Samstag, 28. Mai 1994

Drangsal mit der Prostitution




















































Die einst weltberühmte Bordellkultur früherer Jahrzehnte ist in Frankreich längst passé. Vielmehr gelten spätestens seit 2003 drakonische Strafgesetze, die Prostitution, Zuhälterei und Frauenhandel aus fernen Ländern als einen Akt "gegen die Menschenwürde" mit Geldbußen, gar Gefängnis ahnden. Aus dem Straßenbild sind Liebesdamen ganz verschwunden, nachdem Freier wie Prostituierte wegen des Straftatbestands des "sexuellen Exhibitionismus" vor Gericht gestellt wurden. Lediglich in sündhaft teuren "night clubs" großer Städte bieten Frauen - als Gäste getarnt - ihre Ware Sex diskret an. Nur im Untergrund wuchert weiterhin das kriminelle Geschäft mit "käuflicher Liebe" - nach dem "Ehrenkodex" einer Sekte.

Frankfurter Rundschau
28. Mai 1994
von Reimar Oltmanns

Vor der schmuddeligen kleinen Bar Américan auf dem Boulevard de la Pomme Nummer 35 zu Marseille parken an diesem Wochenende ausnahmslos schnelle Flitzer: Hochkarätige Limousinen, wohl keine unter 80.000 Euro zu haben. Das will etwas heißen in dieser Hafenstadt, in der über hunderttausend Menschen unterhalb der Armutsgrenze dahinvegetieren. Erst recht bedeutet diese Parade von Zuhälter-Karossen etwas zu einer Zeit, in der das angrenzende Opernviertel, früher einmal Hochburg der Prostitution, vor sich hinzuschlummern scheint - vordergründig zumindest.
HIV-LAND NUMMER EINS IN EUROPA
Was die Polizei über all die Jahrzehnte nicht vermochte, schaffte offenkundig die Immunseuche Aids. Frankreich ist das HIV-Land Nummer eins in Europa. Laut Statistik zählt die Republik knapp 26.000 Aidskranke, darunter 4.100 Frauen. Wie ausgestorben wirken Bars oder Spielhöllen.

