Samstag, 7. September 1996

Monsieur Maigret ist eine Frau in Paris




























Frankreich verfügt pro Einwohner über die meisten Sicherheitskräfte in Europa. Doch Polizistinnen wie Polizisten haben das Gefühl, von der Bevölkerung verachtet zu werden. Pistole in der Tasche - Stimmung auf Halb-mast, Übergriffe auf Revieren, hohe Selbst-mord- und Scheidungsraten, schlechte Moral, schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung - Überstunden. Jeder zweite Franzose hält die "femmes-flics nicht für richtige Frauen.


Frankfurter Rundschau
7. September 1996
von Reimar Oltmanns

Im Untergeschoss, einem früheren Kohlenkeller, be-finden sich die Privatquartiere des Polizei-Reviers von Montbéliard: einem 35.000 Einwohner zählenden Städt-chens nahe der Schweizer Grenze, etwa 80 Kilometer von Basel entfernt. Das Souterrain, auch "U-Boot" genannt, ist sehr gut besucht von den 170 Ordnungs-hütern und zehn Polizistinnen, die hier täglich ihrem Dienst nachgehen. Fensterlos reihen sich die Kantine neben Umkleideraum aneinander.

KEINE UNIFORM AUF DEM HEIMWEG

Wie vielerorts in Frankreich wagt es auch in Mont-béliard kein Ordnungshüter mehr, seine Uniform außer der Dienstzeit - etwa auf dem Heimweg - zu tragen. Der Polizeistatus schützt die Beamten keineswegs vor Aggres-sionen. Folglich herrscht vor den Spinden auf kleinstem Raum Hochbetrieb. Hauptwachtmeisterin Simone Cuvelier, 32, sagt: "Wir haben schon recht lange das Gefühl, bei der Bevölkerung unbeliebt zu sein und von staatlichen Institutionen verachtet zu werden." Ganz nach dem Überlebensmuster, Pistole in der Tasche, Stimmung auf Halbmast, versucht jeder, schnell in eine beliebtere, zivile Rolle zu schlüpfen - "nur raus aus den Polizei-Klamotten".

KEINE SOZIALARBEITERINNEN

Dafür sind um den großen Tisch in der Kantine die Sandwiches üppig, da das Essen hier sehr preiswert ist. Muss doch ein junger Polizist monatlich mit cirka 1.230 Euro auskommen. Gebrutzelt wird hier rund um die Uhr. Koch Laurent, ein Muskelprotz mit Schürze, unter-hält sich mit seiner Kollegin Hauptkommissarin Marie-Julia Aranda über die französischen Geiseln, die in Algerien entführt worden sind. "Wenn sie ermordet wären", erklärt der Küchenchef, "hätten wir zum Maschinengewehr gegriffen und wären auf die in Barbès losgesprungen." (Barbès ist ein Ausländerviertel in Paris und gilt als Synonym für Überfremdung.) Kommissarin Maria-Julia erwidert kühl: "Wenn alle gescheitert sind, die Politiker, die Arbeitgeber, die Erzieher, die Eltern, dann bricht alles auf uns ein." Und sie fragt: "Aber was können wir eigentlich tun gegenüber diesem Scheiß- haufen an Elend?


MASCHINENPISTOLEN ? - KEINE LÖSUNG

Mit der Maschinenpistole herumzufuchteln, das ist keine Lösung. Doch Sozialarbeiterinnen sind wir schließlich auch nicht." Kollegin Jacqueline, die zuhört, erhärtet die Identitätskrise der französischen Polizei. Sie bemerkt: "In einer zunehmend regelloseren Gesellschaft werden wir als Ordnungskräfte für nahezu alles verant-wortlich gemacht, und unser Ruf rutscht in den Keller. Dabei ist die Situation so erstarrt, dass es keinen Sinn macht, Fleiß oder sogar Verständnis zu zeigen. Vor-beugung, Abschreckung durch Anwesenheit. Dass ich nicht lache. Angst haben wir."

ÜBERGRIFFE, ÜBERLEBEN ... ...

Unerwartet, geradezu über Nacht, erfahren alte Fragen des Polizisten-Selbstverständnisses in Montbéliard und anderswo in der französischen Republik eine verschärfte Aktualität - auch als "Polizei-Krise" gebrandmarkt. Ob Jacqueline Simone oder Marie-Julia - gemeinsam mit 15.000 Kollegen machten sie sich in Sonderzügen zur Demonstration gen Paris auf. Auf ihren Transparenten stand ge-schrieben: "Schlechte Moral, schlechte Arbeits-bedingungen, schlechte Bezahlung - wir haben es satt" (Pas le moral, de mauvaises conditions de travail, mal payés; on en a marre). Tatsächlich steigen in kaum einem anderen Beruf so viele junge Männer und Frauen bereits während der Ausbildung wieder aus, drücken Krankheit, Tod und vorzeitige Aufgabe das "durch-schnittliche Dienstaustrittsalter" auf knapp 55 Jahre. In kaum einem anderen Beruf lassen sich die Menschen so häufig von ihrem Ehepartner scheiden. Kein anderer Beruf hat ein so negatives Image wie der der "flics" (Polizei).

