Donnerstag, 25. August 1977


Argentinien: "Detenido - deparecido - verhaftet - verschwunden"












































































stern, Hamburg
25. August 1977
von Peter Koch, Perry Kretz
und Reimar Oltmanns


In den sieben Jahren der argentinischen Militärdiktator von 1976 bis 1983 sind 30.000 Menschen verschwunden, entführt, gefoltert und ermordet worden - darunter 100 Deutsche oder Kinder deutscher Eltern. Während es anderen Regierungen gelang, ihre gefangenen Bürger zu befreien, vermochte es die deutsche Regierung nicht, auch nur ein einziges Leben zu retten. Oberste Priorität hatten für die Regierung Schmidt/Genscher im Jahre 1977 Rüstungsexporte: U-Boot-Verkäufe, Fregatten-Verkäufe, Panzer-Verkäufe, Kanonen-Verkäufe und Automobil-Verkäufe in Militär-Regime. Derlei lukrative Geschäfte sollten nicht durch sozial engagierte und links orientierte Entwicklungshelferinnen wie etwa Elisabeth Käsemann (*1947+1977) gefährdet werden. Sie wurden voreilig, vorschnell und ungeprüft dem Terroristen-Verdacht ausgesetzt - ihrem Schicksal in Folterkammer bis zum grausamen Tod überlassen. "Detenideo - desparecido - verhaftet - verschwunden." Spurensuche.

Die Augen spiegeln Angst und Anklage, Schmerz und Sehnen, Resignation und Revolte. Es sind Emigranten-Augen. José Ramon Morales und seine Frau Graciella Luisa leben erst seit wenigen Wochen in Mexico-City. Freunde hatten sie mit Dokumenten versorgt und von ihrem Heimatland Argentinien über mehrere Grenzen bis nach Mexiko geschleust. Arbeit haben die Morales noch nicht gefunden. Sie leben vom Geld der Freunde, die selbst nicht viel haben. Und sie leben mit ihren Erinnerungen.
Die Morales sind jung (siehe Bild oben). Er ist 28, sie ist 27. Beim Erzählen wechseln sich José Ramon und Graciella Luisa ab, sie fallen sich ins Wort, korrigieren sich gegenseitig wie Ehepaar das überall in der Welt tun. Nur das, was sie erzählen, ist mit nichts zu vergleichen.
GEBUNDENE HÄNDE - VERBUNDENE AUGEN
Ihre Erzählung beginnt mit dem 2. November 1976. Am Nachmittag jenes Tages kam Graciella Luisa nichts-ahnend nach Hause, einem Haus in der Vorstadt Ramo Mejia im Westen von Buenos Aires. Sie war mit ihren beiden Töchtern, der vierjährigen Mariana und der zweijährigen Gloria im Krankenhaus gewesen. Als die Frau zu Hause ankam, wie üblich trat sie durch die offene Hintertür in das Gebäude, sah sie ihre Schwieger-mutter im Sessel sitzen - mit gebundenen Händen und verbundenen Augen. - Möbel waren umgestürzt. Schub- laden herausgerissen, Gläser zersplittert, das ganze Haus in Unordnung. Fremde Männer in Zivilkleidung, angeführt von einem Uniformierten mit Helm und Stiefel, sprangen auf sie zu, nahmen ihr die Kinder weg und schlossen sie in einem Nebenraum ein.
FAMILIE DER REIHE NACH GEQUÄLT
Graciella Luisa: "Sie überfallen mich mit Fragen, wollen wissen, wo mein Mann ist. Sie sagen mir, dass mein Schwager und meine Schwägerin verhaftet sind, dass auch mein Schwiegervater verhaftet worden ist, und dass sie ihn gefoltert haben, weil er nicht den Aufent- haltsort meines Mannes verraten wollte. Sie schleppen mich ins Badezimmer, lassen die Wanne voll Wasser laufen und drohen mich zu ertränken, wenn ich jetzt nicht reden würde. Sie sagen, dass sie Waffen im Haus gefunden hätten. Sie zeigen mir die Gewehre, es sind sehr moderne Waffen. Ich bestreite, dass diese Waffen vorher in unserem Haus waren."
FOLTERPLATZ - GARAGE
Graciella Luisa wird an den Haaren in die Garage des Hauses gezerrt. Dort steht das Auto des Kommandos,ein weißer Wagen. Graciella muss sich auf den Hintersitz setzen. Auf dem Sitz liegt ein Koffer mit Silbersachen, die der Familie Morales gehören. Auch der Schwieger- vater - José Morales - wird ins Auto gestoßen, bekleidet nur mit Unterwäsche. Er hat eine Kapuze über dem Kopf. Der Schwiegervater und Graciella müssen sich auf den Boden des Wagens legen. Das Auto fährt ab, rund 20 Minuten dauert die Fahrt durch Argentiniens Hauptstadt. Dann ist der Wagen am Zielort angekommen. Der Fahrer hupt, die beiden Verschleppten hören, wie sich ein Rollladen öffnet. Sie fahren in eine große Garage, eine frühere Autowerkstatt. Dann werden die zwei Opfer aus dem Wagen gezerrt und eine Treppe hinaufgestoßen. Die Beschreibung des Hauses, in dem die Morales Dinge erleben werden, die sie für ihr Leben prägen, deckt sich mit der Schilderung des Enrique Rodriguez Larretta über jenen Ort, in dem er und seine gekidnappten uruguayischen Mitbürger in Buenos Aires gefangen gehalten wurden. Offensichtlich ist die Garage in Buenos Aires ein viel genutztes Folterzentrum.
KÖRPER UNTER STROM
Graciella Luisa wird im ersten Stock in einen Raum gezerrt. Die Männer reißen ihr die Kleider vom Leib, dann wird sie mit den Händen an eine Kette geknebelt und so weit hochgezogen, dass ihre Füße nicht mehr den Boden berühren. Auf den Boden wird grobes Salz geschüttet, wie bei den Uruguayern. Sie erinnert sich: "Die Männer setzten meinen Körper unter Strom, zuerst den Kopf, dann die Geschlechtsorgane und auch das Herz. Sie beschimpfen mich sagen, ich solle über die Ver- bindung meines Mannes zu den Linken reden. Nach einer Weile fange ich an Blut zu spucken und bekomme eine Scheidenblutung. Sie halten jetzt an, geben mir Watte. Ich darf mich anziehen und mich hinsetzen. Ich werde gefesselt. Nun beginnt wieder das Verhör. Jetzt sagen sie plötzlich, dass sie mich freilassen wollten, wenn ich rede. Ich sollte solle mir auch keine Sorgen über die Kinder machen. Die hätten sie bei meiner Schwiegermutter zu Hause gelassen."
SCHREIE ... NUR SCHREIE
Das Verhör wird unterbrochen, als unten ein neues Auto ankommt. Ein Haufen Männer stapft die Treppe hoch. Sie schreien durcheinander und gestikulieren wild. Graciella Luisa: "Sie bringen meinen Mann. Auch er muss sich ausziehen. Ich ahne, dass sie ihn nun foltern werden und bitte, mich wegzubringen, da ich nicht dabei sein möchte. Ich komme ich ein anderes Zimmer. Dort treffe ich meinen Schwager und meine Schwä-gerin. Bald höre ich die fürchterlichen Schreie , nur Schreie meines Mannes."

MÖBEL, FERNSEHER MITGEHEN LASSEN

José Roman Morales war etwas verspätet nach Hause gekommen. Nach der Arbeit - José Ramon arbeitet im Laden seiner Vaters, einem kleinen Unternehmen für den An- und Verkauf von Metallwaren - war er noch zu einer Werkstatt gegangen, wo er sein Motorrad zur Reparatur abgestellt hatte. Als José Ramon nach Hause kam, wurde er von fünf Männern umringt. Sie fragten ihn, wer er sei. Als er sich zu erkennen gab, zerrten sie ihn in die Küche und schlugen auf ihn ein. Wenn ihm sein Leben lieb sei, sagten sie zu ihm, solle er reden, über seine Verbindung zu den Gewerkschaften und über seine Verbindung zu Untergrundorganisationen. José Ramon durfte noch kurz seine Mutter sehen, sie saß in einem Zimmer des Hauses mit seinen beiden Kindern und weinte. Die Männer stießen ihn dann in einen Lieferwagen. Der Wagen war schon voller Sachen aus dem Haushalt der Morales: Kleidungsstücke, Fernsehgerät, Möbel. Einer der Schergen hatte sich alle Oberhemden von José Ramon übereinander gezogen. Mit Sirenengeheul ging die Fahrt zu der Garage.

STERBEN ODER TÖTEN
Am Ende der Treppe, die zu den Folterzimmern im ersten Stock führt, sieht José Ramon zwei mit Blumen verzierte Kacheln, auf denen steht: "Wer hier hinein- geht, ist bereit zu sterben oder zu töten."

GESICHTER ZERSCHLAGEN

José Ramon setzt jetzt den Bericht seiner Frau fort: "Oben treffe ich meine Familienangehörigen wieder. Das Gesicht meines Vaters ist zerschlagen und voller blauer Flecke. Auch mein Bruder ist da, Luis Alberto und seine Frau. Die beiden sehen noch verhältnismäßig gut aus, sie sind weniger geschlagen worden. Wieder werde ich verhört, ich soll reden. Über mein Verbindungen zu den revolutionären Kräften, über subversive Bücher, wie sie es nennen, über versteckte Waffen. Sie wollen wissen, ganz allgemein, welche Politiker ich kenne.

Als meine Antworten sie unbefriedigt lassen, ziehen sie meinen Vater hoch und setzen ihn unter Strom. Zum Schluss ist er ohnmächtig und stöhnt nur noch. Ich muss das alles ansehen. Dann komme ich an die Reihe. Sie ziehen mich aus. legen mich auf eine Stahlmatratze. Damit ich nicht so laut schreien kann, während sie mich unter Strom setzen, pressen sie mir ein Kissen auf das Gesicht. Als sie die Stromkabel in der Höhe meines Herzens ansetzen, verliere ich das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir komme, machen sie sich über mich lustig. Einen Mann, der bei der Folterung dabei war, offensicht- lich ein Arzt, fordern sie auf, mich zu behandeln, damit ich nicht wegsterbe. Dann stecken sie mir die Kabel in den Mund. Es ist grauenvoll."

VOR DEM ABENDESSEN - STROMSTÖSSE
Übergangslos wird die Folterei abgebrochen. Die Schergen lassen José Ramon liegen und ziehen sich in einen andern Teil des Raumes zurück. Dort wird ihnen ihr Abendessen aufgefahren. - Nach dem Essen geht die Quälerei weiter. Schreie und Fragen, Strom und Schläge - in der Erinnerung ist es für José Ramon wie ein wirk- licher Albtraum. Doch die Narben an seinem Körper zeugen davon, dass es nicht ein böser Traum war. Spät in der Nacht wurden die Folterer müde. Schon längst ist ihnen gleichgültig, ob ihnen auf ihre Fragen geantwortet wird oder nicht. Sie quälen aus Routine. José Ramon: "Einer schlug mir mit einem Stock auf die Kniegelenke und sagte mir, dass er an meinen Aussagen gar nicht interessiert sei, sondern, dass es ihm einfach Spaß mache."

