Donnerstag, 28. April 1977

Die Ärztin, die von Deutschland vergessen wurde



































































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Unvergessliche Notizen aus den siebziger Jahren: Ein Jahr war die deutschstämmige Ärztin Dr. Gladys Sannemann (Bild oben links) im Konzentrationslager Emboscada in Paraguay. Sie wusste nichts vom Schicksal ihres verhafteten Mannes und ihrer Kinder. Die deutsche Botschaft kümmerte sich nicht um sie. Nach vielen Irrwegen kam die Familie schließlich in die Bundesrepublik. Hier wurde den mittellosen Sannemanns als erstes die Rechnung für die Flugtickets präsentiert: 7.609,53 Mark. Angst zeichnet ihr Leben - Dr. Sannemann im Jahre 2009 (Bild rechts).


stern, Hamburg,
28. April 1977
von Peter Koch, Reimar Oltmanns
und Perry Kretz (Fotos)

Die Fachärztin für klinische Medizin und Allergien, Dr. Gladys Sannemann (*1929), ist schon ein paarmal in ihrem Leben Opfer ihres Berufes geworden. Seit ihr Beruf zum erstenmal eine Entscheidung gegen die Karriere verlangte - es liegt schon fast 20 Jahre zurück - ist sie eine Gezeichnete. Die Ärztin, sie hieß damals noch Gladys Meillinger, hatte gerade ihr Examen beendet und arbeitete im Polizeihospital von Asunción, der Hauptstadt des südamerikanischen Zentralstaates Paraguay.

DURCH SCHLÄGE GETÖTET

"Es war im Jahr 1958. Ein Mann war im Polizeiquartier durch Schläge getötet worden. Die Polizeibehörden verlangten von mir, ich sollte eine andere Todesursache angeben. Ich habe das nicht machen wollen."

Von nun an war sie suspekt.

Hinzu kam, dass die Ärztin einen Mann heiratete, der aus seiner Ablehnung des Willkür-Regimes von General Alfred Stroessner (*1912+2006) keinen Hehl machte. Stroessner, 1954 durch einen Putsch in Paraguay an die Macht gekommen, war bis zum Jahr 1989 Südamerikas dienstältester Caudillo, ein Relikt aus der klassischen Zeit der Revolution. Er sicherte sich eine lange Amtszeit, indem er Verfolgungen und Folterungen zu seinem Regierungsstil machte. Stroessner steckte Mitglieder der Oppositionsparteien ins Gefängnis, dergleichen Rechtsanwälte, Universitätsprofessoren, Journalisten und Studenten, sobald sie die Beachtung der Menschenrechte forderten; Mitglieder der Kommunistischen Partei sowieso, aber auch Priester, die sich um das Los der von Großgrundbesitzern unterdrückten Eingeborenen kümmerten, und ebenso Eingeborene, die sich in Obhut der Priester begeben hatten. Selbst Anhänger der regierenden Colorado-Partei waren vor ihrem General nicht sicher. Allein im Monat November des Jahres 1974 wurden zwischen 800 und 1200 Bürger verhaftet. Auf den Polizeistationen und in Konzentrationslagern foltern die Vernehmungsoffiziere ihre Opfer. Da politische Gefangene nicht vor Gericht gestellt werden, verbüßen sie ihre Strafen auf unbestimmte Zeit.

TREIBJAGD

Der Volkswirtschafts-Student Rodolfo Jorge Sannemann war Mitglied der Colorado-Partei, allerdings kein folgsamer. Er sympathisierte mit einer Abgeordnetengruppe, die vom Präsidenten die Ablösung des obersten Polizeichef des Landes verlangte. Der Präsident löste statt dessen das Parlament auf, die Abgeordneten verloren den Schutz der Immunität, und viele von ihnen verschwanden in Gefängnissen. Die Kritiker gründeten die Movimiento Popular Colorado (Colorado-Volksbewegung), keine militante Widerstandsgruppe, nur eine allgemeine Protestbewegung. Aber weil sie großen Zulauf hatte, sah Alleinherrscher Stroessner in ihr eine Gefahr. Die Treibjagd auf ihre Anhänger begann.

Sannemann und seine junge Frau entschlossen sich zur Flucht. Sie gingen nach Argentinien, das damals noch keine Militärdiktatur war. Denselben Weg wählten in den sechziger Jahren Hunderttausende von Paraguayern. Allein in der Hauptstadt Buenos Aires leben heute rund 350.000 einstige Untertanen des Generals Alfredo Stroessner. Das Ehepaar Sannemann begann im argentinischen Exil ein neues Leben. Sie eröffnete in Candelaria eine Praxis, er fand eine Anstellung als Buchhalter, 1960 kam ihr Sohn Martin Federico, 1962 ihre Tochter Ruth Maria zur Welt.

POLIT-ODYSSEE

Wenn die Ärztin Dr. Gladys Sannemann und ihr Mann Rodolfo ihren Lebens- und Leidensweg schildern, muss man genau zuhören. Die Stationen wechseln häufig zwischen Argentinien und Paraguay, und keiner dieser Wechsel ist freiwillig. Polit-Odysee 1977.

Genauso kompliziert ist die Klärung der Staatsbürgerschaft. Die Eltern des Mannes und der Frau waren Deutsche, die nach dem Ersten Weltkrieg nach Paraguay auswanderten. Rodolfo wurde in Concepción geboren, Gladys in Asunción, sie besaßen die deutsch-paraguayische Staatsbürgerschaft. Im Exil in Argentinien hatten sie einen paraguayischen Pass. Seit dort allerdings am 24. März 1976 auch die Militärs die Macht übernahmen, besann das Ehepaar Sannemann sich seiner deutschen Herkunft. Zum Nachdenken bekamen sie viel Zeit, denn sie landeten gleich in den ersten Tagen nach dem argentinischen Militär-Putsch als politische Gefangene hinter Gittern.

RAZZIA NACH WAFFEN

Frau Dr. Gladys Sannemann erzählt: "Ich wurde verhaftet am 24. März 1976 in Candelaria in Argentinien. Das Militär hatte gerade in Buenos Aires die Macht übernommen. Es war ungefähr neun Uhr morgens, in meinem Sprechzimmer nahm ich eine gynäkologische Untersuchung an einer Frau vor, als es plötzlich furchtbar gegen die Tür polterte. Etwa zehn Mann stürzten herein. Sie waren in Zivil, alle hatten über der Schulter eine Maschinenpistole. Wie ich später merkte, waren es Leute vom Heer, der Gendarmerie und der Provinzpolizei. Meinen anderen Patienten, die im Flur saßen, riefen sie zu. 'Haut ab, aber schnell.' "

"Zu mir sagten sie: 'Das ist eine Hausdurchsuchung. Einen der Männer kannte ich. Er was einmal Vertreter für pharmazeutische Produkte gewesen. Der wusste genau, wie meine Praxis aussah, dass die Haustür nie verschlossen war. Er wies den anderen den Weg. Ich sagte zu ihm: 'Na, da sind Sie ja zu einem lukrativen Beruf übergewechselt.' Er antwortete: 'Es tut mit leid, dass ich der erste bin, der hier hereinkommen muss.' Ich habe zunächst einmal die Untersuchung der Frau beendet. Die Frau hatte ein kleines Kind mit und war sehr verängstigt. Die Männer durchsuchten erst das Behandlungszimmer, dann meine Privaträume, dann den Patio, die halboffene Halle in der Mitte. Die Wände tasteten sie mit Metalldetektoren ab. Sie suchten offensichtlich Waffen. Einen Grund für ihr Eindringen sagten sie mir nicht."

KOMMUNISTEN MEDIZINISCH BEHANDELT ?

Die Ärztin überlegte, was die Aktion ausgelöst haben könnte. Vor zwei Jahren hatte sie in der Klinik der nahen Provinzhauptstadt Posadas zwei Männer mit Schussverletzungen behandelt. Sie hatte später gehört, es sollen Kommunisten gewesen sein. Oder war es wegen ihres Mannes, der noch immer der Movimiento Popular Colorado angehörte? Aber das war ja schließlich eine paraguayische Angelegenheit, das ging doch Argentinien nichts an.

Dr. Gladys Sannemann: "Die Soldaten waren endlich fertig. Im Keller hatten sie etwas gefunden: das Druckluftgewehr meines Sohnes. Das lag dort bei seinen Angelsachen und Sportgeräten. Sie nahmen es mit. Sie steckten auch ein paar hundert Dollar ein, die wir in einer Kommode liegen hatten, weil wir zu einem wissenschaftichen Kongress reisen wollten. Und einen Fotoapparat. Mich nahmen sie dann in die Mitte und verließen das Haus. Die Kinder blieben zurück. Mein Mann war nicht da, er war auf einer Reise."

ISOLIERHAFT

Die Männer fuhren mit der Ärztin nach Posadas. Von dort aus durfte Frau Sannemann Kollegen anrufen und sie bitten, sich um die zurückgelassenen Kinder zu kümmern. In der Polizeistation von Posadas wurde Dr. Sannemann in eine kleine Zelle gesteckt. Sie versuchte, einen Anwalt zu erreichen. Es war der Jurist einer Firma - Tabak, Sägewerk - , deren Mitarbeiter Frau Sannemann ärztlich betreute. Der Rechtsanwalt wurde daraufhin ebenfalls verhaftet.

Von nun hatte Frau Sannemann überhaupt keine Verbindung mehr zur Außenwelt. Sie wusste nicht, was mit ihrem Mann und den Kindern inzwischen geschehen war. Nur den Verhaftungsgrund konnte sie jetzt erahnen. Bei gelegentlichen Verhören fragten die Polizeioffiziere immer wieder, wie groß die Bewegung sei, der ihr Mann angehöre, zu welchen argentinischen Extremisten-Organisationen er Kontakt habe. Frau Sannemann sagte, dass die Movimiento Popular Colorado keine Terrororganisation sei, dass sie mit friedlichen Mitteln eine Änderung der Zustände anstrebe, und zwar in Paraguay, nicht in Argentinien. Die Ärztin erinnert sich: "Die Zelle war klein, feucht, dunkel. Einmal wurde ich von einer Zellenaufseherin zu einer anderen Mitgefangenen geführt, weil diese kurz vor der Entbindung stand. Ich habe die Frau untersucht. Deswegen bekam ich dann Ärger mit dem Polizeioffizieren. Der Kontakt zu anderen Gefangenen war streng verboten. Ich wurde daraufhin wieder in meine kleine, enge Zelle gesperrt."

