erinnert sich nicht mehr an die hypothetische Frage nach dem ersten Geschlechtsverkehr." Dennoch: Frau Cipa habe die "Zweifel an ihrer Verfassungstreue" nicht ausräumen können. Sie ist arbeitslos.
In Augsburg erklärte 1976 der Pädagoge Ilja Hausladen aus Fürth, der sich um eine Stelle als Volksschullehrer bemühte, seinen Vernehmern, warum er Antifaschist sei. Aus dem Protokoll seines Anwalts: "Mein Großvater kämpfte gegen die Nazis. Er war elf Jahre im Konzentrationslager Dachau interniert und starb kurz nach der Befreiung. Meine Großmutter gehörte ebenfalls zur Widerstandsbewegung und saß deshalb über sechs Jahre im KZ Ravensbrück. Mein Vater konnte noch rechtzeitig emigrieren, wurde später von der Gestapo in Frankreich gefangen genommen und inhaftiert."
BERUFSVERBOT IN DIE VERFASSUNG
Oberregierungsrat Herzer als erster Vernehmer: "Das tut uns leid, was Ihrer Familie zugestoßen ist. Eine andere Frage ist, ob man Sie deswegen gleich Beamter werden lassen soll."
Regierungsdirektor Krüger als zweiter Vernehmer: "Sie sagen, dass Sie ein Antifaschist sind - bekämpfen Sie aus dieser Überzeugung heraus die Ostblock-Staaten?"
Hausladen: "Ich kenne den Faschismus aus der deutschen Geschichte und aus Erzählungen meiner Familie. Einen Faschismus wie im Dritten Reich kenne ich in den Ostblockländern nicht. Ich bin jedenfalls für gute Beziehungen zu allen Staaten. Dazu gehört auch die Nichteinmischung, zu der sich alle UN-Mitglieder verpflichtet haben."
Regierungsdirektor Krüger: "Wie finden Sie den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die CSSR?"
Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schmitt-Lermann antwortet für Hausladen: "Das gehört überhaupt nicht zum Gesprächsgegenstand. Sonst müssten wir jetzt den Begriff der Intervention klären. Wir müssten die Interventionsrechte der Westmächte nach dem Deutschlandvertrag genauer anschauen. Wir müssten von Vietnam und den vielen anderen amerikanischen Interventionen reden. Wollen Sie das?"
Oberregierungsrat Herzer: "Wenden wir uns einem anderen Thema zu. Wo sehen Sie die Kritikpunkte an der DDR?"
Hausladen: "Es gibt bestimmt in jedem Land und an jedem System Punkte, die zu kritisieren sind. Ich habe mich aber mit den Gesetzen der DDR nicht beschäftigt, und ich kann nur Dinge kritisieren, über die ich mich eindeutig informiert habe.
Regierungsdirektor Krüger: "Sie wissen ganz genau, worauf wir hinauswollen. Aber Sie wollen sich dumm stellen. Im ganzen Wahlkampf (Bundestagswahl 1976) war von der Bedrohung durch die kommunistische Gefahr die Rede. Aber da haben Sie offenbar immer weggehört."
Oberregierungsrat Herzer: "Was verstehen Sie unter 'Diktatur des Proletariats'?"
Hausladen: "Das ist für mich ein wissenschaftlicher Begriff, mit dem ich mich nicht beschäftigt habe."
Oberregierungsrat Herzer: "Sie müssen doch etwas darüber aussagen können - der Begriff gibt noch viel her. Sie wollen doch Lehrer werden und müssen dazu was wissen."
Hausladen: "Also dieser Begriff kommt vor allem bei Marx und Lenin vor, und zwar ... "
Oberregierungsrat Herzer: " ... ... da kommen wir der Sache schon näher. Frau Teichmann, schreiben Sie auf: Ich bejahe die Diktatur des Proletariats im Sinne von Marx und Lenin ..."
Hausladen: "... ... nein, das habe ich überhaupt nicht gesagt. Wenn ich den Begriff Diktatur nehme, bin ich natürlich gegen jede Art von Diktatur, ob in Ost oder West."
Oberregierungsrat Herzer: "Welche Gründe hatten Sie, mit Ihren Kindern in die DDR zu fahren?"
Hausladen: "Eines meiner Bildungsziele, die ich in dieser Schülergruppe verfolgt habe, war die Erziehung des einzelnen zur Gemeinschaft. Die Schüler dieser Gruppe kamen hauptsächlich aus kinderreichen und finanziell schwächeren Familien. Wenn man bedenkt, dass ein dreitägiger Aufenthalt in einer Jugendherberge ca. 50 Mark pro Kind kostet, nahmen wir natürlich einen dreiwöchigen Aufenthalt für 30 Mark (in der DDR) gerne an."
