Dienstag, 21. Dezember 1971

Richter-Eminenzen und ihr "roter Buhmann" - Rudolf Wassermann




























Rudolf Wassermann (*1925+2008 ) war eine Ausnahmeerscheinung in der Phalanx deutscher Richter-Eminenzen der siebziger und achtziger Jahre. In 600 Zeitschriften-Aufsätzen und Beiträgen in Sammelwerken sowie in Büchern wie "Der politische Richter" setzte sich Wassermann kritisch mit Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit in Deutschland auseinander. Er war ein unbeirrbarer "Wanderprediger in Sachen Richterreform" - weg vom Standesdünkel, weg von der Klassenjustiz - hin zu bürgernahen Gerichten. "Wenn es gelingt, eine wirklich gerechte Justiz immer wieder zu erneuern und lebendig zu erhalten, wird ein Versprechen eingelöst, das sich mit den Namen Demokratie verbindet" , war sein Lebenscredo. Dabei war Wassermann persönlich gezielten Rufmord-kampagnen ausgesetzt. Flüchten oder standhalten? Rudolf Wassermann hielt stand und blieb von 1971 bis 1990 Präsident des Oberlandesgerichts in Braunschweig. Das Klischee vom "roten Buhmann" wirkte nicht.

Frankfurter Rundschau
vom 21. Dezember 1971
von Reimar Oltmanns


Niedersachsen Christdemokraten waren sich einig: "In Sachen Justiz" sollte der Aufstand geprobt, die totale Konfrontation mit all ihren Ehrverletzungen geprobt werden. Mit konservativer Presse und der geschlossenen Phalanx der niedersächsischen Landgerichtspräsidenten im Gepäck galt es ein Exempel zu statuieren. Das Exem-pel hieß Rudolf Wassermann. Man wollte ihn "fertigmachen", beschimpfte ihn im Plenum des Landtages als "Opportunisten, der nur Reformgeschwätz im Dienste der eigenen Karriere betreibe". Oppositions-führer Wilfried Hasselmann (*1924+2003) konstatierte: "Es droht der Rechtsprechung in unserem Lande etwas, das in einem Rechtsstaat zu den schlimmsten Übeln gehört, nämlich eine parteipolitische Orientierung der Justiz."

MASKE UND MENSCHENVERÄCHTER

Doch damit nicht genug: zu Justizminister Hans Schäfer (*1913+1989) gewandt, wütete der CDU-Abge-ordnete Edzard Blanke: "Sie haben mit Ihren Vorhaben Ihre gesamte Reformpolitik diskreditiert. Sie haben sich selbst in diesen Sumpf hineingetrieben." Und Minister-präsident Alfred Kubel (*1909+1999) galten die Worte: "Sie haben vor der Presse die Richter angegriffen, beleidigt, bedroht, wie wir es in diesem Lande seit 1945 nicht gehört haben. Sie haben damit Ihre Maske fallen lassen und sich als Menschenverächter gezeigt."

KOMMUNISTEN-NÄHE

Zu guter Letzt rückte derselbe Abgeordnete die Wasser-mann-Berufung zum Braunschweiger Oberlandes-gerichtspräsidenten in die scheinbar bewährte Kommu-nisten-Nähe. Dabei machte der CDU-Parlamentarier den als links aussortierten, für das Bürgertum offen-kundig nicht mehr gesellschaftsfähige Kultusminister Peter von Oertzen (*1924+2008) zum eigentlichen Drahtzieher: "Sie haben viel mit dem jugoslawischen Tito-Modell (Josip Broz Tito *1892+1986, Staatspräsident Jugoslawiens 1953-1980) jongliert. Was Sie hier betrieben haben, ist das tschechoslowakische Modell (Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag am 21. August 1968). Starke Worte der Konser-vativen, gefallen am 16. Dezember 1970 im Plenum des Landtages. Tumulte, Krakeelereien - Kalter Krieg in Deutschlands Provinzen.