NACH PARAGUAY VERSCHLEPPT


Am 28. Juli, nach vier Monaten Haft, wurde Frau Sannemann in einen VW-Transporter geladen und zur Grenze nach Paraguay gebracht. Dort nahm sie ein Inspektor in Zivil in Empfang. Es ging weiter nach Asunción. Nach 17 Jahren sah die Ärztin ihre Heimatstadt wieder. Die paraguayische Hauptstadt hatte sich stark verändert. Dort, wo früher einstöckige spanische Bürgerhäuser gestanden haben, ragten jetzt Wolkenkratzer in die Höhe. Stroessner hat sein Land eng an die USA angebunden, militärisch und wirtschaftlich.

US-DRILL IN DER PANAMA-ZONE

Seine Soldaten lässt Stroessner im amerikanischen Ausbildungszentrum in der Panama-Zone drillen, ein Vertrag ermächtigt die USA, bei kommunistischen Aufständen in Paraguay einzumarschieren. Während des Vietnamkrieges ( 1964-1975) hatte Diktator Alfredo Stroessner den USA Söldnertruppen angeboten. Den amerikanischen Wirtschaftskonzernen öffnete Artikel 10 der paraquayischen Verfassung die Tür: "Der Staat soll die Investitionen mit ausländischem Kapital von Produktionsbetrieben begünstigen als notwendige Ergänzung für die nationale Entwicklung." Die ausländischen Investoren liessen sich angesichts einer Durchschnitts-Lohnquote von vier Mark pro Tag nicht lange bitten. Vor kurzem erst wurde der nordamerikanischen "Anschütz-Corporation" die Ausbeutung der Bodenschätze im gesamten Westparaguay übertragen.

WIRTSCHAFTSKRAFT DURCH SCHMUGGEL

Die inländische Wirtschaft hingegen ist fest in den Händen des Stroessner-Clan. Fast die Hälfte des Handelsvolumen "erarbeitet" der Staat - mit Schmuggel. Wo immer es ein Preisgefälle gibt zwischen den südamerikanischen Nachbarländern - oder auch zu den USA -, übernimmt Stroessners Militär den Transport der Konterbande: elektrische Geräte , Autos, Zigaretten und Kaffee gehören zum Schmuggel-Sortiment. Fällt einmal eines der altersschwachen Flugzeuge der paraguayischen Luftwaffe herunter, finden sich an der Aufschlagstelle mit Sicherheit zertrümmerte Whiskykartons, Goldbarren, Kokain-Schachteln,Heroin-Päckchen,Waffenkisten.

PEITSCHEN AUS DRAHT

Die wirtschaftlichen Veränderungen in ihrem Heimatland konnte Frau Sannemann allerdings nur durch Gitterfenster betrachten: "Ich wurde beim Untersuchungs-Departement der Polizei in der Innenstadt von Asunión abgeliefert. Ich bekam einen größeren Raum zugewiesen, keine Zelle. Das war wohl eigentlich ein Vernehmunsgszimmer. Es gab Scheinwerfer und Reflektoren, an den Wänden hingen Peitschen aus Draht und kleinen Metallkugeln an den Enden. Es gab ein Sofa wie in einem ärztlichen Behandlungszimmer. Ein Soldat sagte mir später, dort habe ein Chilene Hypnosen an den eingelieferten Leuten vorgenommen. Vor Ekel habe ich nicht auf dem Sofa, sondern immer auf dem Boden geschlafen. Freunde aus Argentinien, die meinen Aufenthalt erfahren hatten, wollten mir 400 000 Pesos bringen, das waren damals ungefähr 1700 US-Dollar. Sie lieferten sie bei der Oberaufseherin ab. Ich habe das Geld nie gesehen. Ich wurde häufig verhört, von ganz jungen Leuten. Es waren Rechtsanwälte, die sich bei der Polizei verdungen hatten."

LAGER "MINAS" - EINE FESTUNG

"Nach sechs Wochen wurde ich verlegt. Ich kam in das Lager Minas bei Emboscada, rund 30 Kilometer außerhalb von Asunción. Das Lager ist ein riesiger Häuserblock, es sieht mit seinen Wachtürmen aus wie eine Festung. Es ist von einer zwölf Meter hohen Mauer umgeben, auf ihr patrouillieren ständig Soldaten. Wir waren rund 350 politische Häftlinge. Es gab zwei Abteilungen, für Männer und Frauen. Mehrere der Frauen hatten Kleinkinder bei sich, die hatten sie im Polizeihospital geboren. Einige der schwangeren Frauen, die dort hingebracht wurden, hatten Fehlgeburten, weil sie geschlagen und gefoltert worden waren. Einige Häftlinge hatten schon sehr lange - bis zu 16 Jahren - in Gefängnissen gesessen. Sie waren oft sehr krank, sterbenskrank, Ruhr, Typhus, grippale Infekte, Hautkrankheiten. Viele raffte das faulige Wasser dahin, das es zu trinken gab. Viele Kinder weinten vor Durst und Hunger. Schreie begleiteten ihre fortwährenden Ohrenschmerzen. Temperaturen um die 40 Grad, Durchfall, Erbrechen ohne Pause. Einmal in der Woche kam eine Polizeiärztin, aber von der wollte sich niemand behandeln lassen. Daraufhin habe ich den Lagerleiter gebeten, meine Mitgefangenen endlich ärztlich versorgen zu dürfen."

SIEDLUNGEN NIEDERGEBRANNT

Lagerleiter in Minas ist der berüchtigte Oberst Grau. Im Jahre 1975 erreichte seine militärische Karriere ihren Höhepunkt. Unter seinem Befehl wurden mehrere neue Siedlungen niedergebrannt, die von der katholischen Kirche errichtet worden waren, um die verarmten Campesinos, Kleinbauern, im Landesinneren zu Genossenschaften zusammenzuführen und ihnen die Möglichkeit zum Schulunterricht zu geben. Hunderte von Campesinos wurden gefangen genommen, gefoltert oder getötet. Einige wurden vor den Augen ihrer Frauen und Kinder geköpft. Priester und die Wissenschaftler, die an den Siedlungsprojekten gearbeitet hatten, verschwanden als "Aufwiegler" hinter Gefängnisgittern.

DEUTSCHE MILITÄRHILFE

Militär und Polizei in Paraguay sind die sichersten Stützen des Regimes, und sie funktionieren exakt, nicht zuletzt dank der deutschen Bundesrepublik. Die USA leistete bis ins Jahr 1975 Militärhilfe in Höhe von 20,9 Millionen Dollar. Seit 1969,
mit Beginn der sozial-liberalen Koalition in Bonn, werden in Westdeutschland regelmäßig Offiziere der Armee und der Polizei von Paraguay ausgebildet. Seit 1. Janaur 1974 geschieht das sogar im Rahmen eines Militärhilfevertrages, bei dessen feierlicher Unterzeichnung der deutsche Botschafter, Hans-Christoph Becker-von Sothen (1970-1974) , erklärte: "Die heutige Unterschrift ist mir keine Pflicht, sondern eine Herzensangelegenheit in meiner Eigenschaft als Reserve-Offizier des deutschen Heeres. Ich bin sehr glücklich, mit dem Heer eines Landes zusammenzuarbeiten, das eine so ruhmreiche Tradition hat." Allein in den Jahren 1975/76 stabilisierte die Bundesrebublik mit insgesamt 124,3 Millionen Mark Investitionen für Infrastrukur wie Konsum die Stroessner-Diktatur. - Und das zu einer Zeit, in der Gewerkschaften verboten waren und jährlich an die 1200 Bürger des Landes ohne Anklage sang- und klanglos verhaftet wurden - über Nacht verschwanden . Friedhofsruhe.

FOLTERER UND MEDIZINER

Gleichwohl, vermerkten Kenner des südamerikanischen Landes, sollte Cheffolterer Grau sich in letzten Monaten ganz allmählich gewandelt haben. Das zumindest erfuhr Frau Dr. Sannemann in zahlreichen Gesprächen mit ihrem Kommandanten; die Insassin als Therapeutin. Immer wieder kreisten Grau-Gedanken um den plötzlichen Tod seiner jungen Frau - eine Deutsche. Gladys Sonnemann über den scheinbar hartgesottenen Haudegen: "Ich muss sagen, er hat sich mir gegenüber immer sehr korrekt benommen. Ich habe bei ihm eigentlich alles erreicht, was ich erreichen wollte. Butterweich gab er sich.

Ursprünglich waren die Gefängniszellen nach oben hin bis zum Dach offen. Als die politischen Gefangenen kamen, zog man Betondecken ein, um Fluchtversuche zu verhindern. Jetzt drang die Luft nur noch durch ein spärliches kleines Guckloch durch die Zellentür. Mörderisch. Denn in manchen Verliesen waren bis zu 54 Gefangene eingepfercht. Die Leute konnten morgens kaum atmen, so schlecht war die Belüftung. Ich habe ganz unerwartet beim Cheffolterer erreicht, dass die Türen nachts aufbleiben konnten und dass die Menschen so wenig Zeit wie möglich in ihren stickigen Kerken zubringen mussten. Sie waren ja schon lange, sehr lange eingesperrt."

ARZTPRAXIS IN DER ZELLE

"Außerdem erlaubte mir der Oberst Grau, dass ich in meiner Zelle eine Art Praxis einrichten konnte. Durch seine Vermittlung erhielt ich medizinische Instrumente und Medikamente vom Kirchenkomitee Inter-Iglesias, das war ein Zusammenschluss von Katholiken, Protestanten und Schülern Christi. Diese Utensilien, Materialien brachte mir eine kanadische Ordensschwester ins Lager. Über meine Patienten und die Verabreichung der Medikamente habe ich genau Buch geführt. Da habe ich reingeschrieben: Herr Sowieso hat Mandelentzündung, ich habe ihm 24 Kapseln Antibiotikum verordnet. Den Bericht gab ich sodann der Schwester weiter. So und nicht anders sind jedenfalls die meisten Namen aus dem Lager herausgekommen und dem Kirchenkomitee zur Kenntnis gebracht worden. Dem Oberst erklärte ich kurzum: 'Ich muss über die Medizin Rechenschaft ablegen.' Mir selber hat diese Arbeit als gefangene Ärztin auch sehr geholfen. Auf diese Weise hatte ich nicht allzu viel Zeit, über mein eigenes Schicksal nachzudenken, zu hadern. Keine Zeit für Trübsal."