Friedlich vereint sitzen Marseilles "macs" (Zuhälter) nun in der angeschmuddelten Bar auf dem Boulevard de la Pomme. An einem Tisch die arabischen Herren-Repräsentanz mit einem Glas Pfefferminztee und ihrem Tric-Trac-Spiel. Am anderen Tisch die französischen Luden beim Pastis samt Karten-Allerlei. Nur ihre hin und her geworfenen Code-Wörter signalisieren, dass die Prostitution in Frankreich - und damit in ganz Westeuropa - unter einer wohlgeordneten Oberfläche eine neue Dimension erreicht hat: auch "Sklavinnen-Kartell" genannt. Von der "chandelle" (Frau, die auf der Straße steht), über eine "caravelle" (auf dem Flughafen), eine "entrainneuse" (an der Bar), "Amazone" (am Steuer), über Bestellung von "de la chair fraiche" (Frischfleisch) bis zur "Serveuse Montante" (im Hotelzimmer) kreist einsilbig jenes Sprachrepertoire aus ihrer Arbeitswelt.
FRAUENHANDEL IM BINNENMARKT
Noch nie in diesem Jahrhundert schnellte der Frauenhandel derart in Rekordhöhe, noch nie wurden Tausende von Frauen so international lückenlos durchorganisiert, verschleppt, geschlagen, misshandelt - als Freiwild zur Prostitution abgerichtet. Die Männer verwalten ihre Frauenstäbe von Amsterdam bis Paris, von Barcelona bis Berlin, von Mailand bis Moskau, von Frankfurt bis Budapest und lassen die Prostituierten oft im Zehn-Tage-Rhythmus von einer Stadt in die nächste rotieren. In ihrem Metier funktioniert der europäische Binnenmarkt jedenfalls schon reibungslos.
"GOLDENE HODEN"
Offiziell geben sich die Zuhälter dieser Tage als ehrenwerte Besitzer von Bars wie Nachtklubs aus. Die Wachstumsbranche Ware Frau gebiert Menschenhändler, die sich in ihrem Anforderungsprofil kaum von dem Einkäufer eines Großunternehmens unterscheiden mögen. Der Marktpreis für junge Frauen beläuft sich derweil um die 5.000 Euro. Und überhaupt - wer sich heute in Frankreich "goldene Hoden verdienen" will ("se faire des couilles en or") passt sich in seinem Gebaren in die Attitüden eines kapitalen auf Arbeitsplätze bedachten gesellschaftlichen Umfelds nahtlos ein. Wer will denn schon etwas gegen seriös firmierende Reiseveranstalter, gar Künstlervermittler sagen, die junge Ballettgruppen aus Russland oder Gabun zu ihren "Inszenierungen" an die Côte d'Azur verfrachten? Auftritte, die nur zwei Schauplätze kennen: das Hotelbett, wenn es gut geht; ganz sicher aber die Liege im Transporter am Straßenrand.
"IRMA-LA-DOUCE-ROMANTIK"
Marseilles Zuhälter zocken natürlich nicht grundlos in der Bar Américan auf dem Boulevard de la Pomme. Einen "Gefahrenherd", wie sie es nennen, gilt es zu beobachten. Auf der anderen Straßenseite liegt ein Anwesen, das ihnen die sicher gewähnte Erwerbsquelle zu nehmen scheint. Es ist das größte der landesweit fünfzehn Trutzburgen für Frankreichs Frauen, die sich von der Prostitution befreien, die aussteigen wollen. Eben ein "Schutzbunker für Huren" (Camp de retranchement pour les putes), wie er im Volksmund genannt wird. Und es werden immer mehr der offiziell etwa 200.000 Prostituierten der Republik, die in die Obhut der katholischen Kirche flüchten - notgedrungen sozusagen. Immer wieder ist es derselbe Grund, den die Frauen angeben, wenn er ihnen nicht schon ersichtlich ins Gesicht geprügelt wurde. Männergewalt und nochmals Zuhältergewalt. Zwei Drittel der Prostituierten Frankreichs mussten sich im Hospital schon ambulant behandeln lassen. Spätestens seit dem gesetzlichen Verbot der Irma-La-Douce-Romantik in den Stundenhotels Mitte der siebziger Jahre gehören Fausthiebe zum gewöhnlichen Tagesverlauf. Zuhälter haben es halt schwerer, die Gelder von ihren Opfern an unübersichtlichen Ausfallstraßen einzutreiben.
STRASSENSTRICH
Prostitution ist in Frankreich zwar seit jeher vom Staat erlaubt, doch nur von Frauen, die sich offiziell registrieren lassen, sich wöchentlich einer ärztlichen Kontrolle unterziehen und ihren gültigen Gesundheitspass auf dem Straßenstrich bei sich haben. Bordelle, wie in Deutschland üblich, mussten in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg schließen. Offiziell hat der Staat schon seit Jahrzehnten der Zuhälterei den Kampf angesagt. Auf der Strecke bleiben Frankreichs Prostituierte, die sich in einem Zwei-Fronten-Krieg befinden; auf der einen Seite Zuhälter, auf der anderen Polizisten - meist ebenfalls Männer. Außer der Gendarmerie - nur für Festnahmen zuständig kümmert sich kaum jemand um misshandelte Frauen. Auch in den Sozialämtern ist die Hilfe eher kümmerlich. In Marseille stapeln sich in dieser Behörde hinter den Schreibtischen Kisten voller Kondome, die an viele Frauen aus dem Gewerbe im Sechserpack samt Sozialhilfe- Scheck (etwa 400 Euro monatlich ) verteilt werden. "Sonst", urteilt Referatsleiterin Bernadette Fichard, "verwalten wir nur noch den Notstand; besser gesagt eine Erosion. Denn geholfen wird uns von dieser Regierung nicht. Es fehlt an Geld, Gebäuden und Personal. Tatsächlich sind es Berührungsängste dieser Herren - wenigstens tagsüber."
"NINOU" - AM BOULEVARD MICHELET