BÜRGERSCHRECK

In jenen tristen Dezember-Tagen des Jahres 1970 hatte die "Operation Wassermann", die Offensive der Opposition ihren Höhepunkt erreicht, Rudolf Wassermann zum "Bürgerschreck" abzustempeln. Die Berufung des fortschrittlichen Präsidenten des Frankfurter Landgerichts (1968-1971) fand bundesweite Aufmerksamkeit. Dabei hatte sich Rudolf Wassermann nicht gedrängt noch angeboten, seinen Wirkungskreis in das justiz-politisch eher unbedarfte Niedersachsen zu verlegen. Doch nach jenem einsilbigen Groß-Spektakel gab es für ihn kein Zurück mehr. Gleichzeitig bestand die Re-gierung Kubel und insbesondere Justizminister Hans Schäfer ihre erste Kraftprobe. Das galt insbesondere für Hans Schäfer, dem nachgesagt wird, er sie ein kein Mann markiger Worte, aber konsequenter Taten. Und die Berufung des früheren Pressesprechers Rudolf Wassermann des Justizministers Gustav Heinemann (*1899+1976, Bundesminister der Justiz 1966-1969, Bundespräsident 1969-1974) ) war solch eine Tat. Bekenner-mut im Land Niedersachsen der Deiche, Bauern und Heimatvertriebenen.

ADOLF HITLER BEJUBELT ... ...

Zwischenmenschliches Klima, die Atmosphäre schlechthin war unterkühlt, verstockt bis vergiftet, als Rudolf Wassermann am 12. Januar 1971 in sein Präsidentenamt in der Stadt eingeführt wurde, die bekanntlich den Österreicher Adolf Hitler mit der Ernennung zum Regierungsrat im Jahre 1932 die deutsche Staatsbürgerschaft übertrug - Braunschweig. Seinerzeit bei Hitlers Zeremonie waren Rang und Namen mit Pauken und Trompeten zugegen. Als der Jude Wassermann zur Ernennungsfeier lud, bleiben viele Richter des Oberlandesgerichts ostentativ fern. - Berührungsängste.

... ... JUDE WASSERMANN AUSGEPFIFFEN

Zum zweiten Mal, resümierte Rudolf Wassermann , trat mit ihm in der braun befleckten Löwenstadt Braun-schweig der Fall sein, dass ein sozialdemokratischer Richter vom sogenannten staatstragenden Bürgertum gemieden wurde. Schon im Jahre 1922 löste die Berufung des für damaligen Zeiten fortschrittlichen Richters Dr. Levin zum Oberlandesgerichtspräsidenten in Braunschweig heftigste Proteste hervor. An seiner Einführung nahm die Gesellschaft keinen Anteil; er selbst wurde noch lange Jahre von seinen Kollegen isoliert, missachtet.

ZUM "ROTEN TEUFEL" VERKETZERT

Nachdem die CDU-Taktik nicht aufging, Wassermann in die Knie, zur Selbstaufgabe zu zwingen (er solle doch im rot verseuchten Hessen-Süd der Sozialdemokraten bleiben) - brach sie ihre Rufmord-Kampagne spontan ab. Selbst Richter mussten sich notgedrungenerweise eingestehen, dass sie hier einen "roten Buhmann" aufgebaut haben, den sie gar auf den Kanzeln der katholischen Kirche zu Vechta zum "roten Teufel" verketzern ließen.

OFFENSIVE SPONTAN ABGEBROCHEN

Auf ihrem justizpolitischen Kongress startete die Union den letzten Versuch, ihren ungeheuer konfrontativ-polarisierenden Frontalangriff zu rechtfertigen. Fehl-anzeige. Mit vordergründigen Zweckbehauptungen suchte sie nunmehr kleinlaut eine Erklärung für ihre Ausgrenzungskampagne. Selbst konservative Zeitungen in Niedersachsen sprachen plötzlich von einem "Wasser-mann-Festival". Rudolf Wassermann hatte sich auf der CDU-Fachtagung seinen Kritikern persönlich gestellt, zog direkten Blickes sämtliche Register in Sachen Fachkompetenz, Fairness und Anstand.

RATE-SHOW MIT CDU-RICHTERN

Das Klischee vom "roten Buhmann" brach jäh in sich zusammen. Wassermanns Dynamik und die oft unterschätzte Integrationskraft seiner Person setzten sich durch. Folglich begann die einst zusammen-geschweißte Front der um ihre Karriere fürchtenden CDU-Richter zu bröckeln. Das einst angespannte Verhältnis zum Landgerichtspräsidenten Eberhard Kuthning hat sich inzwischen derart gestaltet, dass beide über ihre alltägliche Arbeit hinaus an einem justizpolitischen Quiz für eine Rateshow basteln.