SCHLÄGE, WASSERTROG, ELEKTROSCHOCKS

Dass Gladys Sannemann nicht noch viele Jahre ohne Anklage und ohne Prozess hinter Lagermauern blieb, dafür sorgte schließlich ihr Mann. Dem war es nach der Verhaftung seiner Frau in Argentinien zunächst noch viel schlimmer ergangen. Als er am Tag nach dem Überfall auf ihre Praxis in Candelaria von seiner Reise heimkehrte, warteten schon die Schergen auf ihn. Wochenlang wurde Rodolfo Jorge Sannemann in einem Gefängnis in Posadas gefoltert: Schläge, Untertauchen in einem Wassertrog, Elektroschocks, während er auf ein eisernes Bettgestell gefesselt war. "Dass sie bei mir schließlich aufhören, lag ein bisschen daran, dass sie inzwischen unheimlich viele Leute zusammengetrieben hatten. Und obwohl sie im 24-Stunden-Turnus mit verschiedenen Gruppen von Folterern arbeiteten, konnten sie nicht mehr alle drannehmen."

AUF NACH DEUTSCHLAND

Schließlich wurde Rudolfo Sannemann in ein Gefängnis der Bundespolizei nach Buenos Aires geflogen. Von seiner neuen Zelle aus konnte er über die Besucher von Mitgefangenen Verbindung zu seinen Eltern in Asunsión aufnehmen. Die Mutter besorgte aus Hestedt in der damaligen DDR die Geburtsurkunde der Großeltern und in Paraguay seine Geburtsurkunde, um nachzuweisen, dass er deutscher Staatsbürger sei. Mit diesen Urkunden kam sie nach Argentinien. Dort alarmierte sie die westdeutsche Botschaft, Diese schickte Amtsrat Jürgen Engel zum Gefängnis. Der fragte Rodolfo Sannemann nach den Umständen der Verhaftung, wollte wissen, ob ein Prozess anhängig sei. "Ich habe gesagt: "Nein, gar keiner. Herr Engel sagte, er würde alles tun, mir einen Pass zu
beschaffen. Dann fragte er, ob ich die Passage nach Deutschland bezahlen könne. Ich habe gesagt. 'Das kann ich nicht, denn ich habe im Moment überhaupt nichts. Meine Frau kann auch nicht, sie ist auch in Haft.' Acht Tage später kam er mit dem Ticket. Ich musste eine Erklärung unterzeichnen, dass ich in Deutschland innerhalb von zwei Monaten die Passage bezahlen würde."

MILITÄR + BOTSCHAFT

Rodolfo Sannemann
konnte am 20. Januar 1977 in die Bundesrepublik fliegen. In Bergisch-Gladbach wohnte eine Cousine von ihm, Ursula Kolloch. Gemeinsam mit ihr wandte er sich an das Auswärtige Amt in Bonn und bat um Familienzusammenführung. Die Frau war ja noch in Paraguay in Haft, die Kinder bei Verwandten. Die deutsche Botschaft in der Hauptstadt von Paraguay, Asunción, hatte sich aus eigenem Antrieb für die Ärztin nicht interessiert. Frau Dr. Sannemann: "Während meiner langen Haftzeit in Paraguay kam mich niemand von der Botschaft im Lager besuchen. Ich glaube, die stecken halt irgendwie zusammen, die von der Botschaft und die von der Regierung in Paraguay."

Ganz abwegig ist diese Vermutung sicher nicht. Dank des "rührigen" Einsatzes der deutschen Botschaft in Asunción hat Paraguay in ganz Südamerika das modernste Telefonnetz (und Abhörsystem). Kostenfaktor: 44 Millionen Mark Entwicklungshilfe. Gegenwärtig hat Botschafter Hellmut Hoff (1975-1978) anderes , weitaus Wichtigeres zu bewerkstelligen, als sich um anvertraute Mitbürger zu sorgen. Er ist nämlich gerade dabei, seinem Gastland, der Diktatur Paraguay , einen neuen deutschen Zehn-Millionen-Kredit zu verschaffen. Der heutige Kanzleramts-Minister und frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt, Hans-Jürgen Wischnewski (*1922+2005), hat sich schon seit vielen Jahren um die Übersiedlung vieler verfolgter Südamerikaner nach Deutschland bemüht. Bedenklich sein Urteil über deutsche Auslandsvertretungen in Südamerika: "Unsere Botschafter wollen in erster Linie immer gute Beziehungen zu ihrem jeweilige Land haben. Gute Beziehungen , koste es, was es wolle; gute Beziehungen als Selbstzweck."

AUF SICH ALLEIN GELASSEN

Frau Dr. Gladys Sannemann war also weitgehend allein gelassen. Sie alarmierte aus dem Gefängnis heraus die Kirche und tatsächlich, am 18. März 1977 kam für sie die Entlassung. Sie durfte ihre Tochter holen, in einem Wagen der paraguayischen Polizei wurden die beiden Frauen zum Flughafen gefahren. Gladys Sannemann erinnert sich: "Es war schon gegen Abend, als wir zum Flughafen gefahren wurden. Alle meine Verwandten waren dort, um sich von mir zu verabschieden. Ich rief ihnen zu: 'Passt auf, in welches Flugzeug die mich bringen. Die wollen mich wieder verschleppen.' Ich hatte Angst. Ich hatte nämlich gehört, dass Argentinien mich zurückhaben wollte, um meine damalige Auslieferung an Paraguay zu vertuschen. Denn inzwischen hatten sich internationale Ärzte-Organisationen, alarmiert von einen meiner Kollegen, des Falles angenommen. Zudem hatte Argentinien begründete Befürchtungen, seinen Ruf im Ausland weiterhin zu ramponieren. Und siehe da, meine besorgten Verwandten stellten auf dem Flughafen tatsächlich fest, dass an diesem Tag gar keine Maschine nach Deutschland flog."

TÄUSCHUNGSMANÖVER

Die Polizisten warteten mit Frau Sannemann, bis das letzte Flugeug gestartet war - die Lichter am Airport von Asunción gelöscht wurden. Im Dunkeln fuhren die Uniformierten dann wieder in die Polizeizentrale zurück, unbemerkt von den Angehörigen. Die Täuschung war gelungen. Erst am nächsten Tag wurde Frau Sannemann mit ihrer Tochter in einer Militärmaschine nach Argentinien ausgeflogen. Wieder kam sie für zehn weitere Tage in eine Militärkaserne. Von dort durfte sie aber immerhin mit ihren in Argentinien lebenden Verwandten telefonieren.
Am 30. März 1977 konnte die Ärztin mit ihren beiden Kindern endlich nach Deutschland reisen.

FLUGKOSTEN PRÄSENTIERT

Inzwischen haben Ärztin und ihr Mann erste Erfahrungen mit deutscher Bürokratie. Das Auswärtige Amt präsentierte den beiden mittellosen Opfern südamerikanischer Militär-Willkür als erstes eine Rechnung über die ausgelegten Flugkosten von 7.609 Mark, 53 Pfennig.


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POSTSKRIPTIUM. -
Am 3. Februar 1989 wurde Alfredo Stroessner in Paraguay durch einen Militärputsch entmachtet. Ihm drohte eine Anklage wegen Menschenrechtsverletzungen, seinem Sohn Gustavo die Verhaftung wegen unrechtmäßiger Bereicherung. Vater und Sohn gingen nach Brasilien ins Exil. Stroessner starb am 16. August 2006 im Alter von 93 Jahren an einer Lungenentzündung.

Wikipedia notiert: "Paraguay wurde 61 Jahre von der Partido Colorado regiert. Obgleich Paraguay heute keine Diktatur mehr ist, ist es doch als autoritäres Regime einzuordnen. Die lange Herrschaft einer Partei hat zu einer Verflechtung zwischen den Strukturen des Staates und denen der Partei geführt. In der Klassifizierung von Freedom House gilt das Land denn auch nicht - wie mittlerweile die meisten südamerikanischen Staaten- als frei, sondern nur als teilweise frei. Eine vollständige Wende hin zur pluralistischen Demokratie ist ausgeblieben."

Immerhin: am 20. April 2008 fanden in Paraguay Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Fernando Lugo, ehemaliger Bischof und Befreiungstheologe , wurde mit über 40 Prozent zum künftigen Präsidenten dieses geschundenen Landes gewählt.

Die Ärztin Dr. Gladys Sannemann blickt in ihrem hohen Alter von 80 Jahren zurück auf die Spuren des Leids, der Folter, die Tränen der Mütter, Ehefrauen und die vielen, ungezählten politischen Gefangenen zu Paraguay. Sie lebt mit Tonnen von Dokumenten aus dieser Ära dieser Schreckens-Herrschaft, von denen sich Frau Sannemann nicht trennen kann und will. "Wer der Folter erlag, kann in dieser Welt nicht mehr heimisch werden" (Jean Améry, österreichischer Schriftsteller *1912+1978).



Donnerstag, 21. April 1977

Brasilien: Furchtlose Kirche gegen Folter und Barbarei


























Gotteswort hinter Gittern. Im größten Gefängnis in Sao Paulo erteilt ein katholischer Priester einem Häftling den Segen. In Jahrzehnten der Militärdiktatur (1964-1985) war die katholische Kirche in Brasilien die einzige Institutionen des Landes, die ihre Kritik an Folterungen, Massenverhaftungen, Erschießungen öffentlich erhob. Für Tausende politischer Gefangener und verfolgter Indios waren Gotteshäuser als Unterschlupf ihre letzte Hoffnung. In dem Terror- und Willkürstaat des früheren General-Präsidenten Ernesto Geisel leistete die Kirche Roms beachtlichen Widerstand. Geheime Todesschwadronen hatten damals den Priestern ihren Kampf angesagt. Killer- und Folterkommandos entführten, quälten und erschossen Geistliche, nur weil sie für Menschenrechte eintraten. Seit 1985 ist Brasilien zur Demokratie zurückgekehrt; aus der Gefangenen-Insel Ilha Grande wurde eine Insel der Reichen - Super-Reichen.

stern, Hamburg
21. April 1977
von Reimar Oltmanns

Der ältere Mann auf dem Beifahrersitz des grauen VW-Busses könnte Landwirt oder Landvermesser sein. Unter dem lichten Silberhaar ein braun gebranntes Gesicht, über dem Kakihemd ein abgewetzter Anzug aus grober Baumwolle, die derben Hände umklammern den Haltegriff. Mit schnellen, prüfenden Blicken mustert er die Straße geradeaus und die Böschungen am Rande links und rechts. Die zusammenge-kniffenden Augen verraten die Anspannung. Dom Adriano Mandarino Hypólito (1918-1996) ist katholischer Bischof von Nova Iguacu, einer Diözese mit einer Million Einwohner, 50 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt. Seit September 1976 weiß der 59jährige, dass selbst eine harmlose Überlandfahrt wie jetzt, da er sich von seinem 20jährigen Neffen Fernando zur Inspektion der kirchlichen Wasserbohr-stelle chauffieren lässt, schrecklich enden kann.