Dann gehen die Folterer nach unten zum Schlafen. Ihre Opfer finden vor Schmerzen keinen Schlaf. Graciella Luisa gelingt es, die Nylonschnur, mit der ihre Hände gefesselt sind, zu lockern und abzustreifen. Mit einiger Kraftanstrengung kann sie auch die Streifen aus Bett- leinen lösen, mit denen ihre Füße zusammengebunden sind. Sie schleicht in ein Nebenzimmer. Dort sieht sie zwei Mann am Boden liegen. Sie schubst den ersten an und sagt ihm, wer sie sei. Er antwortet nicht. Sie geht zu dem zweiten. Es ist ihr Mann. Es ist schwierig, ihn zu befreien. Er trägt Handschellen. Der Schlüsselbund hängt an einem Haken an der Tür. Nach etlichen Ver- suchen klappt es schließlich, einer der Schlüssel paßt.

FLUCHT


Die beiden Morales schleichen auf den Flur. Dort steht an der Wand ein Maschinengewehr. Sie greifen es. Jetzt suchen sie noch den Vater. Sie finden ihn in seiner Zelle vollkommen nackt. Er will nicht mitkommen. Sein Sohn José Ramon: "Er sagte, ich sollte still sein, es gebe keine Fluchtmöglichkeit." Der Vater, 54 Jahre alt, war fertig, gebrochen. José Ramon und seine Frau Graciella Luisa geben noch nicht auf, sie schleichen die Treppe her- unter. Ehe sie den Ausgang erreichen, entdeckt sie einer der Schergen. Eine wilde Schießerei beginnt. Graciella erhält einen Brustdurchschuss, José Ramon einen Streif- schuss am Bein. Mit dem Maschinengewehr schießt José Ramon sich und seiner Frau den Weg nach draußen frei.

Draußen ist es noch dunkel. Auf der Straße geht die Schießerei weiter. Die beiden verletzten Flüchtlinge schleppen sich über eine Bahnlinie, die dicht am Haus vorbeiführt, erreichen eine Straße, wo ein Lastwagen mit laufendem Motor steht. Mit vorgehaltener Waffe zwingen sie den Fahrer zum Aussteigen, setzen die Flucht mit dem Lkw fort. Sie geraten mit dem schweren Lkw in eine enge Einbahnstraße. Als ein Personen- wagen entgegenkommt, ist die Fahrt zu Ende. José Ramon springt heraus, zerrt seine Frau mit und zwingt nun mit vorgehaltener Waffe den Fahrer des Personen- wagens zum Aussteigen. José Ramon wendet den Per- sonenwagen, mit dem schnelleren Fahrzeug rasen er und seine Frau durch Buenos Aires. Sie kennen Freunde, Deck-Adresse.

REVOLUCIONARIO POPULAR
Später im Exil, draußen in Mexiko, will José Ramon nicht sagen, welcher Organisation er angehörte, mit welchen Widerstands-Gruppen er Verbindung hatte. Er fürchtet offensichtlich, die Anklage, die in der Schil- derung seines persönlichen Schicksals liegt, könne an Wirkung verlieren, wenn er sich zu einer der bewaff- neten Untergrundgruppen bekennt, seien es nun die peronistischen Montoneros oder die ERP, die Ejército Revolucionario Popular, die revolutionäre Volksarmee. Nur soviel berichtet José Ramon noch: dass ein Arzt seiner Frau die Wunde verband; dass Freunde bei der Mutter die Kinder holten; dass die Grenze kein Problem war, "weil es Leute gibt, die uns an der Grenze halfen". Und schließlich noch: dass er von seinem Vater, seinem Bruder und seiner Schwägerin nie mehr etwas gehört hat, dass Verwandte vergeblich Eingaben machten, um etwas über deren Schicksal zu erfahren. José Ramon: "Ich hoffe noch immer, dass sie leben."

MILITÄR-AREAL CAMPO DE MAYODie Tragödie der Morales ist argentinischer Alltag, seit dem 24. März 1976, seit dem Militärputsch, der General Jorge Rafael Videla an die Macht brachte. Wie die Morales-Familie in der Autowerkstatt in einem Vorort von Buenos Aires werden seither überall in Argentinien Tausende gefoltert. Im Militärareal Campo de Mayo oder der Villa Devoto in Buenos Aires, im Armee- gefängnis Campo de la Rivera in der Stadt Córdoba.

FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT

Die willkürlichen Verhaftungen auf Grund irgend- welcher obskurer Angaben, die meist unter Folter erpresst wurden, der Einsatz von nicht identifizierbaren Zivilpersonen, die aber doch über Fahrzeuge und Waffen der Armee verfügen, das Ausrauben der Wohnungen von Verhafteten, das bestialische Foltern, das schon längst nicht mehr darauf gerichtet ist, Informationen zu erhalten, sondern mögliche Oppositionelle physisch zu zerstören, all das ist Bestandteil des General-Regimes. Willkür und Brutalität nehmen ständig zu. Denn im Jahr 1978 will Argentinien die Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten und sein regierender General Videla hat versprochen, dass es bis dahin im Land "Frieden" herrschen werde - Friedhofsruhe.

STAATS-TERRORISMUS

Als "Staatsterrorismus" hat die argentinische Menschen- rechtskommission "Comission Argentina pro los De- rechos Humanos" in einem Bericht an die Menschen- rechtskommission der Vereinten Nationen in Genf die Regierungsform bezeichnet, mit der Videla über das 25-Millionen-Volk herrscht. Der englische Lord Eric Reginald Lubbock Aveburg, langjähriges Mitglied des britischen "House of Lords" und der Menschenrechts- kommission des Parlaments, stellte in einem Bericht für die Gefangenenhilfs-Organisation amnesty inter- national fest, dass heute in Argentinien ein Bürger schon dann unter den Verdacht kommen könne. subversiven Ideen anzuhängen, wenn er ein Buch des Dichters und Nobelpreisträgers Pablo Neruda (*1904+1973) besitze. "Wird dieser Mann dann aufgegriffen und unter Arrest gestellt, dann bedeutet dies in der Regel, dass er schwer gefoltert wird, ehe die Untersuchungen über seine politische Harmlosigkeit abgeschlossen sind." Im heutigen Argentinien genüge schon der bloße Verdacht auf Subversion, um Personen sogar zu töten. Es gäbe keine Rechte gegen willkürliche Festnahmen, und wer ausnahmsweise wegen erwiesener Unschuld freigelassen werde, habe keinen Anspruch auf irgendeine Art von Wiedergutmachung.


DEUTSCHE KREDITE FÜR DIKTATOREN

General Videla hatte im März 1976 die Regierung übernommen mit dem Versprechen: "... die Freiheit nicht zu zertreten, sondern sie zu retten. Wir wollen das Recht nicht beugen, sondern seine Anwendung durch- setzen." Auch als der Widerspruch zwischen Worten und Taten immer evidenter wurde - inzwischen ver- schwinden in Argentinien Tag für Tag 40 Menschen spurlos, die Gesamtzahl dieser "Desaparecidos" betrug schon ein Jahr nach dem Putsch rund 20.000, die Zahl der politischen Gefangenen, wird nach UN-Offiziellen auf nochmals rund 25.000 geschätzt - verstand es Videla, dem Ausland gegenüber als ein Mann zu er- scheinen, den die Umstände zum harten Durchgreifen zwangen und der selber besorgt ist über die täglichen Morde. Im Vergleich zu Chiles Präsident General Augosto Pinochet (*1915+2006), der sich offen zu Ver- folgung und Folter bekannte, versteht sich Videla auf diplomatische Tarnung. Videlas Propaganda-Trick hat auch in der Bundesrepublik Deutschland Erfolg.

Unter Federführung der gewerkschaftseigenen Bank BfG wurde dem Videla-Regime ein 90-Millionen-Dollar-Kredit gegeben. Der Deutsche Gewerkschaftsbund pro- testierte bei der Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) gegen diese Hilfsaktion für die Militärdiktatur. Die BFG recht- fertigte in einem Antwortbrief das Darlehensgeschäft mit dem Argument, "dass man leider in Lateinamerika nur selten Maßstäbe anwenden kann, die in westlichen Demokratien als selbstverständlich gelten."


MONTONEROS FÜR MENSCHENRECHTE
Videlas propagandistisches Geschick zeigt sich auch darin, dass er die Montoneros (peronistische Bewegung, in den siebziger Jahren bekannteste Stadtguerillas Lateinamerikas) gegenüber dem Ausland als Ter- roristen darstellen konnte, die sich jedes Rechtsan- spruchs begeben haben. Tatsächlich aber haben diese argentinischen Untergrundkämpfer nichts mit den anarchistischen Morden etwa der deutschen Baader-Meinhof-Gruppe gemeinsam. In Anbetracht der be- sonderen argentinischen Verhältnisse - der ununter- brochenen Abfolge korrupter und gewalttätiger Regierungen - können die Montoneros viel eher als Kämpfer für größere Menschenrechte gelten.
Sie stellten dies einmal mehr unter Beweis, als sie der Regierung Videla Anfang 1977 ihre Mindestforderungen für die Aufgabe des Widerstands anboten: Freilassung all jener Häftlinge, die ohne Urteil eingekerkert sind und Wiederzulassung der unter dem Ausnahmezustand verbotenen politischen Organisationen.
GANGSTER-BANDE
Doch statt für die Montoneros engagierten sich europäische Sozialisten wie Bruno Kreisky (*1911+1996, österreichischer Bundeskanzler 1970-1983) oder Olof Palme (*1927+1986, schwedischer Ministerpräsident 1969-1976 und 1982-1986) allenfalls für eingelochte argentinische Gewerkschaftsbosse. Tatsache aber ist, dass viele - nicht alle - dieser Gewerkschafter einmal eine Gangsterbande waren, die jetzt zu Recht hinter Schloss und Riegel gebracht wurde (wobei die Videla-Regierung allerdings als letzte legitimiert wäre, irgend jemand in Haft zu setzen). Nur wer die komplizierte argentinische Vergangenheit kennt, ist in der Lage, die verwickelte Gegenwart, die durch Videlas Propaganda zusätzlich eingenebelt wurde, zu durchschauen.
AUGENBLICKE - ANGST - ARGENTINIEN

Wir sitzen im 21. Stockwerk des Clubs Alemán en Buenos Aires im Goethe-Instituts im Frühjahr des Jahres 1977. Casino-Atmosphäre. Abendliche Schummer-Stimmung. Vivaldi-Klänge vom alten Plattenspieler. Cocktails-Zeit. Traumhafte Kulisse. Erhabenheit. Tags zuvor hatten wir nach langen Flug von Sao Paulo in Brasilien mit scharfen Soldaten-Kontrollen halbwegs unbeschadet hinter uns gebracht. Vielleicht deshalb suchten wir zunächst in Buenos Aires ein wenig Ruhe, ein wenig Beschaulichkeit, Besinnung - in diesen gefürchteten Folter-Jahren Südamerikas.