An diesem Nachmittag liefert die Polizei die 23jährige Ninou im Schutzbunker ab. In ihren guten Tagen stand sie am Boulevard Michelet. Zu jener Zeit absolvierte Ninou noch eine Ausbildung zur Drogistin und ging nur in den Abendstunden gelegentlich auf den Strich. Als die Drogerie unverhofft Konkurs anmeldete, fand Ninou - wie so viele junge Mädchen in Frankreich - keine Lehrstelle mehr. Die Prostitution wurde ihr Broterwerb. Schon zwei Mal hatten die Zivilfahnder Ninou gestellt - damals in ihren besseren Tagen. Seinerzeit beklagten sich Anwohner, weil sie vor ihren Wohnungen auf Kondomen ausgerutscht waren. Wegen "öffentlichen Ärgernisses" bekamen Ninou und ihre Kollegin Sylvie seinerzeit eine Ordnungsstrafe von 500 Euro. Seither war Ninou auf dem Boulevard Michelet nicht mehr gesehen worden. An diesem Freitagnachmittag stoßen die Zivilfahnder auf der Straße nach Cassis auf ein bekanntes Gesicht, das am Wegesrand nach Kundschaft Ausschau hält. Es ist Ninou. Ein Gesicht voller Blutergüsse, aufgeschlagene Lippen - die Frau ist zum Anschaffen geprügelt worden. Täglich muss sie 200 Euro abgeben. Auch wenn solche Frauen verzweifelt sind - eine Grundregel aus dem Mac-Milieu haben sie verinnerlicht: Unterwerfung, Gehorsam und Schweigen sind selbstverständlich. Frankreichs Massen-Zuhälterei funktioniert nach dem Kodex einer Sekte.
ARBEITER-PRIESTER
Nun also bringt die Zivilstreife Ninou in den Schutz- bunker am Boulevard de la Pomme. Dort sitzt sie dann Christian Metterau gegenüber, dem Leiter des Empfangs- und Orientierungskomitees "Le Nid". So nennt sich diese schon in den vierziger Jahren gegründete katholische Hilfsorganisation des Paters Talvas, einem Arbeiterpriester, der sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Prostituierten zu helfen. "Nicht predigen, sondern sehen, zuhören, urteilen, handeln, von den Bedürfnissen der Prostituierten ausgehen", war die Devise des Paters. Als eine der Ursachen für die Prostitution in seinem Land sieht der Pater die Tatsache, "dass Staat und Kirche sich im katholischen Frankreich seit Jahrhunderten nicht einig geworden sind, der Frau eine gleichberechtigte Rolle in der Gesellschaft zuzuweisen. Schon das französische Gesetz betrachtet die männliche Begierde als normal und notwendig. Das weibliche Angebot hingegen als unzüchtig und unehrlich. Ganz im Sinne der vorherrschenden Meinung in der Kirche, wonach nun einmal die Frau der Ursprung des Sündenfalls ist."
MYTHOS CÔTE D'AZUR
Und die Prostituierten kamen zu ihrem Pater. Vornehmlich in der Nachkriegszeit, als viele Frauen Witwen waren, als das Geld und die Lebensmittel fehlten. Doch jetzt, in den neunziger Jahren, steigt der Anteil der Hilfe suchenden Liebesdienerinnen wieder an. Bedrückt sitzt Christian Metterau mit Ninou im Empfangsraum. Der 44jährige Diakon weiß nicht mehr, wo er die junge Frau noch unterbringen soll. Wegschicken kann er sie nach seinem Selbstverständnis auch nicht. Erst in der vergangenen Woche nahm er nervlich erschöpfte Prostituierte aus den armen Ländern Afrikas auf, vor allem aus Ghana. Einst ließen sie sich vom "Mythos Côte d'Azur" anlocken oder zum Broterwerb verschleppen. Jetzt wurden sie von ihren Zuhältern wegen "Überalterung" ausrangiert.
"MACS" PRÜGELN
Ninou, die im kahlen Aufnahmesaal kaum ein Wort herausbringt, fürchtet abgewiesen zu werden, abermals für ihren Zuhälter an den Ausfallstraßen zu Marseille marschieren zu müssen. "Wir sind schon lange in einer krassen Ausnahmesituation", verdeutlicht Christian Metterau, "nur keiner will das Elend des Nutten-Daseins in seiner Tragweite wirklich wahrhaben. Vom Staat bekommen wir keinen Cent, viele Helferinnen arbeiten hier noch rund um die Uhr unentgeltlich. Und unsere fünfzehn Häuser in ganz Frankreich sind brechend voll. Etwa zwei Drittel der Frauen wollen raus aus der Prostitution - wenn sie nur können."
15.000 FRAUEN WOLLEN RAUS
Immerhin beherbergte Le Nid landesweit in den letzten zehn Jahren etwa 15.000 Frauen, die den Absprung suchten. Seit fünf Jahren hilft Christean Metterau. Aber wohl keiner weiß besser als er, dass es für den Problemfall Prostitution keine Standardlösungen gibt. Er sagt: "Hier wird am deutlichsten, welch eine psychische Macht Zuhälter über diese Frauen bis hin zu ihrer Unterwerfung haben." Manche Frauen betteln am Morgen um Aufnahme - am nächsten Tag gegen Abend sind sie schon wieder verschwunden - gesichtet an ihrem Arbeitsplatz auf dem Strich. Dabei hatte sie keiner in ihrem Versteck dazu gezwungen oder gar an ihren "mac" verraten. Sie waren es selber, die den "Freund" anriefen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, wollten sie doch "nur" in Erfahrung bringen, ob sie vermisst, gebraucht werden. Sie sehnen sich nach einem Liebesbeweis.
SCHUTZBUNKER
Schon ein kurzer Blick in die sogenannten Le-Nid-Personalakten der Außenseiter-Frauen zu Marseille liefert einen seismografischen Teilausschnitt gesellschaftlicher Zustands-beschreibungen dieser Jahre. Marie-Louise, 30 Jahre alt, Heimkind, selbst Mutter von zwei Söhnen, vom Vater auf den Strich geschickt, als sie fünfzehn war, Brandnarben im Gesicht, Alkoholikerin, ohne Berufsausbildung, vor dem Zuhälter, "Kater Drago" genannt, geflohen, seit vier Monaten im Heim. Seelischer Zustand: Wechselbäder zwischen Depressionen und Übertreibungen. Oder Yvonne, 23 Jahre alt, in Algier geboren, mit 18 von einem nordafrikanischen Zuhälterring nach Marseille verschleppt, suchte mit anderen Frauen aus Tunesien und Marokko Männer auf Schiffen im Hafen auf. Berufsausbildung: Schneiderin, seit sechs Monaten in Marseille. Psychischer Befund: Kontaktgestört, spricht nicht. Oder Carla, 18 Jahre alt, aus dem Erziehungsheim in Toulon wegen Missbrauchs durch Sozialarbeiter geflohen, an der Côte d'Azur in Hotels zunächst als Zimmermädchen, dann als Callgirl, Tätowierungen an Beinen als Erkennungsmarke, Krankenhausaufenthalt wegen gebrochener Rippen, von der Polizei gebracht, möchte zu ihrem Zuhälter zurück, seit drei Wochen hier, Analphabetin, Zustand: rebellisch, Prognose: Rückfall.
ANALPHABETINNEN