Über das, was an jenem 22. September 1976 geschah, redet Dom Adriano nicht gern. Nicht, weil ihn die Erinnerung an die Schmerzen noch quält, die ihm die Schergen damals zufügten. Nicht, weil er sich vor dem Neffen schämt, den er nicht vor den Schlägertrupp hatte schützen können. "Nein", sagt Dom Adriano, "das schlimmste ist, sie haben meine Mutter beleidigt."

KIPNAPPING DES KIRCHENMANNES

Um 19 Uhr hatte der Bischof damals sein Büro in der Diözesankurie im Zentrum von Nova Iguacu - Stadt und Provinz sind gleichnamig - verlassen. Auf dem Kirchplatz wartete sein Neffe Fernando in einem Volkswagen. Er hatte seine 18jährige Braut Pilar mitgebracht. Ehe Fernando seinen Onkel nach Hause brachte, wollte er schnell seine Verlobte bei ihren Eltern absetzen. Es war ein kurzer Weg. Der VW-Variant stoppte vor der Haustür.

Als Pilar aussteigen will, sieht sie, wie zwei rote Volkswagen von der anderen Straßenseite heranrasen und den Bischofs-VW einkeilen. Sechs Pistolen bewaffnete Männer springen heraus. Sie tragen keine Uniformen. Einer schreit: "Das ist ein Überfall! Raus, sonst knallt's!"

Dom Adriano ist so erschrocken, dass er sich nicht rühren kann. Einer der Männer reißt die Tür auf, zerrt den Bischof aus dem Wagen und stößt ihn auf das Straßenpflaster. Vier andere springen hinzu, packen den Geistlichen und prügeln ihn in den vorderen roten Wangen. Das Mädchen Pilar, das sich in den Eingang des Hauses geflüchtet hat, hört den Geistlichen noch rufen: "Mein Bruder, was habe ich dir getan?"

KAPUZE ÜBER DEM KOPF

Der Bischof kann zwei Kidnappern ins Gesicht sehen. Der eine trägt eine rahmenlose, quadratische Brille, der andere hat grobe Züge, die Wangen voller Narben. Dann stülpen ihm seine Peiniger eine Kapuze über den Kopf.

Im rasenden Tempo kurvt der Wagen durch die Stadt, kommt in Außenbezirke, fährt über Pflaster- und Lehmstraßen. Dom Adriano verliert die Orientierung. Nach einiger Zeit reden die Gangster miteinander. Der eine zum anderen: "Das wird uns 4000 bringen."

Noch im Wagen machen sie sich über den Bischof her. Sie boxen ihn ins Gesicht und in den Magen, sie schneiden ihm die Knöpfe seiner Soutane ab. Sie reißen ihm den Rosenkranz und zwei Notizbücher aus den Taschen.

NUTTEN UND ZUCKERROHR-SCHNAPS

Dann bremst der Wagen, "Raus, du Hurenbock", kommentiert einer. Dom Adriano spürt, dass er auf einem Lehmweg steht. Ihm werden die Kleider vom Leib gezerrt. Nackt - nur die Kapuze auf dem Kopf - steht der 59jährige Jesuit vor seinen Schindern.

Die machen sich über seinen Penis lustig. Sie brüllen, er habe mit Prostituierten Kirchengelder durchgebracht. Auch seine Mutter sei eine Nutte und habe sich im Hafen von Recife verkauft.

Die Kidnapper setzen Dom Adriano eine Flasche Zuckerrohr-Schnaps an den Mund und zwingen ihn zu schlucken. Der Bischof bekommt keine Luft mehr, er wird für einen Moment ohnmächtig. Die Mannschaft aus dem zweiten Kidnapper-VW hat sich seinen Neffen Fernando vorgenommen.

Als die Entführer sehen, dass der Bischof wieder bei Bewusstsein ist, brüllt ihn einer an: "Deine Stunde ist gekommen, roter Verräter." Ein anderer: "Für Kommunisten-schweine kennen wir nur den Tod." Ein Dritter: "Gib zu, dass du ein Kommunist bist, elender Hund."

Dom Adriano will den Schlägern antworten, er stammelt: "Ich bin kein Kommunist. Ich war keiner, ich werde auch nie einer sein. Ich verteidige nur mein Volk." Dom Adriano wird an Händen und Füssen gefesselt. Dann sprühen sie mit Spraydosen seinen nackten Körper ein. "Oh, wird das schön brennen", feixen sie. Dom Adriano betet. Er glaubt, sie würden ihn verbrennen. Doch er wird wieder ins Auto geschleift. Eine neue Irrfahrt beginnt. Als der Wagen stoppt, sagt einer der Entführer: "Der Chef hat angeordnet, dich heute noch nicht zu töten. Wir haben dir nur eine Abreibung gegeben, damit du aufhörst, Kommunist zu sein."

NACKT UND GEFESSELT

Sie nehmen Dom Adriano die Kapuze ab, stoßen ihn aus dem Wagen, er fällt mit dem Gesicht auf den Bürgersteig. Nackt und gefesselt liegt der Bischof von Nova Iguacu auf dem Gehweg einer Ausfallstraße von Rio de Janeiro. Sein ganzer Körper ist rot gefärbt. In den Spraydosen war Farbe. Es ist 21.45 Uhr. Zweidreiviertel Stunden haben die Misshandlungen gedauert. Ein Autofahrer entdeckt den Bischof, bringt ihn zum nächsten Pfarrhaus. Seine erste Frage: "Wo ist Fernando?" Fernando lebt, die Gangster haben ihn zusammengeschlagen und ebenfalls aus dem Wagen geworfen.

Dom Adrianos verlassener Volkswagen wird in derselben Nacht von den Entführern vor das Haus der Nationalen Bischofskonferenz im Stadtteil Gloria in Rio de Janeiro gefahren und dort in die Luft gesprengt. Ebenfalls in derselben Nacht explodiert in der Wohnung des katholischen Journalisten Roberto Marinho eine Bombe. Marinho ist Direktor des Medienkonzern "O Globo".

TERROR GEGEN KIRCHE

Der Terror gegen katholische Geistliche in Brasilien hat System. Einige Wochen vorher war Pater Rudolfo Lunkenbein im Bundesstaat Mato Grosso erschossen worden. Er hatte sich für die Lebensrechte der von Ausrottung bedrohten Indianer eingesetzt. Sein Amtsbruder Joao Bosco Penido Burnier wurde auf der Polizeistation im Norden des Landes erschossen, als er dagegen protestierte, dass zwei Frauen seiner Gemeinde gefoltert worden waren. Immerhin: Der Gendarm, der ihn einfach mit der Pistole umgelegt hatte, wurde verhaftet. Dieser Mord war zu plump.


Die meisten Mord oder Anschläge aber bleiben ungesühnt. Sie werden ausgeführt von Kommandos der "Antikommunistischen Allianz Brasiliens" - der AAB, die sich auch zu dem Attentat auf Dom Adriano bekannt hat. Niemand weiß genau, wer hinter dieser Organisation steckt, jeder kennt nur ihre Untaten: Todesschwadronen, zusammengewürfelt aus Soldaten und Polizisten , morden, pfündern und brand-schatzen im Namen der AAB. Es gibt zahlreiche Belege, dass die AAB und das in Brasilien allmächtige Militär zusammenarbeiten.


TODESSCHWADRONEN


Die ersten Todesschwadronen waren vor 20 Jahren aufgetaucht. Ihre Opfer waren zunächst hauptsächlich Kriminelle, Als Chef einer dieser "Esquadraos Da Morta" wurde ein Kriminalrat aus Sao Paulo, Sergio Fleury, vor Gericht gestellt. Obwohl es eindeutige Beweise gab - Mönche hatten Fleury und seine Todesschwadronen bei der "Arbeit" fotografiert - ging der Kripo-Boss straffrei aus. Sein Kommentar zu dem Foto: "Hier gibt es tatsächlich einen Hurensohn, der verdammte Ähnlichkeit mit mir hat."


Seit etwa zehn Jahren richtet sich die Lynchjustiz der Freizeit-Mörder immer mehr gegen politisch Unliebsame. Die regierenden Militärs betrachteten diese "Aufgaben-erweiterung" mit Wohlwollen, die Todesschwadronen nahmen ihnen in den Jahren bis 1972 im Kampf gegen die Stadtguerillas viel Arbeit ab.


POSSENSPIEL


Gleichzeitig führten die Militärs ein Possenspiel auf, um "Rechtsstaatlichkeit" zu demonstrieren. Sie beauftragten einen Rechtsanwalt in Sao Paulo, eine Doku-mentation über die Todesschwadronen auszuarbeiten. Er bekam mehr heraus, als seinen scheinheiligen Auftraggebern recht war: Staatsanwalt Helio Pereira Bicudo, ein liberaler Mann und unerschrockener Regimekritiker, ist inzwischen Bestseller-Autor. Seine Dokumentation hat die vierte Auflage erreicht.


Dabei hatte es Bicudo zunächst schwer, einen Verleger zu finden. denn die von ihm zusammengetragenen Dokumente bewiesen eindeutig, dass die Todesschwadronen mit Billigung der regierenden Militärs agieren. Erst die katholische Kirche von Sao Paulo wagte es, Bicudos Buch herauszugeben. Der Autor ist seither selbst Adressat von Drohbriefen der AAB. Über deren Zielgruppe sagt Bicudo: "Jeder, der Kritik äußert, ist für sie ein Kommunist." Die Gefangenen-Hilfsorganisation amnesty international verbuchte in den letzten zehn Jahren 3.000 Folterungen und Er-mordungen auf das Konto der Todesschwadronen.


LEBENSLUSTIGE FASSADE


Hinter der lebenslustigen Fassade von Zuckerhut, Copacabana-Strand und Samba-Shows hat sich in Brasilien eines der heimtückischsten Regime dieser Welt etabliert. Im Jahre 1964 hatten die Offiziere nach einem Putsch die Macht hin dem von Streiks und sozialen Unruhen erschütterten Land übernommen. Aus der einstigen Demokratie, flächenmäßig das fünftgrößte Land der Welt, wurde nun der Schrittmacher für die vornehmlich in den siebziger Jahren fast überall in Südamerika regierenden Militärs, in dem es mehr Gefängnisse als Spitäler gibt.