Oberregierungsrat Herzer: "Wenn das nichts weiter gekostet hat, können Sie sich dann nicht vorstellen, dass die dabei einen Hintergedanken, zum Beispiel der Beeinflussung der Kinder, gehabt haben?"
Hausladen: "Ich bin der Meinung, dass jeder Aufenthalt in einem anderen Land und jeder zwischenmenschliche Kontakt einen Einfluss auf Kinder und Erwachsene ausübt."
Oberregierungsrat Herzer: "Glauben Sie nicht, dass da bei den Kindern Propaganda betrieben wurde?"
Hausladen: Nein, davon habe ich nichts bemerkt. Da ich das Vertrauen der Eltern und damit die Verantwortung für die Kinde hatte, wäre ich bestimmt sofort abgereist, wenn dieser Aufenthalt für propagandistische Zwecke missbraucht worden wäre."
"ROTE KINDERZEITUNG"
Zwei Monate nach seiner FDGO-Vernehmung bekam Hausladen vom FDGO-Vernehmer Herzer schriftlich den Negativ-Bescheid (Geschäftsnummer 110.600/1). Dem Pädagogen, der nicht Mitglied der DKP ist, wurde die Reise mit Schülern in die DDR angelastet. Ferner hätte Hausladen in der "Roten Kinderzeitung" der DKP Nürnberg vom Februar 1974 "als Kontaktperson für Interessenten von Wandertagen und für Musikinstrumente" gestanden. Die Schlussfolgerung: "Wenn die DKP in ihren Presseerzeugnissen Kontaktadressen angibt, so sucht sie sich hierfür mit Sicherheit nicht Personen aus, die ihren Zielen und ihrer Ideologie ablehnend gegenüberstehen." Radikalen-Erlass - Freiheit in Deutschland.
RUDI DUTSCHKE - UND DIE NEUE LINKE
Das Entstehen der Neuen Linken der 60er Jahre, die der Studentenführer Rudi Dutschke (1940-1979) "zum Marsch durch die Institutionen" aufgerufen hatte, und die Neuorganisation der orthodoxen Kommunisten in der DKP 1968 waren der Auslöser für den Radikalen-Erlass. Mit dieser strikten Abgrenzungspolitik gegenüber Kommunisten wollten SPD-Kanzler Willy Brandt (1969-1974) und sein Fraktionschef Herbert Wehner (1969-1983) innenpolitischen Spielraum für die Ostpolitik gewinnen und sich von den Anwürfen der CDU/CSU befreien, insgesamt Volksfrontpolitik zu betreiben. FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher (1974-1985)plädierte für eine noch schärfere Gangart.
"LINKE GEFAHR - ALLES QUATSCH"
Der liberale Genscher wollte entweder die DKP verbieten lassen oder den Radikalen-Erlass zum Grundgesetz-Artikel erheben. Der frühere Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau (1911-1991 ) präzisierte: "Genscher wollte am liebsten das Härteste vom Harten gegen Radikale machen. Wenn er mit Fabrikanten gesprochen hatte, kam er immer daher und erzählte von den vielen Kommunisten in den Betrieben. Das war natürlich alles Quatsch und es dauerte lange, bis ich ihm das ausgeredet hatte." Nollau, der von Amts wegen den besten Überblick über die "linke Gefahr" hatte, sagt weiter: "Es gab auch keine Entwicklung, die ein systematisches Eindringen von Verfassungsfeinden in den öffentlichen Dienst anzeigte."
Von früh an wurde mit falschen Argumenten gearbeitet. Da hieß es zum einen, der Radikalen-Erlass sei eine rechtlich zwingende Notwendigkeit auf Grund der Verfassung. Dazu der Bonner Jura-Professor Gerald Grünwald: "Wenn es vom Grundgesetz geboten wäre, hätten wir bis 1972 in einem permanent verfassungs-widrigen Zustand gelebt: denn bis dahin gab es keine systematische Über-prüfungen." Da wurde außerdem, von allen Spitzenpolitikern argumentiert, der Radikalen-Erlass sei auch für die Rechtsextremisten geschaffen worden. Indes: Als der Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik erstarkte und die NPD ab 1966 mit Bundeswehr-Hauptleuten, Lehrern und Verwaltungsjuristen in die Landtage einzog, hatte in Bonn niemand nach einem Radikalen-Erlass gerufen.
GRÖSSTE RECHTSVERWIRRUNGEN
Das Bundesverfassungsgericht bestätigte mit einem Grundsatzurteil vom Mai 1975 die Rechtmäßigkeit des Radikalen-Erlasses. Der Versuch des Gerichts, einheitliche Beurteilungsmaßstäbe für Behörden und Verwaltungsgerichte aufzustellen, ging daneben: Verfassungsrichter Hirsch sieht den Richterspruch heute als ein Gummi-bandurteil: "Jeder kann das rauslesen, was er meint."