Wir fuhren auf einem Boot im riesigen Delta des Rio de la Plata. Wir passierten unzählige Inseln mit alten Hotels, schwedischen Häusern, Villen, Hubschrauber-Landeplätzen auf den so genannten Partyinseln, auch Privat-Inseln der Super-Reichen. Hier lagen bild-hübsche Mädchen auf den Booten und harrten da aus in ihrer gemeinsam erlebten Langeweile . Überall an den Stränden des Rio de la Plata Heerscharen graziöser, leicht bekleideter Frauen - vorzeitige Insignien eines sich zaghaft andeutenden weltweiten Sex-Tourismus. Im sanften Bogen das weiße Sandufer der Playa Ramirez mit langen Wellen dünt der Rio de la Plata den Strand hinauf. Im Sand tanzten, sangen, tranken und knut-schten lebenslustige Menschen scheinbar unbesorgt fortwährend in den langen Tag hinein - mit Geld natürlich. Ansichtskarten-Idylle. Verkitschte europäische Wehmut vielleicht. Atempause ganz gewiss.

DEUTSCHER KLUB

Nunmehr am Frühabend im Deutschen Klub gleiten meine Blicke hinaus aus der klimatisierten Abge- schiedenheit auf Buenos Aires. Die Stadt besteht aus Hunderten quadratischer Blöcke; schnörkellos, unnah- bar. Überall Soldaten, Panzer, Gewehre, Reiterstaffeln, Hunde, Hundertschaften, Folterstätten irgendwo ver-steckt hinter angegrauten Gemäuer. Vor einem Jahr - 1976 - hatten sich die Militärs an die Macht geputscht. Da war nichts von Romantik pur, da fiel auch keinem von uns die melancholische Melodie "Don't Cry for me Argentina" ein. Da dachte jeder von uns ganz leise, aber spürbar an sein Leben, ans Überleben. Angst hatten wir, richtige Furcht. Irgendwie war in solch einem unbe- rührten Augenblick Argentinien ein Ort, ein Schau-platz, an dem die authentisch miterlebte, verdichtete Vernichtung der Menschheit auf wenige Quadrat- kilometer ihre Fortsetzung fand.

Perry Kretz, der Fotograf, sprach nicht von ungefähr in diesem Moment von seinen eingegerbten, schon irgend- wie traumatisch sitzenden Vietnam-Erlebnissen, My Ly, Da Nang und so fort. Mir schossen Bilder von ent- geisterten, blutrünstigen Armee-Patrouillen in Uganda durch den Kopf. Und Peter Koch wollte sogleich seinen alten Bekannten Klaus Oertel aus früheren Bonner Tagen kontaktieren, der es als Chef von Mercedes Benz in Argentinien "ganz schön nach oben gebracht hat"; folglich sehr einflussreich war. Einfach deshalb weil, Daimler und Co. als "verlässlicher Partner der Militär-Junta unter besonderem Schutz steht und damit auch sehr gute Geschäfte, Profite macht".

STAATSMINISTER IN DER HEIMAT

Tagsüber hatte ich noch mit Klaus von Dohnanyi, seinerzeit SPD-Staatsminister im Auswärtigen Amt (1976-1981) in Bonn telefoniert. Wir benötigten seine Hilfe, um unser Recherchenmaterial - Tonbandauf-nahmen, Filme, Dokumente - aus der Militärdiktatur Brasilien (1964-1985), wo wir vorher waren, mit der geschützten Diplomatenpost außer Landes zu be- kommen. Bildungsbürger Klaus von Dohnanyi hat uns in Sachen Brasilien "noch einmal geholfen. Aber in Argentinien ist das ausgeschlossen. Das wäre genauso, wenn wir Terroristen wie Baader/Meinhof in Deutsch- land noch Lagepläne für ihre Bomben lieferten", sagte er und legte auf.

Montoneros
und Baader-Meinhof weltweit alles in einen Pott werfen? Geht das überhaupt ? Na denn, Herr Staatsminister.


ZU TODE GEFOLTERT - ELISABETH


Mir ging an diesem denkwürdigen Tag unzulässiger Verallgemeinerungen aus Bonn am Rhein der Name der deutschen Soziologiestudentin und Entwicklungs- helferin Elisabeth Käsemann aus Tübingen nicht mehr aus dem Sinn. Aus der Redaktion in Hamburg kam die Nachricht: Autos ohne Kennzeichen hatten vor ihrer Wohnung in Buenos Aires gestoppt. Kreischende Bremsen. Türen wurden aufgerissen. Männer sprangen heraus. Sie drangen in ein Haus ein und fielen über sie her. Handschellen, Kapuze übern Kopf, Spray in die Augen. Elisabeth Käsemann wurde von Soldaten abge- führt, in eines der Auto gezerrt. Türen schlugen zu. Motoren heulten auf. Die Autos rasten davon. Die junge Frau, die Argentiniens Schergen abholen, wird in der Öffentlichkeit nicht mehr lebend gesehen. Es ist, als hätte die Erde sie verschluckt. Anschuldigungen, Ge- rüchte lauteten seinerzeit, sie hätte mal zu jemandem aus dem linken Montonero-Umfeld - Stadt-Guerilla - Kontakte gehabt, gefälschte Papiere zur Ausreise besorgt. Nur Belege, Beweise, die gab es nicht. Fehlanzeige. Vermutungen, Verdächtigungen - mehr nicht.


So oder ähnlich muss es in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1977 geschehen sein, als die deutsche Staats-bürgerin Elisabeth Käsemann in Buenos Aires von ihren Folterern abgeholt, geraubt, gekidnappt worden ist. Ausgerechnet an diesem Tag trafen wir aus Sao Paulo kommend in Buenos Aires ein - auf der Suche nach dem Verbleib weiterer hundert Deutscher oder auch Deutschstämmiger, die während 1976 bis 1983 spurlos in Argentinien wie vom Erdboden verschluckt worden sind. - "Detenido - desaparecido - verhaftet - verschwunden"; über 30.ooo Menschen in dieser verdunkelten Epoche.


PARALLELEN, ÄHNLICHKEITEN

In Elisabeths Alter und Leben, ihrem Werdegang, ihren Wahrnehmungen als auch gesellschaftspolitischen Absichten konnte ich Ähnlichkeiten zu meiner Biografie entdecken. Parallelen, die mich aufwühlten. Nur mit dem folgenschweren Unterschied, dass mich mein Veränderungswille in den Journalismus - als Intrument der Aufklärung - trieb. Elisabeth hingegen setzte sich auf die andere Seite des Tisches - zu den Armen, Entrechteten, Farbigen, Ausgestoßenen oder zu den Verdammten dieser Erde, um mit Frantz Fanon (
*1925+1961) zu sprechen - dem Vordenker der Entkolonialisierung.
WARTE NICHT AUF BESSERE ZEITEN


Rückblick auf eine Biografie. - Elisabeth, Tochter des Tübinger Theologie-Professors Ernst Käsemann (*1906+1998) , studiert um 1968 Soziologie an der Freien Universität in West-Berlin. Sie diskutierte immer und immer wieder mit dem SDS-Vordenker und Gesellschafts-Architekten Rudi Dutschke (*1940+1979 ). APO-Jahre, Rebellen-Jahre. Jahre der Träumen, der Entwürfe von Skizzen oder auch Utopien nach einer gerechteren Welt, einer neue deutschen Republik. Elisabeth wollte nicht warten auf bessere Zeiten, nur in Studenten-Milieus diskutieren, theoretisieren und dort in solch einem akademischen Umfeld kleben bleiben. Sie wollte raus in die Welt, dort anpacken, zupacken, wo die alltägliche Not grassierte - etwa in den vielerorts stinkenden, erbärmlichen Slums von Buenos
Aires. Dort arbeitete sie für eine christliche Mission in der Villas Miserias. Hier glaubte Elisabeth, ihre Lebensaufgabe gefunden zu haben. - Hoffnung.


ELEND - NICHTS ALS BITTERE ARMUT


Ihren täglichen Unterhalt verdiente sie sich mit Über- setzungen und Deutsch-Unterricht. Den besorgten Eltern im fernen Tübingen schrieb Elisabeth: "Diese Entscheidung, hier in Buenos Aires zu bleiben, und nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren, fällte ich nicht aus persönlichen Gründen, sondern aus ideellen. Sie entspringt meiner Verantwortung als Mensch. Ich werde arm sein, ich werde manchmal, mich zurücksehnen nach allem, was ich zu Hause hatte."


PERONISTEN, JUDEN, KOMMUNISTEN ... ...

In ihren nahezu 300 Folterzentren verschleppten die argentinischen Militärs politische Gefangene aller Schattierungen: Peronisten, Kommunisten und Bürgerliche, Christen, Juden und Atheisten - eben Menschen, den der vorauseilende Gehorsam fremd ge- blieben ist. Es gab Zeugenaussagen, die beweisen, dass Elisabeth Käsemann als "Mitglied einer politischen oppositionellen Gruppe" im Folterzentrum "El Vesubio" interniert und zugerichtet worden war - bis Todesschüsse in den Rücken und ins Genick aus nächster Nähe sie am 24. Mai 1977 hinrichteten.

GEFLEHT, GEWINSELT, GEKROCHEN

Es gab Zeugenaussagen, die zweifelsfrei belegen, wie Elisabeth um ihr Leben flehte, auf Knien kroch, winselte und immer wieder auf Spanisch mit ihrem harten deutschen Akzent beteuerte: "Das ist die Wahrheit, das ist die Wahrheit ... ". Sie lag angekettet am Boden, untergebracht in Verschlägen, die an Hundehütten rinnerten. Nichts half - niemand half. Eine englische Freundin, die ebenfalls interniert, gefoltert worden war, diese Weggefährtin kam nach gezielt-massiver Intervention Englands wieder frei. England.

BOTSCHAFTER MIT SCHRÄGEM GRINSEN

Nicht so Elisabeth Käsemann. Es ist ein Frauen-Schicksal, das mich auch nach Jahrzehnte danach zornig, bitter und verächtlich werden lässt - unvergeßlich bleibt. Wie der deutsche Botschafter Jörg Kastl (1977-1980 ) mit schrägem, feistem Grinsen im fernen Buenos Aires beim Hummer-Menü im Gespräch mit mir zynisch daher schwadroniert. "Wer in einem - äh - Spannungsfeld in die Schuss - äh - linie gerät, der ist in Gefahr."

ULRIKE MEINHOF SÜDAMERIKAS

Dabei hatte das Auswärtige Amt genaue Hinweise, wo Elisabeth Käsemann gefangen gehalten wurde. Aber die Diplomaten unternahmen nachweislich nichts um das Leben dieser deutschen Staatsbürgerin zu retten. Mittlerweile gilt es als verbrieft, dass weder die Botschaft in Buenos Aires, noch das Auswärtige Amt mit Hans-Dietrich Genscher (FDP) an der Spitze noch Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) sich
jemals nachhaltig bemühten, intervenierten - das Leben einer gefolterten deutschen Studentin aus kirchlichem Haus zu retten. Die englische Regierung tat das mit Erfolg, die deutsche lehnte solch ein Ansinnen kategorisch ab. Die Moral der Geschicht': Eine verkaufte Mercedes-Karosse wiegt eben mehr als ein Atem. - Schubladen auf und Schublade wieder zu. Argentiniens Propaganda-Trick über eine vermeintliche Terroristin, der Ulrike Meinhof (*1934+1976) Südamerikas die in Wirklichkeit eine friedfertige Sozialarbeiterin war, zeitigte Wirkung.

