Samstag, 19. August 1995

Frische Luft für die Gesellschaft







































Als Kunststudentin an der Pariser École du Louvre lebte die Konservatorin Marie-Françoise Poiret schon im 19. Jahrhundert - in den Museen und Grands Palais. Ob nun in der Provinz in Bourg-en-Bresse am Musée de Brou oder dann wieder im Musée d'Orsay, der Louvre, das Musée national d'art moderne oder auch das Centre Pompidou - eine zentrale Frage durchdrang jedwede Epochen. Wie viel Architektur braucht die Macht, um sich zu profilieren. Wie viel Macht braucht die Archi- tektur, um von sich reden zu machen? - Männer-Grandeur. Frauen-Befunde.

Frankfurter Rundschau
vom 19. August 1995
von Reimar Oltmanns

Als junge Kunststudentin an der École du Louvre lebte Marie-Françoise Poiret schon ein bisschen wie im 19. Jahrhundert; genauer gesagt im Paris der Museen und Grands Palais, die in ihrer Monumentalarchitektur allenfalls drei Fixsterne vergangener Jahrhunderte dulden: Kunst, Kultur und natürlich Paris als "wahrlich kulturelle Hauptstadt der Welt" - als markanter Brenn- spiegel einer vom französischen Kunstverständnis geprägten Epoche.

SELBSTFINDUNG IN SACHEN KUNST

Es waren erst die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts, in denen Frankreichs Frauen erstmals ihre Selbstfindung in Sachen Kunst wie auch Architektur suchten. Jene Ära des Aufbruchs schuf ein offenes, diskussionsfreudiges Klima. Erstmals wurde der gesellschaftliche Zustand der Republik transparent anhand der Kunst reflektiert - ein latente Antifeminismus der Kulturnation wurde dabei ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Es waren auch die Jahre der Fotografin Annette Messager, die nachfolgende Frauen-Generationen beeinflussen sollten. In ihrer Pariser Ausstellung des Jahres 1977, "Die Por- träts der Geliebten", geißelte sie mit ironisch-bissigem Blickwinkel das von der Werbeindustrie vorfabrizierte Image der Feminität. In ihren späteren Exponaten rückte Annette Messager das eigene Verlangen, ihre Gefühle in den Mittelpunkt. Oder auch die Malerin Anne Marie Jugnet. Mit ihren Botschaften wehrt sie sich gegen das "Gefühl des Blindwerdens" durch unent- wegte Reizüberflutung samt austauschbarer Bilder- bombardements in Massenmedien.

Zumindest aus diesem noch zaghaft keimenden gesell- schaftlichen Klima eines künstlerischen Frauen-Em- pfindens heraus entwickelte Marie-Françoise Poiret ihr Berufsziel: Sie wollte Konservatorin werden. Nur Französinnen , die waren in über zweitausend Museen der Republik nicht vorgesehen. Dementsprechend tauchte der französische Frauenanteil an den Kultur- gütern der Nation in früheren Jahrzehnten auch in keiner Statistik auf.

"GESICHTSLOSE VAGINA"

Frankreich im Sommer '95 - ein Bild macht Furore und gibt zugleich den Blick frei auf den scheinbar konser- vierte kulturelle Gemütslage der Republik. Im Pariser Musée d'Orsay hängt neuerdings auch Gustave Cour- bets kleines Bild "L'Origine du monde" (Ursprung der Welt). Es zeigt, wie der Pariser "Nouvel Observateur" schrieb, "ein seidenglattes Geschlecht mit einsamer Begierde" - einen Frauenkörper ohne Gesicht. Dafür einen liegenden Torso mit geöffneten Beinen. Im Jahre 1866 hatte es Gustave Courbet gemalt. Seither war es weitgehend der Öffentlichkeit entzogen. Kaum jemand ahnte, dass die "gesichtslose Vagina" seit 1955 der fran- zösische Psychoanalytiker Jacques Lacan in seinem Landhaus versteckte. Er starb und seine Erben spen- deten es dem Staat, um so der Erbschaftssteuer zu entgehen.