Im Spannungsfeld zwischen der Mitgliedschaft in einer verfassungsgemäßen, aber unerwünschten Partei und dem geforderten besondere, Treueverhältnis des Beamten zum Staat löste dieses Urteil die größte Rechtsverwirrung in der Nachkriegs-geschichte aus:
o Der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof lehnte die Einstellung des Tübinger Musiklehrers Harald Schwaderer ab, weil er Zweifel an dessen Verfassungstreue hatte. Der Pädagoge Schwaderer durfte den Eid auf die Verfassung nicht ablegen, obwohl er als DKP-Gemeinderat den Amtseid auf die Verfassung bereits geschworen hatte.
o Dagegen ordnete der IV. Senat des Verwaltungsgerichts Mannheim die Einstellung des Lehrers Klaus Lipps, 36, aus Bühl an, weil die bloße Mitgliedschaft in der DKP keinen Grund für ein Berufsverbot darstelle.
o Ebenso erlebte es Klaus Pilshofer, 26, aus Suzbach-Rosenberg in der Oberpfalz, der auf einer Wahlliste der Studentenvertretung der Universität Nürnberg-Erlangen zusammen mit Kommunisten kandidiert hatte. Die Richter des Verwaltungsgerichts in Augsburg meinten, Pilshofer sei nicht verpflichtet gewesen, sich von solchen Organisationen pauschal zu distanzieren.
UNTERWANDERUNG DURCH LOKFÜHRER
Der in die Öffentlichkeit drängende und durch viele Politik-Salons bekannte Hannoveraner Jura-Professor Hans-Peter Schneider hat in dieser Rechtsverwirrung den neuerlichen Trend erkannt, "dass die Oberinstanzen mehrheitlich zu einer konservativen Auslegung des Bundesverfassungsgerichtsurteils neigen, während die jüngeren Richter eher den Bewerbern recht geben". Das wiederholte er fortwährend bis hin zu den Kanzler-Sommerfesten im Palais Schaumburg zu Bonn - nur keiner wollte ihm so recht zuhören.
Dabei ziehen sich die Verfahren um Berufsverbote oft Jahre hin. Die Betroffenen werden in ihrer Karriere, in ihrem Berufsziel oder auch in ihrem Berufswunsch um Jahre zurückgeworfen, selbst wenn sie schließlich vor Gericht obsiegen. Verlieren sie aber, droht ihnen nun sogar die Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz. Der Realschullehrer Hans Schaefer, 35, aus Stuttgart war schon Beamter auf Probe, als er 1975 wegen seiner DKP-Mitgliedschaft und einer DDR-Reise suspendiert wurde. Schaefer klagte. Jetzt fordert das Land Baden-Württemberg das gezahlte Gehalt während des dreijährigen Rechtsstreits zurück: 50,198,4o Mark.
DER DEUTSCHE McCARTHY
Der Ansbacher Verwaltungsrichter Siegfried Sporer, 49, kann sich zugute halten, mit dem 1964. Urteil seiner Richterlaufbahn in die Geschichte der Berufsverbote als der deutsche McCathy einzugehen. Wie der amerikanische Kommunistenjäger machte auch Sporer nicht mehr die Loyalität des einzelnen, sondern das "Risiko" einer möglichen Beeinflussung durch Kommunisten zum Maßstab der Ablehnung. In der mittelfränkischen US-Garnisonstadt Ansbach verwehrte Sporer dem Lehrer Heinrich Häberlein den Zugang zum öffentlichen Dienst. Dem 29jährigen parteilosen Häberlein bestätigte Richter Sporer nach einer sechsstündigen Verhandlung ausdrücklich: "Häberlein ist als Christ kein Verfassungsfeind."
FALL DES CHRISTEN HEINRICH HÄBERLEIN
Warum darf Heinrich Häberlein, der in der evangelischen Jugendarbeit aufwuchs, den Wehrdienst aus christlich-pazifistischen Gründen verweigerte und dafür 18 Monate lang alte Menschen pflegte, sich im zweiten Bildungsweg vom Feinmechaniker zum Hochschul-Assistenten hochrackerte, warum also dieser kritische Christ kein Volksschullehrer werden darf? - Achelszucken vielerorts. Dafür ist allein seine Mitgliedschaft in der "Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner" ausschlaggebend.
In dem Dachverband aller westdeutschen Kriegsdienstverweigerer arbeiten - ob Häberlein will oder nicht - auch eine Handvoll Kommunisten mit. Richter Sporer verlangte von Häberlein ausdrücklich, eine "antikommunistische Einstellung". Nur so könne "der gefährliche Einfluss von Kommunisten auf die Tätigkeit im öffentlichen Dienst in Krisensituationen vermieden werden".