ATEMPAUSE

Um Rudolf Wassermann war es nach monatelanger Anspannungen nun erst einmal still geworden. Atem-pause. Verschnaufmomente. Sein Richter-Devise heißt: Kleinarbeit, Geduld, Überzeugungsarbeit, Engels-Geduld. Sein unprätentiöser Amtsstil und der ungebrochene Wille, zunächst einmal ein neues entspanntes Klima entstehen zu lassen, schufen ihm eine neue Basis. Wassermann gründete Arbeitskreise. Dort werden zentrale sozial-wissenschaftliche Fragestellungen unter didaktischen Gesichtspunkten von jungen Richtern erörtert und erarbeitet. Wassermann intensivierte die Referendarausbildung junger Juristen. Justizminister Hans Schäfer berief ihn demzufolge zum Vorsitzenden einer Kommission, die eine gesellschaftsnahe Konzeption für die juristische Fakultät in Hannover erarbeiten soll.

WANDERPREDIGER

Gleichwohl: Ein Wanderprediger in Sachen Justiz-reform ist Rudolf Wassermann geblieben. Meist in den frühen Abendstunden jagt er mit seinem Dienstwagen über Niedersachsen Autobahnen über Cuxhaven bis Osnabrück. Gewiss ein wenig versessen, ein Tüpfelchen selbst verloren - ein bisschen stereotyp doziert er vor seinem Publikum. Ihm komme es so gar nicht auf Patentrezepte an. Er suche die Menschen, um der "un-träglichen Polarisierung" entgegen zu wirken, ein Reformklima zu schaffen. Denn diese Justiz mit ihren oft schwerfälligen Apparaten benötige Bewegung dringender denn je. - Wassermann, der Reformer.

Den ehrwürdigen Richtereminenzen um den erlauchten Celler Oberlandesgerichts-präsidenten Wilhelm Kregel, (*1909+1094 ) auch Sport-Kregel genannt, und dem Landgerichtspräsidenten Hoppe wird Rudolf Wasser-mann zunehmend unbequemer. Da wo Wassermann auftritt, sagt sich Bewegung an, sind Resonanzen nicht zu überhören - nachhaltig.

WASSERMANN KEIN WANDERVOGEL

Sein Durchsetzungsvermögen neben der "Nehmer-Qualität", Kritik wegzustecken, brachten ihm neue Präsidenten-Angebote aus anderen Bundesländern ein. Doch Wassermann will kein Wandervogel sein und winkte ab. Justizminister Hans Schäfer orakelt gar: "Ich halte Wassermann als Staatssekretär in meinem Haus für sehr geeignet." - Die Moral von der Geschicht' - eine Rufmordkampagne geriet zum Strohfeuer. Als Strohfeuer deshalb, weil sie Rudolf Wassermanns Stehvermögen nicht kannten, als sie ihn beleidigten, beschimpften und zum roten Buhmann stigmatisieren wollten.

















Mittwoch, 1. September 1971

Rauschgift oder die Pest dieser Jahre - Drogen, Drugs, Ecstasy, LSD, Heroin ... .... irgendwann krepieren. Tote werden nur noch mitgeschrieben.








































