NORD-AFRIKANER GEPRÜGELT

Da prügeln in den Kommissariaten um Marseille Beamte Nordafrikaner schon mal krankenhausreif. Da verabreden sich Polizeioffiziere zu bewaffneten Raub-zügen in der Innenstadt von Lyon. Da vergewaltigen Staatsbeamte Frauen sozusagen bei Verhören auf ihren Dienststellen in Paris oder Toulouse. Das sind gerichts-kundige Alltagsschilderungen illegaler Polizeigewalt im Nachbarland Frankreich Mitte der neunziger Jahre.


SELBSTMORD-GEFAHR

Zudem - in keinem anderen Beruf gibt es eine derartige Selbstmordgefährdung wie in dem des französischen Gendarmen. Laut offizieller Statistik des Waisenamtes der Polizei tötet sich in Frankreich alle neun Tage ein Uniformierter von eigener Hand. Neunzig Prozent der Beamten benutzten zum Selbstmord ihre Dienstpistole der Marke Nanurhin. Auffallend ist, dass es fast aus-schließlich Männer sind, die den Freitod wählen. Die Pariser Soziologin Frédérique Mezza-Bellet nennt in einer internen Suiziduntersuchung für das Innen-ministerium drei Gründe, warum immer mehr Polizisten Selbstmord begehen. Sie schreibt: "Die Arbeitsbe-dingungen sind dürftig. Sie ermöglichen kein stabiles Familienleben mehr. Aus der hohe Scheidungsquote resultieren extreme Überschuldungen. Vornehmlich bei Männern sind geistige Verschleißerscheinungen zu konstatieren, die zum finalen Todesschuss gegen sich selbst führen. Ständig dasselbe Elend oder dieselben tristen Zustände vor Augen zu haben, einen Alltag zwischen zwischen schnell wechselnder Angst und Routine, Gefahr und Langeweile zu erleben - das greift letzt endlich die psychische Konstitution an, schiebt gefühlsarme Reaktionen oder auch Selbstwerterlebnisse beiseite. In Wirklichkeit kann die Erinnerung an den mitverursachten gewaltsamen Tod eines Bürgers nur halbwegs unterdrückt, tatsächlich aber nie vergessen werden."

CHEF DER PARISER SITTENPOLIZEI - EINE FRAU

Dabei sind Frankreichs Politiker in ihrer Selbstdar-stellung prestigebewusst darauf bedacht, die innere Sicherheit zu einem prosperierenden Eckpfeiler franzö-sischer Politik ausgebaut zu haben. Tatsächlich verfügt die französische Republik pro Einwohner über die meisten Sicherheitskräfte in Europa. Die "Police Na- tional" kann auf 126.163 Beamter, die dem Verteidi-gungsministerium unterstehen, "Gendarmerie Na- tional" auf 80.000 Polizisten zurückgreifen. Hinzu kommen nach weitere 80.000 Hilfssheriffs privater Sicherheits-dienste. Allein in der Hauptstadt Paris sind ständig 20.000 Polizeibeamte im Einsatz. Und für besondere delikate Konflikte - Raub, Geiselnahme, Bombenan-schläge, Demonstrationen - stehen die 16.000 auf Straßenkampf trainierten Polizisten der "Compagnies républicaines de sécurité" (CRS) in über sechzig Einheiten - übers Land verteilt - bereit.

Für die Verbrechensbekämpfung vor Ort sowie für die Ausstattung der Polizei gibt der Staat von 1995 bis 1999 insgesamt etwa 3,05 Milliarden Euro aus. Mit weiteren 380.000 Euro sollen zudem viertausend neue Hilfs-polizisten bezahlt werden.

Nur Frauen als Polizistinnen, noch dazu in Führungs-etagen - die waren in Frankreich bis 1975 gar nicht vorgesehen. Bestätigte doch eine eigens in Auftrag gegebene Untersuchung der französischen Regierung zudem, "dass die Polizisten-Funktionen mit dem Frausein unvereinbar ist."


