Sonntag, 29. Mai 1994

Europa in 50 Sekunden




















Schnell - immer schneller sollen Fernsehbilder in die Wohnzimmer huschen. "Infotainment" heißt zu Neudeutsch das Schlagwort dieser Epoche. Nachrichten durch Showeffekte - Kriege als Nervenkitzel, Waffengänge als Quotenrenner. Und das in sieben synchro-nisierten Sprachen nahezu 18 Stunden am Tag.


Frankenpost, Hof
29. Mai 1994
von Reimar Oltmanns

Kriege legen bekanntlich Nervenkitzel frei. Erst recht, wenn neuzeitliche militärische Schlachten weltweit in Wohnzimmern am Fernseher minutiös zu verfolgen sind - als abendliches Unterhaltungsprogramm sozusagen, als Kassenfüller: Waffengänge als Einschaltquoten-Renner.

Die "Operation "Wüstensturm" im Jahr 1991 war in vollem Gang, ein Sieger des Golfkrieges stand noch gar nicht fest, da lösten jene dramaturgisch gekonnt inszenierten Gefechtsbilder des amerikanischen Erfolgssenders CNN mit seinem Frontberichterstatter Peter Arnett vom Dach des Hotels El-Raschid in Bagdad euphorische Selbstgewissheit aus. Im fernen malerischen Genfer Schloss Château de la Poupée wurde EuroNews aus der Taufe gehoben. Es war die visionäre Geburtsstunde des ersten paneuropäischen Kabel- und Satelliten-Nachrichtenkanals mit Sitz in Lyon. "Wir machen das Fernsehen der Zukunft. Wir brauchen die Amerikaner nicht, um uns für teures Geld die Neuheiten auf dem Globus zu erklären. Wir werden schon recht bald die Stimme Europas in der Welt sein", tönte der Italiener Massimo Fichera als neugekürter EuroNews-Präsident. Und sein Chefredakteur, der Franzose Gérard Decq, fügte hinzu: "Allen, die bei EuroNews arbeiten, ist es bewusst, dass sie zu einer einzigartigen Fernsehanstalt gehören. Der alte Kontinent wird Paroli bieten."
MODERNSTE TECHNIK
Seit dem 1. Januar 1993 - dem Starttermin des europäischen Binnenmarktes - strahlt EuroNews synchron in fünf Sprachen (Französisch, Englisch, Deutsch, Spanisch und Italienisch) sein tägliches 18-Stunden-Programm über den Satelliten Eutelsat II auf 13 Grad Ost aus. So wurde eine optimale Abdeckung des europäischen Rundfunkgebietes einschließlich des Mittelmeer-Raumes sichergestellt. Mit etwas größeren Antennen ist der EuroNews-Empfang auch im nördlichen Skandinavien, in Osteuropa und im nördlichen Afrika möglich. In vielen Ländern wurde EuroNews zudem ins Kabel eingespeist. Über elf Millionen Europäer können den Nachrichten-Sender aus Lyon aus der Steckdose empfangen.

Theoretisch erreicht EuroNews mit modernster Technik für Produktion wie Sendeablauf 41 Millionen Haushalte (etwa 110 Millionen Menschen).

Theoretisch. Welche Zuschauer sich EuroNews ansehen, wie oft am Tag, wie lange - keiner weiß es. Weder gibt es Reichweitenmessungen noch exakte Zielgruppen-Untersuchungen. Nicht einmal die Direktion hat einen präzisen Überblick darüber, wo denn nun EuroNews tatsächlich überall zu sehen ist.
JEDER MACHT ALLES
Schon seit dem Jahr 1988 bastelten Fachleute der Union Europäischer Rundfunkorganisation (UER) an einem tragfähigen, einheitlichen Konzept eines europäischen Nachrichtensenders. Ob Politiker oder Medienstrategen, sie alle waren sich darüber im klaren, dass dem Fernsehen beim Zusammenwachsen Europas eine Schlüsselrolle zufällt. Dabei gibt es so etwas wie EuroNews schon sehr lange - nur nicht als eigenständige Anstalt. Über den Programm-Pool "Eurovision" tauschen die Mitgliedländer der UER jährlich ohnehin etwa 16.000 Filmbeiträge aus. Da sich mit der "reinen Lehre der Nachrichten", wie es CNN den Europäern vormachte (CNN-Europa-Bilanz 1991: 41 Millionen Dollar Einnahmen über Wertbuchungen), offenkundig Geld verdienen lässt, wurde EuroNews gegründet - als Zweitverwertungsanstalt, als monotone Nachrichtenmaschine sozusagen.