Um sich von der Weltöffentlichkeit einen demokratischen Anstrich zu geben, schuf die Armee ein künstliches Parteiensystem. Fortan gab es als Regierungspartei die "Alianca Renovadora Nacional" (ARENA), ein williger Erfüllungsgehilfe des Generalstabs. Die Rolle der Opposition sollte die "Movimento Democrático Brasileiro (MDB) spielen. Allerdings, die MDB hielt sich nicht an ihre Auflage, keine Wahlen zu gewinnen und immer in der Minderheit zu bleiben. Da mussten die amtierenden Generale nachhelfen. Beispiel: Als im Jahre 1974 die MDB bei den Senats- und Parlamentswahlen eine große Mehrheit bekam, schickte der Generals-Präsident Ernesto Geisel (1908-1996), Abkömmling eines aus Kronberg im Taunus kommenden protestantischen Missionars , so viele Oppositionspolitiker wieder nach Hause oder ins Gefängnis, bis die militärhörige ARENA-Partei die Mehrheit der Sitze hatte.


EIN DIKTATOR NAMENS GEISEL


Ernesto Geisel bediente sich dabei des Artikel 5 der neuen Verfassung, Dieser Artikel ist so etwas wie die Notbremse der Generale: Danach können einem Politiker Parlaments-Mandat und bürgerliche Rechte vis zu 30 Jahren entzogen werden, wenn er unter dem Verdacht steht, Kontakte zu Kommunisten zu haben.


Anfang April im Jahre 1977 schickte General Geisel den gesamten Kongress für unbestimmte Zeit nach Hause. Sein vorgeschobenes Argument: Er wolle die "Justiz-reform verwirklichen, die vom Kongress mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt worden war. Tatsächlich will Diktator Geisel die für 1978 vorgesehenen Parlaments-wahlen verhindern. Das amerikanische Meinungsforschungsinstitut Gallup sagte nämlich einen neuen Wahlsieg der Oppositionsparteien voraus.


AN DER HUNGERGRENZE


In einem Land, in dem die staatsverordnete Opposition zur Fassade degradiert wurde, kommen auch die ruhig gestellten Gewerkschaften über ein Schattendasein nicht hinaus. Streiks sind im Brasilien der Generale verboten, obwohl 75 Prozent des 120-Millionen-Volkes am Rande der Hungergrenze leben.


Für das Ausland wurde dieses "befriedete" Brasilien interessant. Allein aus Deutschland haben achthundert Firmen dort inzwischen Tochter-Unternehmen, Der Vorsitzende der Deutsch-Brasilianischen Handelskammer in Sao Paulo, Julius Zimmermann, ist voll des Lobes für die Generale: "Seit wir hier eine vernünftige Regierung haben. die für ruhige innenpolitische Verhältnisse sorgt, ist ein stabiles Klima für langfristige Investitionen entstanden." Nunmehr liefert die Bundes-republik den Brasilianern acht Kernkraftwerke und macht damit ihr größtes Aus-landsgeschäft.


EIN LEBEN VOR DEM TOD


Nur die katholische Kirche haben die Generale nicht in den Griff bekommen. Der Wandel der Kirche setzte in den 60er Jahren ein. Der Klerus, täglich konfrontiert mit Massennot, begriff, dass es auch ein Leben vor dem Tod gibt, und nahm fortan immer stärker zu humanitären Problemen Stellung. Aus dem sozialen Engagement wurde mit dem Amtsantritt der Militärs ein politisches Engagement.


Mittlerweile ist die katholische Kirche die einzige Opposition in Brasilien. Trotz aller Einschüchterungsversuche durch Mordkommandos, durch Folter auf Gefangenen-inseln und trotz aller Militärauflagen - die Kirchenzeitungen unterliegen der Zensur, eine Radiostation der Kirche wurde geschlossen, kircheneigene Krankenhäuser und Schulen werden beschlagnahmt - klagen die Bischöfe und Priester immer wieder unerschrocken die Willkür der Generale an. Und nehmen dafür, wie Bischof Hypólito, Überfälle und Folter, Verhöre und lange Haftzeiten in Kauf. Viele Geistliche sitzen hinter Gittern und Stacheldraht.


ZEHNKÄMPFER GOTTES


Zu den Mutigen gehört auch der Erzbischof von Sao Paulo, Paulo Kardinal Evaristo Arns. Der untersetzte Mann im maßgeschneiderten grauen Anzug, der am Revers ein kleines goldenes Kreuz wie ein Sportabzeichen trägt, hat nichts vom sakralen Habitus deutscher Oberhirten. Paulo Evaristo Arns ist so etwas wie ein Zehnkämpfer Gottes. Er kümmert sich um die Armen, um Arbeitslose, um Eingeborene, um die ungerechte Landverteilung zwischen Großgrundbesitzer und Kleinbauern, und er kümmert sich insbesondere um die Verteidigung der Menschenrechte gegen die Willkür der Generale. Sein unverbrüchliches Credo: Eine katholische Kirche könne nur dann nachhaltig den Armen das Evangelium vermitteln, wenn man ihr Freund ist. Deshalb unterstütze er bedingungslos die vom Vatikan über Jahrzehnte heftigst bekämpfte "Theologie der Befreiung". Sie hat er weniger als theoretische Lehre, sondern vielmehr als eine persönlich verpflichtende Haltung begriffen. So verkaufte Kardinal Arns etwa zu Beginn seiner Amtszeit (1966-1998) sein Bischofspalais und lies mit dem Erlös von 30 Millioen Euro Sozialstationen im Elendsviertel bauen.


Der Kardinal, dessen Vorfahren 1838 von der Mosel nach Brasilien kamen, gründete vor fünf Jahren die "Kommisson für Gerechtigkeit und Frieden". Außer Kirchen-leuten gehören ihr regimekritische Anwälte, Journalisten, Professoren und sogar Staatsanwälte ab. Der Autor des Buches über die Todesschwadronen, Bicudo, ist Kommissionsmitglied. Hauptsächliche Aufgabe dieser Gruppe ist die Verteidigung der politischen Gefangenen n Brasilien, gegenwärtig sind es 5.000. An seiner Entschlossenheit, den Kampf um die Menschenrechte kompromisslos zu führen, lässt Arns keinen Zweifel: "Wenn in einem Land ein Gesetz gebrochen wird, dann werden alle gebrochen."


In den jahrelangen Auseinandersetzungen mit dem Militärregime hat Kardinal Arns zwei merkwürdige Gesetzmäßigkeiten in der Technik und Methode der Unter-drückung entdeckt:


o Die Militärs gliedern ihre Verhaftungswellen nach Berufssparten: Mal sind die Professoren dran. mal die Rechtsanwälte, mal Künstler, mal Journalisten.


o Verhaftet wird mit Vorliebe am Freitagabend. Das verhindert Publizität in ausländischen Zeitungen.


Es war auch ein Freitagabend, als der jüdische Fernsehjournalist Vladimir Herzog aus Sao Paulo von der Geheimdienstabteilung der Zweiten Armee abgeholt werden sollte. Herzog, der in dieser Nacht noch eine Kultursendung moderieren wollte, konnte einen Aufschub bis zum nächsten Morgen erreichen Von seinen Kollegen verabschiedete er sich schließlich: "Ich gehe jetzt und werde wohl erfahren, was sie wollen. Ich habe nichts zu verbergen und nichts zu befürchten."


UM 8 UHR ERSCHIENEN - UM 15 UHR ZU TODE GEFOLTERT


Am Sonnabendmorgen um 8 Uhr 30 betrat er die Kaserne, am Sonnabendnach-mittag um 15 Uhr war er tot. Ein Journalist von der Zeitung "O Estado de Sao Paulo" hatte, als er unter Folter nach ihm bekannten Kommunisten befragt wurde, wahllos Namen aus dem Kollegenkreis genannt, um sich damit ein Ende der Schmerzen zu erkaufen. Herzogs Name war dabei gewesen.


Als der Fernsehmann tot war, mühte sich das Militär, den Mord als Selbstmord darzustellen. Ein Armeefoto wurde veröffentlicht, das den Journalisten aufgeknüpft mit seiner Krawatte am Gitter der Zelle zeigte. Eine Obduktion der Leiche wurde allerdings nicht zugelassen.


FOLTERSPUREN


Die jüdische Gemeinde zögerte, Herzog auf dem jüdischen Zentralfriedhof von Sao Paulo ehrenvoll zu beerdigen. Daraufhin erklärte der katholische Kardinal Arns, er werde für den toten Journalisten die Messe lesen. Arns wusste, dass die Selbstmord- version nicht stimmte. Die Ärzte im Krankenhaus, in dem Herzog aufgebahrt worden war, hatten dem Kardinal genau die Folterspuren an der Leiche beschrieben.


FOLTERKNECHT MIT EHRBARER DIRNE


Außerdem hatte einer der Folterer geplaudert. Er erzählte einer Freundin, einer Prostituierten, Einzelheiten der Todestortur ("Wir sind besser als die Gestapo"). Die Dirne war erschüttert von dem, was sie da erfuhr. und informierte am nächsten Tag den Kardinal. Als Arns in seiner Kathedrale im Zentrum von Sao Paulo die Gedenkmesse für den Journalisten Vladimir Herzog vorbereitete, drohte Staats-general Geisel: "Bei Unruhen muss hart durchgegriffen werden."


An einem Mittwochnachmittag um 15 Uhr sollte die Messe sein. Um 13 Uhr begann die Polizei die Zufahrtsstraßen zur Innenstadt Fahrzeugkontrollen vorzunehmen. Wagenpapiere wurden überprüft, Reifen und Beleuchtung kontrolliert. Der Einsatz hieß "Operation Gutenberg". In wenigen Minuten entstand in der nahezu Zehn-Millionen-Metropole ein solches Verkehrschaos, dass kein Fahrzeug mehr vorankommen konnte. Die Folge: Von den 30.000 Menschen, die sich aufgemacht hatten, um am Gottesdienst teilzunehmen, konnten nur 3.000 bis an die Kathedrale vordringen.


DIE MESSE ZUM TRIBUNAL


Von der Kanzel herunter machte Arns die Messe zum Tribunal über die Generale: "Es ist ungesetzlich, bei Vernehmungen von Verdächtigen physische, psychologische oder moralische Folter anzuwenden. Vor allem, wenn sie soweit getrieben werden, dass Verstümmelungen oder gar der Tod die Folge sind. Die ihre Hände mit Blut beflecken, werden verdammt."