SS-MASSENMÖRDER ADOLF EICHMANN

Bemerkenswert an dieser Vertretung der Deutschen in Buenos Aires war, wem sie da sonst so ihre Fürsorgepflicht angedeihen ließ. Vornehmlich dann, wenn es in dieser Nachkriegs-Epoche um Alt-Nazis ging, waren bundesdeutsche Diplomaten stets hilfsbereit zur Stelle. Belegt ist, dass der SS-Massenmörders namens Adolf
Eichmann (*1906+1962, für die Ermordung von sechs Millionen Juden zentral mitverantwortlich ) , vor seiner Entdeckung im Jahre 1962 in Argentinien in der deutschen Botschaft zu Buenos Aires Schutz, Obhut, Ge- spräche und gefälschte Ausweispapiere suchte. Den deutschen Diplomaten zu Südamerika waren über Jahre offenkundig flüchtende Nazis wichtiger, als etwa Verbindungen zu einer angereisten Soziologie-Stu- dentin - mit kesser Lippe ohnehin eine "linke Spinnerin" sondergleichen. Bei Eichmann und Co. stimmte zumindest eines einvernehmlich: Herkunft, Gedanken-Nähe, Karriere-Muster - unverwechselbar der Stallgeruch.

KARRIERE-MUSTER MIT STALLGERUCH

Es galt in Deutschlands Diplomaten-Kreise zu Bonn und anderswo Ende der sechziger, bis Mitte der siebziger Jahre hinein als ein "offenes Geheimnis", wer und auch wo Alt-Nazis in Sachen Deutschland noch unterwegs waren, ihre Kanäle fingierten.. Jeder wusste es, keiner sprach darüber. - Als junger Reporter, in vielen Länder unterwegs, habe ich es zunächst nicht glauben wollen - aber dann notgedrungen erleben, zur Kenntnis nehmen müssen, wie viele Braunröcke aus der Nazi-Zeit unter dem Schutz der "Corps diploma- tique" unbehelligt überwinterten. - Schon-Zeiten. Verquere Zeiten.

KAMPFPANZER AUS DEUTSCHLAND

Folgerichtig gab Außenamts-Staatssekretär Günther van Well (FDP *1922+1993) nach einem Treffen mit General Videla im Jahre 1978 in Buenos Aires freimütig zu, dass das Thema der verschwundenen, gefolterten, ermordeten Deutschen in Argentinien überhaupt nicht angesprochen worden sei. Leisetreterei hieß das hinter vorgehaltener Hand - ausschließlich standen deutsche Exportlieferungen im Werte von drei Milliarden Mark im Mittelpunkt - Waffen und nochmals Waffen, Kampf-Panzer und nochmals U-Boote, Maschinenpistolen vornehmlich für den Straßenkampf - Made in Germany.

22.ooo DOLLAR FÜR RÜCKFLUG - IM SARG

Am 10. Juni 1977 kehrte die Leiche Elisabeth Käse- manns im Frachtraum einer Lufthansa-Maschine nach Deutschland zurück, wurde sie in ihrer Heimatstadt Tübingen beerdigt. Die Eltern hatten über Mittels- männer den Leichnam der Tochter für 22.000 Dollar freikaufen können. Vater Ernst Käsemann musste nach Argentinien reisen, um den Leichnam seiner Tochter ausgehändigt zu bekommen. Die Leiche hatte weder Haare noch Augen. Gerichtsmediziner in Tübingen konstatierten: dass Elisabeth von hinten durch vier Schüsse getötet wurde, was auf eine typische Exekution hinweist.

BEERDIGUNG

Elisabeth Käsemann
wurde am 16. Juni 1977 auf dem Lustnauer Friedhof zu Tübingen beigesetzt. An diesem Tag erklärten ihre Eltern: "Wir haben heute unsere Tochter Elisabeth auf dem Lustnauer Friedhof bestattet. Am 11. Mai 1947 geboren, am 24. Mai 1977 von Organen der Militärdiktatur in Buenos Aires ermordet, gab sie ihr Leben für Freiheit und mehr Gerechtigkeit in einem von ihr geliebten Lande. Ungebrochen im Wollen mit ihr einig, tragen wir unsern Schmerz aus der Kraft Christi und vergessen nicht durch sie empfundene Güte und Freude."

HAFTBEFEHLE

Finale eines Verbrechens - Im Auftrag der Koalition gegen die Straflosigkeit vieler Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Argentinien während der Militär- diktatur erstattete am 25. März 1999 Rechtsanwalt Roland Deckert Strafanzeige im Fall Käsemann. Das Amtsgericht Nürnberg erließ am 11. Juli 2001 Haft- befehl gegen den früheren argentinischen General Carlos Guillermo Suárez Mason . Er stand unter konkretem Verdacht, die Ermordung Elisabeth Käsemanns befehligt zu haben.

FOLTERER - "EL OLIMPO"

Ihr Scherge, Carlos Guillermo Suárez Mason (*1924-+2005), der in Argentinien den Beinamen "der Schläch- ter des El Olimpo" trug, wurde für die Entführung von 254 Personen und der illegalen Adoption von Kindern verschwundener Kritiker verurteilt. Im Jahre 1979 sagte er angeblich gegenüber einem Vertreter der US-Bot- schaft, dass er jeden Tag zwischen 50 und 100 Todes- urteile unterzeichne. Italien, Deutschland und Spanien hatten seine Auslieferung beantragt. - Abgelehnt.

FREIHEIT - STRAFFREIHEIT

Im November 2003 wurden Auslieferungsanträge gegen die Beschuldigten Jorge Rafael Videla, ehemaliger Präsident der Militärjunta, und gegen Ex-Admiral Emilio Eduardo Massera (*1925+2010) erlassen. - Die Anträge aus Deutschland wurden am 17. April 2007 vom
Obersten Gerichtshof Argentiniens abgewiesen - die Akte Elisabeth Käsemann endgültig geschlossen.

FOLTERZENTRUM ALS PARTY-KELLER

Nur wenige der geheimen Gefangenenlager oder Folterzentren sind nach den Jahren der Miltiärdikatur (1976-1983) als Gedenkstätten erhalten geblieben. Die Gebäude von "El Vesubio", in der Elisabeth Käsemann ihr Leben ließ, wurden abgerissen. Ein früheres Folter- zentrum im Stadtteil Belgrano von Buenos Aires war in den 90er Jahren der Partykeller - ein ehemaliges Junta-Mitglied hatte es gemietet, um dort die Hochzeit seiner Tochter zu feiern.


POLITISCHE ZERFALL

Wie in allen lateinamerikanischen Ländern liegt auch in Argentinien die tiefere Ursache für den politischen Zer- fall in wirtschaftlichen Problemen. Die Staaten Süd-amerikas sind in erster Linie Exporteure von Rohstoffen und Agrarprodukten. Seit dem Koreakrieg ( 1950-1953) sind die Preise für diese Produkte - abgesehen von kleinen Schwankungen und einem Zwischenhoch kurz nach der Ölkrise im Jahre 1973 - kontinuierlich gefallen. Die "Terms of Trade" entwickelten sich immer zum Nachteil dieser Länder. Deren Kassen wurden leerer, die schon vorhandenen krassen sozialen Gegensätze ver- schärften sich weiter. In vielen dieser Länder kam es vorübergehend zu linksreformerischen oder links- revolutionären Systemen, die versuchten, mit einem nationalistisch-sozialistischen Rezept diesen Tendenzen Einhalt zu gebieten. Dazu gehörten das Zurückdrängen der multinationalen Unternehmen mit ihrer Kontrolle über die wichtigsten Produkte, die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und die staatliche Kontrolle des Außenhandels. Mit diesem Programm traten in Latein- amerika ganz unterschiedliche linke Strömungen an; Salvador Allende (*1908+1973; chilenischer Präsident 1970-1973), General Juan José Torres González (1921-1976), die reformerischen Generäle in Peru und in Argentinien der Peronismus.

PERONISMUS

Juan Domingo Perón (*1895+1974) regierte Argentinien zwei Mal. Seine Amtszeit dauerte von 1946 bis 1955, seine zweite währte von 1973 bis zu seinem Tod am 1. Juli 1974. Auch Perón war ein klassischer Diktator, ein wesentlicher Zug aber unterschied ihn von Amtskollegen à la Alfredo Stroessner (*1912+2006; Präsident und Diktator von Paraguay 1954-1989) in Paraguay. Das waren Peróns sozialreformerischen Ideen. Er setzte sich für eine Steigerung der Arbeitereinkommen ein, für einen Ausbau des Gewerkschaftssystems. Seine erste Frau Evita (*1919+1952) wird noch heute in Argentinien verehrt als die "Königin der Armen".

GEWERKSCHAFT - GANGSTERSYNDIKAT

Es war allerdings ein sehr spezielles Gewerkschafts- system, das der argentinische Präsident aufbaute, keine klassische, demokratische Arbeiterbewegung wie in Europa, sondern ein Gewerkschaftstum von Peróns Gnaden. Die Gewerkschaftsbosse waren seine Statt-halter auf dem Arbeitersektor und brauchten von dem Moment an, wo sie sein Wohlwollen hatten, nicht mehr zu befürchten, dass sie abgewählt werden könnten. Wer Peróns Stimme hatte, der blieb.

So entwickelten sich an der Spitze vieler Gewerkschaften klassische Mafiosi, die ihre Gewerkschaft wie ein Gangstersyndikat regierten. Typische Beispiele dafür waren die Metallarbeiter-Bosse. Augusto Vandort, er starb bei einem Attentat, und Lorenzo Miguel, der heute hinter Gittern sitzt. Standen bei den Metallern Gewerk-schaftswahlen an, und es wagte jemand, eine Gegenliste zu machen, war der so gut wie tot. Vandort und später Miguel schickten ihre Bodyguards los, die den Oppo- nenten empfahlen, sich schleunigst zu verziehen und denjenigen, der nicht gehorchte, einfach umnagelten.

Der Sieg bei der Gewerkschaftswahl war dann so gut wie sicher. Hinzu kam: die Wahlbeteiligung betrug im Durchschnitt nur drei Prozent, und bei dieser Wahl- beteiligung konnten die Bosse zum großen Teil schon mit den Leuten, die sie in die Gewerkschaft geschleust hatten, ihre Mehrheit sichern. Dazu gehörten die Bodyguards und die mit Verwaltungsjobs belohnten Anhänger bis hinunter zum Portier oder zum Fahrer. Die meisten Leute hatten mit dem Metallarbeitersektor nicht das geringste zu tun.

Einer der größten Gauner im argentinischen Gewerkschaftswesen hieß Coria, er war Anführer der Bauarbeiter-Gewerkschaft, zugleich aber auch einer der größten Bauunternehmer Argentiniens. Auch er starb bei einem Anschlag der Linken. Ein anderes Pracht-exemplar argentinischer Gewerkschaftsbewegung war der Anführer der Handelsgewerkschaft March, der eines Tages eine eigene Bank gründete. Er steckte so viel Einlagegelder als Nettogewinn weg, dass selbst die Bankaufsicht in Argentinien nicht mitmachen wollte. Der Mann wanderte hinter Gitter, für ein Jahr aller- dings nur, und in eine Luxuszelle mit Fernsehen.