HEROIN hat ihn fertigmacht: Joe, der Fixer, ist ausgeflippt. Ihn interessiert nichts mehr, nur noch der "Stoff". Und jetzt ist er impotent. Für die Gesellschaft ist Joe "Abschaum", "Abfall", ist er Trash" (Müll). "Trash" hieß auch der Film aus Andy Warhols Produktions-"Fabrik". Superstar Joe Dallesandro spielte den Süchtigen, f
ür den es kein Zurück mehr gab, der sich eines guten Tages die letzte Spritze gab. "Trash" war schon in den siebziger Jahren einer der authentischen Kinofilme. Albträume ... ...
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Neue Hannoversche Presse
vom 1. August 1971 /5. Februar 2009
von Reimar Oltmanns
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Sie nennen ihn Shadow; sie die Fixer, Spritzer, Hascher, LSD-Freaks - gleich auf den Abstellgleisen hinter Hannovers Hauptbahnhof. Seinen bürgerlichen Namen weiß in diesem Kreis niemand, tut auch nichts zur Sache. Shadow, ein Vorstadt-Junge aus Barsingshausens betuchten Bürgerviertel um den Vier-Linden-Platz,zählt zu jenen Jugendlichen, die dem Rauschgift verfallen sind. Er weiß es, er weiß, dass es alsbald mit ihm jäh zu Ende geht. - Nur ein Zurück, das gibt es für ihn nicht mehr, sagt er. "Eher verrecke ich ..." tönt er teilnahmslos in die Spelunke.
MICKEY MOUSE UND JOINTS
Von den Bahnschienen kommend hockt Shadow sich dösend in dieser hannoverschen Kneipen-Ecke; hier sitzt er meist - tagein, tagaus. Immer sind es dieselben Typen, dieselben Lieder von der Musik-Box, der gleiche Qualm, dieselben Grimassen, dasselbe belanglose Gequatsche. Stereotyp blättert der mal gerade 18jährige Schüler aus der zwölften Klasse in den Mickey-Maus-Heften. Am liebsten würde Shadow lieber heute als morgen in Rente gegen. Einfach verweigern, "null Bock und so". Seinen alten Klassenraum in der Penne hat er schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Seinen Lehrer, Jörg-Ulrich Bockstiegel, grüßt er auf der Straße nicht mehr, wenn sie sich zufälligerweise begegnen. Er schaut weg. Sein Gesicht ist hager , die Augäpfel haben bereits überdimensionale Form angenommen, seine Haare sind schulterlang, strähnig und schmutzig zugleich. Aus der Musik-Box hämmert an diesem Nachmittag zum wievielten Male Mike Oldfields "Shadow on the wall". Und den hat immer wieder von Shadow gedrückt, er steht auf diesen Song, schließlich nennen ihn hier doch alle Shadow. - Ein Junge in seinen besten Jahren.
MORPHIUM UND MESKALIN
Die Zeiten, in denen Shadow Haschisch rauchte, sind endgültig vorbei. Seine Alltagserfahrung, wie vieler seiner Zeitgenossen (49 Prozent der 12- bis 25jährigen) kennen das auf dem Markt angebotene Rauschgift-Repertoire aus dem ff , verlangt nach stärkeren Mitteln. Opium, Morphium, Meskalin und LSD, Marihuana gibt's überall so in Hannover auf den stillgelegten Gleisen vor dem Nuttenviertel in der Ludwigstraße. - Hastig, von anfänglicher Sucht schon an gerempelt, ist er wie ein Besessener immer auf der Suche nach Stoff und Kick. Shodow, mal gerade 18 Jahre alt geworden (Mutter Monika backte zu seinem Geburtstag einen Topf-Kuchen), gehört zu jenen 60.000 Rauschgift-Süchtigen in diesem Land.
JUNGRENTNER ... INVALIDEN ...
Im nächsten Jahr (1972) werden es nach Schätzungen der Experten 120.000 Jungrentner sein - die irgendwo und irgendwie in lichtfreien Nischen dahinsiechen oder sich in einer Nervenheilanstalt (Psychiatrie) wiederfinden werden. In Zahlen: Im Jahr 1950 gab es in Deutschland 1.737 Rauschgiftdelikte - 57 Jahren später im Jahre 2007 sind bereits 248.355 Straftaten erfasst;von der Dunkelziffer gar nicht zu sprechen.Sie liegt um ein Vielfaches höher.
