Dienstag, 14. Februar 2006

Lyrik, Gedichte, Verse - Versus memoriales - schnelllebige Tage, flüchtige Momente des Vergessens (Teil 3)

Angela Sanmann (*1980 in Iserlohn) ist deutsche Lyrikerin und lebt in Berlin. Im Jahr 2006 erschien der Gedichtband stille, verkaspert

puppenstirn
du sitzt auf der bettkannte
und bist klug.
ich daneben
und ist mir egal,

zartes streift seine gesten ab.

erwartungen. aufgebockt, gefüttert
mit türritzenlicht, rostige augenblicksscheren schneiden den tag in gleich große teile,
immer an der Linie entlang. morgen?
das weiß ich nicht.

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Oliver Hassencamp (*10. Mai 1921 in Rastatt; + 31. März 1988 in Inwaging am See)

L Ü G E N
.
Aus Lügen,
Die wir glauben,
Werden Wahrheiten,
Mit denen wir leben.

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Max Frisch (*15. Mai 1911 in Zürich; + 4. April 1991 ebenda)


G E S C H I C H T E N
.
Jeder Mensch erfindet sich
Früher oder später eine
Geschichte, die er für sein
Leben hält.
Oder eine Reihe von Geschichten.

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Heinrich Heine (*13. Dezember 1797 in Düsseldorf; + 17. Februar 1856 in Paris)

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DAS MEER ERGLÄNZTE WEIT HINAUS
.
Das Meer erglänzte weit hinaus
im letzten Abendscheine;
Wir saßen am einsamen Fischerhaus,
Wir saßen stumm und alleine.

Der Nebel stieg, das Wasser schwoll,
Die Möwe flog hin und wider;
Aus deinen Augen, liebevoll,
Fielen die Tränen nieder.

Ich sah sie fallen auf deine Hand.
Und bin aufs Knie gesunken;
Ich hab von deiner weißen Hand
Die Tränen fortgetrunken.
Seit jener Stunde verzehrt sich mein Leib,
Die Seele stirbt vor Sehnen;
- Mich hat das unglücksel'gen Weib
Vergiftet mit ihren Tränen

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TRÄUMEREI

Schattenküsse, Schattenliebe,
Schattenleben, wunderbar !
Glaubst du, Närrin, alles bliebe
Unverändert, ewig wahr ?
Was lieblich fest besessen,
Schwindet hin, wie Träumerein,
Und die Herzen, die vergessen,
Und die Augen schlafen ein.

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ÜBER DEUTSCHLAND

Wenn ich, beseligt von schönen Küssen,
In deinen Armen mich wohl befinde,
Dann mußt du mir nie von Deutschland reden,
- Ich kanns nicht vertragen - es hat seine
Gründe.

Ich bitte dich, laß mich mit Deutschland in Frieden !
Du mußt mich nicht plagen mit ewigen Fragen
Nach Heimat, Sippschaft und Lebensverhältnis;
- Es hat seine Gründe, ich kanns nicht vertragen.

Die Eichen sind grün, und blau sind die Augen
Der deutschen Frauen: sie schmachten gelinde
Und seufzen von Liebe, Hoffnung und Glauben;
- Ich kanns nicht vertragen - es hat seine Gründe

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DEINE WEISSEN LILIENFINGER
Deine weißen Lilienfinger,
Könnt ich sie noch einmal küssen,
Und sie drücken an mein Herz,
Und vergehn in stillem Weinen !
Deine klaren Veilchenaugen
Schweben vor mir Tag und Nacht,
und mich quält es: was bedeuten
Diese süßen, blauen Rätsel ?
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György Konrád, ungarischer Schriftsteller (* 02. April 1933 in Berettyóújfalu nahe Debrecen, Ungarn)

.
VERSCHWINDEN
.
In der Heimat
Vermisst dich niemand
In der Fremde
Erwartet dich niemand
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Jörg Fauser (*16. Juli 1944 in Bad Schwalbach/Taunus; + 17, Juli 1987 zwischen Feldkirchen und München-Riem)
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LIEBESDICHT
22. November 1978

Als wir uns liebten,
liebten wir uns selbst nicht.

Als wir uns den Krieg erklärten,
gaben wir uns schon verloren.

Als wir geschlagen waren,
bemühten wir die Geschichte.

Als wir allein waren,
übertönten wir sie mit Musik.

Als wir uns trennten,
blieben wir am gleichen Ort,

So lagen wir uns bald wieder in den Armen
und nannten es ein Liebesgedicht.

Aber kein Liebesgedicht erklärt uns
Die Angst der Liebe,
und warum der Himmel so blau war,
als wir uns trafen,
und warum er immer noch blau sein wird
wenn wir sterben werden.

Du für dich,
ich für mich

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KARFREITAG

Als er die Schuhe anzog,
riß ein Schnürsenkel.
Er aß eine Scheibe Brot
und eine halbe Zwiebel
und trank den Rest Büchsenmilch,
mit Wasser gemischt,
Er hatte noch 8 Mark 40.

Am Nordfriedhof
hockten die Raben
in den Bäumen,
Von den Bauzäunen rann
der Schnee und löste
die alten Faschingsplakate ab.

Die Kneipen hatten dicht,
In der Imbißbude trank er
ein schnelles Bier,
Es schmeckte nach Plastik.
Die Leute waren stumm
und starrten ihn an

Auf der Georgenstraße
lief er fast in einen BMW
vor die Haube. Der Fahrer
drohte mit der Faust.

Im Isabella zeigten sie
Filme über die Angst.
Die Zeitungskästen
waren alle leer.