Als die Messe beendet war, ermahnte der Kardinal seine Zuhörer, Ruhe zu bewahren. Zugleich gab er ihnen den Rat, nur in Gruppen den Heimweg anzutreten.































Donnerstag, 14. April 1977

In Memoriam: Befreiungskampf - Folter - KZ: Der Lebensweg der Ana Ines Quadros zu Montevideo vor vielen, vielen Jahren


















Eines von vielen Schicksalen - vergilbt, verdrängt, unkenntlich zu den Akten gelegt. Ana Ines Quadros Herrera (Foto 1977 und 2010) war eine von 7000 Frauen, die im südamerikanischen Gefangenenlager Punta Rieles eingekerkert, geschunden, gefoltert - zerbrochen wurden. Denunziert vom Ehemann im Streit um das Sorgerecht ihrer Kinder. Ana Ines kämpfte gegen die Militärdiktatur, wurde Mitglied der revolutionären, marxistischen Partido por la Victoria del Pueblo - eine Tragödie.


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stern, Hamburg
14. April 1977 / 04. September 2010
von Bericht von
Peter Koch, Reimar Oltmanns
und Perry Kretz
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Der Blick vom Balkon des Penthouse hat Postkartenqualität. Im sanften Bogen das weiße Sandufer der Playa Ramirez, mit langen Wellen dünt der Rio de la Plata den Strand hinauf. Teure Apartmenthäuser bilden den Hintergrund der Kulisse und schirmen sie gegen die schmuddelige City von Montevideo ab.

Die Traumwelt setzt sich im Inneren der Wohnung fort. Auf dem Parkett üppig verlegte Kashan- und Nain-Teppiche, ihr verhaltenes Leuchten weist auf antike Kostbarkeit. Italienische Meister aus dem 16. Jahrhundert geben dem Raum feierliche Strenge, die durch eine Kollektion verspielter Porzellanfiguren - Meißen, Sèvres, Wedgwood, Royal Kopenhagen - aufgelockert wird. Die aufgestellten Fotos im Silberahmen zeigen den Hausherrn mit Queen Elizabeth, Frankreich einstigem Präsidenten Georges Pompidou, mit Gustav Heinemann und Willy Brandt.

DIPLOMATEN-LEBEN

José Antonio Quadros (*1915+2004)hat ein langes Diplomatenleben hinter sich. Er hat sein Land Uruguay in den großen Zentren London und Paris und schließlich in Bonn vertreten. Die Familie der Quadros' gehört zum politischen Adel Südamerikas, einer der Vorfahren war Staatspräsident. Ehefrau Esther, eine geborene Herrera, kommt ebenfalls aus einer der ersten Familien: Ihren Namen trugen in Uruguay ein Präsident, ein berühmter Maler, ein Dichter. Nun haben die beiden sich für ihren Ruhestand im schönsten Stadtteil ihrer Heimatstadt Montevideo eingerichtet. Oft kommt ihre Tochter Mercedes zu Besuch, zartgliedrig, das ebenmäßige schöne Gesicht von langen schwarzen Haaren gerahmt. Mercedes hat noch eine Schwester, Ana Ines, ihr Foto steht auf dem Sofatischchen, lebhafte große Augen beherrschen das Porträt. Es ist ein Erinnerungsfoto, denn Ana Ines kann auf lange Jahre nicht in die Wohnung ihrer Eltern kommen. Sie sitzt. Sie ist im Konzentrationslager. Ihr Verbrechen war, dass sie eine eigene Meinung hatte; ihr Verhängnis war, dass sie einen Mann geheiratet hatte, der sie bei den Militärbehörden denunzierte, als die Ehe zu Bruch ging und es Streit um die Kinder gab.

AUS DEM BLDERBUCH

Als sie heiratete, war Ana Ines 18 Jahre alt. Ihr Mann war nur drei Jahre älter, verwöhnter Sohn der reichsten Industriellenfamilie in Uruguay mit riesigen Ländereien, Fabriken für Zellulose, Lebensmittel, Exportfirmen. Die junge Frau hieß nun Ana Ines Quadros de Strauch. Wenn sie ihre Eltern in Deutschland besuchte - der Vater war im Oktober 1972 als Botschafter nach Bonn versetzt worden - ging sie mit Schwester Mercedes zum Tennisspielen in den Amerikanischen Club in Bad Godesberg. Den Teams auf den anderen Plätzen fiel es dann schwer, sich aufs Spiel zu konzentrieren. - Das ist lange her.

NACH URUGUAY VERSCHLEPPT

Als Ana Ines 1976 in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires gekidnappt, gefoltert, nach Uruguay verschleppt, wieder gefoltert und schließlich ins Frauen-Konzentrationslager Punta Rieles gesteckt wurde, war sie gerade 31 Jahre alt geworden. Sie war inzwischen Mutter von einem Mädchen und zwei Jungen: Anes, 12. José Miel 10, und Martin,7.

Nach der Geburt ihres letzten Sohnes war die Ehe in eine Krise geraten. Es gab mehrere Gründe. Ana Ines suchte eine eigene Aufgabe, sie wollte sich nicht damit abfinden, als Ehefrau und Mutter in einem Luxushaus in den Tag hinein zu leben; im Wohlstand eingesperrt. Zwischen ihr und ihrem Mann kam es auch zu politischen Differenzen. In Uruguay gärte es, der Mann hatte kein Verständnis für ihren Ruf nach einer gerechteren Sozialordnung, Aus seiner Sicht der Dinge gehörte jeder hinter Schloss und Riegel, wer sich gegen die herrschenden Zustände aufbäumte.

Ana Ines begann Anfang der siebziger Jahre ein Jura-Studium an der Universität von Montevideo. Sie fand gleichsinnte Freunde unter den Studenten. Sie machte mit, als die jungen Leute in Flugblättern und Versammlungen gegen das immer unduldsamer werdende Regime, gegen die immer stärkere Vorherrschaft der Generäle agitierten. Ana Ines hatte sich dem radikal marxistischen Parteikader de la Victoria del Pueblo im Jahre 1973 angeschlossen, einer Organisation, die die Militärdiktatur zu Montevideo bekämpfte. Ana und Genossen sahen im bolivanischen Revolutionär Ernesto Che Guevara (*1928+1967 ) eines ihrer Vorbilder. Ihr Markenzeichen war antikapitalistisch, anti-autoritär. Sie träumte von Fabrikbesetzungen - hoffte auf einen "langen Marsch des Volkes". Ihr Trugschluss: Sie glaubte, die soziale Revolution stünde in Lateinamerika auf der Tagesordnung - mitnichten.

MILITÄRPUTSCH

Anfang 1974 kamen die Eltern von Ana Ines nach Uruguay zurück. Der Vater hatte in Bonn unter Protest sein Amt aufgegeben. Nach dem Militärputsch und der zwangsweisen Auflösung des Parlaments im Juni 1973 hatte José Antonio Quadros dem Marionetten-Präsidenten Juan Marie Bordaberry (1972-1976) geschrieben, er wolle angesichts der undemokratischen Verhältnisse in Montevideo nicht länger sein Land im Ausland vertreten. Der Brief indessen blieb ohne Antwort. Auch sein zweites Schreiben. Daraufhin hatte José Antonio Quadros die Koffer gepackt und war mit seiner Frau einfach nach Hause geflogen. Er konnte es sich leisten, den Diplomatenjob wegzuwerfen. Ihm gehört eine große Hazienda in Uruguay.

Als die Eltern in Montevideo waren, trennte sich Ana Ines endgültig von ihrem Mann, Die Kinder nahm sie mit und gab sie ihren Eltern in Obhut.


EHEMANN GING ZUR POLIZEI

Ihr Ehemann ging zur Polizei. Dort gab er wider besseres Wissen zu Protokoll: Ana Ines habe Verbindungen zu Terroristen, sie sei eine Staatsfeindin. Mit seinen Denunziationen wollte er das alleinige Sorgerecht für die Kinder bekommen. Ana Ines musste fliehen. Sie ging nach Argentinien. Mit ihr flohen viele der Studenten, die nach dem Staatsstreich der Militärs fürchten mussten, für ein paar Flugzettel oder spontane Reden eingesperrt zu werden. Das was im Dezember 1973.

JAGD AUF STAATSFEINDE

Schwester Mercedes und die Eltern besuchten Ana Ines öfters, von Montevideo nach Buenos Aires ist es eine knappe halbe Stunde im Linien-Jet. Sie erzählten von den Kindern , die jetzt beim Vater waren und nur manchmal zu Besuch kamen. Ana Ines wollte zurück. Sie hatte zuletzt auch in Buenos Aires Angst. Seit dem 24. März 1976 war in Argentinien ebenfalls ein Offizier an der Macht, General Jorge Rafael Videla (1976-1981). Die Geheimdienste aus Uruguay und Argentinien arbeiteten jetzt eng zusammen bei der Jagd auf "Staatsfeinde". Täglich "verschwanden" Menschen spurlos, niemand wusste, was mit ihnen geschehen war. Über 30.000 Oppositionelle sollen erschossen, zu Tode gefoltert worden sein. Es waren nicht nur Argentinier, sondern in ständig steigender Zahl auch im Exil lebende Uruguayer.

UNO-Offizielle schätzen heute die Gesamtzahl der in Argentinien gekidnappten Uruguayer auf 800 Personen. In jener Zeit wurden auch zwei in Argentinien lebende uruguayische Politiker, der Ex-Senator Zelmar Michelini (*1924+1976) und Ex-Parlamentspräsident Héctor Gutiérrez Ruiz (*1934+1976) ermordet, weil sie Dokumentationen über die Verletzung der Menschenrechte in Uruguay nach USA und England geschickt hatten.

LETZES LEBENS-ZEICHEN

Mercedes Quadros besuche ihre Schwester Ana Ines noch einmal im Mai 1976. Sie riet ab, nach Montevideo zurückzukommen. Da sei die Gefahr für sie noch größer. In der Nacht zum 13. Juli 1976 war Ana Ines dran. Sie wurde auf der Straße gegriffen. Ehe ihre Häscher sie in ein Auto zerren konnten, schrie sie ein paar Passanten ihren Namen zu. Das war das letzte, was von ihr gehört wurde.