SCHMUDDELKINDER
Gewiss - in Deutschland dieser Zeiten gaben sich alle irgendwie "betroffen" von Ferne, aus der Distanz heraus. Vor allem die Linke in der Sozialdemokratie mit ihrer innewohnenden gesellschaftspolitischen Empörungs-Theatralik war immer und immer wieder aufs Neue "betroffen", solange ihr gesellschaftlicher Aufstieg gewährleistet schien. Der Begriff "Betroffenheit", dieses ausgeleierte Passepartout-Wörtchen aus den achtziger Jahren, signalisierte in Wirklichkeit keine Erregtheit, Ergriffenheit, keine Abhilfe, keine neuen Denkansätze, keine neuen Aktivitäten. Berühungsängste mit den unappetitlichen Schmuddelkindern des Rauschgifts kennzeichnet das einstige "Modell Deutschland". Ein Notstand, an den sich alle gewöhnt haben, wird er doch sorgsam verwaltet - weit weg, versteht sich. Schubläden. Weit weg in den Köpfen vieler war der Drogenmissbrauch, aber gleichsam der Alkoholismus, weil er im Bewusstsein so mancher Menschen mit den Bilder gestrandeter, obdachloser Zeitgenossen sich festgesetzt hatte. Berührungsängste. Dass die Drogenwelt hingegen sich schon längst ins scheinbar so intakte Bürgertum des gehobenen Mittelstands sattsam hineinfraß - das wurde kurzum bockig ignoriert, weil es einfach nicht wahr zu sein hatte. Verniedlichungen. Verdrängungen .
ENDSTATION: SEHNSUCHT
Der Anblick dieses "Typen", wie man in diesen Fixer-Kreisen zu sagen pflegt, signalisiert eine Endstation - Endstation Sehnsucht. Hier zählt nur ein ungeduldiges, schmerzliches Verlangen - Stoff. Damals im Jahr 1970 waren es in Deutschland etwa eine Millionen Menschen; bis ins Jahr 2007 hat sich die Anzahl auf nahezu zwei Millionen verdoppelt: ein Leben nur für und mit dem Rausch. Erstmals seit nahezu einem halben Jahrzehnt verzeichnete das Jahr 2008 eine alarmiernde Trendwende.
ALARMIERENDE TRENDWENDE
Insgesamt starben im besagten Zeitraum 1.449 Menschen ihren Drogen-Tod. Das sind 3,9 Prozent mehr als im Vorjahr. Nach Prognosen der Drogenbeauftragten, Sabine Bätzing, sei mit einem weiteren Anstieg der Todesrate zu rechnen. Der Grund: Folgeerkrankungen wie Hepatistis C forderten neue Opfer. Auffällig sei außerdem, dass bei der Zahl der Drogentoten ältere Jahrgänge "ins Gras beißen" (Bätzing). Hauptursache sei, dass die Hälfte der Rauschgift-Toten hätten zeitgleich mehrere illegale Stoffe konsumiert. Etwa 70 Prozent kamen im privaten Umfeld ums Leben. "Das Bild vom Drogentoten auf dem berühmten Bahnhofsklo", so die Politikerin, sei
ein für allemal passé.
LETZTER "SCHUSS"
Vor drei Stunden gab Shadow sich den letzten "Schuss" (Injektion). Jetzt ist es wieder soweit. Zahlreiche Einstiche an seinen beiden Armen veranlassen den Hascher Christoph zu der lakonischen Bemerkung: "Der macht es nicht mehr lange". Erst kürzlich hätte den arg weggetretenen Shadow eine Überdosis Heroin beinahe ins Jenseits befördert. Christoph: "Der lag schon so da, dass wir einen Leichenwagen holen wollten." - Teilnahmslos ist die Fixer-Sprache, schematisch werden noch die "Abgänge" irgendwo im Hinterkopf gehalten. - Ende der Durchsage.
HEROIN ODER GELBSUCHT