Die französische Kunst hatte ihr Thema - ihr sommer- liches Frauenthema. Gewiss wird dabei vordergründig über Grenzüberschreitungen, dumpfe Zurschaustellung, gar Frauendiskriminierung geredet. Aber allenfalls in winzigen Sprechblasen oder Begleitsätzen zum üppig veröffentlichten Vierfarbfoto in fast ausnahmlos allen Illustrierten; als Entlastung des sittsam genormten Anstands sozusagen. "Ja", stöhnt die Kasseler Leiterin der documenta '97, die Pariser Kuratorin Catherine David, unser Kunstbegriff ist revisionsbedürftig. Kunst ist nun mal kein weibliches Konsumprodukt."


MÄNNER-GRANDEUR VERBLICHENER TAGE

Wohl in keinem anderen Land der westlichen Welt ist die Verbindung zwischen Kunst, Machtpolitik samt ihrer Identitätsgeschichte so prestigebedacht eng gezurrt wie in Frankreich. Wohl keine Kulturnation starrt so inständig auf längst verflossene Jahrhunderte, die da Grandeur - Männer-Grandeur - verhießen, um "für Ruhm und Stabilität" der Republik zu sorgen, wie es in zahlreichen Erlassen so mancher Innen- minister unterschiedlichster parteipolitischer Couleur geschrieben stand. Wenn überhaupt jemand sich in Frankreich in einem Museum engagieren durfte, musste er sich nach seinem obligatorischen Kunststudium bis dato einem individuellen Tauglichkeitstext unterziehen. Weltweit ein einmaliges, vornehmlich Frauen selek- tierendes Männer-Spektakel. Eben ein willkürliches Prüfungsverfahren, das keine allgemein gültigen Quali- fikationskriterien kannte. Marie-Françoise spielte für ihr Konservatoren-Examen noch "Monopoly", wie sie es nennt. "Qui, quoi, où" (wer, was, wo) waren in jenem Beziehungsgeflecht allemal hilfreicher als Kenntnisse und Ideen.

MILIEU AUS ANDEREN WELTEN


Marie -Françoise sagt: "Frauen werden in ihrem Selbst- wertgefühl nicht gestärkt und auch nicht ermutigt, in die Männer-Domänen einzudringen, wenn sie unter Männer-Dominanz ausgebildet werden." Erst mit der Schaffung des "Instituts International d'Historie des Arts et du Patrimonie" - im Jahre 1993 in der Ära des sozialistischen Kulturministers Jack Lang - wurden allgemein verbindliche Ausbildungswege beschlossen, eine Ungerechtigkeitslücke gestopft. "Das brachte", bemerkt die im Jahre 1994 ernannte Direktorin der Musée de France, Françoise Cachin, "viel frische Luft in diese miefige Gesellschaft hinein." Ein von der Außen-welt abgeschirmtes Milieu, dem seit dem 19. Jahr- hundert keinerlei Veränderungen widerfuhr. Hieß ihre Institution, die immerhin 34 Staatsmuseen verwaltet und zudem die Aktivitäten weiterer tausend unter ihrer Obhut betreut, doch bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch bezeichnenderweise "Musées Napoléon".

Ganz plötzlich waren sie da - Frankreichs Frauen in den männlich geschützten Kulturhochburgen von ehedem. Der leise Frauenmarsch durch die ehrwürdigen Institu- tionen, durch die Vernissagen der Schlösser und der oft verschlummerten Provinzmuseen der Republik hatte be- gonnen - nachhaltig und alsbald in der Überzahl.

Im gesamten Kulturbereich Frankreichs vermochten Französinnen in den vergangenen vier Jahren ihr Engagement (auch in Teilzeitarbeit) um 30 Prozent steigern. In Zahlen: Anno 1988 waren es 51,4 Prozent im Jahre 1992 schon 81,4 Prozent. Im Bereich der Bilden- den Künste erreichten Studentinnen ein Patt. An der renommierten École du Louvre sind die Frauen auf dem Vormarsch. Nur noch 534 Männer lernten im Jahr 1994 an dieser Hochschule, die die Konservatoren ausbildet. Dafür saßen im selben Zeitraum insgesamt 2.438 Frauen (82 Prozent) in den Hörsälen.