Die Zeitung Buenos Aires Herald berichtete über den Vorfall. Im Vergleich zu Uruguay ist in Argentinien die Presse noch relativ frei. Daraufhin flog der Vater von Ana Ines sofort in die argentinische Hauptstadt. Er fragte das Rote Kreuz, den uruguayischen Botschaftrer, alarmierte das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für das Flüchtlingswesen, das in Buenos Aires in der Sùipacha 280, mitten im Einkaufsviertel, untergebracht ist. - Niemand konnte ihm sagen, was mit seiner Tochter geschehen war.

VERSTÜMMELTE MENSCHEN

Wochen vergingen mit hoffnungslosen Suchaktionen und langem Warten. Es war die Zeit, in der fast täglich aus dem Grenzfluss Rio de la Plata Leichen gefischt wurden, verstümmelte Menschen mit entstellten Gesichtern und abgehackten Händen, um eine Identifizierung unmöglich zu machen.

Was Ana Ines Quadros nach ihrer Festnahme durchmachen musste, geht aus dem Bericht eines Augenzeugen hervor. Enrique Rodriguez Larreta (*1921+1977), Enkel des Gründers der Blancos-Partei, einer der traditionellen politischen Gruppierungen im einst demokratischen Uruguay, hat diesen Report Anfang 1977 verfasst. Und das kam so:

AUF DER SUCHE NACH KINDERN

Auch Laretta suchte im Juli 1976 in Buenos Aires sein Kind, seinen 26 Jahre alten Sohn Enrique Rodriguez Larreta Martinez. Der Junge war bis 1972 in Uruguay Studentenführer gewesen. Dann hatte ihn die Armee gegriffen und hinter Gittern gesetzt. Doch damals funktionierte in Uruguay noch halbwegs der Rechtsstaat. Der Prozess gegen den Jungen musste aus Mangel an Beweisen eingestellt werden. Dennoch wollte der Ex-Studentenführer nun nicht mehr länger in Uruguay bleiben. Er siedelte mit seiner Frau Raquel Nogueira Paullier nach Argentinien über, nahm einen Job bei der Zeitung El Cronista Comercial an und lebte legal angemeldet in der Straße Victor Martinez 1488 in Buenos Aires. Am 1. Juli 1976 plötzlich wurde der Vater, der in Montevideo geblieben war, von seiner Schwiegertochter angerufen. Sie sagte ihm , dass sein Sohn spurlos verschwunden sei.

Vater Larreta flog nach Buenos Aires, machte sich auf die Suche. Er sprach mit Dr. Mones Ruiz vom Hohen Kommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Naionen und dem Militärvikar, hatte Termine beim Subsekretariat der Episkopalen Konferenz und bei der Justizkammer. Doch keiner konnte ihm einen Hinwies auf den Verbleib seines Sohnes geben.

Schon fast zwei Wochen dauerte die Suche. Während dieser Zeit lebte der Vater im Haus seines Sohnes und seiner Schwiegertochter in der Victor Martinez 1488. In der Nacht vom 12. zum 13. Juli 1976 wurde plötzlich die Eingangstür des Hauses aufgebrochen, ein Dutzend bewaffneter Männer stürmten in das Gebäude, fesselte Schwiegertochter und den Vater Laretta und verschleppten beide.

GARAGE IN BUENOS AIRES

Die zwei waren Opfer eines Großeinsatzes argentinischer und uruguayischer Geheimpolizei gegen in Buenos Aires lebende Uruguayer geworden, die mit Zeitungsartikeln, Broschüren und Reden die Unterdrückung in ihrem Heimatland angeprangert hatten. In derselben Nacht wurde Ana Ines Quadros gekidnappt. Alle Gefangenen wurden in dasselbe Verlies gebracht, eine kleine Garage in der Straße Venacio Flores in Buenos Aires. Ein paar Gefangene aus früheren Einsätzen waren schon hier. Allen waren die Augen verbunden, die Hände auf den Rücken gefesselt. Das sollte so bleiben, für Tage, für Wochen.

In den nächsten Stunden lernte der alte Larreta seine Leidensgefährtin kennen. Er sprach mit Ana Ines. Eine junge Mutter, Sara Rita Mendez, schilderte ihm ihr Schicksal. Bei der Festnahme hatte man der Frau ihr Baby weggenommen, der kleine Simon Lompodio Riquelme war gerade 2o Tage alt gewesen. Und in dieser Garage fand Larreta auch seinen Sohn wieder. Er erkannte ihn an seiner Stimme.

ÖL, DRECK, SÄGESPÄHNE

Insgesamt waren an die dreißig Gefangene in diesem Loch, Männer und Frauen. Es gab nur ein einziges Klo gleich rechts neben dem Eingang. Geschlafen wurde auf dem Fussboden, er war voll Öl, Dreck und Sägespänen. Es gab, besonders in den ersten Wochen, wenig zu trinken, fast nichts zu essen. Manchmal stellten die Soldaten einen Eimer mit Wasser in den Raum und eine Schüssel mit Kartoffeln. Nur dann wurden den Gefangenen für kurze Zeit die Fesseln abgenommen. Was in der Garage an Schrecklichem geschah, hat Larreta in seinem Bericht festgehalten. Es heißt daran wörtlich:

BARBARISCH GEFOLTERT ... ...

"Mehrere der Anwesenden brachte man gleich nach meiner Ankunft zum ersten Stock, wo sie vernommen werden sollten. Fürchterliche Schreie hallten kurz darauf durch das Haus, offensichtlich wurden sie barbarisch gefoltert. Dies bestätigte sich, als sie wieder runtergebracht wurden. Die Wächter schleppten sie rein. Man hörte Klagen und Stöhnen. Sie wurden auf den Zementfussboden geworfen, es wurde uns verboten, ihnen Wasser zu geben, weil sie in der 'Maschine' waren, wie die Wächter sagten."

AN HANDGELENKEN AUFGEHÄNGT

"Am darauffolgenden Abend brachte man mich in die oberen Stockwerke, wo ich unter Folter verhört wurde. Ich musste mich ganz ausziehen, und ich an den Handgelenken aufgehängt, zirka 20 bis 30 cm über dem Boden. Gleichzeitig bekam ich eine Art Lendenschurz mit mehreren elektrischen Anschlüssen. Wenn er angeschlossen wird, bekommt man Stromstöße an mehreren Teilen des Körpers gleichzeitig, besonders an den sensibelsten Zonen. Diesen Apparat nannten sie 'Maschine'. Der Fussboden , über dem die Gefangenen aufgehängt werden, ist sehr nass und mit groben Salzkristallen bestreut. Dies soll den Zweck erfüllen, die Folterungen fortzusetzen, falls der Gefangene es schafft, die Füsse auf den Boden zu stellen. Die Stromschläge sind dann noch heftiger, und die groben Salzkristalle schneiden die Haut auf. Manche meiner Mitgefangenen rutschten aus der Fesselung und fielen zu Boden, wobei starke Verletzungen eintraten. Ich erinnere mich besondes an den Fall einer Frau, die, wie ich später erfuhr, Edelweiß Zahn des Andrés hieß. Sie hatte Schnittwunden an der Schläfe und an den Knöcheln, die sich später entzündeten."

PORTRÄT VON ADOLF HITLER

"Während ich gefoltert wurde, fragten sie mich über die politischen Aktivitäten meines Sohnes aus und über eine 'Partei für den Sieg des Volkes', in der mein Sohn angeblich Mitglied war. Wegen des starken Schweißausbruchs löste sich meine Augenbinde etwas, und an einer Wand konnte ich ein Porträt von Adolf Hitler erkennen."

"Ich kann nicht genau sagen, wie lange ich gefoltert wurde. Ich glaube, es war ungefähr eine halbe Stunde. Andere aber wurden nach meiner Einschätzung zwei bis drei Stunden gefoltert."

VERHÖRE DES CID-GEHEIMDIENSTES

Geleitet wurden die Folter und Verhöre von Offizieren des CID, des uruguayischen Geheimdienstes. An ihrer Spitze stand ein Major Gavazzo, vermutlich der Verantwortliche des ganzen Kidnapping-Unternehmens. Tatsächlich war Major José Nino Gavazzo Chief Operating Officer der Information Service Defensa de Uruguay. Als solcher war er direkt verantwortlich für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit; 140 Uruguayer blieben unauffindbar. Beteiligt waren außerdem auch Offiziere der uruguayischen Armee. Sie redeten sich vor den Gefangenen mit Oscar an und setzen dahinter eine Nummer, die wohl dem Rang entsprach. Oscar I jedenfalls ein Mann von untersetzter Statur und weißem Haar, etwa 45 Jahre alt, war offensichtlich der Ranghöchste. Er gab die Kommandos.

Als Ana Ines zum erstenmal an der Reihe war, wurde sie nach einer Stunde ohnmächtig auf den Garagenboden geworfen. Sie kam in den folgenden Tagen noch öfters dran. Die Eingekerkerten dämmerten in der Garage dahin. Wann es Tag war, konnten sie an den Geräuschen von draußen erkennen. Sie hörten den Lärm spielender Kinder auf einem nahegelegenen Schulhof. Das Rattern der Züge zeigte an, dass dicht am Folterhaus eine Bahnlinie vorüberführte.

"KOPF SAUBERMACHEN"

Am 19. Juli 1976, gegen Abend, schleppten die Soldaten einen großen Tank in die Garage. Den Entführten wurden die Binden abgenommen. Die Soldaten sagten, man werde ihnen in dem Tank "den Kopf saubermachen". Dann stürzten sie sich auf einen der Gefangenen, Carlos Santucho. Er war ein junger Argentinier, etwa 20 Jahre alt. Sein Verbrechen bestand daran, dass er der Bruder des Guerillakämpfers Mario Roberto Santucho (*1936+1976) war. Carlos selbst war nie politisch aktiv gewesen.

IN TANKS VERSENKEN

An diesem 19. Juli 1976 war sein Bruder Mario Roberto bei einem Feuergefecht ums Leben gekommen. Ein Hauptmann der argentinischen Armee war ebenfalls getötet worden. Carlos Santucho wurde mit Ketten an Händen und Füssen gefesselt, dann über ein Laufrad, das an der Garagendecke befestigt war, hochgehievt und in den Tank versenkt. Ein paarmal wurde er kurz vor dem Ersticken hochgezogen. Die Soldaten prügelten auf ihn ein. Dann versenkten sie ihn wieder. Die anderen Gefangenen sahen, wie Carlos unter Wasser zuckte, dann still liegen blieb. Den leblosen Körper zogen die Soldaten hoch, schmissen ihn in den Kofferraum eines Wagens und fuhren ihn weg. Unter denen, die die Marter von Carlos mit ansehen mussten, war auch seine Schwester Manuela Santucho.