Shadow, der diesen Satz eigentlich mitgehört haben sollte, schweigt dazu. Der "Schuss" hat ihn wieder "high" auf die Kneipen-Stühle fallen lassen; jedenfalls so "high", dass sein Körper reglos daliegt. Der Junge habe vom Aussehen her Gelbsucht, könnte man bei seinem Anblick als Unteiligter meinen. "Ja, ja", murmelt Kollege Edgar, "unsere Geldsucht heißt Heroin". Ob Shadow, Christoph oder auch Edgar - diese Rausch-Minuten "das ist unser Leben". Es sei eine Phase der Euphorie, in der sie sich empor auf eine lichte Öde tragen lassen. Blitz-Momente, in denen sie steigen, wachsen und schweben; immer leichter und seliger werden, immer scheinbar reiner und göttlicher, ohne Wissen, ohne Leid und Mangel, ohne Sehnsucht und Vorstellungen, ohne Dunkelheit und Fessel, nichts als ein stiller glänzender Glanz über und jenseits der Welt ... ...
DROGEN-MAFIA
Das Jahr 1970 wird, wenn man später einmal die Chroniken aufschlägt, als der markante Auftakt klassischer Rauschgift-Subkulturen West-Europas in die unrühmlichen Analen der Geschichte eingehen. Bis dato glaubten Sozialbehörden, Polizeiapparate den illegalen Drogen-Handel wie auch den Konsum unter "Kontrolle" zu haben. Währenddessen wich dieses staatliche Omnipotenz-Gebaren arg kleinlaut der Betrachtung - "nichts im Griff " zu haben. Ob Verbrauch, Verbreitung, Vertrieb, Handel - längst hatte die Drogen-Mafia in Schulen, Jugend- oder Freizeitheime Regie übernommen. Der Politik mit seinen Institutionen des Staates schien somit alles entglitten. Dabei hatte der Rauschgift-Krieg der Banden mit ihren Hehlern mal gerade erst begonnen. Und Shadow aus Barsinghausens vom Autoverkehr beruhigten Gutbürger-Viertel um den noblen Vier-Linden-Platzes ist nur einer von zig Tausenden in Deutschland, die trotz Warnungen, Ermahnungen ihre "heile, intakte Welt" in Opiaten suchen. "Nur weg aus diesem Stall von Anstand und Verlogenheit", sagt Shadow da.
MODELL DEUTSCHLAND
Die höchste Steigerung der Rauschgift-Kriminalität brachte das Jahr 1969 mit 4.761 Fällen in der alten Bundesrepublik. Aber gerade in dieser Deliktgruppe ist die Dunkelziffer sehr hoch. Schätzungen gehen dabei so weit, dass auf einen erkannten Fall bis zu 300 unerkannte zu rechnen sind. In einer Sitzung des niedersächsischen Landtags im April 1971 in Hannover musste sich Innenminister Richard Lehners (1967-1974; *1918+2000) eingestehen, dass "der Anteil der Minderjährigen an der Gesamtzahl der Rauschgift-Täter bereits 80,7 Prozent beträgt." - Modell Deutschland.
USA - THE WAY OF LIFE
Allein in den Vereinigten Staaten von Amerika stieg die Zahl von Heroinsüchtigen im Laufe der vergangenen zehn Jahre (1961-1971) von 60.000 auf mindestens 150.000 Menschen - hat unterdessen im Jahr 2007 eine Größenordnung von offiziell 200.000, bei einer geschätzten Dunkelziffer von 400.000 erreicht. Zudem wird die Anzahl derer, die Marihuana inhalieren auf etwa zehn Millionen US-Bürger angegeben, berichtete die "Washington Post". Allein in der Metropole New York sterben bereits Anfang der siebziger Jahre täglich drei Leute an den Folgen ihres Yunkee-Daseins. Und die Vereinigten Staaten insgesamt verzeichnete allein im Jahr 2000 über 17.000 Drogentote. Bei einer Gesamtbevölkerung von 300 Millionen Menschen sind das in etwa sechs Drogentote auf je 100.000 Einwohner. Deutschland indes hatte im Jahr 2007 einen leichten Rückgang an Drogentoten zu verzeichnen. Im Vergleich zum Jahr 1991 starben immerhin 731 Jugendliche (2.135 Tote) im Jahre 2007 weniger. Fortschritt
SUCHTWELLEN SCHWAPPEN ÜBER
Die Gier nach harten wie weichen Drogen hat natürlich auch in Deutschland Folgen gezeitigt. Mittlerweile leben zwischen 168.000 und 282.000 Heroinabhängige in dieser bundesdeutschen Republik (Jahr 2005). Das sind weitaus mehr, als es die Verantwortlichen offiziell zugeben mögen. Alarmstimmung. Selbst Behandlungen der viel gepriesene Ersatzdroge wie Methadon und Buprenorphin offenbaren sich bei näherer Betrachtungsweise als Makulatur. In Deutschland bietet nur jeder vierte der etwa achttausend Ärzte, die zur Abgabe dieser Ersatz-Substanzen berechtigt sind, tatsächlich eine erfolgversprechende Therapie an.