GAUCHOS

Wie verrottet auch immer die peronistischen Gewerkschaften sich entwickelten, zu einem hatte es politisch geführt: Ein großer Teil der Linken wurde in Argentinien aufgezogen durch die peronistische Bewegung. Nach seiner ersten Amtszeit (1946-1955) wurde Perón gezwungen, ins Exil zu gehen. In Argen- tinien wechselten sich dann in rascher Folge Militär- regierung und Zivilregierungen ab. Keiner aber ist es gelungen, die peronistische Bewegung aufzusaugen. Perón und erst recht seine Frau Evita, die 1952 an Krebs starb, waren längst zu einem übergroßen Mythos in Argentinien geworden.


"HERRLICHSTE JUGEND MIT DER WAFFE"

Vom Exil aus bestärkte Perón die nachwachsende junge Generation, die sich in Anlehnung an die gegen die englischen Kolonialherren rebellierende Gauchos des 19. Jahrhunderts Montoneros nannten, in ihrem Engage- ment für einen nationalen Sozialismus und in ihrer Opposition gegen die jeweils herrschende Regierung. Perón feierte sie als "herrlichste Jugend", die mit der Waffe in der Hand gegen militärische Diktatur kämpft und bereit ist, ihr Leben fürs Vaterland und soziale Gerechtigkeit zu geben".

Als Perón 1973 zurückkam, fand er so eine breite Masse enthusiastischer jugendlicher Peronisten vor, die ihn persönlich gar nicht kannten. Es waren Linke unter- schiedlichster Couleur, Trotzkisten, Kommunisten. Als Perón dann wieder an der Macht war, wollte er nichts länger von ihnen wissen. Öffentlich höhnte er: "Mit den Linken kann man kämpfen, aber nicht regieren." - Regieren wollte Perón lieber - wie früher - mit der alten Gewerkschaftsclique. Immerhin, Perón hatte noch das Prestige, den totalen Bruch zwischen diesem linken Flügel und seiner Bewegung zu vermeiden.

ISABEL - NACHTCLUB-TÄNZERIN

Als Perón allerdings am 1. Juli 1974 starb und seine dritte Frau, die völlig unbedarfte Isabel, eine ehemalige Nachtclub-Tänzerin, an die Macht kam (1974-1976), hielt diese Arrangement nicht mehr. Isabel regierte mit einer Gauner-Clique, allen voran der ehemalige Jahr- markts-Astrologe und Zauberkünstler José Lopez Rega (1916+1989) , von Interpol weltweit wegen Unter-schlagung gesucht. Ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, Geldbetrag um Geldbetrag die Staatskasse Argentiniens zu plündern - Millionensummen. Was zum Beispiel aus Wohlfahrtsfonds hereinkam, buchten sie auf persönliche Konten ab. In zweieinhalb Jahren, in denen Rega an der Macht war, konnte er allein sich rund 120 Millionen Dollar zusammengaunern. Gegen diese korrupte Clique machte eine breite Schicht der eigenen Bewegung Front, am rabiatesten die linken Gruppierungen, die sich schnell und sehr effektiv als Guerilla organisierten. So kam es, dass Argentinien zum Zeitpunkt der Amtsausübung von Isabel eine pero- nistische Regierung hatte und eine personistische Guerilla, die sich beide bis aufs Messer bekämpften.

GUERILLA MIT 120.000 SYMPATHISANTEN

Neben den Montoneros hatten sich seit 1970 noch eine andere Guerilla-Organisation gebildet, die ERP, der bewaffnete Flügel der trotzkistischen Revolutionären Arbeiterpartei. Das Operationsfeld der ERP war vor- nehmlich die Gegend um Córdoba. Zeitweise gelang es der ERP, ein Areal im Norden des Landes etwa von der Größe des Saarlandes unter Kontrolle zu bringen und als "befreite Zone" auszurufen.