Journalisten-Alltag bei EuroNews in Lyon. Amerikanisches Großraumbüro ohne Wände. Hunderte von Bildschirmen, Computer, lautes Sprachbabylon, nur junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahre alt, oft ohne Berufserfahrung, lockere Atmosphäre, hilfsbereite, wissbegierige junge Europäer - meist voller Erwartung eigens für EuroNews mit Sack und Pack aus fernen Städten direkt von der Uni nach Lyon zu EuroNews ohne Rückfahrkarte umgestiegen. "Bewusst", räsoniert Präsident Massimo Fichera, "stellen wir nur junge Menschen ein, von denen viele erst Schulabgänger sind. Sie sind nämlich noch enthusiastisch, haben noch keine dieser Berufsmacken." Und preiswert ist die mehrheitlich große Anzahl freier junger Mitarbeiter für den Sender außerdem. Von Sozialversicherungs- oder Krankenkassen-Beiträgen mögen die EuroNews-Oberen so gar nichts hören. Sie bleiben nur einer kleinen Kern-Mannschaft vorbehalten. Debütanten hingegen, die nach einer Zehn-Stunden-Akkordschicht mit etwa 70 Euro ins Bett fallen, dürfen sich glücklich schätzen. Profis kommen aufs Doppelte. Nur die sind nicht häufig zu sehen.
EUROPA - EINHEITSBREI
Jedenfalls nicht in der deutschen Redaktion. Beinahe täglich hängt Michael Unger, ehemals ZDF in Paris, zur Mittagszeit am Telefon. Mit auffällig leiser Stimme müht er sich schon seit Monaten ab, deutsche Kollegen für EuroNews zu gewinnen. Fast immer vergeblich. Entnervt zeigt Unger auf die Namen deutscher Redakteure im Computer. Gewiss - viele waren schon da. Mal eine, wenn es hoch kommt, mal drei Wochen. Nur keiner mochte sich auf Dauer einrichten. Schon ein kurzer Blick in die EuroNews Fabrik verrät die Arbeitsphilosophie: Hier kann jeder alles machen - und das durchgängig allein: Schneiden, Texten, Übersetzen, Sprechen, Von 6 Uhr morgens bis zwei Uhr nachts sendet EuroNews seine Nachrichten im 30-Minuten-Rhythmus. Das Filmmaterial liefert die "Eurovision". Aus dem Fundus darf der Sender beliebig schöpfen. In Lyon werden die Bilder neu gemischt und geschnitten; gemäß Optik, die Inhalte bestimmt, dürfen Reakteure in ihrer jeweils eigenen Sprache formulieren. Eben Texte, die in der Mehrzahl keine 50 Sekunden überdauern. Ob Kriminalität auf Sizilien, soziale Unruhen in Spanien, Unwetter in den Alpen oder Neonazis in Deutschland - eine Nachricht ist wie die andere, Europa ein Einheitsbrei.
SCHNELL UND SCHNELLER
Längst ist es bei EuroNews aktenkundig. Doch keiner kann unter diesen Arbeitsbedingungen Besserung loben, zumal Redaktionsbesprechungen auf Geheiß des Chefredakteurs Gérard Decq als "Zeitverschwendung" gelten. "Action" ist nun einmal oberste Maxime. Schnell und immer schneller sollen die Bilder in die Wohnzimmer huschen - atemlos zudem. Wird doch in Gruppen gearbeitet. Und wie diese sich mit welchen Journalisten zusammensetzen, weiß die Redaktionsleitung mit Bestimmtheit erst einige Stunden vor Wochenbeginn. Folglich kommen viele Texte flüchtig bis unbedarft daher, Aussprachefehler gehören en masse zum ständigen Wegbegleiter. Bis zum Überdruss drehen sich kaum aktualisierte Nachrichtenfilme in der Wiederholungsschleife. Einfach, weil die EuroNews-Mannschaft unterbesetzt, unterbezahlt und unterqualifiziert ist. Statt der erforderlichen 170 sind nur 120 Personen tätig. Und an der Spitze steht ein Mann, der nicht einmal die leiseste Vorahnung auf seiner Seite weiß, welche Formulierungen mit welchen inhaltlichen Tendenzen etwa in Deutschland, Spanien oder sonstwo über den Äther huschen. Gérard Decq parliert en français. Und damit hat es sich. Verständlich, dass er als Programmchef dieses ersten paneuropäischen Nachrichtensenders aus einer Not eine Tugend macht, am liebsten beschauliche Filme ohne jeden Informatioswert sendet. Decq befindet. "Alles spricht für sich, auch diese Aufnahmen. Basta!"