TRAUMHAFTE GEWINNE
Exorbitant hohen Gewinne, ohne allzu viel Aufwand eingeheimsten Profite - das sind die Intitialzündungen für den illegalen Drogenhandel. So kostet beispielsweise ein Gramm Kokain in der Herstellung etwa einen US-Dollar. Der Konsument hingegen muss für dieses Gramm etwa das 80- bis 150fache bezahlen. Der Preis für Haschisch aus dem Anbaugebiet - im Norden Pakistans, Afghanistans und in der Türkei - beträgt etwa 5 bis 10 Euro pro Kilogramm. Auf dem nicht gerade friedlich - eher kriegerisch zugehenden Umschlagplätzen des Nahen Ostens wird die "heiße Ware" zum fünffachen Aufpreis verhökert. Diese Zwischenhändler ihrerseits schlagen nochmals etwa 300 Prozent drauf - ebenso ihre "Gewährsleute" in Deutschland. Wenn ein Kilogramm Haschisch auf Reisen geht, steigt mit jedem Kilometer sein Preis. Der Endverbraucher legt letztendlich bis zu 3.000 Euro für ein Kilo auf den Tisch.
MORAL DER GESCHICHT'
Es ist eine nicht mehr zu verleugnende Tatsache: Die Erlöse aus dem Drogenhandel werden hauptsächlich für den illegalen Waffenhandel dazu verwendet. Weltweit gilt es, paramilitärische Truppen aufzurüsten - Regionalkriege zu entfachen. So finanzierten die Franzosen bereits ihren Indochina-Krieg ( 1946-1954) und Jahre danach die USA ihren Vietnam-Krieg (1946-1975) zum Teil durch Rauschgift-Geschäfte. Damals galt es, verbündete Armee durch Heroin-Verkäufe auf dem Weltmarkt zu finanzieren. Tragend war die Mittler-Rolle des amerikanischen Geheimdienstes CIA - kein Geschäft ohne US-Agenten.
US-ENTHÜLLUNGS-JOURNALIST
Es war der amerikanische Enthüllungs-Journalist Gary Webb (*1955+2004), der in seiner Artikel-Serie "Dark Alliance" einen lückenlosen Nachweis zwischen Kokain-Schmuggel durch die nicaraguanischen Contra-Rebellen in die USA führte. Seinerzeit im Jahre 1996 wurden mit diesen Erlösen ihr Krieg gegen die unliebsamen und USA-kritischen Sandinisten geführt. Laut Gary Webb soll die von ihm aufgedeckte Contra-Connection für die Hälfte des in dieser Zeit in die USA geschmuggelten Kokains verantwortlich gewesen sein. Gary Webb wurde am 10. Dezember 2004 in seinem Haus in Sacramento erschossen aufgefunden. Der Pulitzer-Preisträger (1990 ) starb durch zwei Schüsse aus einer Waffe vom Kaliber 38 in den Kopf. Der örtliche Untersuchungsrichter deklarierte Webbs Tod als Selbsttötung. Spekulationen, dass Gary Webb ermordet worden sein könnte, nehmen seither kein Ende ... ...
DROGEN AN DER LEINE
Zurück nach Hannover an der Leine in den siebziger Jahren - dem Ausgangspunkt des deutschen "Drogen-Wunders". Viele Jugendliche freundeten sich einstweilig mit dem Kiff an, weil sie raus wollten aus einer Gesellschaft, die vom hohlen Profistreben geprägt ist und an scheinbar überkommenen Normen stur festhält. Manche Pennäler dieser Jahre flüchteten in ihre eigene Welt , zumeist "heile" Welt. - Nur raus aus dieser erkalteten, unnahbaren, scheinbar sinnlose daherlebende Gesellschaft war die Devise. Und jene vermeintliche Idole einer "neuen" Welt, die Pop- , Soul- und Beatgruppen um Jimi Hendrix (*1942+1970) oder auch Frank Zappa(*1940+1993), verstanden es verlockend, diese neue Gesellschaft im Jenseits "schmackhaft" zu machen. Was so viel hieß: Nur wer "in", sei "high" . Das schien plötzlich ihr Leben oder besser gesagt ihre Welt, in der sie leben wollten. - Nur dort.