SILVIA GINGOLD - VERFOLGT, GEFLOHEN, RAUSGESCHMISSEN
Der Nutzen des Radikalen-Erlasses, den sich seine Befürworter von Brandt bis Sporer von ihm erhofft haben, ist nicht messbar. Keiner kann beurteilen, ob die 4.000 abgelehnten Beamten-Bewerber, wären sie tatsächlich in die Schulen, Rathäuser und Gerichte gekommen, eines Tages aus der westdeutschen Bundesrepublik die Volksrepublik Westdeutschland gemacht hätten. Keiner kann aber auch garantieren, dass jetzt der Staatsdienst immer gegen Extremisten ist. Die Erfahrung lehrt, dass überall dort, wo eine parlamentarische Demokratie durch ein totalitäres System abgelöst wurde, 80 Prozent der Beamten übergelaufen sind.
Der Schaden der Überprüfungspraxis dagegen ist erkennbar, nicht zuletzt auch im Ausland, Der Name Silvia Gingold steht für eine jüdische Familie, die 1933 nach Frankreich emigrieren musste, in der französischen Résistance gegen die deutschen Besatzer kämpfte und nach dem Krieg in die Bundesrepublik zurückkam. Die inzwischen 32jährige Silvia engagierte sich auf der Seite, wo ihre Eltern Zeit ihres Lebens zu finden waren: bei den Kommunisten.
Vier Jahre galt ihre Arbeit an der Steinwald-Schule im hessischen Neukirchen als vorbildlich. Ein Versetzungsgesuch lehnte der Kasseler Regierungspräsident ab, weil Frau Gingold "mit ihren gewonnenen Erfahrungen der Modellschule auch weiterhin zur Verfügung stehen" sollte. Der Radikalen-Erlass machte die Versetzung dann doch möglich - auf die Straße. Hessische Verfassungsschützer hatten "Erkenntnisse in staatsabträglicher Hinsicht" gesammelt, die "Zweifel an Silvia Gingolds Verfassungstreue" aufwarfen: DKP-Mitglied, Teilnahme an einem Deutschland-Treffen in Ost-Berlin, Vietnam-Demonstration vor dem Frankfurter US-Konsulat und eine linke Rede als 16jährige in der Aula ihrer Schule.
IM AUSLAND WÄCHST KRITIK
Während für den französischen Sozialistenführer François Mitterrand (1916-1996) der Fall Gingold den Ausschlag gab, in Paris ein "Komitee gegen die Berufsverbote in der BRD" zu gründen, stieg in Würzburg über Nacht ein Mann zum Fernsehstar in Ost und West auf,der die amerikanischen und englischen Sender CBS und BBC vorher nicht einmal vom Hörensagen gekannt hatte: der Lokführer Rudi Röder von der Deutschen Bundesbahn. Nun kamen die Reporter sogar zu ihm nach Hause, und Vater Valentin und Sohn Rudi gaben Interviews um Interviews. Vater Valentin wurde 1933 aus der Reichsbahn gefeuert, den Sohn Rudi will die Bundesbahn seit 1976 loswerden. Beider Vergehen: Beide sind Kommunisten. Verkehrsminister Kurt Gescheidle : "Ein Beamter, der aktives Mitglied der DKP ist, fliegt raus. Das ist die Situation."
"Westdeutschland leidet an einem leichten Anfall von Autoritarismus", formulierte die erzkonservative "Financial Times" vornehm. Das Schwesternblatt "Times": "Eine der zuverlässigsten anti-extremistischen Wählerschaften der Welt hat Politiker hervorgebracht, die ihren Bürgern nicht zutrauen, einer möglichen Unterwanderung durch eine Handvoll radikaler Lokomotivführer oder Lehrer zu widerstehen." Beide Zeitungen präsentieren ihren Lesern im Originalton einen neuen deutschen Begriff: Nach "Ostpolitik" jetzt "Berufsverbot".
Auch im Ausland wächst die Kritik. Bundespräsident Walter Scheel (1974-1979 ) sieht inzwischen die Gefahr, " dass der Radikalen-Erlass zu rigoros gehandhabt wird". Zwei renommierte Richter sind auf Distanz zum Radikalen-Urteil gegangen. Für die vom Land Bayern abgelehnte Juristin Charlotte Niess übernahm Walter Seuffert die Verteidigung gegen den Freistaat. Seuffert war Vorsitzender jenes Senats des Bundesverfassungsgerichts, der 1975 die Berufsverbotspraxis absegnete. Ver-fassungsrichter Helmut Simon "schämt sich, dass die Leuchtkraft der bundes-deutschen Verfassungsordnung durch eine Gesinnungsschnüffelei verdunkelt wird".
Eine Ausweitung der Radikalenhatz ist indes nicht ausschlossen. Schon hat der bayerische Kultusminister Hans Maier (1970-1986) erklärt: "Unser Land hat nicht nur ein Recht auf treue Beamte, sondern auch auf treue Bürger."