Alexander Homann vom Medienzentrum im ostbelgischen Eupen, der EuroNews sowohl in der Kombination deutsch-französisch als auch in Englisch-Französisch im Brüsseler Kabel hat, hält diesen Sender in seiner gegenwärtigen Verfassung für eine Fiktion. Er urteilt: "Die müssen noch viel an sich arbeiten, um nennenswerte Zuschauerzahlen erreichen zu können."
GEDULD ERSCHÖPFT
Vorbei sind jedenfalls die Jahre, in denen die französische Republik geduldig alles hinnimmt, was EuroNews der Öffentlichkeit, aber auch den Staats- und EU-Finanzen zumuten mag. Dabei schien Frankreich einst sogar ein bisschen stolz darauf zu sein, neben den Sendern ARTE (Straßburg), EuroSport (Paris) nun auch EuroNews in Lyon in seinem Land zu wissen. Dem vorausgegangen war eine erbitterte Konkurrenzschlacht zwischen siebzehn europäischen Städten um den Standort von EuroNews. Aus Deutschland hatte sich München beworben. Doch mit der Lyoner Offerte, 2,5 Millionen Euro für die Ausrüstung des Senders und auf 99 Jahre ein Gebäude mietfrei zur Verfügung zu stellen, da mochten die Bayern dann doch nicht mithalten. ARD und ZDF, die lange Zeit mit einem Engagement geliebäugelt hatten, haben sich ebenso wie die Engländer beizeiten aus dem waghalsigen Projekt zurückgezogen. Ihnen schien eine seriöse Finanzplanung auf mindestens zehn Jahre zu ungewiss.
WER BEZAHLT DIE DEFIZITE ?
Es war die französische Tageszeitung Le Monde, die in der Ära des Sozialabbaus das üppig subventionierte Finanzgebaren der Sendeanstalt und auch die "schweren Probleme mit der journalistischen Berufsethik" bei EuroNews kritisch hinterfragte - somit eine Trendwende einläutete. "Wer soll das Defizit bezahlen?", fragte Le Monde. In der Tat, Werbung gibt es so gut wie gar nicht, obwohl sie mit etwa fünf Millionen Euro im Etat veranschlagt wurde. Scheinbar irreparable Finanzlücken pflastern somit den EuroNews-Weg. Allein im ersten Jahr 1993 erwirtschaftete der öffentlich-rechtliche Sender einen Verlust von 6.5 Millionen Euro. Ohne gezielte Millionensummen der Europäischen Union hätte EuroNews längst den Weg zum Konkursrichter antreten müssen. Nur mit europäischen Steuergeldern lässt sich EuroNews noch künstlich beatmen. Zuschüsse über Zuschüsse fließen aus Brüssel oder Straßburg. Allein für das Jahr 1994 verdoppelte die Europäische Union ihre Finanzspritze auf umgerechnet 4,5 Millionen Euro. Für den Soziologie-Professor am Collège de France, Pierre Bourdieu (*1930+2002) "fehlen in Frankreich wie überall die kritischen Intellektuellen, die dieses Milieu der gegenwärtigen Selbstbeweih-räucherung, Selbstinszenierung stören würden."
KONTROLLEUR IM KNAST
Aber mittlerweile mag selbst der unternehmerfreundliche französische Kommunikationsminister Alain Carignon kaum noch für undurchsichtige Geldausgaben von EuroNews geradestehen. Der Minister ließ sich erst einmal EuroNews Originalrechnungen vorlegen. Er erschrak. Sodann befand er: "Die Situation ist für EuroNews äußerst besorgniserregend." Weitere, wie von EuroNews als üblich erwartete Millionenspritzen ? - "Nein", beschied Carignon, "dies verstößt gegen alle Gesetze über die Finanzierung mit öffentlichen Geldern. Das Maß ist voll!"
Dabei war die Saubermann-Karriere des Alain Carignon von Kennern französischer Verhältnisse ohnehin als PR-Inszenierung, als Ablenkungs-Manöver begriffen worden. Kaum zwei Monate nach seinen hehren Buchhalter-Folskeln musste der Neu-Gaullist nämlich vom Ministeramt zurücktreten - wegen nachgewiesener Korruption. Ein Berufungsgericht verurteilte den früheren Bürgermeister von Grenoble zu fünf Jahren Haft, von denen er vier abzusitzen hatte. - Ende einer Karriere. Viel Zeit widmete Carignon im Gefängnis dem Fernseh-Sender EuroNews. Nur in Lyon,bei den Machern,wollte sich niemand an den früheren Förderer und Sponcor erinnern. Ganz nach der branchen-üblichen Verdrängungs-Methode: linkes
Ohr ist das Opernhaus, rechtes Ohr fahren die Autos raus - einst hastig über den Bildschirm gehutscht und nun für immer aus dem Sinn. Ob Carginon, die TV-Soap Denver-Clan oder nunmehr bei EuroNews - Alain Carignon, der Kommunikationsminister von einst, wurde nicht mal mehr ins Vorzimmer des Chefredakteurs zugelassen.