CHE GUEVARA UND CO.
Damals träumten viele Avantgardisten des verführten Geschmacks von einer permanenten Revolution, vom romantisch angehauchten Ernesto Che Guevara (*1924+1967) im fernen Südamerika - und sei es nur auf einem überlebensgroßen Poster. Ein Konterfei, das in vielen Trabanten-Vorstädten, auch ergrauten Beton-Bauten, ein Synonym für Hoffnung auf eine gerechtere Welt mit menschlichen Antlitz war. "Macht kaputt, was euch kaputt macht", tönte es durch Hannovers Straßen - gegen Kapitalismus, gegen Springers Massenblatt namens "Bild". Dabei haben Hippies, Kiffer, Studenten, Schüler und auch Lehrlinge recht schnell eines lernen müssen - Deutschland ist eben nicht drogen- aber dafür weitestgehend hoffnungsfrei.
EIGENES DENKEN, EIGENE SPRACHE
Jedes Milieu, jede Subkultur entwickelt im Laufe der Zeit seine eigene Sprache, eigene Begriffe, eigene Ausdrucksweisen; so auch die Drogenszene. Ihr Repertoire ist eine Mischung aus dem Jargon der Halb- und Unterwelt, verbunden mit einem englischen "Fachsprachencharakter" für Süchtige. So will es gelingen, dass sich Szene-Angehörigen allein schon durch ihren emotionalen Sprachbezug abgrenzen - ausgrenzen - aussteigen. Wer in diesem In-Group-Gebaren heimisch werden will, der hat 211 neuen Wörter zu lernen. Da heißt es eben Body Packing (Transportieren von Drogen in Körperöffnungen), Deutsche Hecke (Schlechtes Cannabis) oder auch Lady (für LSD).
ARMENGRAB
Junkie Shadow starb im Alter von 22 Jahren. Auf den Bahngleisen des einstigen Güterbahnhofs, dort wo er auf seinen Stoff wartete, brach er zusammen, schlug mit Kopf wie Genick auf die Gleise. Nichts, so will es scheinen, erinnert noch an diesen einst lebensfrohen Jungen aus der Flower-Power-Ära in seinem Land. Niemand mag sich noch an ihn erinnern. Im Armengrab zu Gerhden, einer Nachbargemeinde seines Heimatortes Barsinghausen, verläuft sich Shadows Spur. Aus Shadow, der mit bürgerlichen Namen Klaus-Dieter Klemme hieß, war da längst eine Nummer geworden und selbst die ist nach Jahrzehnten zur Unkenntlichkeit verwischt, getilgt. - Ende der Durchsage.
TOTEN BRUDER IM HINTER-KOPF
Szenenwechsel. - Seit einigen Jahren klappert Django mit seinem Suchtmobil Schulen und Sportveranstaltungen im Großraum Hannover ab. Djangos Drogen-Karriere hatte schon in der Grundschule begonnen. Alkohol, Amphetamine, Kokain und Herion. Seinen silbergraunen Van baute der 49jährige mittlerweile zu einem Informations- und Hilfs-Mobil aus. Überlebenshilfe im Land illegaler Rauschgifte. Gewiss - hat Django hat es geschafft, konnte sich all die Jahre mehr oder recht knapp über Wasser halten - finanziert mit kriminellen Methoden. Django gesteht: " Ich habe nur noch geklaut, am Ende brauchte ich 300 Euro pro Tag."
AB IN DEN KNAST
Irgendwie absehbar, dass Django eines Tages in den Bau einfuhr. Dort wurde er clean - notgedrungenerweise. Seither kurvt Django als Drogenberater über Wald und Feld, von Schulen zu Jugendzentren. Weit über zehntausend Pennälerinnen und Gymnasiatenhat Django bereits von seiner Lebensbeichte erzählen können. An diesem Tag berichtet vor 160 Jungen und Mädchen in einer Schulturnhalle zu Barsinghausen. Django schildert packend, authenthentisch von einem Kiffer, von der nicht enden wollenden Gier und Hatz nach diesem teuflischen Gift. Er schildert, Leben, Familiengeschichte, Alltag, Zerrüttung - Drogen-Tod. Es war mucksmäuschen still im Saal. - Keiner konnte ahnen, dass der längst vergessene, oder auch unbekannte Shadow der ältere Bruder dieses Wohnmobil-Django war.