BRIGADE CRIMINELLE

Szenenwechsel - zwei Jahrzehnte später. Im Zimmer 315 am Quai des Orfèvres - dem Sitz der Brigade Criminelle - liegt im Schrank die Ausrüstung für eine Polizistin in diesen Tagen: Jeans, Jacke, Pistole, Funkgerät, Hand-schellen, Sportschuhe. Am Schreibtisch sitzt im kurzen Rock mit eleganter Bluse eine Frau, die im Jahre 1989 den härtesten Job der Hauptstadt-Gendarmen bekam. Seither ist die 46jährige Martine Monteil die Vorge- setzte von 110 Beamten. Zum ersten Mal in der franzö-sischen Kripo-Geschichte wurde eine Frau Chefin der Pariser Sittenpolizei und des Rauschgiftdezernats.

Auf dem Montmartre hat Martine Monteil es mit korsischen Zuhältern zu tun, mit Straßenmädchen am Place Pigalle, mit brasilianischen Transvestiten im Bois de Boulogne und mit verdeckter Kinderprostitution am Gare de Lyon. Wenn Martine Monteil von aufgeregten Menschen in ihrem Büro aufgesucht wird, lautet die angsterfüllte Frage meist: "Pardon Madame, wo ist eigentlich der Kommissar?" An die tausend Mal hat die Karriere-Polizistin gelangweilt geantwortet: "Monsieur Maigret ist nun mal eine Frau in Paris. Und die bin ich!"

LIEBESVIERTEL - MONMARTRE

Erste Hinweise auf eine feminine Berufsauffassung und auch auf qualitative Veränderungen in der Polizeiarbeit lieferte Martine Monteil schon als junge Kommissarin im 17. Arrondissement, dem undurchsichtigen Liebes-viertel unterhalb des Monmartre. Ein Serbe hatte drei Frauen vergewaltigt und erwürgt - immer in einer Tiefgarage. Nur die zweifelsfreien Beweise, um den Mann zu überführen, reichten nicht. Eine Nacht hat Martine Monteil dann mit dem Täter geredet, ihn systematisch verhört, ohne Notizblock und Aktenordner, ihm alle Einzelheiten beharrlich immer wieder vorgehalten - bis er mürbe wurde. Er gestand.

Ihr antiker Schreibtisch in der fünften Etage des Polizei-Hauptquartiers ist nahezu leer. "Akten brauche ich nicht, ich weiß die Einzelheiten auch so, schließlich habe ich Jura studiert und Examen gemacht. Da wird das Gedächtnis durchtrainiert", strahlt sie siegesgewiss.

VERGEWALTIGER DURCH DIE REPUBLIK JAGEN

Madame Martine zählte zum zweiten Frauen-Jahrgang auf der Polizeischule in Saint-Cyrau Mont d'Or, die seit 1975 auch Polizistinnen ausbildet. Es ist eine Frauen-Generation, die in Frankreich erst ganz allmählich, dann aber immer deutlicher Ermittlungsmaßstäbe verschob - hin zur kriminalistischen Frauen Wahr-nehmung Ihre einstige Mitschülerin Mireille Balle-strazzi leitet heute das Kripo-Regionalbüro im korsi- schen Ajaccio, und Danielle Thièry sorgt sich um die Flug-sicherheit bei der Air France. Als diese drei Frauen noch die Schulbank drückten, da haben sie sich auf eine weibliche Ausgangsposition verständigt, die es nunmehr im Polizieialltag umzusetzen gilt. "Wenn wir dort draußen irgendwo im Einsatz sind, wird es einen neuen Röntgenblick geben. Wir werden Vergewaltiger durch die ganze Republik jagen und erst mit einem Geständnis Ruhe geben."


FRAUEN-PRÄSENZ

Nur so ist es mittlerweile zu erklären, warum in Frank-reich die zu Protokoll gegebenen Vergewaltigungsfälle um zwölf Prozent gestiegen sind. Madame Martine bedeutet:"Durch die erstarkte Frauen-Präsenz in unseren Straßen trauen sich immer mehr Vergewalti-gungsopfer, das Verbrechen zu benennen und Straf-anzeige zu erstatten. Wir haben auch unseren Poli-zistinnen das Bewusstsein geschärft: Achtet auf diese Männer, auf ihre Bewegungen, auf ihre Blicke."

Mittlerweile verfügt Frankreich über 31.000 Poli-zistinnen. Das entspricht einer Quote von 15 Prozent. (In Deutschland beträgt der Frauenanteil cirka sieben Prozent).

"Die Polizistinnen sind natürlich keine Wundertiere", urteilt Michel Richardot, Direktor der Staatlichen Hochschule für Polizei in Saint-Cyr am Mont d'Or. "Aber sie haben unsere Arbeit qualitativ erheblich verbessert in diesen sozial zerrissenen Zeiten. Sie sind scharfsinnig, nicht so draufgängerisch, eben rechts-staatlicher als Männer. Keine Polizistin ist in einem der berüchtigten Gewaltskandale verwickelt. Frauen in Uniform können nachweislich vor allem eines - den öffentlichen Frieden in Polizei-Revieren oder auch im Stadtviertel wieder herstellen."