Als am 24. März 1976 General Videla an die Macht kam, hatte Argentinien die stärkste Guerilla auf dem latein- amerikanischen Kontinent. Ihr Sympathisantenkreis wird heute noch auf 120.000 Personen geschätzt, trotz aller Verhaftungen und Morde noch eine riesige poten- zielle Untergrundarmee. Die Kriegskasse der Guerilla-Kämpfer wird auf zwei Drittel des argentinischen Militärbudgets taxiert. Allein durch das Kidnappen der Gebrüder Born, Inhaber eines riesigen Getreide- konzerns, kassierten die Untergrundkämpfer 60 Millionen Dollar.
Bei einer Reihe Aktionen zeigte die Guerilla ihre Stärke. Am 19. Juni 1976 töteten die Untergrundkämpfer den Polizeichef von Argentinien, General Cardozo. Eine Widerstandskämpferin, die 18 Jahre alte Ana Maria Gonzales, hatte sich mit der Tochter des Generals befreundet und dann eine Bombe unter das Bett von Cardozo platziert.
Am 19. August 1976 wurde General Omar Carlos Actis, Vorsitzender des staatlichen Komitees für die Fußball- weltmeisterschaft 1978, ermordet. Am 2. Oktober 1976 explodierte im streng bewachten und abgeriegelten Militärareal Campo de Mayo eine gewaltige Bombe in einer Militärbaracke, in der sich noch wenige Minuten zuvor der argentinische Präsident General Videla aufge- halten hatte. Mit knapper Not entging Videla auch im März 1977 einem Anschlag. Zentnerschwerer Spreng- stoff riss ein neun Meter tiefes Loch in die Landebahn des Stadtflughafens von Buenos Aires, kurz nachdem die Privatmaschine von General Videla abgehoben hatte.
121 PUTSCHE IN SÜDAMERIKA
Staatsstreiche, also der gewaltsame Umsturz be- stehender politischer Machtverhältnisse, sind in Süd- amerika nichts Außergewöhnliches. Sie gehören lange Jahre sozusagen zur Folklore. Seit 1930 gab es insge- samt 121 erfolgreiche Putsche auf dem amerikanischen Subkontinent. In den früheren Jahren floss meist nicht viel Blut. Der "golpe de teléfono", der Staatsstreich per Telefon, bei dem die Armee des Landes dem regierenden Präsidenten das Ende seiner Amtszeit mitteilte, besorgte den Übergang auf neue Machtträger in relativer Harm-losigkeit. Die Armee begnügte sich mit einer Hinter-grundrolle im Sinne des "corriger la fortune". Sie sorgte dafür, dass ungeachtet irgendwelcher Wahlergebnisse oder Koalitionsabsprachen ihr genehme Potentaten das Staatsruder in der Hand hielten. In den letzten Jahren aber wurde der "golpe de teléfono" abgelöst durch den "auto golpe".
Der Herrschaftsanspruch des Militärs hatte sich geändert, es wollte jetzt selbst regieren. Brasilien machte 1964 den Anfang, das zweite Land war Chile 1973, es folgte am 24. März 1976 Argentinien.
TERROR-REGIME
Und wie schon in Brasilien und Chile wurde auch in Argentinien ein Beispiel dafür, dass mit der neuen Form des Staatsstreichs eine Eskalation der Gewalt einher- ging. Die angewandten Mittel stellten den Zweck des Unternehmens, nämlich Ordnung zu schaffen, in Frage. Unter dem Vorwand, dem Land Sicherheit zu zurückzu- geben, errichtete Argentiniens General Videla ein Terror- regime. Um illegaler Gewalt zu begegnen, wurden die Schutzrechte des einzelnen außer Kraft gesetzt und gewalttätige Illegalität geduldet. Das Recht wurde auf zweifache Weise gebrochen: Zum ersten wurden Gesetze geschaffen, die der argentinischen Verfassung wider-sprachen; zum zweiten missachteten Armee und Polizei selbst diese Gesetze. Unterdrückungsinstrumentarien der argentinischen Junta umfasst im wesentlichen folgende Gesetze und Verordnungen:
o Die Aufrufung des Ausnahmezustands, der die Verhaftung jedes Oppositionellen ermöglicht. Dabei wurde ausdrücklich jener Artikel 23 der National- versammlung außer Kraft gesetzt, der bisher den unter Ausnahmerecht Festgenommenen die Möglichkeit gab, das Land zu verlassen;
o festgenomme Zivilisten werden Militärgerichten überantwortet, was Artikel 95 der argentinischen Nationalverfassung ausdrücklich verbietet;
o den vor einen Militärgerichtshof gestellten zivilen Angeklagten ist ausdrücklich untersagt, einen zivilen Anwalt zu nehmen. Sie müssen ihre Verteidigung einem Offizier übertragen;
o Parteien wurden verboten, jegliche politische Betätigung wurde untersagt. Selbst das Schreiben einer Parteiparole wird verfolgt;
o sämtliche kollektiven Rechte der Arbeiter wurden außer Kraft gesetzt: das Streikrecht, das Versamm- lungsrecht, das Recht auf Abschluss von Kollektiv- verträgen;
o die Todesstrafe wurde eingeführt. Sie ist ab 16 Jahren vollstreckbar;
o Geständnisse während eines Verhörs erübrigen fortan die Beweisaufnahme vor Gericht; es sei denn, ein Angeklagter kann beweisen, dass er sein Geständnis unter Folter abgegeben hat. Die Beweislast liegt dann bei hm. Bisher hat noch kein Zeuge geladenerer Folterer sein Handeln zugegeben.
Begleitende Maßnahmen sind Strafzumessungen außerhald jeder Relation: Der Besitz einer Pistole etwa kann eine 15jährige Gefängnisstrafe nach sich ziehen. Eine totale Pressezensur wurde verfügt. Zeitungen und Rundfunk wurde am 22. April 1976 durch Regierungs- dekret sogar verboten, über den Tod von "Subversiven" oder das Auffinden von Leichen zu berichten, wenn dies nicht von offizieller Seite bekanntgegeben war. Dazu kommt der nackte Terror:
AAA - ALIANZA ARGENTINA ANTICIMUNISTA
Lord Avebury zählte in seinem Bericht für amnesty international nach der Befragung argentinischer Gefangener als gängigste Methoden auf; Schläge, Elektroschocks, U-Boot (das Eintauchen in Wasser bis kurz vor dem Erstickungstod), das Verbrennen mit Zigaretten, das Überschütten von Gefangenen mit Wasser bei Minus-temperaturen, das Aufhängen von Opfern an den Handgelenken, der Entzug von Nahrung, Getränken und Schlaf, Vergewaltigung. Die argen- tinische Menschenrechts-Kommission nennt in ihrem Bericht unter Berufung auf Zeugenaussagen noch weitere Ungeheuerlichkeiten: das Absägen von Händen oder Füßen, Verstümmelung durch reißende Hunde, die auf die Opfer gehetzt werden.
Die schmutzigste Arbeit überlassen die Militärs der Alianza Argentina Anticomunista. Diese Todes- kommandos, zusammengesetzt aus rechts-extremi- stischen Soldaten , die einen Feierabendjob brauchen sowie Militärs und Polizisten, die dienstfrei haben, verhaften, verschleppen, plündern, foltern und töten mit Billigung der amtlichen Stellen. In keinem einzigen Fall wurde versucht, eine Untersuchung der Aktionen der AAA vorzunehmen, im Gegenteil: die AAA-Kommandos sind ausgerüstet mit den Ford-Falcons der Sicherheits- kräfte. Rufen tatsächlich einmal Augenzeugen einer AAA-Aktion die Polizei, dann lassen die Polizisten diese Kommandos ungestört weiter agieren.
USA STÜTZT MILITÄRJUNTA
Im August 1976 erklärte der argentinische Außen- minister Admiral César Guzetti (*1925+1988) nach einer Rede vor den Vereinten Nationen in New York: "Meine Vorstellung von Subversion oder Terror ist das Auftreten von linken Terrororganisationen. Sub- version oder Terror auf der Rechten ist nicht dasselbe. Wenn der soziale Körper eines Landes infiziert ist, bildet er Anti-Körper. Diese Anti-Körper kann man nicht in gleicher Weise beurteilen wie die Bakterien. Sie sind nur eine natürliche Reaktion auf eine Krankheit." Während seiner Amtszeit traf sich César Guzetti mit seinem amerikanischen Amtskollegen Henry Kissinger (1973-1977). Er sicherte der Militärjunta seine Unterstützung zu.
Nach dem Mord an dem General Omar Actis, dem Organisator der Fußball-Weltmeisterschaft 1978, wurden am nächsten Tag in einer Vorstadt von Buenos Aires 30 Leichen gefunden, von Schüssen und Dynamit zerrissen. Keiner dieser Toten hatte Schlipse, Gürtel oder Schuhbänder - sichere Indizien dafür, dass es sich um Gefangene handelte. Das gleiche passierte nach dem Anschlag auf den Polizeichef Cardozo. Noch am selben Tag wurde das Elternhaus der Attentäterin in die Luft gesprengt, in der darauffolgenden Nacht wurde auf einem Parkplatz im Zentrum von Buenos Aires die verstümmelten Leichen von acht jungen Männern und Frauen gefunden.
FRIEDHÖFE, MASSENGRÄBER
Zwar ist die Todesstrafe offiziell wieder eingeführt, aber die Militärs haben entdeckt, dass die Ermordung unliebsamer politischer Gegner bequemer ist als eine legale Erschießung, bei der es zu Protesten aus dem Ausland kommen kann. Am 6. Oktober 1976 wurden auf hartnäckige Gesuche von Verwandten hin 34 Leichen auf dem Moreno-Friedhof südlich von Buenos Aires exhumiert. Bei allen Leichen waren die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Sie konnten als die Opfer einer Anti-Guerillia-Aktion identifiziert werden, die am 14. April 1976 in diesem Vorort von Buenos Aires abge- laufen war. Auf dem zentralen Friedhof in Córdoba hoben Militärs am 10. Oktober 1976 ein Massengrab mit Baggern aus, mindestens 60 Leichen wurden hinein- geworfen. Die Stelle wurde anschließend zubetoniert. Dazu amnesty international: "Es ist offensichtlich, dass in Argentinien eine große Zahl von Leuten, die spurlos verschwanden, inoffiziell exekutiert worden sind." Häufig allerdings geben die Militärs auch nach solchen Erschießungen ein Kommuniqué heraus. Darin heißt es in nahezu immer wortgleichen Formulierungen: "Die Gefangenen wurden beim Fluchtversuch erschossen." Oder: "Die Sicherheitskräfte konnten mehrere subversive Personen aufspüren. Als sie sich weigerten, einem Haftbefehl zu folgen, kam es zum Schusswechsel, bei dem mehrere sub- versive Verbrecher den Tod fanden."
ASYL INS JENSEITS
Der Terror des Videla-Regimes richtet sich nicht nur gegen die eigenen Landsleute, sondern auch gegen die rund 12.000 Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten, die in den letzten Jahren in Argentinien Asyl gefunden hatten. Im Büro des Hohen Kommissars für das Flüchtlings- wesen der Vereinten Nationen in Buenoes Aires - es ist im 8. Stock der Einkaufsstraße SuiPacha 280 unter- gebracht - hängt ein Plakat mit dem englischen Satz: "It doesn't take much to become a refugee - your race or belief can be enough" ("Es ist nicht schwer, ein Flücht- ling zu werden, deine Rasse oder dein Glauben können genügen").
Seit dem Amtsantritt Videla ist es in Argentinien nicht schwer, als Flüchtling eine Leiche zu werden. Am 2. April 1976 trug die staatliche Einwanderungsbehörde allen in Argentinien lebenden Flüchtlingen auf, ihren Wohnort anzugeben und sich anschließend alle 30 Tage bei der Polizei zu melden. Als Strafe wurde der Entzug des Asylrechts angedroht. Diese auf den ersten Blick harmlos administrative Maßnahme hatte für viele tödliche Folgen.
So wurden wenige Tage später in einem Hotel im Zentrum von Buenos Aires der ehemalige uruguayische Senator Zelmar Michelini und der ehemalige Parla-mentspräsident von Uruguay Hector Ruiz verhaftet und kurz darauf von Kugeln durchsiebt an einer Straße gefunden.
OPERACIÓN CONDOR
Am 26. Mai 1976 wurde der ehemalige Präsident von Bolivien, General Juan Jose Torres (*1920+1976, Präsident von Bolivien 1970/1971). aus seiner Asyl- wohnung in Buenos Aires entführt und einen Tag später 80 Kilometer außerhalb der Hauptstadt ermordet aufge- funden. Torres wurde im Rahmen der Operación Cóndor erschossen. Unter diesem Codenamen ope- rierten in den 70er und 80er Jahren Sicherheitsdienste von sechs lateinamerikanischen Ländern mit dem erklärten Absicht, linke politische und oppositionelle Kräfte weltweit zu verfolgen und auszuschalten. Nach den bisherigen Ermittlungen - Jahr 2008 - sowie der Auswertung von Dokumenten fielen mindestens 200 Personen der Operación Condor zum Opfer. Menschen-rechtsorganisation wie amnesty international (ai) gehen jedoch von einer weitaus höheren Anzahl Ermorderter aus. ai befürchtet, dass unter den lateinamerikanischen Regimen bis zu 50.o00 Menschen ihr Leben ließen, weitere 35.000 noch immer vermisst werden.
Nach nunmehr ausgewerteten amerikanischen Dokumenten war es insbesondere US-Sicherheitsberater Henry Kissinger während der Präsidentschaft von Richard Nixon (1969-1974), der die Operación Condor aktiv unterstützte. Er befürchtete eine marxistische Revolution in Lateinamerika. Demzufolge betrachtete Friedensnobelpreisträger Kissinger (1973 ) die Militär- diktatoren als Verbündete der USA. Bemerkenswert ist zudem, dass Frankreich Veteranen aus dem Algerien- krieg (1954-1962 ) den lateinamerikanischen Militärs zwecks Erfahrungsaustausch einschließlich Sonder- trainingsprogramme zur Verfügung stellte. Thema: Effektivität der Foltermethoden
Zwei markante Schicksale - stellvertretend für viele, sehr viele. Anders als in Brasilien oder in Chile hat sich die katholische Kirche in Argentinien noch nicht zu einer eindeutigen Opposition gegen das Willkür-Regime der Generäle durchringen können. Eher im Gegenteil. Der Militärbischof Victorio Bonamin verkündet in seinen von Funk und Fernsehen übertragenden Predigten: "Der Kampf gegen die Subversion ist ein Kampf zur Verteidi- gung der Moral, der Menschenwürde und der Religion. Es ist ein Kampf zur Verteidigung von Gott. Der Feind hat es selbst so gewollt." Oder: "Wir befinden uns am Vorabend eines reinen und heiligen Argentiniens." Obgleich auch zahlreiche Priester von den Militärs wegen angeblicher Zusammenarbeit mit den Linken ermordet wurden, hat das katholische Episkopat in einem Dokument über die Menschenrechte sich bislang nur zu so verhaltener Kritik aufraffen können wie: "Im Eifer, die Sicherheit zu erlangen, die wir alle so sehr wünschen, könnten Fehler begangen werden: willkür- liche Verhaftungen, unverständlich lange Festnahmen, Unwissenheit über den Verbleib von Verhafteten, Isolation von fraglicher Dauer, Verweigerung geistlichen Beistands."
Die Militärs in Argentinien haben so praktisch über- haupt keine legale Institution zu fürchten, die ihnen wirksam Opposition bieten könnte. Angesichts dieser Situation kommt der britische Lord Avebury in seinem Bericht für amnesty international zu dem Schluss: "Die Missachtung der Menschenrechte in Argentinien ist an sich schon alarmierend genug. Was sie noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass ein Ende dieses Miss- standes nicht erkennbar ist."
------------------------------------------------------
Postscriptum . - Es bedurfte nur wenige Jahre der Millitärs an der Macht, um ihre Politik dem Ausver- kauf Argentiniens gleich zu setzen. Das Land war dem wirtschaftichen Ruin nahe, sank die Industrieproduk- tion um 4o Prozent, stieg die Staatsverschuldung auf ungeahnte Rekordhöhen. Mit den 1982 gegen England geführten und verlorenen Waffengang um die Zugehörigkeit der Falkland-Inseln suchten die Militärs letztmalig, die ihrer Meinung nach zentrale nationale Idee zu mobilisieren. Vergeblich. Wirtschaftliche Panik um Betriebe und Arbeitsplätze, um den Wohlstand schlechthin, sind seither weitaus größer. Die gescheiterten Generale zogen sich in ihre Kasernen zurück. Im Jahre 1983 votierten die Argen- tinier und Argentinierinnen nach fortwährenden Massenprotesten gegen den ökonomischen Verfall Raúl Alfonsin 1983-1989) zum ersten frei gewählten Präsidenten nach der Soldaten-Herrschaft. Seit 1977 verlangten die "Madres de Plaza de Mayo" in ihren fortwährenden Demonstrationen und Kundgebungen Aufklärung über den Verbleib, Mord, Freiheits- beraubung und Torturen an ihren Söhnen. Im Jahre 2006 wird der ehemalige Chefermittler Miguel Etchecolatz wegen Erschießung, Verstümmelung von politischen Gegner zu lebenslanger Haft verurteilt. In der Urteilsbegründung wurde erstmals von einem argentinischen Gericht der Begriff Völkermord ver- wendet. Einer der Hauptverursacher, General Rafael Videla, musste sich 1985 wegen Menschenrechts- verletzungen (Mord, Folter, Entführung, Freiheits- beraubung) vor Gericht verantworten und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Fünf Jahre später widerfuhr ihm durch das sogenannte Schlusspunkt-gesetz - die Begnadigung. Aufgrund seiner Verant- wortung für Kinderraub musste er sich 1998 erneut inhaftieren lassen. Er hatte im Amt die Adoption von Kleinkindern inhaftierter Oppositioneller verfügt; im selben Jahr wurde Videla unter Hausarrest gestellt; 2001 abermals verhaftet. Nun beschuldigte man ihn, Drahtzieher einer Verschörung gegen Oppositionelle gewesen zu sein.
Imselben Jahr wurde er unter Hausarrest gestellt. Im Jahre 2001 erneut verhaftet: man beschuldigte ihn zusätzlich, während seiner Diktatur Drahtzieher einer Verschwörung gegen Oppositionelle gewesen zu sein. Mittlerweile kehrte Videla in seine Wohnung im Stadtteil Belgrano von Buenos Aires zurück - praktisch als freier Mann. Im Juni 2010 - 27 Jahre nach Ende der Militärdiktatur - wurden die Schlächter jener Jahre erneut vor Gericht gestellt; darunter auch Videla und der einstige General Luciano Benjamin Menéndez. Am 22. Dezember 2010 wurde Videla gemeinsam mit Menéndez und weiteren 14 Tätern zu abermalig lebenslanger Haft verurteilt - einen Freiheitsentzug, den Videla in einem gewöhnlichen Gefängnis zu verbüßen hat.
Letztendlich im Jahre 2011 - 34 Jahre nach dem Mord an der Tübinger Studentin Elisabeth Käsemann in einem Folterlager der argentinischen Militärjunta sind mehrere Verantwortliche abermals vor Gericht gestellt und abgeurteilt worden. Zwei Ex-Militärs wurden in Buenos Aires wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit lebenslang hinter Gitter geschickt. Gegen weitere fünf Angeklagte verhängte das Gericht zwischen 18 und 22 Jahren und sechs Monate. Sie wurden für Morde, Folter und Misshandlungen in dem berüchtigen Folterzentrum "El Vesubio" der Militärjunta zur Rechenschaft gezogen. Lernprozess in späten Jahren: Die Bundesrepublik Deutschland trat vor Gericht in Buenos Aires als Nebenklägerin auf.
























































































































































