Mit der 59jährigen Kunsthistorikerin Françoise Cachin - sie ist die Enkelin des neoimpressionistischen Malers Paul Signac (*1863+1935) - steht seit 1994 zum ersten Mal überhaupt eine Frau an der Spitze der französi- schen Museen. Immerhin zählt der Louvre in Paris jährlich mit fünf Millionen Besucher, das Centre Pompi- dou betreten täglich 26.000 Menschen (pro Jahr 7,7 Millionen). Ob Französinnen oder Touristinnen - auf jeden Fall sind es Frauen, die die Mehrheit der Museumsbesucher stellen.

PRESTIGE, MACHT, RENOMMÉ

"Das große Problem Frankreichs ist", gesteht Madame Cachin, "dass man immer Geld für Prestige-Investi- tionen hat. Geht es dann aber um den Unterhalt, den Alltag, die weniger medienträchtigen und glanzloseren Posten, schließen sich die Geldhähne." Immerhin stehen dem Land laut Kulturbudget 1995 insgesamt 2,04 Milliarden Euro zur Verfügung. Es war eine alte Forder- ung der einst regierenden Sozialisten, dass der Kultur- etat im Gesamthaushalt des Staates wenigstens ein Prozent ausmachen sollte. Dieses ehrgeizige Ziel ließ sich zeitweilig auch erreichen. Nur mit dem politischen Akzent: In der Mitterrand-Ära (1981-1995) wurden keine der sogenannten großen Projekte des Präsidenten außerhalb der Hauptstadt realisiert.

Szenenwechsel - ins ländliche, innere Frankreich. Das Musée de Brou im Kleinstädtchen Bourg-en-Bresse im Dreieck zwischen Genf, dem Ort Macon und der Metro- pole Lyon vermittelte bis weit in die siebziger Jahre hinein den Eindruck provienzieller Verschlafenheit - bis die Frauen aus dem fernen Paris kamen und einen "ver- wahrlosten Schatz" vorfanden.

MUSEUM AUS LIEBE ERBAUT

Ob in den Museen in Bordeaux, St Etienne oder auch Grenoble - unmerklich belegte die Kunst in Frankreich verschiedene Regionen mit aufs Land verschickte
Restauratorinnen. In Bourg-en-Bresse war es ein Kloster neben einer Kirche aus der Frührenaissance. Imposant von außen, hoch und hell im Interieur steht sie am Stadtrand. Gebaut wurde die Eglise de Brou in den Jahren 1505 bis 1536 im Auftrag Margaretes von Öster- reich von dem flämischen Baumeister Louis von Boghen. Sie ist, so wissen Kunstführer zu be- richten, "eines der drei Gebäude der Welt, die aus Liebe errichtet wurden." Margarete, Tochter des Kaisers Maximilian von Öster- reich, wollte ihrem Mann ein Denkmal setzen. Er, der Herzog Philibert der Schöne von Savoyen (1480-1504) , starb nämlich nach nur dreijähriger Ehe im Alter von 24 Jahren.

Drei Kreuzgänge sind dem Gotteshaus angebaut worden. Hier versteckte sich früher ein Kunstmuseum vor der Öffentlichkeit wie einst die Augustinermönche ihren Sammeleifer. Mittlerweile könnte jenes Provinz- museum als dezenter Hinweis gedeutet werden, was Frauen zu leisten vermögen, wenn man sie nur ließe.

PROVINZ-GEMÄUER

In einem kleinen, hinteren Erker hockt die 48jährige Museumsdirektorin Marie-Françoise Poiret an ihrem Schreibtisch. In früheren Jahren, da hatte Marie-Françoise nur den Louvre im Kopf. Unvorstellbar war für sie, sich einmal von Paris zu verabschieden. Als ihr die Direktorinnen-Position (Verdienst monatlich 3.100 Euro) Ende des siebziger Jahrzehnts angeboten wurde, da wusste sie auf Anhieb nicht, "wo dieses verdammte Provinznest liegt". Doch Marie-Françoise nahm an, weil sie wusste, dass jeder Direktor dem Museum seinen individuellen Stempel aufdrückt - für Marie-Françoise ihre Frauendiktion.

Zehn Jahre später ist das Musée de Brou für Einge- weihte kaum wieder zu erkennen. Ob in den Büros, Bibliotheken oder auch Ausstellungshallen - weit und breit sind es nur Frauen, die begutachten, werkeln, richten; zehn an der Zahl. Männer fehlen in der Führungsetage; aber es gibt fünf Pförtner oder Auf- seher im Erdgeschoss.