PLÜNDERUNGEN

Eine Woche später, am 26. Juli 1976, wurde den Gefangenen mitgeteilt, sie würden jetzt woanders hingebracht. Nun wurde ihnen auch noch mit Klebestreifen der Mund verklebt. Sie mussten auf einen Lastwagen klettern und sich hinlegen. Dann deckte man Bretter über sie, die von den Seitenwänden des Lkw gehalten wurden. Auf die Bretter luden die Soldaten Kisten und Pakete. Sie unterhielten sich über den Inhalt: Fernsehapparate, Kühlschränke, Schreibmaschinen, Haushaltsgeräte, Fahrräder, Bücher - alles Dinge, die sie bei ihrer Nacht-und-Nebel-Aktion in den Häusern ihrer Opfer geplündert hatten. Die Soldaten lachten. "Erobert auf dem Schlachtfeld!" Und sie riefen sich zu, dies sei schon die vierte Fuhre.

Der Lkw fuhr dann mit großem Tempo los, vorweg Motorräder und Personenwagen mit Sirene. Nur zwei Mann aus der Gruppe der Entführten blieben zurück. Noch wusste niemand, was das zu bedeuten hatte. Auf einer Militärbasis in der Nähe des Stadtflughafens von Buenos Aires mussten die Gefangenen in ein Flugzeug steigen. Enrique Rodroguez Larreta konnte unter der Augenbinde hindurch erkennen, dass es eine Propellermaschine der uruguayischen Luftlinie PLUNA war, Typ Fairchild. Nach einer Stunde Flug landete die Maschine auf einer Militärbasis neben dem Flughafen Carrasco von Montevideo.

"ZIMMER MIT EIMER
"

Außer der Tatsache, dass sie in Uruguay waren - nicht freiwillig, sondern verschleppt -, änderte sich nicht viel für die Gefangenen. Sie kamen ins Haus, blieben in Handschellen , behielten eine Binde vor den Augen, wurden weiter gefoltert: Stromstöße, Peitschenhiebe und "U-Boot", das Eintauchen des Kopfes unter Wasser bis fast zum Ersticken. Den Raum, in dem die U-Boot-Folter stattfand, nannten die Schergen "das Zimmer mit dem Eimer".

Ab 23. August 1976 hörten die Foltereien auf. Später sollte die Gruppe auch erfahren, weshalb die Soldaten so lange versucht haben, aus ihnen Geständnisse über geheime Waffenlager, die es nicht gab, und über geheime Staatsstreiche, die es auch nicht gab, heraszupressen. Zwei der Gekidnapten waren schon bei den Verhören in Argentinein übergelaufen: Um ihre Freiheit zu erkaufen, hatten sie den anderen angedichtet, einen Umsturz zu planen. Als die uruguayischen Schergen schließlich einsehen mussten, lauter harmlose Oppositionelle eingefangen zu haben, suchten sie nach einem Ausweg.

Eines Tages machte Major José Nino Gavazzo, der schon in Buenos Aires dabeigewesen war, seine Opfer auf ihre neue Lage aufmersam: Die Sicherheitskräfte Uruguays hätten sie vor "den argentinischen Mördern befreit, die euch nach oben schicken wollten, um die Harfe mit Petrus zu spielen."

INVASION VORTÄUSCHEN

Gavazzo, das wurde den Gefangenen schnell klar, wollte etwas von ihnen. Er schlug ein Abkommen vor, das ihre Anwesenheit in Uruguay erklären sollte: Die Gefangenen sollten in der Nähe von Port Negro eine Invasion vortäuschen, sie würden dann von den urugayischen Streitkräften "entdeckt". Wenn sie dies später vor Gericht zugäben, bekämen sie höchstens 15 bis 30 Jahre Haft. Wenn sie nicht mitmachten , könne er sie erschießen lassen. Gavazzo zeigte auf zwei Soldaten mit MP, die er mitgebracht hatte. Er brauchte dann nur die Blutspuren abwaschen zu lassen und die Einschüsse in den Wänden zu füllen. Niemand wisse ja etwas von ihrem Verbleib.

Die Gefangenen lehnten ab. Sie erklärten Gavazzo, sie würden überhaupt kein Abkommen unterschreiben, solange nicht das Baby der jungen Rita Mendez herbeigeschafft sei.

KUHHANDEL: SUBVERSIVE VEREINIGUNG

Ende September kam Major Gavazzo mit einem neuen Vorschlag: Die Armee werde eine Gruppe der Gefangenen, darunter Ana Ines Quadros, bei einem "konspirativen Treffen" überraschen. Sie kämen dann unter Anklage , einer "subversiven Vereinigung" anzugehören. Der andere Teil der Gruppe werde in verschiedenen Hotels in Montevideo, wo sie sich mit falschem Namen registriert haben müssten, verhaftet werden. Diese Leute kämen nur wegen "Unterstützung einer subversiven Vereinigung" unter Anklage.

GNADENGESUCH

Auch als Gegenleistung wurde jetzt mehr versprochen: sechs bis 18 Jahre Haft höchstens, überdies nach drei Jahren die Möglichkeit, ein Gnadengesuch einzureichen. Rita Mendez überredete ihre Leidensgefährten einzuwilligen. "Ich habe mein Baby nur 20 Tage gekannt", sagt sie, "jetzt sind schon fast vier Monate vorbei, ich würde es ja nicht einmal wiedererkennen." (Heute sitzt Rita Mendez im Frauen-KZ Punta Rieles und ist psychisch schwer krank aus Sehnsucht nach ihrem Kind, das sie nie mehr wiedersah.)

FILM-SZENEN AUS EINEM BADEORT

Am 23. Oktobr 1976 lief die Posse an. Ana Ines und vier weitere wurden in ein Haus im Badeort Shangrilla nahe Montovideo gebracht. Die Armee umstellt das Haus. Von Fernseh-Kameras gefilmt, wurden die fünf zur "Kapitulation" gezwungen und verhaftet. Im Eifer des Gefechts nahm die Armeegruppe gleich auch noch die in zivil gekleideten Soldaten fest, die im Haus die Überwachung der fünf übernommen hatten. Noch immer wussten die Eltern von Ana Ines nichts über den Verbleib ihrer Tochter, sie wussten nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebte. José Anonio Quadros, der Ex-Botschafter von Bonn, wollte nun nach Washington fliegen, um vor dem US-Kongress das Los seiner Familie zu schildern und die Machthaber seines Landes anzuklagen.

Das Flugticket war für den 29. Oktober 1976 gebucht. Am Vorabend des Abfluges, am 28. Oktober gegen 17 Uhr, brachte das uruguayische Fernsehen die Meldung, dass eine große Verschwörergruppe von den Sicherheitskräften des Landes ausgehoben worden sei. Dazu lief der Fernsehbericht mit dem im Badeort Shangrilla gefilmten Kriegsspiel. Weitere "Staatsfeinde" seien in Hotels von Montevideo festgenommen worden (Tatsächlich hatten die neun für diese Aktion vorgesehenen Gefangenen gar nicht das Folterhaus verlassen dürfen, ihre Rollen hatten weibliche Polizistinnen und Soldaten in Zivil übernommen).

Auf dem Fernseher erkannte José Antonio Quadros seine Tochter wieder. Nach vier Monaten Ungewissheit wusste er wenigstens, dass sein Kind noch lebte.

José Quadros, selbst Jurist, schrieb sofort an die Militärbehörden, er wolle die Verteidigung seiner Tochter übernehmen. Er bekam nie eine Antwort. Ana Ines Quadros erhielt einen Militäranwalt zugewiesen. Sie wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Wochen später erfuhren dann die Quardos' auch den Aufenthaltsort ihrer Tochter. Ein Soldat kam vorbei mit einer Liste persönlicher Dinge, die Ana Ines brauchte: Zahnbürste, Decken, Wäsche. Der Soldat sagte den Eltern, ihre Tochter sitze in Punta Rieles.

Am 18. Dezember 1976 sahen die Quadros' ihre Tochter zum erstenmal wieder, im Besucherzimmer des KZ. Ihre Haare waren auf fünf Zentimeter Länge gestutzt, sie sah bleich aus. Das Gespräch musste schreiend geführt werden, Eltern und Tochter saßen einige Meter auseinander. Zwischen ihnen hockte ein Soldat.

Alle vierzehn Tage ist nun ein Treffen in der Zelle gestattet. Besuchszeit: 30 Minuten.

Am 22. Dezember 1976 wurde Enrique Rodriguez Larreta(*1921+1977) freigelassen. Trotz aller Folter - die Narben sind noch heute an seinen Handgelenken sichtbar - hatten die Militäs aus Larreta nicht mehr herauspressen können, als dass er auf der Suche nach seinem Sohn gewesen war, als er im Haus seiner Schwiegertochter verhaftet wurde. Larreta ließ sich trotz immenser Schmerzen nicht einschüchtern. Er hielt stand.

Nach seiner Freilassung blieb Laretta nur noch wenige Wochen in Montevideo. Er hatte sich entschlossen, Uruguay zu verlassen, um im Ausland auf die schlimme Lage in seiner Heimat hinzuweisen.

Oft fuhr Larreta während seiner letzten Wochen nach Uruguay raus zum KZ Libertad. Dort ist sein Sohn eingesperrt, wegen angeblicher "Mitgliedschaft einer subversiven Vereinigung". Der Junge hat jetzt die Gefangenennummer 2126, er sitzt im dritten Stock, Sektion B. Am 8. Februar besuchte der Vater ihn zum letzten Mal. Laretta flog dann nach Genf, schrieb dort den Bericht über das Schicksal der Gefangenengruppe minuziös nieder. Die Dokumentation überreichte er Prinz Aga Khan (*1933+2003), dem UN-Hochkommissar für das Flüchtlingswesen (1965-1977). Aga Khan versprach, er werde diesen Fall aufgreifen.

Doch Erfolg hatte der Prinz nicht. Ein halbes Jahr später erklärte der Leiter der südamerikanischen Sektion für das Flüchtlingskommissariat, George Koulischia, auf Anfrage: "Wir unternehmen permanent Anstrengungen in dieser Sache. Doch über den Erfolg können wir nichts sagen, denn wir müssen diskret bleiben."

Immerhin fand Koulischia, dass der von Laretta geschilderte Fall der Ana Ines Quadros besonders bedeutend sei, denn: "Es handelt sich um ein menschliches Wesen." - Na denn ... ...