Donnerstag, 18. August 1977

Indonesien: Endlösung auf der Gefangenen-Insel Buru





















Mit 225,5 Millionen Einwohnern ist Indonesien das größte Insel-Land der Welt. Es wurde im Jahre 1949 von den Niederlanden unabhängig. Nach etwa fünf Jahrzehnten Diktatur wurde Indonesien erst im Jahre 2004 von der Weltöffentlichkeit als demokratischer Staat anerkannt. Zuvor herrschten Militärs mit allgegenwärtiger Folter, Deportationen Hunderttausender von Menschen, Vergewaltigungen als Dauerzustand. Massengräber vielerorts - Gefangenen-Inseln waren die Folgen jene Schreckensjahre - Rückblicke auf das eigentlich Undenkbare, Unfassbare.

stern, Hamburg
18. August 1977
von Reimar Oltmanns

Indonesien - Bilder von weißen weiten Stränden unter Palmen, blauem Meer, tropischen Himmel und Blumen streuenden, zartgliedrigen Tänzerinnen auf Bali verbinden sich mit diesem Namen. Doch die Prospekt-Schönheit vom Reich der 13.000 Inseln ist eine trügerische Idylle. Die Wirklichkeit sieht so aus: Indonesien hält mit 100.000 politischen Gefangenen den absoluten Weltrekord. Erst im weiten Abstand folgt an zweiter Stelle mit etwa 10.000 politischen Gefangenen die Sowjetunion.

ISLAND BURU

Die Eingekerkerten leben entweder, wenn sie als besonders gefährlich gelten, in finsteren Verliesen auf der Hauptinsel Java (Deutsche Allgemeine Sonntags-blatt: "Selbst Tiere werden menschlicher behandelt") oder sie sind auf ferne, unwirtliche Inseln verbannt, etwa auf der berüchtigte "Island Buru", zweitausend Kilometer weg von der Hauptstadt Djakarta, dem Sibirien Indonesiens. Beri, beri, Malaria, Tuberkulose grassieren unter den Gefangenen, lassen sie zu Hunderten sterben. Dazu kommt Unterernährung, Deportierte haben zudem selber für ihr tägliches Brot zu sorgen. Doch der karge Boden gibt keine ausreichenden Ernten her. Außerdem müssen die Gefangenen viel von dem, was sie den dürren Feldern abtrotzten, als Ernteertrag an die Behörden abführen. In ihrer Not machen die Internierten Jagd auf Ratten und Schlangen, die sie zum Teil vor Hunger roh essen (so ein Report von amnesty international).

OHNE HOFFNUNG - WARTEN AUF PROZESS

Die politischen Gefangenen Indonesiens leben ohne Hoffnung. Sie wurden meist vor über zehn Jahren eingesperrt, seither warten sie auf ihren Prozess. Sie werden wohl auch noch die nächsten zehn Jahre warten müssen. Denn nach offiziellen Angaben der indonesischen Regierung wurden bisher weniger als 800 Personen vor Militärtribunalen oder Zivilgerichten abgeurteilt, ein Drittel zum Tode.

GRAUSAMKEITEN KASCHIERT

Die regierenden indonesischen Militärs profitierten von der geografischen Lage ihres Herrschaftsbereichs. Die Grausamkeiten auf dem abgelegenen fernöstlichen Inselstaat blieben über ein Jahrzehnt der Weltöffentlichkeit verborgen. Erst nach dem Amtsantritt von US-Präsident Jimmy Carter (1977-1981) interessierte sich der amerikanische Kongress auch für Menschenrechtsverletzungen in Indonesien. Der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher (1974-1992), der im Frühjahr 1977 eine Asienreise unternahm und dabei Indonesien besuchte, setzte sich nun ebenfalls gegenüber Präsident Haji Mohamed Suharto (1921-2008) und Außenminister Malik für die Freilassung der Inhaftierten ein. Nur dann, so Genscher, könne weiter mit deutscher Hilfe und deutschen Investitionen gerechnet werden, wenn das indonesische Regime von seiner brutalen Unterdrückungspolitik des innenpolitischen Gegners ablasse.

ÜBER 100.000 POLITISCHE GEFANGENE

Das Internationale Rote Kreuz entschloss sich im Mai 1977 zu einem ungewöhn-lichen Schritt, um auf die verzweifelte Situation der politischen Gefangenen aufmerksam zu machen. Gehört es normalerweise zur Geschäftsgrundlage des Roten Kreuzes, unter Ausschluss der Öffentlichkeit Regierungen in vertraulichen Berichten eine Abänderung betreffender Missstände zu fordern, so wählte das Rote Kreuz im Fall Indonesien den Schritt an die Öffentlichkeit. In einem Bulletin vom 4. Mai 1977 beschwerte sich das Rote Kreuz darüber, von der indonesischen Regierung bei einem Inspektionsbesuch über die tatsächliche Lage der Inhaftierten hinweggetäuscht worden zu sein. Ihm - dem Roten Kreuz - seien nur einige eilig verschönte Lager gezeigt worden, die für den Besuch mit Betten, Nahrungsmitteln und Freizeitgeräten vorübergehend ausstaffiert worden seien. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes kündigte an: "Wir werden weiterhin Reisen in indonesische Gefangenenlager unternehmen und erwarten, dass uns dabei keine Schwierigkeiten gemacht werden."

Die Zahl von 100.000 politischen Gefangenen in Indonesien ermittelte amnesty international . Die meisten Institutionen und ausländischen Regierungen, die sich inzwischen um die Missachtung der Menschenrechte in dem fernen Inselreich kümmern, haben diese Zahl übernommen. Sie schenken den niedrigen Angaben der indonesischen Behörden keinen Glauben. In ihren letzten offiziellen Verlautbarungen sprach die indonesische Regierung von 39.000 politischen Gefangenen. Doch gleichzeitig sagte der Generalstaatsanwalt Sugih Arto: "Es ist unmöglich zu sagen, wie viele politische Gefangene es gibt. Es ist eine ständig schwankende Zahl wie der Wechselkurs des Yen gegenüber dem Dollar."

TRAGÖDIE - INDONESIEN

Die indonesische Tragödie begann im Jahre 1965. Damals regierte in Indonesien der außenpolitisch nach Peking hin orientierte Präsident Achmed Sukarno (1901-1970), gestützt auf den Bündnis von Nationalisten, religiöser Parteien und Kommunisten. Die Kommunistische Partei Indonesiens, die PKI (Partai Komunis Indonesia) hatte im Jahre 1955 bei den letzten Wahlen 16 Prozent der Stimmen errungen, sie war viertstärkste Kraft geworden und wuchs in den folgenden Jahren ständig. In der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober 1965 putschten Einheiten der Armee unter Führung von Oberstleutnant Untung. Sie nahmen sechs Heeresgeneräle gefangen und richteten sie noch am selben Tag hin. Sie erklärten das Kabinett Surkano für abgesetzt. An seine Stelle installierten sie ein 45 Mann umfassendes Gremium aus Persönlichkeiten aller politischer Schattierungen. Ausgeschlossen blieben stark antikommunistische Politiker und Militär. Innerhalb dieses Gremiums waren allerdings auch nur drei Mitglieder Kommunisten.

PUTSCH UND GEGENPUTSCH

Die Aufständischen erklärten, sie hätten mit ihrem Putsch einer Revolte konservativer, vom amerikanischen Geheimdienst CIA unterstützter Teile des Heeres zuvorkommen wollen. Es sollte später oft davon die Rede sein, dass Präsident Sukarno die Untung-Revolte insgeheim gefördert hatte. Schon am Nachmittag desselben Tages kam der konservative Gegen-Putsch. Der Befehlshaber der strategischen Reserve, Generalmajor Suharto, besetzte die Rundfunkstation Djakartas und erklärte, der Putsch des Oberstleutnant Untung sei von der PKI, von der Kommunistischen Partei Indonesiens, ferngesteuert gewesen. Doch seine, Suhartos Truppen, hätten den Umsturz in der indonesischen Republik verhindert und die Ordnung wiederhergestellt.

SCHLIMMSTE MASSAKER

Generalmajor Suharto, der bald darauf als Präsident auch selbst die Verfügungsgewalt über Menschen, Millionen und Materialien übernahm, stellte die Ordnung mit einem der folgenschwersten Massaker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder her. Als westliche Reporter, die den Insel-Staat Ende des siebziger Jahrzehnts bereisten, spürten wir vielerorts Angst, Furcht, Bangigkeit in diesem von Blut getränkten Land. Auch ich hatte Angst, Schweißausbrüche, nervöse, nahezu schlaflose Nächte. Ich notierte in meinem Reisetagebuch: "Indonesien - in einer beispiellosen Verfolgungsjagd wurden Menschen linker Gesinnung oder jene, die man vom Hörensagen dafür hielt, wurden sogenannte Sympathisanten, Chinesen, allzu oft auch private Rivalen, sie wurden blindlinks aufgespürt, erschlagen, ganze Familien ausgerottet, ihre Anwesen, Häuser, Wohnungen einfach niedergebrannt." Furcht war unser Wegbegleiter, überall lauerte unter den noch wenigen Intellektuellen westliche Prägung Friedhofsruhe. Jeder ahnte es, keiner wusste es genau, wer wird das nächste Opfer sein. Schlafnot, Hab-Acht-Stellung, Atemnot - nur raus aus diesem Land der beschaulichen scheinbar unendlich weiten weißen Stränden.