Unbehagen äussern jene Museumsfrauen, weil die Öffentlichkeit zur Jahrhundertwende Frauen in der Kunst immer noch für ungewöhnlich hält. Für die Museumsfrauen sind Künstlerinnen eine Selbstver- ständlichkeit. Dabei ließen sich Marie-Francoise mit ihren Kolleginnen wohl kaum auf einen Stellungskrieg zwischen weiblicher und männlicher Kultur ein. Sie lacht und murmelt: "Eher führen wir hier subversiv Regie." - "Ja, ja", fährt sie fort, "der Bürgermeister hat einen Fehler gemacht, mich hier einzustellen. Wir krempeln Stück um Stück das ganz Museum um."

Was so viel heißt: raus mit den vermotteten Utensilien napoleonischer Beutezüge, die irgendwo in den Kellern einlagern; raus mit den Exponaten lokaler Größen längst verblichener Tage. Es waren vornehmlich Männer aus dem 19. Jahrhundert, deren Konterfeis Schleifen und Kränze eine verstaubte Würde verliehen.

Das Provinzmuseum Brou und seine Konservatorinnen - das sind Frauenbrüche oder auch der langsame Ab- schied von glorreich hochgehaltenen Männertagen, die da als Kunst daherkamen. Auch wenn ihr Etat zur Zeit keine Ankäufe zulässt, wollen sie rein in die zeitge- nössische Kunst, wollen ausstellen, thematisieren, dis- kutieren, wollen rein in die Schulen, um für Kinder den eher abstrakten Kunstbegriff erlebbar zu vermitteln.

GELD-MANGEL

Wenn da nur nicht die Geldsorgen wären. Marie-Françoise verwaltet jährlich etwa 140.000 Euro für neue Präsentationen und den jeweiligen Katalogdruck. Die Stadt kommt mit etwa 550.000 Euro für Personal- ausgaben, Computer- und Telefonkosten, Strom etc. auf. In der Mitterrand-Ära stand den Museumsfrauen für den Ankauf von Kunstwerken ein von Paris bezu- schusster Betrag zwischen 23.ooo und 180.000 Euro zur Verfügung - je nach Haushaltslage. Nur in diesem Jahr bekommt das Brou-Museum wie auch viele andere on der Republik nicht einmal mehr einen Cent aus Paris.

"Als wir noch reich waren", begeistert sich Brou-Konservatorin Marie-Dominique Nivière noch im nach- hinein, "da machten wir drei Ausstellungen im Jahr." "Nein", unterbricht Marie-Françoise, "wir haben 1982 auch schon mal zwölf Vernissagen organisiert. Da hatten wir Frauen einen richtigen Kunsthunger in dieser Region."

KLOSTERRUNDGANG

Es war die Zeit, als Marie-Françcoise in den Niederlanden auf den Bildhauer Richard Serrat stieß. Sie kamen überein, dass er mit zwei neu entworfenen Skulpturen dem Klosterrundgang Eintönigkeit nimmt. Der amerikanische Künstler sorgte für Wirbel in dem Städtchen Bourg-en-Bresse. Wütende Artikel in den Medien, Flugblätter besorgter Bürger, Protestgeschrei vierlerorts. Nur Marie-Françoise mit ihren Frauen blieb eisern - sie setzen Richard Serrat durch. Mit diesem Prestigekampf haben sie sich aber auch erst selber behaupten können. Seither steigt die Besucherzahl ihres Museums stetig. In früheren Zeiten kamen jährlich etwa 40.000 Menschen, um Frankreichs Epoche im 19. Jahrhundert zu bestaunen. Unter ihrer Frauenregie sind es inzwischen cirka 120.000 Besucher - ist das Musée de Brou zum attraktiven Touristenfaktor dieser Region geworden.

Nur eines ist geblieben, wie es schon immer war, wenn auch nur als Ritual. Wenn sich die Direktorin Marie-Françoise Poiret in den Abendstunden auf den Heimweg macht und sich vom Museumspförtner Jacques verabschiedet, ruft dieser - die Mütze aufsetzend - ein "bonne soirée, "Mademoiselle" hinterher.