Besonders jüngere Frauen betrachten ihren Aufenthalt im Schutzbunker lediglich als eine Zwischenstation, als eine Art Erholungspause, bevor sie sich wieder in den Straßen verdingen. Meist sind sie von der Polizei oder auch von den Sozialämtern gebracht worden. Auffallend hoch ist die Analphabetenquote unter dem Nutten-Nachwuchs. Laut Aktenauskunft sind 18 Prozent dieser Frauen des Lebens und Schreibens unkundig.
KOCHKURSE,THERAPIE

Die Mehrzahl der misshandelten Frauen ist froh, einen Zufluchtsort gefunden zu haben. Ein Refugium, in das sie ohne Papiere und ohne Arbeitserlaubnis aufgenommen werden, das ihnen Schutz bietet - vielleicht auch einen Neuanfang ermöglicht. Ob bei handwerklichen Gruppenarbeiten, Kochkursen oder auch bei Alphabetisierungsunterricht - fast jeden Abend kreisen die Gespräche immer wieder um die gleichen Themen: Wie kann ich der Prostitution entkommen, wie schaffe ich es, mein Auskommen anderweitig zu finden, gelingt es, wieder Kontakte zu meiner Familie zu finden?


Die Uhr am Eingang des Schutzbunkers zu Marseille zeigt auf Mitternacht. Es klingelt an der Haustür, eine Frau bittet um Einlass. Die Außenbeleuchtung macht jede Erklärung überflüssig: Die eine Gesichtshälfte der Frau ist stark angeschwollen. Helferin Danielle, die Nachtdienst hat, winkt die Frau stumm herein. Als sie im Sanitätsraum feuchte Umschläge zur Schmerzlinderung vorbereitet, murmelt sie: "Hier ist das Hauptschlachtfeld des Frauenkampfes."