KOMMUNISTEN

Suhartos Armee hetzte fanatische Moslems - Indonesien ist zu 94 Prozent islamischen Glaubens - gegen die Kommunisten auf. Die Kommunisten wurden als gottlose Menschen dargestellt, der einfachen Landbevölkerung wurde erklärt: Ihr müsst die Kommunisten töten, sonst töten sie euch. Die Ermordung der sechs Generäle wurde dabei als Werk der kommunistischen Partei hingestellt, als eindringliches Beispiel für das, wie die Kommunisten hausen würden, wenn man sie nicht vertilge. Propaganda und wohl auch jene Veranlagung der Malaien zu fanatischen Glauben führten zu einem bestialischen Abschlachten. Mindestens eine halbe Million Menschen fanden den Tod.

GRUNDBESITZER

Hinter den religiös verklausulierten Mordaufrufen standen handfeste wirtschaftliche und politische Interessen der islamischen Grundbesitzer und der Armeeführung. Die kommunistische Partei hatte im Jahre 1964, ein Jahr vor dem Putsch, die verarmten indonesischen Bauern zu einer Besetzung der Ländereien der großen Grundbesitzer aufgerufen, als von denen eine Landreform des damaligen Präsidenten Sukarno hintertrieben wurde. Jetzt war die Stunde der Rache gekommen. Dabei kann es inzwischen jedoch als sicher gelten, dass die Kommunistische Partei weder Indonesiens Putsch ins Rollen brachte, noch sich als Partei aktiv daran beteiligte. Sie war ganz offensichtlich auf diesen Putsch überhaupt nicht vorbereitet. Eine Reihe ihrer Führer befand sich an jenem 1. Oktober 1965 in Peking zum dortigen Nationalfeiertag. Andere waren auf Reisen außerhalb der Hauptinsel Java. Da es im indonesischen Inselreich keine ausreichenden Kommunikationsmittel gibt, war eine koordinierte Aktion der Partei damit ausgeschlossen. Vieles hingegen deutet auf eine mögliche Unterstützung der Putschisten unter Generalmajor Suharto durch die USA hin. Seine Offiziere waren in den USA ausgebildet worden. Der damalige amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara (1961-1968) erklärte 1966 vor dem außenpolitischen Ausschuss des Senats auf die Frage eines Senators, ob sich rückblickend gesehen die amerikanische Militärhilfe für Indonesien ausgezahlt habe: "Ja, das glaube ich."

ALLMACHT DES MILITÄRS

Wer als Linksverdächtiger das Massaker von 1965 und die weiteren Säuberungswellen überlebte, wanderte hinter Gitter. Zum Einsatz gegen regimefeindliche Gruppen schuf die neue Regierung des Generals Suharto eine Behörde, die KOPKAMTIB. Die Exekutive dieser Behörde war das Heer. Fortan nahm es zusätzlich zu den militärischen auch politische und polizeiliche Aufgaben wahr. Damit war die enge Verflechtung von Verwaltung und Soldaten hergestellt. Auch die Bürgermeister in vielen Dörfern wurden nun vom Militär gestellt. Fortan konnten Heeresoffiziere im ganzen Land entscheiden über Gefangennahme, Verhöre und Verhaftungen. Eine rechtliche Kontrolle gab es nicht. Als Inhaftierungsgrund genügte die Annahme, dass jemand direkt oder indirekt in den Putsch von 1965 verwickelt war. Mit der Verordnung Nr. 09/KOGAM/1966 wurden die Gefangenen in drei Kategorien eingeteilt. Kategorie A: "Offensichtlich in die Bewegung des 30. September verwickelt." Kategorie B: "Offensichtlich indirekt in die Bewegung vom 30. September verwickelt." Kategorie C: "Es gibt Anzeichen oder man kann vernünftigerweise davon ausgehen, dass eine direkte oder indirekte Verwicklung in die Bewegung vom 30. September vorlag." Diese dehnbaren Begriffe öffneten jeder Willkür Tür und Tor. Wer immer der Regierung nicht passte, konnte und kann aufgrund dieser präsidialen Verordnung verfolgt werden. Zur Kategorie A, die die angeblich gefährlichsten Gefangenen umfasst, zählen rund 2.000 Personen. Eine Aussage des Generalstaatsanwalts Sugih Arto gibt Zeugnis von dem Willkürregime: "Dann gibt es da die B-Gefangenen. Wir wissen mit Sicherheit, dass sie Verräter sind, dass sie ideologisch voreingenommen sind, aber es gibt ncht genügend Beweise, um sie vor Gericht zu bringen."

ZERQUETSCHE ZEHEN - ELEKTROSCHOCKS

Den Gefangenen ist Rechtsbeistand in den meisten Fällen verwehrt. Folter, Elektroschocks, Zerquetschen der Zehen unter Tischbeinen, das Hineinstoßen der Gefangenen in Gruben, deren Boden mit Glassplittern bedeckt ist - wurde zur gängigen Verhörmethode. Folter ist sogar amtlich eingeräumt. Der Hochkommissar der Polizei Dr. Hudioro erklärt einmal öffentlich, seine Beamten seien "nicht immer in der Lage, Ermittlungen ohne Anwendung von Gewalt durchzuführen". Der indonesische Rechtsanwalt Dr. Yap Thiam klagte im August 1975 vor dem staatlichen Gerichtshof in Djakarta das Schicksal der politischen Gefangenen an: "Sie werden behandelt wie der Abschaum der Gesellschaft, beraubt der elementarsten Rechte, die allen anderen Bürgern zustehen. Die Gefangenen haben keine Macht und keine Stimme, kein Recht, sich zu beschweren, oder gegen ihre nicht endende Einkerkerung, gegen Torturen, Beschimpfung, Hunger und Krankheit zu protestieren." Yap Thiam sprach aus eigener Erfahrung. Er war selbst verhaftet, aber dann wieder freigelassen worden.

WILLKÜR-AUTOMATIK

Die Administration legte nicht nur fest, wer Kommunist war oder verdächtige Kontakte zu Kommunisten hatte, sie bestimmte auch, wer nicht Kommunist ist. Jeder Indonesier, der eine Schule besuchten oder arbeiten will, braucht ein Schriftstück, das ihm bescheinigt, nicht in den Putsch von 1965 verwickelt gewesen zu sein. Durch dieses Dekret ist zugleich jede Wiedereingliederung ehemaliger politischer Gefangener verhindert. Denn wer immer sich auf Kontakte mit einem ehemaligen Gefangenen einlässt, läuft Gefahr, selbst inhaftiert zu werden, zumindest aber nicht jene Schriftstück zu erhalten, das ihm Schulbesuch oder Arbeit ermöglicht. Ein perfekter Willkür-Automatismus ist damit in Gang gesetzt. Wann immer die indonesische Regierung zur Rede gestellt wird, dass sie über ein Jahrzehnt politische Gefangene ohne Prozess festhält, ist ihre Replik: Die Gefangenen können zum großen Teil deshalb nicht in ihre Heimat entlassen werden, weil sie sich als Kommunisten und Atheisten den Zorn der Dorfbewohner zuzuziehen würden und möglicherweise getötet werden könnten.

ZWANGS-UMSIEDLUNGEN

Tatsächlich hat die Regierung wohl in voller Absicht noch kein Programm entwickelt, wie die politischen Häftlinge jemals wieder als freie Bürger leben können. Die Gefangenenpolitik ist längst Teil eines Umsiedlungsprogramms geworden, um die Hauptinsel Java zu "entlasten". Ein typisches Beispiel ist die Deportationsinsel Buru, eine Molukkeninsel. In einem vom holländischen Fernsehen im Oktober 1976 ausgestrahlten Programm sagte der Lagerleiter von Buru über die Behandlung seiner Gefangenen: "Wir stopfen sie mit religiösen Anleitungen voll und gehen ihnen Arbeit, damit sie keine Zeit haben zu Diskussionen." Und als seine "erzieherische Aufgabe" legte er ein Vier-Punkte-Programm fest:

GEHIRNWÄSCHE AUF BURU

"1. Wir müssen ihre Gedanken von den Kommunisten zurückgewinnen,
2.Wir müssen sie dazu bringen, richtige Indonesier zu werden, aufgebaut auf den indonesischen Verfassungsgrundsätzen. den Panca-Sila-Prinzipien - nämlich Glaube an Gott, Nationalismus., Menschlichkeit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit.
3. Sie müssen zu religiösen Menschen erzogen werden, die unseren Gesetzen Folge leisten und tun, was auch immer unsere Regierung anordnet.
4. Wir müssen sie in die Gesellschaft zurückleiten, ohne dass dadurch neue Probleme für unsere Regierung entsehen."

ZEITLEBENS AUF BURU VERBANNT

Dieser letzte Punkt aber heißt, dass die Deportierten selbst dann, wenn sie tatsächlich einmal ihre Freilassung erleben sollten, für immer auf Buru bleiben müssen. Das machte der stellvertretende Generalstaatsanwalt Sutrisno Hamidjojo schon 1971 klar: "Im Endstadium werden die politischen Gefangenen zwar auch auf der Insel bleiben, aber sie werden nicht mehr dem Lagerzwang wie bisher unterliegen." So hat die indonesische Regierung bereits inzwischen damit begonnen, die Familien der Gefangenen zu veranlassen, ebenfalls nach Buru überzuwechseln. Bisher aber sind nur knapp zweihundert Familien den insgesamt 10.000 Eingeschlossenen auf Buru nachgefolgt. Warum die Gefangenen sich sträuben, Frauen und Kinder nachkommen zu lassen, erklärte der indonesische Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer, in den fünfziger Jahren einmal als Mitglied einer offiziellen Kulturdelegation nach Holland gereist, jetzt auf Buru interniert. Als er von Reportern gefragt wurde, sagte er angesichts der kontrollierenden Wachoffiziere in vorsichtigen Sätzen: "Die wirtschaftlichen Bedingungen sind hier nicht so recht geeignet. Und außerdem, hier gibt es keine Arznei. Meine Frau hat Tuberkulose." Und er setzte hinzu: "Solange ich auf Buru bin, habe ich keine Zukunft. Ich will frei sein in allem: im Denken, im Reden und im Handeln. Ich bin Schriftsteller, ich will schreiben. Ich träume davon, nach Java zurückzukehren, zu meiner Arbeit, zu meiner Berufung."




IN ERINNERUNG: PRAMOEDYA ANANTA TOER

Der politische Gefangene Toer (1925 - 2006) verbrachte die Jahre von 1965 bis 1979 meist auf Buru. Hier schrieb er sein berühmtestes Werk, die Romantetralogie Buru. Von seiner Zeit auf der Gefängnisinsel erzählt das stark autobiografische Werk "Stilles Lied eines Stummen". Nach Intervention der Carter-Regierung kam Toer 1979 frei, konnte aber Jakarta bis zum Sturz Suhartos 1998 nicht verlassen. Pramoedya Toer gilt als bedeutendster zeitgenösisscher Autor Indonesiens. Seine Werke wurden in 37 Sprachen übersetzt.

Wie Pramoedya Ananta Toer waren hunderttausend Menschen weit über zehn Jahre unter diesen Bedingungen der Entrechtung, Entwürdigung eingesperrt. Das sind mehr als eine Million Jahre des Leidens.