Zu Hause fand er noch
eine Dose Tomatensuppe, löffelte
sie mit Brot, las einen
Spillane, wichste
sich einen ab und beschloss,
Morgen früh aufzustehen,
um doch den Toaster
zu versetzen. Und er dachte,
Dass er den ganzen Tag mit zwei
Worten ausgekommen war:
Ein Bier, Christus am Kreuz
hatte mehr gebraucht.

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Hans Magnus Enzensberger (*11. November 1929 in Kaufbeuren)
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DIE PARTY
Nein. langweilig war es nicht bei euch,
trotz allem. Genug zu essen, fast immer (unvergeßlich
die Himbeertörtchen), und dann dieser Sternenhimmel !
Fabelhaft ! Beizeiten, Mama,
hast du die Windeln gewechselt,
Die Schuhe waren bequem.
Sogar die Heizung hat funktioniert.
Ausgerichtet habe ich nichts.
Keinen Diktator umgebracht,
kein Massaker verhindert.
Glück habt ihr ertragen
meine Liebegeschichten,
meine Witze und meine Wut.
Nett von euch. Auch der Notarzt
war pünktlich zur Stelle. Bitte,
laßt euch nicht stören !
Gute Unterhaltung weiterhin
wünscht der Verblichene.

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Martin Niemöller (*14. Januar 1892 in Lippstadt; + 6. März 1984 in Wiesbaden) - Theologe, Häftling im Konzentrationslager Sachsenhausen, Widerstandkämpfer gegen den Nationalsozialismus
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Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie die Sozialisten einsperrte,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialist.
Als sie die Juden einsperrten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen
mehr, der protestieren konnte.

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Katharina Lanfranconi (20*Juni    1948 in Luzern / Schweiz)
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r e i s e

tätest du diese reise
du hieltest steine in der hand
die wie nie berührte körper sind
und wortlos stündest du einsam
im gleichen kargen feld
umhüpft von schreienden raben
später stiesset du
am verrauchten ort
auf jenen gitarrenspieler
im arm sein instrument
dessen gesprungene
saiten von ihm wegstarren,
als läge er im schilf
und schaute in den himmel
allein mit seiner musik.

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Franz Kafka (*03. Juli 1883 in Prag; +03. Juni 1924 bei Klosterneuburg/Österreich)
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KÜHL UND HART

Kühl und hart ist der
heutige Tag,
Die Wolken erstarren.
Die Winde sind zerrende Taue,
Die Menschen erstarren,
Die Schritte klingen metallen,
Auf erzenen Steinen,
Und die Augen schauen
weite weiße Seen ...

... Wolken, die über grauen Himme ziehn
vorüber an Kirchen
Mit verdämmernden Türmen,
Einer, der an der Quaderbrüstung lehnt
und in das Abendwasser schaut,
die Hände auf alten Steinen.

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Bertholt Brecht (*10. Februar 1898 in Augsburg; + 14. August 1956 in Berlin)
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Die Schwachem kämpfen nicht.
Die Stärkeren kämpfen vielleicht eine Stunde lang.
Die noch Stärkeren sind, kämpfen viele Jahre.
Aber die Stärksten kämpfen ihr Leben lang.
Die sind unentbehrlich.

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Elli Michler (*12. Februar 1923 in Würzburg; lebt in Bad Homburg im Taunus)
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WO DU GELIEBT WIRST ... ...

Wo du geliebt wirst,
kannst du getrost alle Masken ablegen,
darfst du dich frei und gnaz offen bewegen.

Wo du geliebt wirst,
zählst du nicht nur als Artist,
wo du geliebt wirst,
darfst du so sein, wie du bist,
Wo du geliebt wirst,
musst du nicht immer nur lachen,
darfst du es wagen, auch traurig zu sein.

Wo du geliebt wirst,
darfst du auch Fehler machen
und du bist trotzdem nicht hässlich und klein,
Wo du geliebst wirst.
darfst du auch Schwächen zeigen
oder den fehlenden Mut,
brauchst du die Ängste nicht zu verschweigen.
wie das der Furchtsame tut.

Wo du geliebt wirst,
darfst du auch Sehnsüchte haben,
manchmal ein Träumender sein.
und für Versäumnisse, fehlende Gaben
räumt man dir mildernde Umstände ein.

Wo du geliebst wirst.
brauchst du ncicht ständig zu fragen
nach dem vermeintlichen Preis.
Du wirst von der Liebe getragen,
wenn auch unmerklich und leis.


ICH WÜNSCHE DIR ZEIT

Ich wünsche dir nicht alle möglichen Gaben,
Ich wünsche dir nur, was die meisten nicht haben:
Ich wünsche dir Zeit, dich zu freun und zu lachen,
und wenn du sie nützt, kannst du etwas draus machen.
Ich wünsche dir Zeit für den Tun und dein Denken
nicht nur für dich selbst, sondern auch zum Verschenken.
Ich wünsche dir - nicht zum Hasten und Rennen.
sondern die Zeit zum Zufriedenseinkönnen.
Ich wünsche dir Zeit - nicht nur so zum Vertreiben.
Ich wünsche, sie möge dir übrig bleiben
als Zeit für das Staunen und Zeit für Vertraun.
anstatt nach der Zeit auf die Uhr nur zu schaun.
Ich wünsche dir Zeit, nach den Sternen zu greifen.
und Zeit, um zu wachsen, das heißt, um zu reifen,
Ich wünsche dir Zeit, neu zu hoffen, zu lieben.
Es hat keinen Sinn, diese Zeit zu verschieben.
Ich wünsche dir Zeit, zu dir selber zu finden.
jeden Tag, jede Stunde, auch um Schuld zu vergeben.
Ich wünsche dir: Zeit zu haben zum Leben !
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